image

Carl-Auer

image

Systemische Therapie und Beratung

In den Büchern der Reihe zur systemischen Therapie und Beratung präsentiert der Carl-Auer Verlag grundlegende Texte, die seit seiner Gründung einen zentralen Stellenwert im Verlag einnehmen. Im breiten Spektrum dieser Reihe finden sich Bücher über neuere Entwicklungen der systemischen Arbeit mit Einzelnen, Paaren, Familien und Kindern ebenso wie Klassiker der Familien- und Paartherapie aus dem In- und Ausland, umfassende Lehr- und Handbücher ebenso wie aktuelle Forschungsergebnisse. Mit den roten Bänden steht eine Bibliothek des systemischen Wissens der letzten Jahrzehnte zur Verfügung, die theoretische Reflexion mit praktischer Relevanz verbindet und als Basis für zukünftige nachhaltige Entwicklungen unverzichtbar ist. Nahezu alle bedeutenden Autoren aus dem Feld der systemischen Therapie und Beratung sind hier vertreten, nicht zu vergessen viele Pioniere der familientherapeutischen Bewegung. Neue Akzente werden von jungen und kreativen Autoren gesetzt. Wer systemische Therapie und Beratung in ihrer Vielfalt und ihren transdisziplinären und multiprofessionellen Zusammenhängen verstehen will, kommt um diese Reihe nicht herum.

Tom Levold
Herausgeber der Reihe Systemische Therapie und Beratung

Ilke Crone

Das vorige Jetzt

Familienrekonstruktion
in der Praxis

Mit einem Vorwort von Tom Levold

2018

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Themenreihe »Systemische Therapie und Beratung« hrsg. von Tom Levold

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Genogramme: erstellt mit der InGeno-App der Forschungsgruppe von Dr. Dirk Rohr, Universität zu Köln, und Prof. Dr. Mario Winter, Technische Hochschule Köln

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

image

Erste Auflage, 2018

ISBN 978-3-8497-0217-5 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8118-7 (ePUB)

ISBN 978-3-8497-8117-0 (PDF)

© 2018 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: www.carl-auer.de.

Wenn Sie Interesse an unseren monatlichen Nachrichten aus der Vangerowstraße haben, abonnieren Sie den Newsletter unter http://www.carl-auer.de/newsletter.

Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

info@carl-auer.de

Inhalt

Vorwort

1Einleitung

1.1Aufbau des Buches

1.2Wer soll das lesen?

1.3Familie

1.4Konstruktion und Wirklichkeit

1.5Und nun zum unterlassenen »re«

1.6Familienrekonstruktionen im Schatten?

Hypothesen zum »Schattendasein«

1.7Ziele der Familienrekonstruktion

Was gäbe es zu gewinnen?

2Familie und Bindung

2.1Allgemeines zur Bindungstheorie

2.2Bindung und Irritationen

2.3Innere Arbeitsmodelle und Mentalisierung

2.3.1 … unter optimalen Bedingungen

2.3.2 … wenn Irritationen (be)hindern

2.4Risikofaktoren und Resilienz

3Trauma

3.1Allgemeines zu Trauma

3.2Traumafolgen

3.3Man-Made Disasters

3.3.1 Trauma durch Krieg und Flucht

3.3.2 Transgenerationale Weitergabe in Familien

3.4Mein persönliches Verständnis von Trauma

4Bindung und Trauma

4.1Trennungen und Verluste

4.2Vernachlässigung und häusliche Gewalt

4.3Erziehung im Nationalsozialismus

5Multikomplexität der Themen

6Familienrekonstruktion

6.1Begriffe

6.2Familienrekonstruktion als Selbsterfahrung

6.3Familienrekonstruktion in der Gruppe

6.4Familienrekonstruktion in Triaden

6.5Fragen, Anliegen, Ziele

6.6Familienrekonstruktion als Prozess

6.7Familienrekonstruktion in Vorbereitung

6.7.1 Annäherung

6.7.2 Biografien

6.8Familienrekonstruktion in Beg-Leitung

6.9Familienrekonstruktion in Aktion

6.9.1Genogramme

6.9.2Beziehungsskulpturen

6.9.3Familienrekonstruktion in mehreren Akten

6.10Familienrekonstruktion in Abschlussrunden

6.11Familienrekonstruktion im Übergang

6.12Familienrekonstruktion für die Praxis

7»Wie Liebe zu den Kindern verbindet« – Laura (46)

8Rituale als essenzielle Verdichtung

8.1Wut und Schmerz

8.2Versöhnung und Integration

8.3Würdigung, Anerkennung und Abgrenzung

8.4Rituale in der Gegenwart

9Was bleibt?

9.1Über das Gelingen und andere Fragen

9.2Multikomplexe Wirklichkeitskonstruktion

10Gemeinsamkeiten mit und Unterschiede zu anderen Formaten

10.1(System-)Aufstellungen

10.2Familienstellen

11Wer kann hier was von wem lernen?

11.1Erkenntnisse aus einem Gespräch mit Tom Levold

12Weiterdenken

Danksagung

Literatur

Allgemein

Filme und Romane zum Thema

Filme

Romane

Über die Autorin

Vorwort

Alle unsere Erfahrungen, Empfindungen und Wirklichkeitskonstruktionen, so evident sie uns auch erscheinen mögen, sind geprägt von sehr verschiedenen Kontexten: historischen, sozialen, ökonomischen, kulturellen, milieubedingten, familiären, generationalen und biografischen Rahmenbedingungen, die den Horizont der Möglichkeiten für Handlungen, Entscheidungen und Bewertungen in Hinblick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft abstecken und womöglich unterschiedlich stark, aber immer gleichzeitig präsent sind und auch miteinander in Wechselwirkung stehen. Im Unterschied zu den meisten anderen psychotherapeutischen Konzepten des vergangenen Jahrhunderts hat der systemisch-konstruktivistische Ansatz die Kontextgebundenheit aller unserer Erfahrungen und Wirklichkeitskonstruktionen zu einem zentralen Ausgangspunkt der eigenen Theoriebildung und Praxis gemacht.

Darin ist auch die Idee enthalten, dass wir unsere eigene Geschichte aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten und erzählen können – und jede Betrachtungsweise unsere Erzählung auch verändern kann. Aus dieser Perspektive ist es »nie zu spät, eine gute Kindheit gehabt zu haben« – aber auch möglich, die Erinnerungen an eine gute Kindheit als Trugschluss zu entdecken.

Kontextbedingt ist also beides: sowohl die Geschichte des Systems als auch der rückwirkende Blick darauf und die damit verbundene Bedeutungsgebung.

Blicken wir in Therapie und Beratung auf die Geschichte und die Geschichten unserer Klienten, sind wir nicht nur mit dieser doppelten Kontextgebundenheit unmittelbar konfrontiert, sondern auch damit, dass unser eigener Blick auf diese Geschichte und Geschichten selbst auch in hohem Maße kontextgebunden ist – unsere eigenen Erfahrungen und Urteile fließen in unsere Wahrnehmungen und Bewertungen dessen ein, was unsere Klienten uns erzählen.

Um dieser Kontextabhängigkeit eigenen Erlebens, Handelns und Urteilens auf die Schliche zu kommen, ist »Selbsterfahrung« bzw. »Selbstreflexion« ein wichtiger Bestandteil psychotherapeutischer Ausbildung. Die Kontextgebundenheit kann aus den genannten Erwägungen nicht ausgeschaltet werden – vielleicht wird sie im günstigen Fall einer Beobachtung zugänglicher.

Im systemischen Feld haben sich daher eine Reihe verschiedener Vorgehensweisen etabliert, die eine Auseinandersetzung mit den eigenen biografischen Erfahrungen im mehrgenerationalen Zusammenhang vor dem jeweiligen sozialen und historischen Hintergrund ermöglichen. Die Arbeit mit Genogrammen, Skulpturen, Aufstellungen, Fotografien, Dokumenten im Einzel- oder Gruppensetting, gemeinsame Sitzungen mit Familienangehörigen usw. gehören regelmäßig zu den Vorgehensweisen systemischer Selbsterfahrung.

Eine besonders intensive Form ist die »Familienrekonstruktion”, die von Virginia Satir begründet wurde. Satir führte als Sozialarbeiterin in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts als eine der ersten Professionellen Gespräche mit der gesamten Familie. Als Mitglied des Mental Research Instituts in Palo Alto, Kalifornien, entwickelte und leitete sie das weltweit erste Weiterbildungscurriculum in Familientherapie.

In Deutschland gewann sie seit den 1970er Jahren durch ihre offene und herzliche Art im Umgang mit Menschen eine nicht unbeträchtliche Anerkennung; so war das Institut für Familientherapie Weinheim nicht nur das erste familientherapeutische Weiterbildungsinstitut in der Bundesrepublik, sondern auch dem Beziehungsmodell Satirs auf besondere Art und Weise verpflichtet. Andere Institute folgten in dieser Tradition. Von Beginn an war die Familienrekonstruktion elementarer Bestandteil der Weiterbildung in diesen Instituten.

Familienrekonstruktion geht über die Benutzung der oben genannten Techniken und Medien hinaus. Sie ist eine intensive, über mehrere Tage stattfindende Gruppenveranstaltung, auf die sich die »Protagonisten« (oder die »Stars«, wie Virginia Satir sie genannt hat) gründlich vorbereiten und in der sie. Von erfahrenen Lehrtherapeuten begleitet, setzen sie sich über mehrere Stunden intensiv mit ihrer mehrgenerationalen Familiengeschichte und deren Einbettung, Verbindung oder auch Verstrickung in die historischen und sozialen Kontexte auseinander. Dabei ist wesentlich, dass die Rekonstruktion nicht nur auf das Medium der Sprache setzt, sondern auf die szenische Rekonstruktion von erlebten oder vermuteten Schlüsselszenen der Familiengeschichten mit Hilfe von Skulpturen und Aufstellungen, bei denen die Gruppenteilnehmer eine Position als Stellvertreter für Familienmitglieder einnehmen. Dies bereichert die Hypothesenbildung um eine Mobilisierung atmosphärischer, impliziter, nichtsprachlicher Informationen, die einen neuen Blick auf diese Szenen erlauben, der nicht durch die tradierten Familiencodes zugestellt ist.

Ilke Crone, erfahrene Lehrtherapeutin am Bremer Institut für systemische Therapie und Supervision, gibt in diesem Buch einen ausführlichen Einblick in die konzeptuellen Hintergründe und die methodische Durchführung von Familienrekonstruktionen und grenzt sie von anderen, verwandten Formen der Selbstreflexion ab. Dabei berücksichtigt sie in ihren Überlegungen im besonderen Maße bindungs- und traumatheoretische Modelle, die Hypothesen für die transgenerationale Übertragung von problematischen Verhaltensmustern und traumatischen Erfahrungen anbieten. Gerade die deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts mit ihren Gewalt- und Vernichtungsexzessen ist durch die traumatisierenden Folgen für Millionen von Menschen bis in die heutige Zeit hinein wirksam, wie die Forschung zum Thema Kriegskinder und Kriegsenkel der vergangenen 20 Jahre zeigt. Kaum eine Familie ist den direkten oder indirekten Folgen dieser Zeit entgangen; die erfolgte oder nicht erfolgte Auseinandersetzung mit Schuld, Scham, Trauer, Verlusten, gelebten und ungelebten Lebensentwürfen etc. markiert die Bühne für die Nachkommen in der nächsten Generation.

Welche Erwartungen und Vorstellungen in Bezug auf Familien und Partnerschaften entwickelt werden, welche Selbst- und Weltbilder und Glaubenssysteme sich herausbilden, ergibt sich im Spannungsfeld von Annahme und Verwerfung dessen, was in der Familiengeschichte bereits gelebt, gedacht und gefühlt wurde – als Rahmen für eigene Lebensentscheidungen und »Neukonstruktionen«, mit denen jede Generation Verantwortung für sich selbst und das eigene Handeln übernehmen muss.

Ilke Crone entfaltet diese Dynamik der Verschränkung von Geschichte, Kultur und Biografie anhand der Familien von fünf Protagonisten – drei Frauen und zwei Männern in systemtherapeutischer Weiterbildung –, die ihre bemerkenswerten und komplexen Familiengeschichten dankenswerterweise für dieses Werk zur Verfügung gestellt haben. Auf beeindruckende Weise wird dabei deutlich, welche Rolle die soziale und historische Situierung der Familienereignisse spielt – und damit, wie unbedingt notwendig historisches, soziologisches und politisches Wissen für die Entschlüsselung familiendynamischer Prozesse ist. Ein Wissen, dass ich oft bei der Arbeit gerade mit jungen Kolleginnen und Kollegen vermisse, die in einem Genogramm oft zu wenig die darin verborgene Gesellschaftsgeschichte entdecken können. Dabei wusste schon Goethe in Dichtung und Wahrheit, »dass man wohl sagen kann, ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein«. Gleiches gilt auch u. a. für die Klassenlage und die geografische Herkunft der Familienmitglieder unterschiedlicher Generationen.

Das Format der Familienrekonstruktion ermöglicht einen differenzierten und umfassenden Einblick in die Kontextabhängigkeit auch der scheinbar privatesten Ereignisse des Familienlebens. Ilke Crones Buch ist ein guter Kompass, eine Orientierungshilfe für jeden, der sich mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigt oder anderen bei dieser Auseinandersetzung beistehen möchte.

Tom Levold, Köln

Das vorige Jetzt

Erlebe jetzt

das Jetzt, das diesem vorausging.

Schaue Dir an, wie sich Dein Leben entwickelt hat.

Jeder Augenblick war genau passend für Dich.

Erlaube Dir, Dir das vorzustellen,

was Du brauchst, aber noch nicht hast.

Vertraue auf Deine Fähigkeiten.

Erlaube Dir auch, etwas Neues zu wagen.

Erlaube Dir, jeden Tag,

jede Woche und jeden Monat

zu unterscheiden, was wichtig ist und was nicht.

Du kannst das Lernen,

Wachstum oder Freude nennen.

Es könnte auch so genannt werden:

Voller Freude verkörperst Du Deine Lebenskraft

In Deiner gegenwärtigen körperlichen Gestalt.

(Virginia Satir 1992, S. 35)

1Einleitung

Mein Gehirn leistet mir bisweilen gute Dienste – es merkt sich Gelesenes, speichert Gehörtes, stellt Fragen und findet manchmal Antworten. Es zweifelt auch. Es stiftet Beziehungen und hilft mir zu erkennen, wer Freund und wer Feind ist. Es hilft mir auch, (vermeintlich) Wichtiges von (vermeintlich) Unwichtigem zu unterscheiden. Manchmal spielt es mir Streiche und bringt mich auf »dumme« Gedanken.

Zum Beispiel auf die Idee, ein Buch zum Thema »Familienrekonstruktion« zu schreiben. Diese Idee ist schon ein paar Jahre alt …

Seit 2005 arbeite ich als Lehrende am Bremer Institut für systemische Therapie und Supervision und begleite im Rahmen von Selbsterfahrung Weiterbildungsteilnehmer in ihren Familienrekonstruktionen. Seit mehr als zehn Jahren also unterstütze ich Menschen, die in Familienrekonstruktionen ihre Familien und ihr eigenes »Gewordensein« erforschen und entdecken, und etwa genauso lange habe ich das Gefühl, dass sich bestimmte Erfahrungen, Empfindungen und Themen über die Einzelnen hinweg ähneln. Das erschien mir eine bedeutsame Wahrnehmung – so bedeutsam, dass es sich vielleicht lohne, darüber zu schreiben. Insbesondere der Aspekt der mehrgenerationalen Perspektive und das »Erbe« aus vorhergehenden Generationen schienen mir vielversprechend.

Die meisten Weiterbildungsteilnehmer1 sind zum Zeitpunkt der Familienrekonstruktion zwischen 30 und 50 Jahren alt – also zwischen 1950/1960 und 1970/1980 geboren. Je nach Literatur werden die Generationen2 in Europa in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg unterschieden in Kriegskinder (1930 bis 1945 geboren), Nachkriegskinder (1947 bis 1955 geboren) und Kriegsenkel (1960 bis 1975 geboren) bzw. Kriegsurenkel (nach 1975 geboren). Somit gehörten die meisten Teilnehmer der von mir begleiteten Familienrekonstruktionen der Generation der Nachkriegskinder bzw. Kriegsenkel an. Und als solche sind sie in komplexer Weise von der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland und dem Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger betroffen.

Mein Gehirn lenkte nunmehr die Aufmerksamkeit vor allem auf diesen Aspekt, und ich beschäftigte mich erneut mit der verfügbaren Literatur – angefangen bei Sabine Bode (2005, 2009, 2011, 2016), Wibke Bruhns (2006), Claudia Seifert (2004) oder Michael Schneider und Joachim Süss (2015), die eher eine historisch-journalistische Herangehensweise betrieben, über Mia Roth (2015; siehe im Literaturverzeichnis unter der Überschrift »Romane«), Matthias Lohre (2016), Martin Miller (2016) und Jens Orback (2015), die ihre persönliche Geschichte aufgeschrieben haben, bis hin zu Hartmut Radebold (2005), Radebold et al. (2008), Marie Louise Reddemann (2015), Udo Baer und Gabriele Frick-Baer (2015) und Hans Hopf (2017), die das Thema eher aus einer (psycho)therapeutischen Perspektive angehen.

Gerade Letztere fokussieren nahezu ausschließlich auf den Aspekt der transgenerationalen Weitergabe traumatischen Erlebens und den (in beinahe linear gedachter Form) so (mit)entstehenden therapeutischen Bedarfen in der nachrückenden Generation der Kriegsenkel.

Nun hatte mein Gehirn einiges zu tun – ging es doch auch darum, die verschiedenen Aspekte dessen, was ich in der Begleitung der Familienrekonstruktionen erlebt hatte, und dessen, was ich gelesen hatte, miteinander zu verbinden. Und zwar möglichst so, dass eben nicht (nur) meine eigenen Hypothesen bestätigt würden, sondern im besten Fall etwas »Neues«, auch (zukünftig) »Taugliches« dabei herauskäme.

In gewisser Weise bereichernd und durchaus die Komplexität erhöhend kam hinzu, dass ich mich auch mit den Themen »Bindung« und Trauma näher befasst hatte.

Nach einer Blockade – oder auch schöpferischen Pause – ermutigt mich mein Gehirn nun zu dem Versuch einer neuen Ordnung, die mithilfe einer (unzulässigen, aber notwendigen) Komplexitätsreduktion dazu beiträgt, einzelne Aspekte des Themas nacheinander und nicht gleichzeitig zu beschreiben.

Ich bin mir durchaus bewusst, dass manches verkürzt Dargestellte in der Reduktion unvollständig erscheinen muss – und ich nehme auch in manchen Aussagen eine subjektive (Beobachter-)Position ein, die zu Hypothesen und ihrer Verwerfung führt. Andere ziehen andere Schlüsse – die ebenso wichtig und nachvollziehbar sein können. Auch besteht das Risiko, in eigener Kontextblindheit Wichtiges zu übersehen – die Leser seien gewiss: Ich bin in guter Absicht unterwegs und traue mich zu schreiben, was ich verstanden habe, was ich erfahren habe – und wie ich mir einen Reim darauf mache. Nicht mehr, aber auch nicht weniger!

1.1 Aufbau des Buches

Mein Gehirn schlägt mir also vor, zunächst beim Naheliegenden zu beginnen – nämlich den Wörtern: Familie und Konstruktion (auf das unterlassene »re« werde ich an anderer Stelle zurückkommen).

Dem folgt der Versuch der Hypothesenbildung zu der Frage, welche Bedeutung dem Format »Familienrekonstruktion« heute beigemessen werden kann, was dazu beigetragen haben könnte, dass es eher ein Schattendasein führt und welcher Nutzen für welche praktischen Arbeitsfelder aus Familienrekonstruktionen (oder Teilen daraus) gezogen werden könnte.

»Bindungstheorie(n)« werden in einem weiteren Kapitel behandelt (Kap. 2). Hervorgehoben werden vor allem drei Aspekte, die ich im Kontext des Themas »Familienrekonstruktion« für bedeutsam halte: sichere Bindung als eine unter mehreren Bedingungen für die Bewältigung schwerer Lebenskrisen, unsicher-ambivalente und viel mehr noch unsicher-desorganisierte Bindungsmuster als (auslösende) Faktoren für traumatisches Erleben in der Kindheit und der Aspekt der transgenerationalen Weitergabe von eigenem, nicht verarbeiteten traumatischen Erleben der Eltern an ihre Kinder.

Es ist davon auszugehen, dass nahezu alle Menschen, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben, von mindestens einem Aspekt des Grauens mehr oder weniger betroffen waren – viele wahrscheinlich von mehreren. Nationalsozialismus, Rassenhass und Völkermord, Krieg, Zerstörung und Verlust von Heimat, Flucht und Vertreibung haben nachhaltige Spuren in deutschen (und anderen) Familien hinterlassen. Insofern widmet sich ein weiteres Kapitel dem Thema Trauma – hier vor allem mit den Schwerpunkten »Man-Made Disasters« und »transgenerationale Weitergabe« und mit verschiedenen Aspekten der »Traumaüberwindung« (Kap. 3).

Die besondere Herausforderung dieser beiden Kapitel besteht für mich darin, einerseits die Komplexität der Themen zu würdigen und eine Art grobe Orientierung zu ihrer Entwicklung und ihren Ansätzen zu geben. Andererseits aber möchte ich mein Thema im Blick behalten und mich vor allem auf diejenigen Aspekte konzentrieren, die im Kontext »Familienrekonstruktion« von besonderer Relevanz sind. Dabei wird es wahrscheinlich zu Ungenauigkeiten und vereinfachenden Verkürzungen kommen – oder manchem Leser wird vielleicht das eine oder andere dann doch zu ausführlich erscheinen. So ist es nun mal mit den Ambivalenzen und der Qual, Entscheidungen treffen zu müssen. Ich bin mir der partiellen Unvollständigkeit oder Ungenauigkeit durchaus bewusst und nehme in Kauf, an diesen Stellen »tadelig« zu bleiben. In diesem Sinne ist mein Ziel, die Leser anzuregen, sich ein eigenes Bild zu machen und gegebenenfalls selbst das eine oder andere Thema zu vertiefen. Ich hoffe, mir ist es gelungen, dabei die Leistungen der betreffenden Autoren angemessen zu würdigen.

Eine Verortung in der systemischen Landschaft und der Versuch einer differenzierten Auseinandersetzung mit verwandten Formaten wie dem »Familienstellen« (Schneider 2001, 2016) und Aufstellungen (besonders Familienaufstellungen) (Drexler 2015; Eidmann 2009; Nazarkiewicz u. Kuschik 2015) finden sich gegen Ende des Buches (Kap. 10).

Im Hauptteil des Buches wird das Format Familienrekonstruktion3 im Detail beschrieben. Nach einer eher prozessorientierten Beschreibung dessen, was wir praktisch tun, folgen Kapitel zu einzelnen Methoden und Interventionen (Kap. 6 und 8).

Das Herzstück ist unseren Erfahrungen mit Familienrekonstruktionen (die sich vor allem in den – grau unterlegten – Fallbeispielen niederschlagen) gewidmet. Ich bin allen unseren Fortbildungsteilnehmern sehr dankbar für ihre Bereitschaft zur Mitwirkung an diesem Buch – mein besonderer Dank gilt Georg, Dorothea, Laura, Anja und Clemens4 für die Bereitstellung umfangreichen Datenmaterials und die Zeit, die sie mir und dem Buch gewidmet haben. Ich habe sie im Herbst 2016 noch einmal interviewt – für manche war das »Wiedereintauchen in die eigene Familiengeschichte« herausfordernd, für andere hat es wieder neue Perspektiven eröffnet. Die Familiengeschichten von Anja, Dorothea und Clemens werden im Verlauf des Buches in mehreren Teilen beschrieben – Georgs Familie findet sich fast vollständig in Kapitel 5, und Laura habe ich ein eigenes Kapitel (7) gewidmet.

Bei der Auswahl der Fallbeispiele folgte ich verschiedenen Kriterien: Es sollten möglichst Frauen und Männer repräsentiert sein, und sie sollten in Bezug auf das Alter der Eltern auf unterschiedliche Weise von den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges »betroffen« sein.

»Hier ist die Schwierigkeit die der Perspektive. Nehme ich die Perspektive der jüngsten Generation an, dann sind bei drei Generationen die ältesten Familienmitglieder Großeltern. Nehme ich die Perspektive der mittleren Generation an, dann sind die ältesten untersuchten Familienangehörigen die Eltern, während die jüngsten die Kinder sind. Es ist also wichtig, vor einer Falldarstellung festzulegen, aus welcher Perspektive man von wem in einer Familie spricht« (Völter 2008, S. 99; Hervorh. im Orig.).

In Bezug auf das Erleben des Zweiten Weltkrieges und die dabei eingenommene Perspektive sprechen Radebold et al. (2008) von »Referenzgeneration«. In den Fallbeispielen ist die Referenzgeneration die der Eltern, die Perspektive der Protagonisten die der Kinder.

Insofern kommen fünf Personen zu Wort (drei Frauen und zwei Männer), die zwischen 1954 und 1982 geboren sind. Die entsprechende Elterngeneration ist zwischen 1926 und 1951, die der Großeltern zwischen 1886 und 1931 geboren.

Die jeweils unterschiedliche »Betroffenheit« in Abhängigkeit vom jeweiligen Lebensalter in der Zeit des Nationalsozialismus (1933 bis 1945) und des Zweiten Weltkrieges (1939 bis 1945) der Eltern, aber auch die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges (1914 bis 1918), der Weimarer Republik und der Weltwirtschaftskrise (1929 bis 1932) werden in den Fallbeispielen deutlich und bestätigen die Einschätzungen der Biografieforscher. Diese bezeichnen die Jahrgänge 1905 bis 1920 als »erste kriegsbetroffene Generation«.

»Bei ihren Kindern müssen wir deshalb von einem komplexen Gemisch von Faktoren ausgehen: nationalsozialistische Erziehung, gepaart mit der Erfahrung von Ausgrenzung und Gewalt gegenüber Juden, anderen Minderheiten sowie Kranken und Schwachen, belastende bis traumatisierende Kriegserfahrungen, Verlust von Vätern, Bewusstwerdung des verbrecherischen Charakters des NS-Regimes und des Holocaust« (Radebold et al. 2008, S. 8).

Die Kinder dieser »zweiten kriegsbetroffenen Generation« (zwischen 1927 und 1932 geboren) repräsentieren (1950 bis 1975 geboren) demnach dann die »dritte (jetzt indirekt) kriegsbetroffene Generation«.

»Sie vermitteln inzwischen zunehmend deutlicher, welche Folgen diese – ihnen allerdings oft unbekannte – Kriegskindheit ihrer Eltern hatte und noch hat. So klagen sie insbesondere über den Widerspruch zwischen äußere Sicherheit gebender Verwöhnung und psychischem Desinteresse dieser Eltern an alltäglichen Schwierigkeiten, und über innere Unerreichbarkeit bei gleichzeitig unbekannter Familienvorgeschichte« (ebd., S. 9).

Die Protagonisten in diesem Buch (in den Fallgeschichten von Georg, *1954, Dorothea, *1960, und Laura, *1970) gehören demnach zur dritten, indirekt betroffenen Generation. Wie die »Geschichte« dann in der darauffolgenden – nach Radebold der »vierte[n] (wiederum indirekt) kriegsbetroffene[n] Generation« (nach 1975 geboren) hineinwirkt, ist noch wenig erforscht. Einblicke mögen die Fallgeschichten von Anja (1980) und Clemens (1982) geben.

So, sagt mein Gehirn, jetzt kann es losgehen, oder? Und wer glaubt, das Schreiben eines (fachlichen) Buches sei ausschließlich eine Leistung des Gehirns – der hat sich wohl auch getäuscht, meint das Herz.

1.2 Wer soll das lesen?

Dieses Buch richtet sich an angehende systemische Berater und Therapeuten, die hiermit ihr Wissen um ein erlebnisorientiertes Verfahren erweitern können. Die Leser können unseren Prozess in den Familienrekonstruktionen nachvollziehen, einzelne Interventionen einordnen und verstehen und an dem konkreten Erleben der Teilnehmenden teilhaben. Dabei werden gruppendynamische Aspekte ebenso deutlich beschrieben wie Qualitätskriterien und Haltungsaspekte in der Prozessbegleitung. Insbesondere die Kapitel 9 und 10 laden dazu ein, Familienrekonstruktionen und Aufstellungsformate differenzierter wahrzunehmen und voneinander unterscheidbar zu machen.

Auch wenn es sich bei den Familienrekonstruktionen um eine systemische Arbeit in Gruppen handelt, die mit systemfremden Repräsentanten arbeitet, können auch systemische Therapeuten für ihre Arbeit mit einzelnen Klienten von diesem Buch profitieren. Gerade die Bezüge zwischen bindungstheoretischen Aspekten und Erkenntnissen aus der Traumaforschung geben hilfreiche Anregungen zur Hypothesenbildung im Kontext der jeweiligen Familiengeschichte. Außerdem erhalten systemische Therapeuten zahlreiche Hinweise auf eine historisch, gesellschaftlich und politisch bedeutsame Zeit und die (möglichen) Auswirkungen auf innerfamiliäre Beziehungen.

In systemischer Therapie und Beratung Lehrende mögen sich anregen lassen, die eine oder andere Idee in die eigene Konzeption von Selbsterfahrungseinheiten aufzunehmen oder das eigene Handeln zu reflektieren.

1.3 Familie

»Die Familie […] ist trotz aller Beschränkungen, die sie uns auferlegt, und der Herausforderungen, die sie an Einzelne stellt, als Ort der Zugehörigkeit und existenzieller Grunderfahrungen unersetzlich« (Weber, Vorwort in McGoldrick 2003, S. 8).

Auch wenn hin und wieder von einer »Auflösung der Familie« die Rede ist, so bleibt doch der biologisch-menschliche Ursprung erhalten. Wir alle stammen von zwei anderen ab – unserer Mutter und unserem Vater – und bilden mit ihnen die sogenannte primäre Triade. Diese erste Triade ist das erste einer Reihe von (verschiedenen) Systemen, in die wir im Laufe unseres Lebens einbezogen werden. Und dies bleibt auch gültig, wenn Eltern sich trennen oder Familien auseinanderbrechen.

Als Kinder bleiben wir unseren Eltern lebenslänglich verbunden – auch wenn wir gegebenenfalls gern die Scheidung einreichen würden. Das, was wir in unseren Familien erleben, wirkt in uns weiter und formt unsere Identität – je mehr wir darüber wissen, umso größer wird die persönliche Freiheit.

»Die Vorstellung von ›Familie‹ ist aufs Engste verknüpft mit unserem Bewusstsein davon, wer wir sind in dieser Welt […]. Wenn Sie wissen, was Sie von Ihrer Familie ererbt haben, kann Ihnen dies die Freiheit geben, Ihre Zukunft zu verändern« (McGoldrick 2003, S. 13).

Der Begriff Familie wird in mindestens zwei Bedeutungen gebraucht – zum einen ist die jeweilige Herkunftsfamilie gemeint, also in erster Linie Eltern und Geschwister. Zum anderen meint Familie aber auch im weitesten Sinne »Verwandtschaft«, also Zugehörigkeit in einem größeren Rahmen sowohl in vertikaler (Großeltern, Urgroßeltern usw.) als auch in horizontaler Richtung (Tanten, Onkel, Cousins, Nichten und Neffen usw.). Den verschiedenen psychologisch-soziologischen Betrachtungen der Familie liegen folgende Kriterien zugrunde:

»Gemeinsam ist ihnen als ›intimes Beziehungsgefüge‹ der ›gemeinschaftliche Lebensvollzug‹, der die Familie deutlich von anderen Freundes-, Arbeits- oder Sportgruppen abhebt […]. Familie ist also das für einen oder mehrere Menschen existenziell wichtigste Bezugssystem, in dem am stärksten das seelische, körperliche, soziale und materielle Wohlergehen gesucht und gefunden wird […]« (von Schlippe u. Schweitzer 2012, S. 131).

Das, was wir über Familien denken und (zu) wissen (meinen), und die Frage, wie diese Systeme kommunizieren, interagieren und wirken, ist von vielen namhaften systemischen Autoren in Grundlagenwerken und Lehrbüchern ausführlich beschrieben worden (u. a. von Schlippe u. Schweitzer 1996, 2012; Levold u. Wirsching 2014) und wird hier nicht Gegenstand der Darstellung sein.

Wenn es um den Kontext »Familienrekonstruktion« geht, stehen folgende Fragen im Vordergrund:

Wie ist die jeweilige Familie zeitgeschichtlich und räumlich verortet?

Welche historischen Ereignisse spielen eine Rolle?

Mit welchen Wünschen, Hoffnungen und Erwartungen werden Lebensentwürfe gestaltet?

Wie werden Entscheidungen getroffen?

Wie kommunizieren die Familienmitglieder miteinander?

Wie gestalten die Familienmitglieder ihre Beziehungen zueinander?

Wie werden Rollen, Aufgaben und Funktionen entschieden und gelebt?5

Wie werden Konflikte gelöst?

Welche Bewältigungsstrategien entwickeln familiäre Systeme?

Wie grenzen sich familiäre Subsysteme voneinander ab (oder eben auch nicht)?

Welche transgenerationalen Muster werden deutlich?

Und natürlich: Auf welche Art und Weise wirken sich diese Aspekte auf das bisherige und jetzige Leben der Protagonisten aus, bzw. welche Schritte erscheinen hilfreich dabei, zukünftiges (Er-)Leben zu erleichtern, zu verbessern oder zu befrieden?

Wie sich eindeutige Rollen, Aufgaben und Funktionen in Familien entwickeln, zeigt folgendes Fallbeispiel.

Frauen und Männer: Die Familie des Vaters – Clemens (31), Teil 1

Auf der Seite der väterlichen Großeltern heiratet in einem streng katholischen Umfeld eine Heuersfrau6 (*1920) einen sechs Jahre älteren Bauern (*1914) aus der Nachbarschaft (angemessener Altersunterschied, gleiches Milieu). Nach der Geburt von drei Töchtern wird (endlich) ein Sohn – Clemens’ Vater – geboren (1953), an den sich hohe Erwartungen richten und der der ganze Stolz des Vaters ist. In der Familie herrscht eine klare Rollentrennung zwischen Frauen und Männern – die Frauen beten, kümmern sich um Haushalt und Kinder, während die Männer »ihren Mann stehen«. In dieser Familie werden Töchter von Müttern und Großmüttern erzogen und Söhne von Vätern. So erlebt der Sohn eine enge Verbindung zum Vater, der ihm »alles beibringt, was ein Junge lernen soll, um ein Mann zu werden«. Ein starker katholischer Glaube vermittelt christliche Werte und steckt einen (starren) Rahmen, aus dem man nur schwer hinauskommt.

So weit bin ich noch nicht

Der Vater verstirbt 1977 plötzlich an einer Krebserkrankung. Der Sohn ist zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt und verliert damit seinen ganzen Halt. Außer der Einsamkeit – nun ist er der einzige Mann in einem Haushalt von vier Frauen – spürt er eine große »Aufgabe« auf sich zukommen. Er wird nun die Verantwortung für die Familie übernehmen müssen. Während die Frauen sich gegenseitig trösten und Kraft aus ihrem Glauben ziehen können, bleibt er allein.

Er übernimmt die Verantwortung für den Hof und die Verpflichtung, für seine Mutter zu sorgen – auch wenn er unsicher ist, wie er es machen soll und ob es ihm gelingen wird, diesen Anforderungen gerecht zu werden.

(Fortsetzung folgt.)

Nun, nachdem der Begriff Familie eingeführt ist, kommen wir also zum zweiten Bestandteil des Wortes »Familienrekonstruktion« – der Konstruktion oder, genauer, der »Konstruktion von Wirklichkeit«.

1.4 Konstruktion und Wirklichkeit

Eine der zentralen Erkenntnisse der systemischen Erkenntnistheorie liegt darin anzunehmen, dass es keinen Sinn ergibt, Dinge (seien es Gegenstände, Systeme, Verhalten oder anderes) zu beschreiben, ohne gleichzeitig zu erkennen, dass die Beschreibung über einen Beobachter entsteht. Damit ist die Beschreibung einer – wie auch immer wahrgenommenen – Wirklichkeit immer eine subjektive Beschreibung

»›Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung‹ (von Foerster 1981, S. 40)« (von Schlippe u. Schweitzer 2012, S. 121).

Es sind also nicht die Dinge an sich, sondern vielmehr die Art und Weise, wie sie von einem Beobachter wahrgenommen werden, die (psychische und soziale) Wirklichkeiten erzeugen. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass Gruppen von Personen in der Beobachtung eines Phänomens zu ähnlichen oder gleichen Ergebnissen kommen und so alltagsprachlich von erlebter Wirklichkeit sprechen (vgl. von Schlippe u. Schweitzer 2012). Eine der Kernfragen bezieht sich nun darauf, wie wir zu solchen Wirklichkeitskonstruktionen gelangen:

»Kernfrage des Konstruktivismus ist, auf welche Weise wir aktiv an der Konstruktion unserer eigenen Erfahrungswelt Anteil haben, wie wir also Ordnung, Stabilität und Vorhersehbarkeit der Alltagswelt (mit anderen zusammen) herstellen. Die Ordnung der Welt entsteht aus dieser Sicht erst im Akt des Erkennens, durch das Vornehmen von Unterscheidungen« (von Schlippe u. Schweitzer 2012, S. 147; Hervorh.: I. C.).

Erst mit dem Erkennen von Unterschieden und der Anwesenheit eines Beobachters wird Wirklichkeit wahrnehmbar und beschreibbar – und bleibt dennoch zutiefst subjektiv. Dabei muss besonders betont werden, dass es selbstverständlich durchaus Rahmenbedingungen oder »Realitäten« gibt, die Möglichkeiten eröffnen oder auch begrenzen:

»Wirklichkeitskonstruktion ist auch eine Qualität des gesellschaftlichen Umfeldes, nicht nur der Familie […]. Um entscheiden zu können, ob man schwimmen gehen will oder nicht, muss erst einmal ein Schwimmbad in der Nähe sein und genügend Geld, um den Eintritt zu bezahlen […]. Vorgegebene Strukturen wie fehlende Kindergartenplätze, fehlende Erwerbsarbeitsstellen und fehlendes eigenes Einkommen erzwingen vielfach diese zwar sozial konstruierten, aber nichtsdestoweniger ›harten‹ Wirklichkeiten« (ebd., S. 148; Hervorh.: I. C.).

Gerade in Bezug auf unterdrückende, gewaltorientierte politische Gesellschaften betont Jegodtka (2013, S. 22; Hervorh.: I. C.) eine (humanistisch) notwendige Differenzierung des Verständnisses von Wirklichkeitskonstruktion – u. a. in Bezug auf den Nationalsozialismus:

»Traumatisierung durch Verfolgung im Nationalsozialismus fand in einem gesellschaftlichen Kontext statt, in dem Ausschluss und Eliminierung von Menschen gebilligtes Ziel war, dessen Umsetzung im Rahmen bestehender Machtstrukturen ermöglicht wurde. Die subjektive Erfahrung des Verfolgtwerdens fand in einem Kontext politisch motivierter Gewalt statt. Dies stellte keine subjektive Konstruktion dar, sondern bedeutete reale Erfahrung von Lebensgefahr. […] Ich gehe davon aus, dass die Auseinandersetzung mit soziopolitischen Traumatisierungen es erforderlich macht, die subjektiven inneren Landkarten als Ausdruck individueller Konstruktion und zugleich als Versuch der subjektiven Rekonstruktion der Erfahrung zu verstehen und darüber hinaus den verursachenden Kontext als Realität zu benennen.«

Das bedeutet auch eine klare, werteorientierte Positionierung gegenüber Menschenverachtung und Gewalt auch in anderen Kontexten und ist eben nicht gleichbedeutend mit einer grundsätzlichen Aufgabe konstruktivistischer Ideen. Es geht hier vielmehr um die Frage nach der Übernahme von Verantwortung für das, was geschehen ist, oder das, was ich anderen zugefügt habe. Dieser Aspekt gilt vor allem auch für innerfamiliäre Traumatisierungen von Kindern. Es ist

»von entscheidender Bedeutung, ob der Vater sein Verhalten verändert und die Verantwortung für die von ihm ausgehende Gewalt übernimmt. Dazu gehört, dass er bereit ist, über das Furchtbare zu sprechen, seine Verantwortung dafür zu benennen und Reue zu zeigen. Zur Reue wiederum gehört die ausgesprochene Erkenntnis, dass die Gewalttaten an der Mutter (möglicherweise auch direkt am Kind) falsch waren, nicht ungeschehen gemacht werden können« (Korittko 2016, S. 152).

In unserem Kontext der Familienrekonstruktionen werden diese Aspekte insofern bedeutsam, als es eben genau nicht darum geht nachzuweisen, wie es in einer Familie »wirklich« war. Die Protagonisten geben ihre Wahrnehmung7 in Form von kommentierten Genogrammen, nachempfundenen Biografien und lebendigen Skulpturen Ausdruck. Sie zeichnen ihr jeweils sehr subjektives, persönliches Bild ihrer Familie. Und auch die Repräsentanten geben mit ihren Wahrnehmungen ihre (ebenfalls subjektive) Sicht hinzu.

»Die Arbeit in der sogenannten ›Rekonstruktion‹ dient dem Versuch, die komplexe Vernetzung lebensgeschichtlicher Daten mit der heutigen Lebenssituation so zu (er)finden, dass eigene Stärken und Schwächen für die systemische Tätigkeit verantwortungsvoll als mögliche Ressourcen genutzt werden können« (Molter 1998, S. 5).

Die an der Familienrekonstruktion Teilnehmenden erweitern ihr Verständnis von familiären Konstellationen, Herausforderungen und Bewältigungsstrategien und können dieses Wissen in ihren jeweiligen Arbeitsfeldern als systemische Berater und Therapeuten nutzen. Und – sie werden sich eigener Grenzen, im Sinne persönlicher Befangenheit, bewusst. Hierbei ist nicht nur die individuelle Erfahrung in der eigenen Rekonstruktion bedeutsam, sondern vor allem auch die Erfahrung in der Rolle als Repräsentant in den Familien der anderen Gruppenmitglieder.

Wenn die Rekonstruktionsprozesse gut gelingen, erhalten die Protagonisten neue, andere Informationen, die ihre bisherigen Bilder vervollständigen. So entstehen neue (ebenfalls subjektive) Bilder und Familiengeschichten. Bei gleichzeitiger Anerkenntnis des Leids und der Not wird aber auch die jeweilige Erinnerungsgeschichte mit »Realitäten« im oben beschriebenen Sinne konfrontiert.

1.5 Und nun zum unterlassenen »re«

Bisher habe ich das »re« in Familienrekonstruktion vernachlässigt. Ich könnte es auch durch ein »de« ersetzen oder in ein »neu« überführen.

Familienrekonstruktionen finden in Gruppen statt, wobei die Gruppenmitglieder in der jeweiligen Rekonstruktion die Familienmitglieder der Protagonisten repräsentieren. Der Prozess der Familienrekonstruktion folgt einer gleichen (und insofern verlässlichen, sicheren) Struktur. Jeder Protagonist hat das gleiche Zeitfenster zur Verfügung, die Arbeit dauert bei jedem etwa drei Stunden, wir beginnen jeweils in der Generation der Großeltern und arbeiten uns bis in die Gegenwart vor. Der Protagonist wählt seine Repräsentanten und seine Beg-Leitung8 und stellt (für ihn relevante) Bilder. Im Prozess des Rekonstruierens – im Sinne von (Wieder-)Herstellung bekannter Bilder erfährt der Protagonist in der Regel über die Repräsentanten, aber auch über die Beg-Leiter »Neues« über seine Familie, das heißt, die Geschichte, wie sie bisher in Erinnerung ist, erfährt in gewisser Hinsicht eine Dekonstruktion. Insbesondere, wenn es in den Familien wohlgehütete Geheimnisse gibt oder die Familie entschieden hat, bestimmte Themen aus der Erzählung auszuklammern, kann diese Dekonstruktion schmerzhaft, beschämend oder enttäuschend sein. So kommt es beispielsweise vor, dass der geliebte Großvater durch die Rekonstruktion als SS-Mann im Nationalsozialismus »enttarnt« wird, was für die Protagonisten erst einmal schwer zu verkraften ist. Das führt manchmal dazu, dass die Protagonisten diese neuen Informationen eher nicht wollen und mit hohem Aufwand daran arbeiten, ihre »alten« Bilder zu bestätigen – das versuchen wir in der Beg-Leitung behutsam zu verändern.

So entstehen neue Variabilitäten und neue Perspektiven auf bisherige Gewissheiten oder Wahrheiten, die die Wahlmöglichkeiten dessen, was »wa(h)r«, erhöhen. Dies gilt selbstverständlich in gleichem Maße für Wahrheiten, die bislang als hinderlich, belastend, verstörend, irritierend betrachtet wurden und denen im Zuge der Re- und Dekonstruktion ein neuer Sinn verliehen werden kann.

Nach erfolgter Re- und Dekonstruktion familiärer Wirklichkeiten schließt die Rekonstruktion mit Ideen zur Neukonstruktion ab.

So gestaltet, wird aus Herkunft so etwas wie »Hinkunft«, kann ein »Mitnehmen des Nützlichen« aus der Vergangenheit in der Gegenwart wirken und in »Zukünftiges« überführt werden – wenn möglich, in einer neuen, anderen Klarheit und mit einem Zugewinn an Sinnhaftigkeit.

1.6 Familienrekonstruktionen im Schatten?

Familienrekonstruktion