Die Hilfskräfte

Die wahren Herren des Dungeons

Herausgeber:

T. S. Orgel, A. S. Bottlinger, S. A. Cernohuby

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© 2018 Amrûn Verlag
Jürgen Eglseer, Traunstein

© der Kurzgeschichten bei den jeweiligen Autoren

ISBN – 978-95869-354-8

Cover- und Umschlaggestaltung:
Christian Günther | Atelier tag-eins
Lektorat: Andrea Bottlinger und
Susanne Pavlovic | textehexe.com
Alle Rechte vorbehalten

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter

http://dnb.d-nb.de abrufbar

Inhaltsverzeichnis

Vorwort – Andrea Bottlinger

Schicht im Schacht – Tom Orgel

Kerkerordnung – Christian von Aster

Die wahren Herren des Dungeons – Judith & Christian Vogt

Exkrementator – Ju Honisch

Verdammte Personalabteilung – Stephan Orgel

Goldene Zeiten – Susanne Pavlovic

Die große Stollen-Verschwörung – Carsten Steenbergen

Zweiter Durchgang – Robin Gates

Die letzte Prüfung – Stephan R. Bellem

Verbotene Pfade – Christian Günther

Ein Heldenproblem – Bernd Perplies

Portaphagus Multipunctatus – Rebekka Pax

Ein dauerhaftes Geschäftsmodell – Stefan Cernohuby

Kopfsache – Melanie Vogltanz

Autorenbiografien

Vorwort

Von Andrea Bottlinger

Wir kennen ihn alle: den Dungeon. In unzähligen Computer- oder Brettspiel-Runden, Pen&Paper-Sessions und an LARP-Wochenenden haben wir uns schon selbst hindurchgekämpft. In unzähligen Büchern und Filmen haben wir unseren Helden bereits auf Reisen durch staubige Verliese, finstere Höhlen und modrige Grüfte begleitet. Immer galt es, Monster zu besiegen, Schätze zu bergen und eventuell auch mal jemanden adligen Geblüts zu retten.

Wenn man sich die ganzen hochkomplizierten Fallen, stets bis oben hin gefüllte Schatztruhen und Monster in Räumen betrachtet, durch deren Türen sie nie im Leben passen, so kommt einem vielleicht irgendwann der Gedanke, wie das Ganze eigentlich hinter den Kulissen funktioniert. Wer ölt die selbst nach Jahrhunderten noch erstaunlich gut funktionierenden Mechanismen der Fallen, Geheimtüren und sich verschiebenden Labyrinth-Wände? Wer füttert die Schlangen und Skorpione in diversen Fallgruben? Wer räumt den Drachenmist weg? Und wer repariert die Türen, die Helden aus früheren Zeiten aufgebrochen haben?

Je mehr man darüber nachdenkt, desto offensichtlicher wird es, dass das Ganze nicht von allein funktionieren kann. Im Gegenteil, einen Dungeon in Schuss zu halten dürfte einen nicht unerheblichen logistischen Aufwand bedeuten. Vor allem wenn auf regelmäßiger Basis Heldengruppen hindurchtrampeln und dabei auf halber Strecke des Zeitliche segnen. Die räumen ganz sicher nicht hinter sich auf.

Deshalb ist dieses Buch den unbesungenen Helden gewidmet. Der Putzkolonne, den Falleninstandhaltern, den Schatztruhenrenaturierern. Sie sind die wahren Helden, denn ohne sie wären Heldentaten gar nicht möglich.

Schicht im Schacht

Von Tom Orgel

Sie hätte es wissen müssen.

Das wurde Tia klar, als sie im Schatten der der halb zerstörten Statue kauerte und wider besseren Wissens versuchte, mit der rauen Höhlenwand zu verschmelzen. Ein neuerlicher Donnerschlag ließ die Kaverne erzittern. Staub, kleine Steine und verwirrte Höhlenspinnen rieselten von der Decke herab und ein kleinerer Stalagmit verfehlte sie nur um Haaresbreite. Tit, verbesserte ihr Hirn sie ohne ihr Zutun. Stalaktit. Die Titen sind die, die hängen.

Tia verzog das Gesicht. Das war typisch für ihr Hirn. Sich anzügliche Witze merken – das konnte es. Sie rechtzeitig davon abzuhalten, mit berüchtigten Helden auf eine ‚Queste’ zu ziehen, dazu war es nicht in der Lage.

Sei wenigstens ehrlich. Ich habe dich gewarnt. Du hast nur lieber dem Alkohol zugehört, warf ihr Hirn ungebeten ein und Tia schnitt erneut eine Grimasse.

Irgendwo auf der anderen Seite der Statue blitzte es. Sie presste sich rechtzeitig die zerschundenen Handballen auf die Ohren, um den nächsten Donner zu dämpfen. Eine massige, untersetzte Gestalt flog an ihr vorbei und zog dabei eine dünne Rauchfahne hinter sich her. Krachend schlug sie nur wenige Schritte von Tia auf, rollte scheppernd weiter und blieb schließlich in einem Haufen dampfender Rüstungsteile liegen. Erst mit einem Augenblick Verzögerung erkannte Tia den stets mürrischen Zwergenkrieger der Truppe. Die Haare des Mannes standen in alle Richtungen ab, sofern sie nicht in einen seiner zahlreichen Zöpfe eingebunden waren. Winzige Funken sprangen zwischen ihnen und Tia bildete sich ein, ihr Knistern über den Lärm des tobenden Kampfes hören zu können. Was natürlich Unsinn war, denn noch immer waren ihre Hände fest auf ihre Ohren gepresst. Tia senkte sie zögerlich und wandte dabei den Blick nicht von dem wie aus Stein gehauenen, alten Gesicht des Zwergs, dessen weit aufgerissene Augen in ihre Richtung starrten, ohne irgendetwas wahrzunehmen. »Gud … Gudnar?« wisperte sie stockend. Einen Zwerg mit Magie umbringen - welche Chance hat der Rest von uns dann noch? Welche hast vor allem du, in diesem verdammten Dungeon zu überleben? Tia war versucht, ihrem Hirn endgültig das Wort zu entziehen, aber leider hatte sie keine Ahnung, wie das funktionieren sollte. Außerdem hatte es ziemlich wahrscheinlich recht.

Tia war in den letzten zehn Tagen ziemlich gut darin geworden, die leise Stimme in ihrem Hinterkopf zu ignorieren. Genaugenommen, seit die Fremden in den kleinen Marktflecken gekommen waren, der die gesamte Welt war, die Tia in den noch nicht zwanzig Sommern ihres Lebens gesehen hatte. Sie waren nicht die ersten Fremden gewesen. Das hatte das Leben in einem Marktflecken so an sich. In schöner Regelmäßigkeit kamen Händler vorbei, fahrende Handwerker, wandernde Gesellen, Steuereintreiber, der gelegentliche Trupp Söldner auf dem Weg zu einem Kriegsschauplatz irgendwo auf der Welt, und einzelne Krüppel oder Deserteure von genau dort. Schausteller und Gaukler kannte Tia, die Wagen der Dirnen, der Doktoren und der Wahrsager. Fast jeden Sommer ließ sich der eine oder andere Dieb oder Bandit auftreiben, den man in einer fröhlichen Prozession zum Galgenbaum führen konnte. Und erst im letzten Monat hatten die Jäger ein halbes Dutzend Orkschädel aus den Hügeln mitgebracht, das jetzt noch immer das Osttor zierte. Tia wusste also, wie es in der Welt lief.

Nichts davon hatte sie auf die Fremden vorbereitet.

Die fünf waren auf Pferden in den Ort geritten: einem riesigen, weißen Hengst, einem langbeinigen Fuchs, einem Rappen mit entferntem Brandzeichen, einem struppigen, mageren Ackergaul und einem gescheckten Pony, um genau zu sein. Außerdem mit einem halben Dutzend zäher Packpferde, voll beladen mit Ausrüstung und mehr Waffen, als die örtliche Wache ihr Eigen nennen konnte. Drei Männer, eine Frau und ein Zwerg. Tia hatte noch nie einen Zwerg gesehen, doch sie erkannte einen, wenn sie ihn sah. Jedes Kind kannte die Beschreibung der Höhlenmenschen. So breit wie hoch, haariger als Trollhintern, gruben sie in ihren Stollen nach Bier und fraßen Gold, wenn die Legenden recht hatten. Außerdem hieß es, sie schliefen mit ihren Äxten. Auch wenn sich Tia nicht sicher war, wie das funktionieren sollte. Die Ältesten schienen es ihm jedenfalls zuzutrauen, genauso wie den übrigen vier Mitgliedern der Gruppe.

Vermutlich lag es nur daran, dass einer der Männer die Kutte eines Priesters der Vier Jahreszeiten trug, dass sie nicht sofort einen Fackelzug organisierten, der die Fremden wieder aus der Stadt geleitete. Mit Priestern allerdings legte man sich nicht so einfach an. Man konnte nie wissen, ob sich der ein oder andere Gott vielleicht wirklich für das interessierte, was sie zu sagen hatten, und das letzte, was ein ländlicher Marktflecken wie dieser riskieren konnte, war, es sich mit den Vier Jahreszeiten zu verscherzen. Die hießen nicht umsonst so. Also verhängten die Dörfler eine Ausgangssperre, schlossen Frauen und Kinder ein, verboten den alten Stadtstreichern bei Prügelstrafe, das Wort »Queste« zu verwenden, und gaben den Fremden widerstrebend den Weg in das Wirtshaus am Markt frei.

Dort war es, wo Tia sie zum ersten Mal sah. Als eines der wenigen Mädchen war sie nicht weggesperrt worden. Küster, der Wirt, war der Ansicht, dass es dem Geschäft zuträglich war, wenn angenehm gerundete Mädchen Speisen und Getränke servierte. Und wenn sie nicht lernten, sich selbst gegen grabschende Finger zu wehren, ohne dabei auf das Trinkgeld zu verzichten, dann war das nicht sein Problem. Seit einigen Monaten war Tia eines dieser Mädchen. Und ihre Fertigkeit, mit einem voll beladenen Tablett in aller Unschuld vorwitzige Finger zu quetschen, ohne dabei Getränke zu verschütten, war bereits legendär. Also hatte sie tief durchgeatmet und ihr bestes falsches Lächeln aufgesetzt, als die Fremden den düsteren Schankraum betreten hatten.

»Heda! Wirt!« hatte der blonde Hüne mit donnernder Stimme in den Raum geworfen, während sich seine Gefährten in Keilformation hinter ihm aufgebaut hatten. »Den Göttern zum Gruße! Mein Name ist Thor de Welv und Wir haben Uns entschlossen, Euch heute die Gunst zu erweisen, Uns bewirten zu dürfen! Bring Er fünf Humpen von seynem besten Biere!«

Der Zwerg hatte seinem Anführer einen seltsam müden Seitenblick zugeworfen und seine Axt auf einen Tisch fallen gelassen. »Joh. Mir auch.«

»Für mich bitte ein Wasser, guter Mann.«

»Habt Ihr Wein?«

»Und was zum Rauchen, wenn Ihr versteht …?«

Tia war sich noch immer nicht ganz sicher, wie danach alles im Chaos versinken konnte.

Auf jeden Fall war viel Bier geflossen. Wenig später der Selbstgebrannte des Wirts, der eigentlich nur zum Reinigen der Töpfe genutzt wurde. Der verwegen abgerissene Kerl mit der schwarzen Lederkleidung und den ebenso schwarzen, öligen Haaren – Owen, wie Tia inzwischen wusste - hatte es irgendwie geschafft, ihr an den Hintern zu fassen, worauf sie ihm die Nase angebrochen hatte. Ein halbes Dutzend strammer Dorfburschen hatte sich an Clarindiel, die spitzohrige Frau mit dem rotblonden Zopf, herangemacht und war von ihr verprügelt worden. Eine Handvoll Händlerwachen hatten den Zwerg beleidigt. Eine Axt war geflogen, Tische gingen zu Bruch, der Wirt hatte eine Armbrust unter der Theke hervorgeholt und gespannt. Ein Messer war geflogen, dann eine Wache. Die beiden Dorfbüttel waren eingeschritten und hatten versucht, den Anführer der Fremden zu verhaften. Ein Büttel war geflogen. Bauern waren hereingeströmt, um sich zu beteiligen und Wetten abzuschließen. Ein Handwerksbursche hatte die Gelegenheit genutzt, Tia an den Hintern zu fassen. Sie hatte ihm zwei Finger gebrochen. In dem Durcheinander hatte niemand ein Auge auf Jorge, den Säufer, gehabt, der dem Priester irgendeine Geschichte über die nahen Hügel erzählte, bevor Tia ihn mit einem zielsicher geworfenen Bierkrug zum Schweigen bringen konnte. Der Wirt hatte die Armbrust schließlich fertig gespannt, geladen und versehentlich eine Öllampe von der Decke geschossen. Die Prügelei hatte sich auf die Straße ergossen, während das Wirtshaus in Flammen aufgegangen war. Und aus irgendeinem ihr bis jetzt völlig unbekannten Grund hatte sich Tia hinter Owen auf dem schwarzen Pferd wiedergefunden, als der Tross der Helden in Richtung der Hügel galoppierte, während das Flackern der Brände die hereinbrechende Dämmerung in unsteten, orangen Widerschein getaucht hatte und die mit Fackeln und Feldwerkzeugen bewaffnete Meute hinter ihnen zurückgeblieben war.

Die fünf hatten ihr Nachtlager in einer Flussschleife am Fuß der Hügel aufgeschlagen und es war, als hätte Tia schon immer zu ihnen gehört. So selbstverständlich, dass sie bis dahin niemand nach ihrem Namen gefragt hatte. Dafür gingen die anderen offensichtlich davon aus, dass sich die Schankmaid um die Bedienung und den Abwasch kümmerte. Es machte ihr nichts. So sah ihre Abendroutine ohnehin aus, und im Tausch dafür konnte sie mit echten Helden an einem Feuer sitzen und ihren Geschichten lauschen. Und Geschichten tauschten sie an jenem Abend aus, und an den folgenden. Sie füllten die Nächte mit rauem Gelächter – wenn man von der Rotblonden absah, deren Stimme sich glockenhell von denen der Männer abhob.

Der Anführer der Gruppe, die sich seltsamerweise die Legendären Drei nannte, war der Hüne, der stets in salbungsvollen Worten und meist in der dritten Person von sich sprach. Thor de Welv, Held unzähliger Schlachten, Erretter eines reichlichen Dutzends Jungfrauen. Auch wenn der exakte Zustand ihrer Jungfräulichkeit für eine gute Viertelstunde Diskussion sorgte, bevor man sich auf den Ausdruck Edelfräulein einigte. Thor schien die Gruppe um sich geschart zu haben, um magische Torwege zu finden, geheimnisvolle Portale, mit Hilfe derer er irgendein Übel, einen unbenannten Feind oder ein Monster erreichen wollte, dem es den Garaus zu machen galt. Die genaue Art der Bedrohung konnte Tia nicht eindeutig herausfinden – auch nicht nach mehreren Stunden voller Heldengeschichten. Das etwas vage bleibende Ziel schien jedenfalls weder Thor noch seine Begleiter abzuschrecken, in tiefste Höhlen und Verliese, in abgelegene Burgen und befestigte Städte einzudringen, Abenteuer zu erleben, Schätze zu erbeuten und zu verprassen und eine Spur aus Blut, Legenden und Heldentum durch die Reiche zu ziehen. Überhaupt schienen Abenteuer der einzige Zweck zu sein, aus dem diese Gruppe Abenteuer bestand.

Drei Tage später hatten sie den Eingang in den Dungeon gefunden.

Gudnar sog plötzlich und mit einem rasselnden Pfeifen Luft ein, stieß sie mit einem Aufbrüllen aus und rappelte sich auf die Füße. Er betrachtete den verkohlten Rest des Axtstiels in seiner Hand und zwinkerte mehrmals heftig, und wischte sich fahrig über das Gesicht, bevor er den nutzlosen Griff fallen ließ. Seine rechte Augenbraue und ein Teil seines Bartes lösten sich in kleine Aschewölkchen auf. Er grunzte. Dann fiel sein Blick auf Tia und er fletschte die Zähne. »Hammer«, knurrte er.

Tia zuckte zusammen. »Was?«

»Hammer, Mädchen. Auf deinem Rücken! Bei den Göttern, es ist wirklich schwer, vernünftiges Personal zu finden.« Er streckte die Pranke aus und endlich fiel die Erstarrung von ihr ab. Natürlich. Ihr war wie selbstverständlich die Aufgabe zugefallen, das Gepäck der Abenteurer zu tragen, während sich die Helden selbst mit wichtigeren Dingen beschäftigten, wie dem Öffnen von Türen, dem Entschärfen von Fallen und dem Töten jeder unglücklichen Kreatur, die ihnen über den Weg lief. Komplizierteren Türen, als dein Heimatort zu bieten hat, meldete sich der lästige Teil ihres Hirns erneut ungebeten. Wirklich gut geölten Fallen. Und Kreaturen, die oft genug nicht einmal durch die besagten Türen hindurch passten. Tia schüttelte den Kopf, warf den Rucksack ab und zerrte den Vorschlaghammer des Zwergs aus dem Gepäck. Gudnar schnappte sich die Waffe, zog geräuschvoll Schleim hoch und warf sich mit einem breiten Grinsen erneut in das Gefecht, das knapp außerhalb von Tias Gesichtsfeld tobte.

Dumpfe Hiebgeräusche, gelegentlich von einem feuchten Schmatzen begleitet, mischten sich unter das beinahe ununterbrochene Sirren von Clarindiels Bogensehne und die Flut von mehr oder minder kreativen Beleidigungen, die Owen ihren Gegnern entgegenschleuderte. Wutgeheul brandete auf und Tia wagte einen schnellen Blick um die Statuenreste herum. Die Horde der angreifenden Scheusale war deutlich verkleinert. Beinahe die Hälfte der … Goblins? … lag in Stücke gehauen zu Füßen der Legendären Drei und der Rest der zerlumpten Scheusale musste inzwischen über die aufgehäuften Reste der Horde klettern, um an die Abenteurer heranzukommen. Nichtsdestotrotz versuchten sie es. Clarindiel schoss Pfeil um Pfeil in die Masse der Angreifer, während der Zwerg und der Hüne mit mächtigen Schwüngen jene fällten, die ihr entgingen. Owen beschäftigte sich inzwischen damit, seine Dolche in die zu stechen, die nur verletzt zu Boden gingen und doch immer noch versuchten, den Kriegern in die Beine zu beißen. Der Priester schließlich stand hinter ihnen und wann immer es einer der Kreaturen gelang, die Deckung der anderen zu durchbrechen heilte er die Wunden seiner Kameraden schneller, als sie ihnen zugefügt wurden.

Tia runzelte die Stirn. Worüber hatte sie sich eigentlich Sorgen gemacht? Es sah nicht so aus, als würden die Goblins die Legendären Drei stoppen oder auch nur länger aufhalten können.

»Pfeile sind aus«, verkündete Clarindiel über den Lärm der Schlacht. »Haltet mir mal kurz meinen Platz frei.« Sie wand sich zwischen den anderen hindurch und huschte zu Tia herüber. »Pfeile, Kind.«

»Ich … Wir haben keine mehr.« Tia ließ ihren Blick erneut über das Gepäck wandern, obwohl sie genau wusste, dass sie Clara das letzte Bündel kurz vor diesem Gemetzel gereicht hatte. »Pfeile sind aus«, wiederholte sie. Die spitzohrige Bognerin verzog das Gesicht. »Im Ernst, wofür haben wir dich überhaupt mitgenommen«, murrte sie. Sie packte die nächstliegende Leiche und tastete den nur mit einem schmutzigen Hüfttuch bekleideten Toten sorgfältig ab. Tia sah ihr befremdet zu. Was …?

»Aha!« Mit einem triumphierenden Ausruf rollte Clara den Leichnam zur Seite und hielt einen vollen Köcher in der Hand. In der anderen tauchte ein halbes Dutzend abgegriffener Kupfermünzen auf, die sie Tia zuwarf. Diese reagierte zu spät, um das Geld zu fangen, vor allem, weil sie noch immer dabei war, sich darüber zu wundern, wo genau der Tote das dicke Bündel Pfeile verborgen gehabt hatte. Wenn man es recht betrachtete, dann war es vielleicht besser, die Münzen nicht anzufassen. Sie schüttelte sich.

»Du musst sie nur genau durchsuchen. Sie haben immer etwas dabei. Und jetzt mach dich nützlich und …« Clarindiel unterbrach sich, wirbelte herum und schoss einer der lederhäutigen Kreaturen zwei Pfeile direkt in Gesicht und Hals. Mit einem Gurgeln brach der Goblin zusammen und klatschte direkt vor Tias Füße. Sie fuhr erschrocken zurück. So nah war noch keiner ihrem Versteck gekommen. Dasselbe war auch Clarindiel aufgefallen. »Was bei den Vier verkackten Jahreszeiten treibt ihr Hornochsen dort vorn?« Sie schoss einen weiteren Pfeil ab und fällte einen weiteren Gegner.

Tia atmete tief durch. Diese Abenteuersache verwirrte sie. Weniger die fünf Drei, als dieses ganze Höhlending hier. Sie hatten das labyrinthartige System im Eiltempo durchlaufen, immer auf der Suche nach der Tür, der sie schon ewig nachjagten. Sie waren durch drei Thronsäle gekommen, ein Stammesheiligtum und das geheime Labor eines Alchimisten, verborgen hinter einem Bücherregal inmitten eines Kerkers. An jedem dieser Orte hatten seine vier Begleiter alles Erdenkliche angestellt, um die besagte, verborgene Tür zu finden, der Thor hinterher war, und bei jedem Fehlschlag war der Hüne frustrierter geworden.

»Nicht hier. Die von allen Göttern verdammte Tyr isset nicht hier. Lasset uns weyterziehen.« Mit diesen Worten hatte er den Schädel des letzten der drei Skelettkönige zertrümmert, dessen Krone aufgefangen, noch bevor sie den Boden berührt hatte, und das verbogene Stück Tia zugeworfen. »Wir brechen ab. Dies hier beginnet, mich zu langweylen.« Die anderen hatten ihre Zustimmung gemurmelt, noch ein paar Münzen eingesammelt und sich dann auf den Rückweg gemacht.

Die Goblins kamen, kurz bevor sie den Ausgang erreicht hatten. Und sie waren seltsam wie der Rest dieser Höhlen. Sie griffen an, selbst nachdem sich ihre abgeschlachteten Artgenossen schon zu Hügeln türmten. Das war blödsinnig. Selbst Tiere und Idioten wussten, wann es genug war. Es sei denn … Tia runzelte die Stirn. Es sei denn, etwas hinter ihnen macht ihnen noch weit mehr Angst. Wer hat eigentlich diesen Blitz vorhin geschleudert? Sie rutschte noch einen halben Schritt weiter vor und starrte in die Dunkelheit hinter der Horde. Dort. Eine Gestalt in der Kutte eines Priesters stand mit hoch erhobenen Armen und wedelte mit den Händen in der Luft herum, als wollte sie sämtliche Spinnweben von den Wänden entfernen.

Tia öffnete den Mund, doch noch ehe sie eine Warnung ausstoßen konnte, riss die Gestalt ihre Hände in einer dramatischen Geste herab und deutete auf die Berge aus Leichen. Ein düsteres Raunen und Wispern ging durch die Grotte und wies merkwürdigerweise mehr Hall auf als alle Geräusche des Kampfes bisher. Und die Toten erhoben sich. Langsam aber zielstrebig stemmten sich die Toten hoch, und selbst die, die mangels abhanden gekommener Gliedmaßen nicht mehr dazu in der Lage waren, taten ihr Bestes, um auf die Abenteurer zu zu kriechen oder zumindest vorwurfsvoll zu starren.

Tia wimmerte und kroch noch tiefer in ihre Nische hinter der Statue.

»Was ist dies für eine höllische Teufeley?«, bellte Thor.

»Man nennt das Nekromantie«, knurrte der Zwerg und fällte drei der noch im Aufstehen begriffenen Goblins mit einem Hieb.

»Manchmal geht der Boss mir wirklich auf den Sack«, stellte Owen fest, rammte einem Gegner ein Messer in den Schädel und stolperte zurück, als ein weiteres halbes Dutzend nach ihm griff. »Der Drecksack dort vorn hat uns in eine Falle gelockt und der große Thor hat mal wieder nichts gemerkt.«

»Halt den Rand, Owen. Du hast selbst nichts bemerkt«, fuhr ihn Clarindiel an und trat einer der Kreaturen den Kopf glatt von den Schultern. »Und du brüstest dich doch immer, dass das deine Spezialität ist. Ich bemerke alles. Nicht entgeht meinen Sinnen.« Der Tonfall ihrer letzten Worte äffte Owens nach.

»Leck mich. Und was ist mit deinen überlegenen Elfensinnen?«

Clara verzog das hübsche Gesicht zu einem Schmollen. »Wir sind unter der Erde. Seh’ ich aus wie ein abgesägter Buddler?«

»Hey!«, maulte Gudnar. »Sind wir schon wieder rassistisch?«

»Der Zwerg hat recht«, warf der Priester ein. »Auch in Zeiten erhöhten Drucks geziemt es sich nicht, auf den Unterschieden zwischen den Völkern seiner Kameraden herumzuhacken. Die Götter haben die Welt für uns alle erschaffen.« Er segnete eine Handvoll der Untoten, die daraufhin kreischend zusammenbrachen. »Konzentriert euch lieber darauf, dieses widerliche Goblingeschmeiß auszulöschen.«

Owen, der Zwerg und die Elfe zuckten gleichzeitig mit den Schultern und verdoppelten ihre Anstrengungen, doch Thors Stimme übertönte den Kampflärm: »Wir ziehen uns zuryck, Mannen!«

»Mannen. Typisch«, Clarindiel schnaubte abfällig und ließ gleich drei Pfeile in Richtung der berobten Figur am anderen Ende der Höhle fliegen. Zwei der Goblins warfen sich ihren Geschossen in den Weg und sie seufzte. »Sicher, Thor?«

»Lasset uns gehen!« stellte ihr Anführer bestimmt fest. »Die Tyr isset in eynem anderen Dungeon!«

»Deine verdammte Tür ist immer in einem beschissenen anderen Dungeon«, brummte der Zwerg und Clarindiel hob mitfühlend eine perfekte Braue.

Dann wirbelte sie herum, duckte sich zwischen zwei Angreifern hindurch und sprintete leichtfüßig in Richtung Ausgang.

»Hey!« Owen zögerte und sah zu Tia hinüber. «Und was ist mit ihr?«

»Vergiss sie. Wir besorgen uns einen neuen NSC!« Der Priester packte ihn an der Schulter und zerrte ihn mit sich.

Tia sah ihnen entsetzt hinterher. »NSC? Was …«

Owen winkte ihr entschuldigend zu. »Mach dir keine Sorgen. Dir kann nichts passieren! Wir kommen zurück und …«

»Einen Scheiß werden wir«, bellte der Priester und verschwand im Durchgang auf der anderen Seite der Grotte.

»Aber sie hat mein liebstes Messerset im Rucksack!«

Das war das letzte, was Tia von den Legendären Drei hörte oder sah. Alles weitere ging im kreischenden Geschnatter der untoten Goblinhorde unter, die unerbittlich die Verfolgung aufnahm.

Tia starrte ihnen entsetzt hinterher, die Arme fest um den schweren Rucksack geschlungen. »Aber… nehmt mich mit! Das könnt ihr nicht machen!«, flüsterte sie. Eigentlich hatte sie es hinausschreien wollen, doch aus irgendeinem Grund brach ihr die Stimme. Sie schluckte. »Das können sie doch nicht machen…«

»NSC, was?« fragte eine dünne, etwas quietschige Stimme zu ihren Füßen. Tia sprang zurück und starrte nach unten. Einer der Goblins lag direkt vor ihr und starrte aus milchig werdenden Augen zu ihr auf. In seiner Rechten hielt er ein langes, schartiges Küchenmesser, in seine Linke stützte er soeben das Kinn. Seine Beine waren nirgendwo zu sehen, genauso wenig wie alles andere, was er unterhalb des Brustkorbs hätte haben sollen.

»Wa… Weiche von mir!« Tia trat einen weiteren Schritt zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Wand.

»Sehr witzig«, quietschte der Goblin. »Können vor Lachen.«

»Du wirst mich nicht umbringen!« fauchte Tia. Die Kreatur seufzte.

»Näh. NSC umbringen is’ verboten, wenn die Abenteurer weg sind. ’s sei denn, sie sin’ auf Wachdienst oder ´ne Liebschaft von einem der Helden. Bist du?« Der halbe Goblin sah sie so misstrauisch an, wie es mit zusehends trübe werdenden Augen ging.

Tia dachte daran, wie sie am Abend zuvor Owens recht dreisten Annäherungsversuch abgewehrt hatte, wenn auch nur, weil der schmucke Glücksritter bei weitem zu besoffen gewesen war. »Nein«, stellte sie zögerlich fest. »Ich glaube nicht. Was … was ist ein NS…F…W?«

»Neu in dem Geschäft, was?« Der halbe Goblin gackerte und hustete ein wenig schwarzes Blut, was ihn jedoch nicht sonderlich zu stören schien. Aus seinem anderen Ende pfiff er leise. Vermutlich hatte auch einer seiner Lungenflügel ein Loch. »’ne nützliche Begleitung ohne eigene Interessen. Angeheuerte Handlanger, die mit den Abenteurern nicht viel zu tun haben. Die da oben nennen euch seit einiger Zeit …« er kaute ein wenig auf den seltsamen Lauten herum, »Nich‘ Selbstständige Commodität. NSC halt. Was Helden halt so mitnehmen, um ihr eigenes Gepäck nich’ schleppen zu müssen.« Er grinste und beim Anblick seiner spitz gefeilten Zähne lief Tia ein eisiger Schauer über den Rücken. »Hast Glück gehabt. Normalerweise benutzen sie solche wie dich, um Fallen auszulösen. Manchmal dürf’n wir euch auch zuerst umbringen, um zu zeigen, wie scheiß-gefährlich das hier is’.« Er zwinkerte ein wenig in die falsche Richtung.

»Aber ich denke, ihr dürft … NSC nicht töten?« Tia sah über ihn hinweg in die Grotte, die sich inzwischen fast völlig geleert hatte. Die meisten der Untoten waren mit ihrem Meister den Abenteurern gefolgt und ihr dumpfes Stöhnen halte nur von weit her durch den Gang. Die letzten der noch lebenden Goblins dagegen verschwanden soeben leise schnatternd in der Gegenrichtung. Keiner von ihnen schenkte ihr in ihrer Nische hinter der Statue Beachtung.

»Nich’, wenn die Abenteurer weg sind. Weißte, viele von euch können sich ziemlich gut wehren. Schäden durch Heldengruppen sind im Budget abgedeckt. Das hier«, er legte sich ein wenig bequemer und gestikulierte in Richtung seiner offenkundigen Verlustmengen, »kein Problem. Das gibt’n saftigen Bonus für meine Familie, ’nen Aufschlag für besonderen Schauwert. Da sind ein paar saubere Doppelnähte drin un’ ne Beförderung in die Abteilung 21: Untote im fest’n Wachdienst. Ich denk, auch ne ordentliche Schichtzulage. Weißte, wir waren eigentlich gar nich’ dran, aber irgendwer fand’s wohl ne gute Idee, ’n letzten Ausfall zu machen. Ich schätze, da werden Köpfe rollen. Und das mein’ ich nich nur so metafys… metampfo… metyl … also, das wird wirklich passieren. Aber ohne Abenteurer im unmittelbaren Aktionsbereich zu riskieren, dass noch mehr von uns von nem NSC beschädigt werd’n – nee. Das is’ nich drin. Für so was streichen’se dir glatt die Wiederbelebung und nähen dich mit Trollhaaren zusammen. Und ich mein’ nich’ die vom Rücken. IR versteht da keinen Spaß.« Seine dünne Stimme wurde undeutlicher und wider besseren Wissens hockte sich Tia hinunter, um ihn besser verstehen zu können.

»Wer ist dieser Iehr?« fragte sie eindringlich? Ist er der Herr dieses Dungeons?«

Der Goblin kicherte pfeifend. »Der Herr? Ä-äh.« Er schüttelte den Kopf. »Erstens sagn wir nich’ mehr Herr. Das is’ altmodischer Imprealismus, ham’se uns erklärt. Offiziell heißt das jetz’ Bereichs-Ab… Abschneidbevollmächtiger. Zweitns wär das hier Adáz. Der verrückte Nekrotiker. Näh, IR is’ das, was über ihm steht. Die Verwaltung. Inhumane Resorcerers nennen die sich. Oder so was. Hat die IDO Adáz und den unheiligen drei Königen vorgesetzt, als der Laden hier vor’n paa Jahren Pleite gegangen is’. War ne feindliche Übrnahme, in der se ihre eignen Leute reingebracht hab’n. Un’ für all’s’n schönns Kürslgefndhbn…«

Die Worte des untoten Goblins wurden zunehmend undeutlicher und endeten schließlich in einem monotonen Zischen, das zu gleichen Teilen aus dem unteren wie oberen Ende seiner Lunge entwich. Dann knirschte er mit den Zähnen und begann, sich blindlings vorwärts zu ziehen.

»Sicher, dass das so sein soll?«, fragte Tia leise. Der trübe Blick der Kreatur zuckte herum. Die Zähne klapperten und der Dolch in der Hand des Untoten kratzte über den Boden in ihre Richtung.

Vermutlich nicht. Sie stieß den Rucksack von sich und er polterte links von ihr zu Boden. Der Kopf des Untoten ruckte erneut und er kroch in Richtung des Geräuschs.

Tia sprang nach rechts und lief in den Tunnel hinein, der sich dort öffnete. Das enttäuschte Pfeifen des Goblins blieb schnell hinter ihr zurück.

Ein halbes Dutzend Kreuzungen und Biegungen weiter hörte Tia nichts mehr als das Dröhnen ihres eigenen Herzschlags. Stolpernd wurde sie langsamer und lehnte sich schließlich an die Wand, dicht neben einer Fackel, die hier irgendjemand vor nicht allzu langer Zeit in einen Spalt geklemmt hatte. Fackel. Keuchend stützte sie sich auf ihre Knie und sah sich um. Dort, gerade am Rand der Sichtweite schienen weitere Lichtinseln, gerade genug, um die völlige Finsternis zu verhindern, die Tia unter Tage erwartet hatte. Seltsam, dass ihr das vorher nicht aufgefallen war. Gut, der Priester hatte einen leuchtenden Stab mit sich herumgetragen und Owen bei jeder sich bietenden Gelegenheit eine schicke Blendlaterne auf- und wieder zugeklappt. Trotzdem – wer bei allen guten Geistern rannte denn durch einen Dungeon und steckte frische Fackeln in die Wände? Sie schüttelte den Kopf, stieß sich ab und lief so leise wie möglich weiter. Hinter der nächsten Kurve wucherte schmieriges, leuchtendes Moos an den Wänden, einige Schritte weiter waren es grünlich glimmende Würmer, die langsam über die Wand krochen, wieder eine Windung des Ganges später duckte sie sich unter silbrig schimmernden Fäden hindurch, die sich sanft in einer nicht zu spürenden Brise bewegten. Schließlich mündete der schmale Tunnel in eine Höhle, in der sie schon einmal gewesen zu sein glaubte. Sie war charakteristisch kuppelartig gewölbt und von ihrem höchsten Punkt hing eine dicke, eiserne Kette herab, an der jemand ein Wagenrad befestigt hatte, auf dem Dutzende von Kerzen flackerten. Sie runzelte die Stirn. Es war nur ein paar Stunden her, als Owen sich an diesem improvisierten Kronleuchter von einer Seite der Grotte zur anderen geschwungen hatte. Wo er einen seiner verzauberten Dolche genutzt hatte, um die Kette zu durchtrennen und das Wagenrad auf die zwei Orkwachen fallen zu lassen, die dort einen der Ausgänge bewachten. Sie konnte sich gut an die beiden Wachen an ihrem zusammengeschusterten Posten erinnern – zwei Orks, der eine ein bulliges Monstrum mit mehr Ringen in Nase und Lippen, als sie je besessen hatte, der andere ein drahtiger Kerl, dem eine wulstige Narbe das Gesicht in zwei ungleiche Hälften teilte. Beide trugen ein reiches Sortiment an rostigen Haumessern, kurzen Schwertern und sonstigen Klingen bei sich und unterhielten sich in einer Sprache, die vor allem aus Grunzlauten zu bestehen schien.

Jetzt allerdings führten die beiden allerdings auch noch Reisigbesen, mit denen sie nachlässig den Dreck um ihre Wachstation neu arrangierten, beziehungsweise in die Schatten der nahen Stalagtiten kehrten. Stalagmiten, verdammt, kommentierte ihr Hirn ungebeten.

Sie kniff die Augen zusammen und blinzelte. Ihre Gedanken stolperten, als sie versuchte, zu begreifen, was sie sah. Es waren dieselben Orks wie zuvor. Kein Zweifel. Obwohl Owen sie doch beide mit gezielten Messerstichen getötet hatte, als sie benommen und zerschlagen unter den Resten des Rades gelegen hatten. Und sie … putzten. Zugegeben, wie äußerst schlampige Aushilfen, aber diesen Anblick hatte sie auch von wiederauferstandenen Toten nicht erwartet. Sie schwankte und stützte sich an einem der Stalagmiten ab Dieser brach und polterte den abschüssigen Weg hinab in die Höhle.

Die Orks fuhren herum. Der Massige grunzte etwas, das nach einem unwirschen Befehl klang. Tia wagte nicht, sich zu rühren. Der Ork starrte in ihre Richtung, dann ließ er den Besen fallen und griff nach seinen Waffen. Er wechselte in die Sprache der Menschen. »Halt! Wer da?« Die riesigen Eckzähne beeinträchtigten seine Aussprache erheblich. Für einen Moment rang Tia mit dem Impuls, umzudrehen und zurück in den Gang zu fliehen, doch dort gab es kein geeignetes Versteck, und schneller als sie waren die Monster vermutlich auch.

»Antworte! Ich kann dich sehen, weißt du?«

Verdammt. Orkaugen sahen im Dunkeln. Das wusste jedes Kind! »Ich…« Sie räusperte sich. »Ich bin ja nicht blöd«, gab sie zurück und war sich sicher, dass ihre Knie nicht halb so zitterten wie ihre Stimme.

Der Ork knurrte. »Abenteurergeschmeiß! Komm und stell dich!« Er hob sein Haumesser und ließ die gewaltigen Schultern kreisen.

Tia schluckte. »Abenteurer? Da muss … da liegt ein Irrtum vor. Ich bin …« Ein NSC, lag ihr auf der Zunge. Ein NSC? Nicht selbständige Commodität? Ein verdammter Lastesel? Sie schluckte den Ausdruck hinunter, bevor er ihre Lippen verlassen konnte.

»Was? Was’n sonst? Wie’n Goblin siehst du nicht aus. Eine Ork bist du ganz sicher nicht. Und Menschen beschäftigt Meister Adáz nicht.« Die beiden Monster sahen sich an, dann marschierte der Bullige drohend auf sie zu.

»Ad… áz. Der diesen Abschnitt hier befehligt, richtig«, brabbelte Tia schnell. Sie hielt sich nicht damit auf, ihrem Mund zuzuhören, während sie ihr Gehirn fieberhaft nach dieser Sache durchforstete, die der Goblin vorhin erwähnt hatte. »IDO! Ich bin IDO.«

Der Ork hielt inne, das Haumesser bereits zum Schlag erhoben. »IDO«, wiederholte er langsam. »Du.« Er musterte sie misstrauisch, wobei sich seine wulstigen Augenbrauen wanden wie zwei äußerst haarige Raupen.

Sie nickte und zwang sich dann, damit aufzuhören. »Das ist euch schon ein Begriff, ja?«

»Internationale Dungeon Ordnung«, nuschelte der Drahtige an seinen Hauern vorbei. »Natürlich.«

Tia deutete auf ihn, ohne die Augen vom Massigen zu nehmen. »Was der Mann … Ork sagt.«

»Hm.« Der Massige senkte das Haumesser, steckte es jedoch nicht weg. »Und was macht eine von der IDO allein hier unten? In diesem Aufzug?« Er musterte sie immer noch misstrauisch von Kopf bis Fuß, und zum ersten Mal wurde sich Tia bewusst, dass sie noch immer in Kleid und Mieder einer Schankmaid gekleidet war und sie wunderte sich, warum sie das bis jetzt nicht einmal bemerkt oder gar als unpassend empfunden hatte. Vielleicht, weil es die Sachen waren, die sie eben schon immer getragen hatte. Vielleicht aber auch … NSC. Sie drängte den ungebetenen Gedanken zurück und hob den Kopf, um dem Ork in die winzigen Schweinsäuglein zu starren. »Überraschungsinspektion«, sagte sie. Es war das erste, was ihr einfiel. Und außerdem eine der beliebteren Arten, wie der Wirt betrunkene Knechte und – noch lieber – leicht bekleidete Schankmaiden zu Unzeiten von den Strohlagern warf, um sie nach unterschlagenen Trinkgeldern zu durchsuchen. Also die Strohlager der Knechte und die Schankmaiden. »Ihr kennt das hier unten doch, oder?«

»Hm«, machte der Ork wieder und starrte auf sie herab. »Welche Abteilung, sagtet Ihr gleich?« Ihr fiel auf, dass ihn seine Hauer auf einmal deutlich weniger in der Aussprache behinderten.

»Ich habe gar nichts gesagt, Kerl«, knurrte sie zurück. Plötzlich fand sie ihre beste Bedienungsstimme wieder, jene, die auch einem sturzbetrunkenen Kneipenschläger noch klar machen konnte, dass er seine Hand jetzt besser da wegnehmen sollte, wenn er sie behalten wollte. »Und jetzt geh mir aus dem Weg oder die Inhuman Resorcerors werden eine neue Stelle für dich finden, dort, wo man zu den Latrinenputzern voll Ehrfurcht aufschaut.«

»Bei den Exkrementbeseitigern?!« die Stimme des Drahtigen quiekte plötzlich ein wenig.

Sie streckte erneut den Finger aus. »Was er sagt.«

Der Massige starrte sie an und seine Nasenflügel bebten. Dann senkte er den Kopf und trat zurück. Das Hackmesser verschwand wie von Zauberhand aus seiner Pranke. »Verzeiht. Wir hatten ja keine Ahnung …«

Tia brach den Blickkontakt, stellte mit heimlicher Erleichterung fest, dass ihre Blase nicht nachgegeben hatte, und marschierte an ihm vorbei in Richtung des Wachpostens der beiden. Die beiden Orks folgten ihr unschlüssig. »Wie ich sagte. Überraschungsinspektion. Also – Überraschung!« Sie breitete die Hände aus, wie sie es bei den Schaustellern nach einem gelungenen Zauberkunststück gesehen hatte, dann griff sie behände in den Gürtel des Drahtigen und zog eine Goldmünze draus hervor. Genau wie es Owen vor wenigen Stunden bei seiner Leiche getan hatte. »Was haben wir denn hier zum Beispiel? Wollte da jemand was abzweigen?«

Der Ork wurde sichtbar blass.

Der andere fletschte die Zähne. »Du mieser …«

»Ah.« Tia hob erneut den Finger und deutete dieses Mal auf den Massigen. Langsam fand sie Gefallen an dieser Geste. »Linker Stiefel. Schütte ihn aus.« Sie wiegte missbilligend den Kopf, als der Ork plötzlich verstummte. »Klassisches Versteck. Mal ehrlich: Jeder versteckt sein Gold da.« Das hatte ebenfalls Owen gesagt. Sie lächelte schmal. »Habe ich recht? Jungs – Goldmünzen. Ihr. Das glaubt euch doch keiner, dass ihr so viel erspart habt. Was meint ihr, was euer Boss dazu sagt?«

Die beiden wechselten einen nur mühsam verborgen entsetzten Blick und Tia fühlte wider Willen plötzlich Mitleid mit ihnen. »Aber was soll’s«, sagte sie großzügig. »Deshalb bin ich nicht hier. Kleine Fische.« Sie sah sich um und ihr Blick fiel auf den Drahtigen, der sich auf seinen Besen stützte. »Viel wichtiger: Hier geht es um die Ordnung in diesem Saustall hier. Du da – steh gefälligst gerade! Behandelt man so einen Besen?« Sie hatte das nicht sagen wollen. Wirklich nicht. Aber der Anblick der abknickenden Reiser musste einen Reflex in ihrer inneren Schankmaid ausgelöst haben. »Wer sein Werkzeug so nachlässig handhabt, der hält es mit seinem Dienst genauso. Dieser Besen ist dir anvertraut, also behandle ihn gefälligst mit Respekt! Glaubt ihr, die wachsen auf Bäumen?«

»Ja, also …«

»Halt den Mund! Wer so fegt, wie ihr zwei Luschen«, sie entriss dem Ork den Besen und fegte demonstrativ den Haufen Schmutz wieder hinter dem Stalagmiten hervor, »der verdient eigentlich noch nicht mal einen Posten bei den Mistschauflern! Sauberkeit am Arbeitsplatz garantiert Unfallfreiheit. Wenn ihr den Laden nicht sauber haltet, gefährdet ihr seine Sicherheit! Und was glaubt ihr, was mit Leute passiert, die die Sicherheit des Dungeons gefährden? Na?« Sie beachtete die gemurmelte Antwort der Orks nicht und warf das Werkzeug wieder seinem verstörten Besitzer zu. Dann deutete sie scheinbar wahllos auf eine angestaubte Kiste, die die Orks hier offensichtlich als Sitzgelegenheit genutzt hatten. Sie riss das verlauste Bärenfell davon herunter und wedelte damit den Staub fort. »Was ist das hier? Und in was für einem gott… kotzerbärmlichen Zustand ist das Ding überhaupt? Wischt hier keiner von euch Ferkeln mal durch? Seid ihr in einem Schweinestall aufgewachsen?«

Der Hagere zuckte mit den Schultern. »Naja, um ehrlich zu sein, schon. Ich …« Tia warf ihm einen Seitenblick zu und er verstummte. »Die steht schon immer hier. Wie angewachsen. Lässt sich nicht einen Fingerbreit bewegen. Geht nich’ auf. Und nich’ kaputt«, murmelte er und starrte die mit Eisenbändern eingefasste Truhe an, als wäre allein ihre Haltbarkeit schon eine Beleidigung.

»Hmhm.« Tia nickte und musterte das alte Möbel scheinbar kritisch. »Magisch.« Sie zitierte Owen jetzt aus dem Gedächtnis. »Euch ist klar, dass das Ding hier klar über dem Schatzindex einfacher Wachposten liegt?«

Wieder wechselten die beiden einen unsicheren Blick. »Wie gesagt, die steht schon immer hier und wir dachten nicht … Also, es ist halt Tradition so.«

»Wir sind eigentlich nur Aushilfen hier«, fügte der andere hinzu.

»Ihr dachtet nicht. Tatsächlich. Also, das wäre mir ja nie selbst aufgefallen. Keiner von euch ist also auf die Idee gekommen, diese deplatzierte Truhe mal zu melden? Jungejunge, ich sehe schon, hier ist verdammt viel zu tun. Adáz wird hier einiges erklären müssen. Hofft mal besser, dass er das nicht nach unten weitergibt.« Sie gönnte sich ein entrüstetes Seufzen.

»Aber das Ding ist doch sicher leer«, brummte der Massige trotzig. »Wenn da was Wertvolles drin wäre, würde man das doch nie hier lassen!«

Tia dachte an den Weinkeller des Wirtshauses und schnaubte. »Ihr habt ja keine Ahnung, was bei einer Inventur so vergessen werden kann. Wann war eigentlich die letzte hier?«

»Die letzte was?«, fragte der Massige vorsichtig zurück.

»Inventur.«

»Was?«

»Wann war das letzte Mal jemand von der IDO hier«, erkundigte sich Tia betont langsam und umrundete die Kiste.

Die Orks sahen sich an. »Noch nie?«

Tia hielt inne. »Das erklärt einiges.« Sie hockte sich hin und klopfte gegen eine bestimmte Stelle der Kistenrückseite, woraufhin eine winzige Klappe aufsprang, so, wie sie es zuvor bei Owen getan hatte. Sie drückte einen dahinter verborgenen Knopf. Mit einem dumpfen Knirschen bewegte sich etwas im Inneren des Möbels. Zufrieden lächelnd stemmte sie den schweren Kistendeckel auf. Die beiden Orks stießen verwunderte Laute aus und reckten unwillkürlich die Hälse. Tia griff in die Truhe und holte einen zusammengefalteten, schweren Kapuzenmantel heraus. Die ebenfalls schwere Geldkatze ließ sie unauffällig darunter verschwinden – so wie Owen es getan hatte. Er war gut gewesen, aber wenig entging dem scharfen Blick einer Schankmaid. Betont aufwändig schüttelte sie den uralten Kapuzenmantel aus, während die Börse den Weg unter ihr Mieder fand, und präsentierte ihn den Orks. »Ein Gestaltumhang.« Owens Worte. »Er kann das Aussehen seines Trägers nach Belieben ändern, so dass er in seiner Umgebung nicht auffällt.«

Die Augen des Hageren wurden groß. »Oh! So wie die Umhänge der Elfen. Man sagt, man könne sie damit im Wald nicht sehen!«