Nebelküsse bringen Glück

Es war noch früh, als mit den ersten Meisen das sanfte Morgenlicht allmählich in den Littelwald hineinflog. Unzählige kleine Nebeltropfen schwebten schweigend zwischen Halmen, Moos und Steinen. Kaum ein Laut drang durch die Luft, sogar die hellen Rufe der Meisen wurden vom Nebel verschluckt.

Wenn man ein Littel ist, kennt man die verschiedenen Arten der weißen Luft sehr genau. Es gibt den zarten Morgennebel, der erst in den frühen Tagesstunden aufsteigt und nur zwei Littel hoch über den Wiesen schwebt. Oder den Spuknebel, der schon nachts wabernd auf- und absteigt und gespenstisch umherwandert. Noch gruseliger ist der Geisternebel, der von den dunstigen Wiesen aus langsam seine langen weißen Knochenfinger durch die Bäume bis in den Wald hineinstreckt. Bei diesem Nebel verkriechen sich die Littel in ihre Betten, und die Littelkinder stecken ihre Köpfe zitternd unter Mamas Arme.

Es gibt aber auch den Wattenebel. Das ist der dichteste, weißeste und feuchteste Nebel im Littelwald. Er ist so dicht, dass die Littel ihn wie ein Streicheln auf der Haut spüren. Sie flitzen darin herum und spielen Verstecken – und dann greifen sie hinein und formen einen dicken Nebelball, den sie den großen Litteln in den Nacken werfen, wo er mit einem saftigen Patsch! zerplatzt. Das fröhliche Kichern der kleinen Littel wird jedoch sofort vom Nebel geschluckt, sodass die Großen ihren kleinen Übeltäter niemals erwischen.

 

»Floh!«

Ein ungeduldiger Ruf durchbrach die Nebelstille. Nur eine kurze Weile später erklang ein nasses Tapsen – und ein pitschnasser kleiner Littel schob sich kichernd in die warme Küche. Er pustete die tropfende blonde Haarsträhne aus seinem Gesicht und stürzte sich auf seine runde Mama, die er stürmisch umarmte.

»Flohling, du unmöglicher Wurzelzwerg!«, schimpfte seine Mama lachend und drückte ihren tropfenden Sohn herzlich an sich. »Jetzt bin ich auch ganz nass!«

Flohling schmatzte ihr einen dicken Kuss auf die Wange. »Nebelküsse bringen Glück!«, rief er fröhlich. Und dann ließ er sich in ein schönes großes Handtuch wickeln und kräftig trocken rubbeln.

»Du hast gerade noch genug Zeit, deinen Holunderbrei zu essen«, mahnte seine Mama und setzte ihn auf die hölzerne Bank neben dem Ofen. Die mollige Wärme ließ Flohling wohlig erschauern. Hungrig griff er zum Löffel und sah zu, wie seine Mama ihm währenddessen die Socken über die Littelfüße zog.

»Ist es dir denn ganz egal, wenn du am allerletzten Tag zu spät zur Schule kommst?«, fragte seine Mutter.

»Ein bisschen«, sagte Flohling und lächelte schief. Er war eben ein ehrlicher Littel!

Seine Mama lachte und küsste ihn auf die Stirn. »Wer kann dir schon böse sein, du Schelm!« Sie schob die freche helle Strähne, die sich immer aus Flohlings dunklen Haaren löste, zurück hinter sein Ohr. An jenem schmalen blonden Haarbüschel im ansonsten fast schwarzen Schopf konnte man Flohling im Nu von allen anderen Litteln unterscheiden, wenn er nicht gerade seine blau-weiß geringelte Mütze trug. Diese setzte er nun auf, leckte sich einen roten Holunderbrei-Tropfen von der Lippe, schlüpfte in die Stiefelchen und griff nach seiner Ledertasche.

»Kein Abschiedsnebelküsschen?«, rief seine Mutter ihm zu.

Flohling drehte sich um. »Nebel habe ich keinen mehr, aber Flohspucke!« Er drückte ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange, dessen nassen Abdruck seine Mama lachend abwischte. »Hab einen schönen letzten Schultag, mein Floh!«, rief sie noch, da war Flohling auch schon zur Tür hinaus.

 

Die Schule des kleinen Litteldorfes war ein großes moosbedecktes Haus aus Stein, das ebenso wie das gemeinschaftliche Dorfhaus und die Marktscheune mitten auf der Lichtung stand. Drum herum reihten sich die Wohnhäuser der Littel aneinander, die beinahe aussahen wie umgedrehte geflochtene Körbchen. Durch den dichten Wattenebel hindurch konnte Flohling nur schemenhaft die vielen Gestalten erkennen, die zum Schuleingang strömten. Schon erklang die Glocke, die am Giebel des Schulhauses hing und die Schüler zur Eile mahnte. Zusammen mit Okko, einem Littel, den Flohling nicht sehr gut leiden konnte, quetschte er sich durch die schwere Tür. Doch Okko schubste ihn zur Seite und schloss grinsend die Tür, während Flohling sich aufrappelte. »Du gemeiner … Mistlittel!«, schimpfte Flohling. Als er schließlich hineinschlüpfte, sah Madame Leliki ihn ungeduldig an. Dann lächelte sie. »Am letzten Tag noch zu spät, Flohling?«

Flohling machte ein zerknirschtes Gesicht. Er mochte Madame Leliki und hätte ihr gern zum Abschied geschenkt, wenigstens ein Mal pünktlich zu sein. Aber es gelang ihm einfach nicht. »Entschuldigung, Pünktlichsein ist nicht gerade meine Stärke«, murmelte er.

Madame Leliki nickte und seufzte. »Ich weiß schon, Flohling, aber man kann Dinge auch lernen

Flohling zog die Nase kraus. »Das ist so anstrengend, und ich brauche meine Kraft für viele andere Sachen!«

»Genau, vor allem für Babykram wie Tiere!«, spottete jemand aus den hinteren Reihen.

»Okko!«, mahnte Madame Leliki. »Deine Kraft solltest du in höfliches Benehmen stecken.«

Die anderen Schüler kicherten. Flo zuckte nur die Schultern. Wen kümmerte es, was Okko sagte? Flohling war nicht so leicht von seiner guten Laune abzubringen.

Madame Leliki klatschte in die Hände. »Stellt euch auf, wir wollen das Littellied singen.«

Die Klasse formte einen großen Kreis und begann zu singen:

Ich bin ich, und du bist du,

ich geb meinen Teil dazu.

Jeder darf verschieden sein

und ist doch niemals allein.

Zusammen sind wir stark und gut,

jeder weiß, wie wohl das tut.

Ich für dich und du für mich,

das soll sein auf ewiglich.

Flohling war nicht bei der Sache. Er dachte an den wunderschönen morgendlichen Nebel und sah mit Sorge, wie es vor dem Fenster langsam klarer wurde. Ob er in der Pause noch einmal in den Wald hinausschleichen konnte?

»Ich danke euch, bitte nehmt Platz.« Frau Leliki wartete, bis das Scharren der Stiefel und Stühle verklungen war, bevor sie zu den schneeweißen Urkunden mit der verschnörkelten goldenen Schrift griff, die auf ihrem Tisch bereitlagen. »Heute ist euer letzter Tag in der Littel-Grundschule. Nach dem Sommer werdet ihr alle die Littelschmiede besuchen, ein jeder in seiner Talentklasse. Ich werde jetzt eure Abschlusszeugnisse austeilen. Wie ihr wisst, steht darauf euer Talent sowie der Grad eures Könnens. Damit werdet ihr an der Littelschmiede in die passenden Klassen eingeteilt, etwa die Handwerkerklasse, die Pflanzenklasse oder die Kreativklasse.«

Alle Littelkinder nickten. Die Littelschmiede war die Schule, an der sie ihre angeborenen Talente verfeinern würden.

Flohling zupfte gelangweilt an seiner Mütze. Hoffentlich waren die Urkunden bald verteilt und sie durften in die Pause. Er bekam sowieso keine. Denn er war der einzige Littel, der kein Talent hatte. Eine außergewöhnliche Sache, denn beim Littelvolk hatte eigentlich jeder ein angeborenes Talent – eine brillante und einzigartige Begabung auf einem bestimmten Gebiet.

Während Madame Leliki die Urkunden herausgab, raunten die Littelkinder »Ah« und »Oh« durch die Klasse, was Flohling an seinen Ohren vorbeirauschen ließ. Er beobachtete lieber den Schmetterling, der vor dem Fenster hin und her flatterte.

Als alle anderen Urkunden verteilt waren, ging Madame Leliki schließlich zu Flohlings Tisch. Sie reichte Flohling die Urkunde. Verblüfft warf er einen Blick darauf. Er bekam etwas? Doch dort, wo bei den anderen Kindern das Talent eingetragen war, leuchtete Flohling ein großer weißer Fleck entgegen. Auch beim Grad des Könnens herrschte klägliche Leere. Flohling sah fragend auf. Was sollte er damit?

Madame Leliki blickte ihn freundlich an. »Wenn du so weit bist und dein Talent entdeckt hast, kommst du zu mir, damit ich es nachtragen kann«, sagte sie und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. »Du bist ein sehr kluger und aufmerksamer Littel. Ich weiß, dass du etwas finden und zu mir kommen wirst.« Sie lächelte noch einmal und begab sich dann wieder zur Tafel. »Ihr dürft jetzt in die Pause gehen. Danach frühstücken wir noch zusammen und feiern euren letzten Schultag ein bisschen, bevor ihr nach Hause geht.«

Sofort stürmten die Littelkinder hinaus. Einige klopften Flohling auf die Schulter und riefen: »Mach dir nichts draus!«, oder: »Das wird schon!«

Flohling steckte das Zeugnis in die Ledertasche und stand auf. »Was soll’s«, murmelte er. Das mit den Talenten war ihm eigentlich ziemlich egal. Wo es doch so viel Spannendes auf der Welt zu entdecken gab. Lachend lief er zu Lisbet hinüber, die an der Tür auf ihn wartete.

Die große Frage

Genauso unbekümmert lief Flohling nach Schulschluss heim. Er winkte und rief den anderen Schülern zu:

»Schöne Ferien!«

»Alles Gute!«

»Bis nachher!«

Glucksend vor Freude hüpfte er durch die offen stehende Tür ins Haus und warf seine Ledertasche in die Ecke.

»Ferien!«, jubelte er und strahlte seine Eltern an.

Dann hielt er inne. Sie sahen so ernst aus.

»Ist was passiert?«, fragte Flohling erschrocken, während er die Hand nach Pilfink ausstreckte, dem Familienspatz, der auf der Stuhllehne hockte.

Seine Mama lächelte. »Nein, wir sind nur sehr gespannt auf deine Abschlussurkunde.«

Arve, sein Papa, zwirbelte nickend an seinem blonden Zwei-Knoten-Schnäuzer, der wie immer perfekt saß.

Da hob Flohling die Schultern: »Ach, wer braucht schon Urkunden. Ihr wisst doch, was darauf steht, nämlich nichts.« Er streichelte Pilfink, dessen Federn so schneeweiß leuchteten wie das leere Feld auf seiner Urkunde.

Seine Mama Sara mochte das nicht glauben und ließ sich das Zeugnis zeigen. Ihr Blick verweilte einen kurzen Moment lang an der Stelle, wo eigentlich Buchstaben stehen sollten. Genau so lange, dass Flohling spürte, dass sie enttäuscht war und versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Ihm selbst war es zwar egal, dass er kein Talent hatte, aber er konnte es nicht gut aushalten, wenn seine Eltern traurig waren.

»Ach, Mama …«, sagte er leise und berührte zaghaft ihre Schulter. Pilfink hüpfte darauf hinunter und zwackte sie sanft ins Ohrläppchen. Sara lächelte.

»Soso«, machte Arve und räusperte sich. »Na, dann wollen wir mal essen. Es gibt Erdapfelsuppe.«

Flohling atmete auf. »Das ist gut, ich habe Hunger wie ein Muski!« Da lächelte seine Mama, stand auf und wuschelte ihm durch die Haare. »Komm, hilf mir, den Tisch zu decken.«

Während er die Teller bereitstellte, schweiften Flohlings Gedanken zu den Muskis. Diese kleinen schwarz-grauen Waldwesen hatten es gut. Sie suchten den ganzen Tag nur nach Futter, huschten herum, stibitzten hier und mopsten dort und flogen dann in die höchsten Baumwipfel, um die Nacht über an Ästen zu hängen und zu schlafen, während der Wind sie hin und her wiegte. Ach, ein Muski müsste man sein!

Kaum hatte Flohling die herzhafte Erdapfelsuppe ausgelöffelt, da sprang er schon wieder auf, um in den Wald zu laufen. Er musste unbedingt Muskis beobachten.

»Moment bitte«, hielt die dunkle Stimme seines Vaters ihn zurück. »Wir müssen über deine Zukunft sprechen.«

Flohling zog die Nase kraus. »Bitte, Papa, können wir heute Abend darüber reden? Ich muss ganz dringend zu den Muskis.«

Arve ächzte und schüttelte leicht verzweifelt den Kopf, woraufhin sich einer seiner perfekten Schnurrbartknoten löste. Dann brummte er: »Nun gut, aber sei pünktlich zum Abendessen zurück.«

Flohling grinste, verabschiedete sich mit einem kurzen Winken und war im Nu zur Tür hinaus. Nichts wie ab in den Wald.

Flink wie ein Sonnenstrahl, den kein Stein und kein Strauch am Wandern hindern konnte, huschte Flohling durch das Gestrüpp. Dabei spielte er sein liebstes ABC-Spiel: Er durfte nur nach dem Alphabet hüpfen. Linker Fuß auf A wie Ast, rechter Fuß auf B wie Baumwurzel. Linker Fuß auf einen Zweig, der wie ein C aussah, rechter Fuß auf ein … ein … Dachshaar! Flohling jauchzte. Auf so ein prima D-Wort konnte nur er kommen. Ob es nun wirklich ein Dachshaar war oder vielleicht ein Riss in der trockenen Erde – wen störte das schon? Flohling sicher nicht. Er balancierte weiter: Linker Fuß auf eine … huch, da war eins! Er hockte sich hin. Genau vor ihm auf einer dicken Baumwurzel saß ein Muski. Sein Fell glänzte, seine kleinen Ohren zuckten, und seine Flügel lagen eng an seinem Rücken. Mit dem Schwanz hielt sich das putzige Tierchen an der Baumwurzel fest. Es hatte ihn noch nicht bemerkt und versuchte, eine Nuss zu knacken. Doch weder seine scharfen Zähnchen noch seine kleinen Pfoten konnten die harte Schale brechen.

»Ich zeig dir was«, flüsterte Flohling.

Das Muski erstarrte. Nur seine Äuglein zuckten, während es ihn betrachtete. »Hiffsu mia?«, fragte es misstrauisch. Flohling nickte.

Da gab das Muski der Nuss einen Schubs, sodass sie zu ihm hinüberrollte. »Massu auf?«

Flohling nahm einen kleinen Stein und schlug damit auf die Nuss. Die hektische Bewegung und das laute Knacken erschreckten das Muski, und es flatterte heftig mit den Flügeln.

»Schschsch«, machte Flohling, pulte den Kern aus der Schale und rollte ihn zurück zu dem putzigen Tierchen.

»Hassu demacht«, nickte das Muski zufrieden und schob sich die Nuss in den Mund. Es knabberte selig darauf herum. »Sindas Nüsse. Gut für Muskis. Giftig für diss«, sagte es dann wichtig, kletterte blitzschnell den Stamm hinauf und verschwand raschelnd zwischen den Blättern. Flohling lachte leise. ›Giftig für dich‹ … Muskis schwindelten wirklich zu gern!

Der kleine Litteljunge streifte den ganzen Nachmittag im Wald herum. Er übte sich im Bäumeklettern, sprang über die großen flachen Steine im Fluss, tappte versehentlich ins Wasser und baumelte kopfüber von einem dicken Ast, um die Füße in der Sonne trocknen zu lassen. Schließlich döste er auf einem weichen Moospolster in der warmen Spätnachmittagssonne ein.

»He, Floh!«

Eine sanfte Stimme weckte ihn. Flohling rieb sich die Augen.

»Warum nimmst du mich nicht mit?« Lisbet sah ihn streng an. Flohling überlegte kurz und erklärte dann: »Manchmal muss ich allein durch den Wald streunen – das brauche ich hier drin.« Er legte die Hand auf seine Brust.

Lisbet lächelte. »Ja, ich weiß. Komm, lass uns heimwandern, die Sonne geht unter.«

Flohling blickte sich um. Tatsächlich, im Wald war es dunkler geworden. Ach du je – er würde zu spät zum Abendessen kommen! »Gut, lass uns am besten rennen«, sagte er und schüttelte ein Steinchen aus seinem Stiefel. »Auf die Plätze …«

»Von wegen – fang mich!«, rief Lisbet und rannte davon.

»He, das ist … das ist … na warte!«

Lisbet wusste natürlich, dass sie keine Chance hatte, denn Flohling war der flinkste Junge im Litteldorf. Sie selbst war nur mittelschnell. Doch sie hatte Glück, denn er ließ sich ein bisschen zurückfallen, um ihr eine Chance zu geben. Außerdem tätschelte er den armen Gnormen, gegen die Lisbet immer wieder stieß, tröstend die grummelnden Köpfe. Es war ja nicht ihre Schuld, dass sie aussahen wie große Steinpilze und deshalb oft nicht richtig wahrgenommen wurden.

»Tut mir leid, tut mir leid!«, keuchte Lisbet immerzu, doch sie musste so lachen, dass sie nicht auf den Weg achten konnte und ständig wieder einen Gnormen erwischte. Den ganzen Heimweg entlang begleitete die beiden das unwirsche Brummen der pilzartigen Wesen, die stets erst in der Dämmerung durch den Wald huschten.

Völlig außer Atem stürmten sie aus dem Wald hervor. Die letzten Sonnenstrahlen hatten das Dorf bereits verlassen, und zahlreiche Lumini schwirrten umher. Das sanfte Leuchten der winzigen Doppelflügler erhellte den Heimweg und löste ein wohliges Gefühl in Flohlings Bauch aus. Ach, wie schön war es daheim!

Lisbet verschwand in ihrem Häuschen, und auch Flohling stand bald vor seiner Tür. Mit schlechtem Gewissen drückte er sie auf.

»Entschuldigung«, raunte er, noch bevor er jemanden sah.

Ein flackerndes Feuer knisterte im Kamin, und Pilfink flog auf seine Schulter. Seine Eltern saßen bereits in ihren Ohrensesseln. Zwischen ihnen stand ein Hocker für Flohling bereit, auf dem ein Holzbrettchen mit Kräuterbroten lag.

»Setz dich«, sagte sein Vater.

Flohling zog rasch die Stiefelchen aus und nahm Platz. Hungrig begann er zu essen.

»Flohling, du weißt, dass wir dich sehr lieb haben. Auch wenn dein Talent noch nicht zutage getreten ist.«

Flohling schmatzte zustimmend.

»Aber«, begann seine Mama, »du brauchst eine Aufgabe im nächsten Jahr. Ohne Talent hat es keinen Sinn, die Littelschmiede zu besuchen. Und es ist unnütz, dass du die alte Klasse wiederholst. Alles, was du dort lernen kannst, weißt du bereits.«

Flohling überlegte. Das war richtig. Ein fauler Schüler war er nicht. Nur einer ohne besonderes Talent.

»Was also gedenkst du zu tun?«, fragte sein Papa.

Flohling sah überrascht auf. Er hatte noch gar nicht darüber nachgedacht, wie es ohne Schule sein würde. »Hm, kann ich nicht einfach daheimbleiben?«, fragte er.

Sein Vater rieb mit dem Finger unter der Nase hin und her. »Das habe ich auch schon überlegt. Du wirst gewiss Spaß haben … zunächst. Doch wenn alle Kinder wieder zur Schule gehen, wirst du dich langweilen. Wer keine Aufgabe hat, wird unglücklich.«

Flohling schlug vor: »Ich könnte die Tiere hüten! Das kann ich wirklich gut! Ich werde sie füttern und pflegen, sie abends in den Stall holen und … und …«

Seine Mutter faltete ihre Hände auf dem Schoß. »Aber Floh, das ist Aufgabe der kleinen Littelkinder. Sie mögen diese Arbeit und sind stolz darauf. Und sie machen es wirklich gut. Das kannst du ihnen nicht nehmen.«

Flohling legte den Rest seines Brotes zurück auf den Teller und setzte Pilfink daneben ab. Er selbst hatte plötzlich keinen Hunger mehr. Warum musste denn alles so schwierig sein? Er war doch eigentlich ein ganz normaler Litteljunge. Er ärgerte niemanden und störte nicht und … Flohling seufzte.

Sein Papa zog ihn an sich und umarmte ihn fest. »Alles wird gut. Wir werden eine Lösung finden. Deine Mama und ich haben noch einmal über die letzten Monate nachgedacht. Du warst ja noch gar nicht bei allen Litteln im Dorf zur Probearbeit, oder?«

Da grinste Flohling wieder. Kichernd erinnerte er sich an die Versuche, sein verborgenes Talent aufzuspüren. In den letzten zwei Jahren hatte er sicher hundert Talente ausprobiert. Einmal hatte er in der Littelmühle ausgeholfen und dabei aus Versehen die ganze Mühle von innen und außen mit Mehl bestäubt. Wie lustig war es zugegangen, als sie alle wie die Gespenster herumgelaufen waren! Auch in der Eisenschmiede hatte er geholfen, doch leider hatte er kein Geschick fürs Feuerhüten, und es waren gleich zweimal glühende Kohlenstücke durch die Werkstatt geflogen. Zum Glück hatten sich alle noch rechtzeitig ducken können! Danach hatte der Schmied ihn freundlich dankend nach Hause geschickt. Und vor ein paar Tagen erst hatte Flohling staunend in der großen Vorratshöhle gestanden. Während die anderen große Körbe voller Beeren hereingetragen hatten, war ihm eine Idee für eine neue Ordnung gekommen. Leider war beim Umsortieren schließlich ein großes Regal umgekippt, und es hatte Nüsse, Äpfel und Rosinen auf die armen Vorratslittel geregnet. Also war Flohling auch hier freundlich aber bestimmt wieder fortgeschickt worden.

»Was habe ich denn noch nicht ausprobiert?«, fragte Flohling neugierig.

Arve sagte zuversichtlich: »Es sind noch zwei Talente übrig, und ich habe schon für dich nachgefragt: Du darfst in der Backstube mithelfen und bei den Littelwäschern. Gleich morgen wirst du dort erwartet. Vielleicht erleben wir ja eine Überraschung.«

Flohling nickte eifrig, schnappte sich Pilfink und ging zu Bett. Er freute sich auf die Wäscherei. Und am Tag danach durfte er in der Backstube aushelfen – er liebte frische Brötchen, das würde wundervoll! Hoffentlich erwachte dort sein Talent!

Lauter nasse Littelfüße

Am nächsten Morgen stand Flohling früh auf. Pfeifend wanderte er nach dem Frühstück zur Littelwäscherei. Sie lag gleich neben dem Fluss, denn das frische Flusswasser wurde zum Waschen gebraucht. Geschickt lenkten die Littel einen Teil davon in Rinnen durch die Wäscherei und säuberten die Wäsche darin. Da sie mit Waschnüssen wuschen, war es nur natürlich, das Wasser wieder in den Fluss zurückzuleiten. Flohling trat durch das große Tor ins Waschhaus.

»Guten Morgen«, rief er fröhlich.

»Ah, da bist du ja!«, sagte Meister Wring und öffnete seine Arme, um Flohling willkommen zu heißen. »Wir haben schon viel von deinen Besuchen bei den anderen gehört«, sagte er dann mit einem Augenzwinkern.

Flohling zwinkerte zurück.

Meister Wring lachte. »Wir haben zwei Stationen herausgesucht, an denen du dich ausprobieren kannst. Solltest du ein Waschtalent haben, müsste es dabei hervorkommen. Bist du bereit?«

Flohling nickte entschlossen.

Meister Wring führte ihn in eine Ecke des Waschhauses, die beinahe aussah wie ein gemütliches Café. An zwei runden Holztischen saßen Anton und Egon, zwei ältere Littel aus Flohlings Nachbarschaft. Sie schoben kleine Holzkugeln hin und her. Viele davon legten sie in eine Rinne, wo die Kugeln hinabrollten und in einer großen Wanne landeten. Ab und zu aber warfen sie eine der Kugeln in einen Eimer, der neben dem Tisch stand.

»Ich darf mit Holzmurmeln spielen?«, fragte Flohling erstaunt.

Meister Wring lachte, und die beiden Littelmänner stimmten ein.

»Richtig«, sagte Anton. »Diese Arbeit ist fast wie Spielen. Komm her, ich zeig es dir.« Er schob Flohling einen Hocker an seinen Tisch. Meister Wring ging zufrieden davon.

»Das hier sind keine Murmeln, sondern Waschnüsse«, erklärte Anton. »Wir ernten sie jeden Herbst und lagern sie dann ein. Jetzt im Sommer sind die Reste manchmal angeschimmelt oder zu trocken. Solche Nüsse müssen wir aussortieren. Schau, du wirfst sie einfach in den Eimer.«

Flohling verstand und besah sich die Nüsse, die auf dem Tisch lagen. Sie sahen alle gleich aus.

»Wie erkenne ich eine schlechte Nuss?«, wollte er wissen.

Anton hob erstaunt eine Augenbraue. »Bei mir und Egon war es so, dass wir es sofort wussten. Für mich scheinen die Nüsse geradezu zu strahlen. Ich muss sie nur zwischen den anderen herauspicken.«

Flohling kniff die Augen zusammen, während Anton zu Egon hinübersah. Dass Anton dabei bedauernd den Kopf schüttelte, merkte Flohling nicht. Er versuchte das Strahlen zu entdecken. Nichts. Dann schloss er die Augen und hielt seine Handflächen ganz nah über die Nüsse. Vielleicht war sein Talent ja, die schlechten zu erfühlen? Plötzlich war ihm, als ob er Wärme spürte, und er griff eilig zu.

»Autsch«, sagte Anton lachend und zog seinen kleinen Finger aus Flohlings Hand. »Dachtest du, ich wäre die Nuss?« Er konnte gar nicht aufhören zu lachen.

Flohling musste mitkichern.

»Schau mir eine Weile zu und lerne«, sagte Anton. »Ich schiebe dir die schlechten Nüsse zu, und du kannst sie in den Eimer werfen.«

Ja, das konnte Flohling auf jeden Fall! Er nahm die Waschnüsse, die Anton ihm zurollte, und schmiss sie in den Eimer. Fasziniert beobachtete er, wie zielsicher Anton zugriff. Die Nüsse kamen bald schneller und schneller, und Flohling konnte kaum noch mithalten. Immer wieder landeten die Nüsse jetzt neben dem Eimer. Aber Flohling wollte nicht aufhören, bevor Anton stoppte. Er würde ihnen zeigen, wie fleißig er war. Aufheben konnte er die Nüsse auch später.

Meister Wring kam nun zu ihnen herüber, um nachzusehen, wie es Flohling erging. Dabei trat er auf die Nüsse, glitt aus, ruderte verzweifelt mit den Armen, verzog noch kurz erstaunt das Gesicht und machte dann einen wunderschönen Salto. Besonders die Landung mit dem Po in der vollen Waschnusswanne gefiel Flohling außerordentlich, und er klatschte begeistert Beifall.

Als Meister Wring sich gesammelt und Anton ihm aus der Wanne geholfen hatte, zog er die Augenbrauen zusammen. »Hm, ich denke, hier liegt kein Talent vor …« Er schüttelte sich, rieb seinen schmerzenden Po und winkte Flohling zu sich. »Komm, wir gehen zur zweiten Abteilung.«