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VERLAGSTEXT

Anatole feiert seine Hochzeit mit Rafa; auch Chris ist eingeladen, der ihm vor 25 Jahren das Herz gebrochen und dann Poughkeepsie verlassen hat. Aus dem verträumten Chris ist ein tougher Sicherheitsprofi geworden, der in Nigeria amerikanische Ingenieure beschützt. Er belächelt die brav zur Schau gestellte Selbstzufriedenheit seiner alten Freunde in der Provinz und kann kaum glauben, dass die Freunde von einst das wirklich ernst meinen. Bei Anatole keimen durch die Konfrontation mit Chris Zweifel, ob er nicht doch etwas ganz anderes aus seinem Leben hätte machen sollen. Last not least stellt sich die Frage, was ihm mehr bedeutet: die innige Liebe zu Rafa oder das wilde Herzklopfen bei Chris?

ÜBER DEN AUTOR

Paul Russell (Jg. 1956) wuchs in Memphis, Tennessee auf. Er promovierte in englischer Literaturwissenschaft und unterrichtet seitdem als Professor am Vassar College in Poughkeepsie, NY. Seit 1987 hat Russell sieben Romane veröffentlicht, von denen zwei mit dem Ferro-Gromley Award for Fiction ausgezeichnet wurden. Bei Männerschwarm erschienen bereits seine Romane «Das und wirkliche Leben des Sergej Nabokow» und «Brackwasser».

BÜCHER VON PAUL RUSSELL BEI MÄNNERSCHWARM

Paul Russell

Über den Wolken

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Joachim Bartholomae

Männerschwarm
Verlag Hamburg 2018

FÜR ERIC BROWN UND IAN SPENCER BELL

KAPITEL EINS

An einem Freitag Anfang Juni fährt Lydia in die Main Street von Poughkeepsie, um bei Floral Euphoria letzte Details zu besprechen. Ihre Freundin Marla hat den kleinen Laden vor sechs Jahren eröffnet, als sich ein Aufschwung abzeichnete, dessen kleine Verbesserungen von der jüngsten Wirtschaftskrise bereits zum guten Teil wieder zerstört wurden. Aber wie Marla gern sagt, geheiratet und gestorben wird immer, also braucht man Floral Euphoria.

In letzter Zeit kommt Lydia nicht mehr oft in die City, und das ist eine Schande; früher drehte sich ihr ganzes Leben um die Main Street, die in den frühen Achtzigern zur Fußgängerzone erklärt wurde, was jedoch dazu führte, dass die Kunden ausblieben. Seitdem die Autos wieder fahren, sind die Bürgersteige wenn auch nicht überfüllt, so doch bevölkert. Noch immer spukt neben dem heutigen Anblick das Bild der alten Fußgängerzone mit ihren abgestorbenen Bäumen und defekten Brunnen, ein Effekt wie dieses lästige Flirren, um das sie sich keine Sorge machen soll, wie ihr Augenarzt meint, es sei nur eine Alterserscheinung. Im August wird sie fünfundfünfzig.

Sie zwinkert mehrmals, aber das Spukbild will nicht verschwinden. Damals hat sie in einem Geschäft für Vintage-Mode gearbeitet, auf der anderen Straßenseite, wo sich nun ein mexikanischer Lebensmittelladen befindet; das Café, in dem sie nach langen Nächten morgens ihren verkaterten Schädel wieder in Schwung brachte, ist Sally’s Dreadlock-Studio gewichen; damals haben Anatole, Chris und sie sich nach der Arbeit fast jeden Tag bei Bertie’s getroffen, einer Bar am Ende einer Gasse, die vor ein paar Jahren schließen musste. Zwei Blocks weiter Richtung Osten befand sich Chris’ kleiner Plattenladen – wie er hieß, hat sie vergessen.

Aber Anatoles Friseursalon Reflexion dort an der Ecke, immer noch in denselben Räumen im ersten Stock, hat überlebt; er stellt auf seltsame Weise die Verbindung her zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Heute ist dort die Hölle los; am Sonntag fliegt Anatole mit Rafa für zwei Wochen nach Spanien, zum Entsetzen zahlloser Kundinnen, die nicht glauben können, dass er auf Hochzeitsreise geht, statt ihnen die Haare zu machen.

Dann müssen sie eben etwas warten, denkt sie. Anatole und Rafa haben schließlich lange genug gewartet.

Sie und Anatole sind seit Ewigkeiten befreundet – das ist ihre offizielle Sprachregelung –, aber eine Zeit lang sah es so aus, als wäre für immer Schluss. An diese schreckliche Episode hat sie schon lange nicht mehr gedacht. Wann kam es zum großen Bruch? 1985? 1986? Es muss drei oder vier Jahre gedauert haben, denkt sie, als sie die duftende Kühle des Blumenladens betritt. Sie weiß nicht einmal mehr, wer wem die Hand zur Versöhnung gereicht hat, aber sie meint, es muss Anatole gewesen sein, auch wenn er derjenige war, der aus diesem ärgerlichen Debakel die schlimmste Verletzung davongetragen hatte.

In den Jahren ihrer Trennung änderte sich ihr Leben von Grund auf. Sie schaffte es, deutlich weniger zu trinken und auf Drogen und Zigaretten ganz zu verzichten, und sie nahm einen «richtigen» Job an als Verwaltungsassistentin am Marist College. Und natürlich, das war der größte Einschnitt gewesen, sie heiratete Tom Rylance. Er ist kein Rechtsanwalt und kein Arzt, sondern Mechaniker in einer Honda-Werkstatt, aber, wie ihre Mutter bei ihrer Verlobung sagte, «Er ist ein echt mentsh, dein armer Vater wäre stolz auf ihn.» Lydia war sich nicht so sicher, was ihr Vater gedacht hätte, aber sie hatte gelernt, wann sich zu streiten lohnte und wann nicht.

So hatte sie von ihrer Mutter auch nicht verlangt, in ihrem Streit mit Anatole Position zu beziehen; natürlich blieb ihre Mutter mit Anatole in Verbindung, ob das ihrer Tochter nun gefiel oder nicht.

Sie bedauert, kein Tagebuch geführt zu haben. So viel ist verschwunden. Diese Zeit war schon etwas Besonderes gewesen – nicht die öde Phase ihrer Trennung, sondern davor, als sie und Anatole und Chris Havilland die engsten und besten Freunde waren.

Marla zeigt ihr das Muster für die Tischdekoration, ein erstaunliches Gesteck von Gartenerbsen, Hyazinthen, Alpenveilchen und Pfingstrosen in Farbschattierungen zwischen Rose und Fuchsie. Es gibt fünfzehn Tische für je zehn Gäste. Die Brautleute bekommen elegante weiße Rosensträuße.

«Das sieht einfach perfekt aus, Mädel», sagt Lydia. «Die Wetteraussichten sind gut, der Caterer scheint alles im Griff zu haben, der DJ verspricht, uns um den Verstand zu rocken. Aber ehrlich, ich bin erleichtert, wenn der große Tag vorbei ist.»

Sie hat zugesagt, Chris um halb drei am Bahnhof abzuholen.

Endlich, wie er gern sagt. Es wurde auch wirklich Zeit. Sie sind zwar schon seit zwölf Jahren ein Paar, aber der Staat New York hat eine Weile gebraucht, das anzuerkennen. Doch jetzt ist es endlich so weit, und es soll an nichts gespart werden. Sie haben das Klubhaus am Whispering Creek gemietet, wennschon, dennschon. Seine Kundinnen, meist ältere Frauen, haben erstaunlich positiv reagiert – was heißt, dass hundertfünfzig Gäste kommen werden. Fast sechzig Ehefrauen mit ihren republikanischen Gatten. Man gebe ihre schwulen Freunde und eine Handvoll Verwandte hinzu, und ein sensationelles Ereignis ist garantiert.

Er hatte nicht gewusst, wie viel Wert er tief im Innern auf Konventionen legt. Zum Teil ist es auch Rafas Einfluss. Anatole hatte der Kirche vor Jahren den Rücken gekehrt, als die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche unmissverständlich klargemacht hatte, dass sie ebenso wenig mit ihm zu tun haben wollte wie seine Eltern, die sich bereits von ihm losgesagt hatten. Aber Rafa hatte seine schwelende Wut besänftigt und ihm klargemacht, dass es taktvolle Wege gab, Katholik zu bleiben. Rafa hatte ihn sogar überzeugt, gelegentlich mit ihm zur Messe in die Dreifaltigkeitskirche zu gehen. Und natürlich war es Rafa gewesen, der ihn überredet hatte zu heiraten, im reifen Alter von neunundvierzig Jahren.

Natürlich wird sie kein katholischer Priester segnen, aber Reverend Judy, die Lesbe von der Episkopalkirche, ist fast genauso gut.

Von allen Gästen macht nur Chris Havilland Anatole Sorgen. Sie haben seit siebenundzwanzig Jahren kein Wort miteinander gesprochen, länger, als Anatole schon auf der Welt war, als er Chris Mitte der Achtziger kennenlernte. Bevor alles zu Bruch ging. Bevor Chris ihn verriet.

Ein Junge hatte sie auseinandergebracht. Wissen wir noch, wie er hieß? Aber natürlich wissen wir das. Damals schien er so verheißungsvoll wie ein verwundeter Engel, der vom Himmel gefallen war. Der Junge Gott der Fußgängerzone hatte Anatole ihn getauft. Wie lebhaft ihm der erste Anblick noch in Erinnerung ist. Leigh saß auf einer Bank in der Main Street und aß einen Riegel gefrorene Schokolade. Er trug Jeans, ein weißes T-Shirt, Slipper ohne Socken. Sein Profil war perfekt.

Leigh ist nicht eingeladen. Warum auch? Er bedeutet ihm nichts, und außerdem hat Anatole keine Ahnung, was aus ihm geworden ist. Aber Chris ist anders. Chris war keine Durchgangserscheinung, er nahm sich eine Wohnung und war Anatoles bester und engster Freund. Und dann ist auch er einfach verschwunden. Anatole erinnert sich, wie verzweifelt er ihn angerufen hat. Wie er das Telefon endlos klingeln ließ, ohne zu wissen, dass Chris seine Wohnung ausgeräumt und die Stadt verlassen hatte. Jahrelang glaubte Anatole, Chris und Leigh hätten sich gemeinsam verdrückt, jahrelang pflegte er seinen Kummer. Aber mit den Jahren kommen andere Leiden. Eines Tages erkrankt sein Geschäftspartner bei Reflexion, und das Leben wird zum Kampf um Daniels Gesundheit, ihn am Leben zu halten, sich damit abzufinden, ihn nicht am Leben halten zu können, zuzusehen, wie er immer weniger wird und dann verschwindet. Da waren Chris und Leigh nur noch Ereignisse in einer fernen Vergangenheit, das Licht von Sternen, die vor Langem verglüht waren.

Ohne Daniel hätte Reflexion eigentlich die Luft ausgehen müssen. Er war die Seele des Geschäfts gewesen, Anatole war nie mehr als der dankbare Zauberlehrling. Aber vielleicht geht die Seele eines Ortes nie ganz verloren; so unwahrscheinlich es auch sein mag, Reflexion feiert im nächsten Jahr seinen dreißigsten Geburtstag.

Lydia hatte ihn und Rafa zusammengebracht. «Du wirst ihn mögen», sagte sie. «Er ist am College für IT zuständig, ich weiß ja, wie sehr du dich für Technologie interessierst. Außerdem ist er süß und klug und Latino, und das Beste von allem: Er steht nicht auf Mädchen.»

«Ich weiß nicht», hatte er geantwortet. «Ich bin noch in Trauer. Ich glaube, ich leide am Permanenten Aids Stress Syndrom – PASS. Ist dir das schon aufgefallen? Wenn du willst, dass eine Sache ernst genommen wird, muss man sich eine Abkürzung einfallen lassen.»

Ehrlich gesagt, auch wenn er das Rafa gegenüber niemals zugeben würde, störte ihn die ethnische Herkunft mehr als der IT-Job, aber nachdem er ein paar Wochen herumgedruckst hatte, nahm er schließlich Kontakt auf, sie trafen sich zum Essen beim Mailänder, unterhielten sich bei Martini, einer Flasche Wein, dem abschließenden Sambuca erst zurückhaltend, dann immer lebendiger und schließlich übersprudelnd. Auf dem Parkplatz gaben sie sich einen keuschen Kuss und gingen auseinander; dann, als hätten sie gleichzeitig ein für andere unhörbares Stichwort vernommen, machten sie noch einmal kehrt und wiederholten sie den Kuss, jedoch länger und leidenschaftlicher, und als Anatole nach Hause kam, war schon eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter: «Hey Mann, das waren wahrscheinlich die romantischsten drei Stunden meines Lebens.» Anatole konnte das zwar nicht so ganz glauben, aber für eine gut gemeinte Lüge war es schon in Ordnung. Sie trafen sich am nächsten Wochenende und zweimal in der folgenden Woche, und bald war die Vergangenheit, das verlorene Land von Chris und Leigh und Daniel, unwiderruflich vergangen.

Der IT-Spezi Rafa hat Chris aufgespürt. Anscheinend arbeitet er für eine Truppe, die sich Sterling Global Risk Consulting nennt. Sein momentaner Aufenthalt wird nicht genannt, aber man kann ihn per E-Mail erreichen. «Echt», sagt Rafa mit selbstzufriedenem Leuchten in den Augen, «du würdest dich wundern, wie schwierig es heutzutage ist zu verschwinden. Und der hier hat sich wirklich Mühe gegeben. Ich sage dir: Wir leben im goldenen Zeitalter der Stalker.»

Wochenlang schwankt Anatole hin und her, formuliert immer neue Entwürfe einer E-Mail. Wie bricht man ein so langes Schweigen? Dann, eines Tages – oder besser gesagt eines Nachts, es war schon ziemlich spät – drückt er Senden. Ziemlich beklommen liest er Chris’ lapidare Antwort, wie der Zufall es wolle, habe er in der Woche der Hochzeit beruflich in den Staaten zu tun.

Sie fragt sich, ob sie ihn erkennen wird. In seiner Mail an Anatole hat er geschrieben, «Ich bin jetzt fett, kahl, magenkrank und heimatlos, aber sonst ganz der Alte.» Als er die Treppe vom Bahnsteig heraufkommt, ist sie deshalb nicht darauf vorbereitet, dass er sich kaum verändert hat. Er ist noch schlank, aber während seine Haltung sonst etwas träge und schlaff war, ist sein Körper jetzt straff, fit und bereit. Er hüpft die Treppe herauf, in der Hand eine kleine schwarze Reisetasche. Sein Haar ist viel kürzer, ein regelrechter Igelschnitt, der Anatole nicht gefallen wird; sein hageres Gesicht ist von der Sonne gegerbt, als hätte er all die Jahre am Pool oder auf der Jacht verbracht.

Er trägt eine verspiegelte Brille, ein weißes, kurzärmliges Hemd, eine sandfarbene Baumwollhose und Springerstiefel. Praktische, bodenständige Sachen, nicht das modische Zeug, das er sonst gemocht hat.

Sie winkt, und als er sie sieht, nimmt er die Brille ab und lächelt – vielleicht ein wenig skeptisch. Warum auch nicht? Trotz ihrer Aufregung ist auch sie etwas skeptisch.

«Verzeih die Enttäuschung», sagt sie, als sie zur Begrüßung die Arme ausbreitet. «Anatole hat heute viel zu tun, deshalb schickt er mich.»

«Lydia», sagt er zu ihr und lässt sich umarmen, «machst du dich immer noch gern kleiner, als du bist? Wie schön, dich zu sehen.»

Sie umarmen sich lange, und sie lässt ihn nur ungern wieder los. Die Vergangenheit scheint auf, und dann doch wieder nicht. «Also, Fremder», sagt sie, «von wo genau kommst du?»

«Denver», sagt er und steckt sich eine Zigarette an, nimmt einen tiefen Zug, nach dem er sich die letzten zwei Stunden gesehnt hat. «Ich bin gestern Abend schon nach New York geflogen, um meinen Dad ins Pflegeheim zu bringen.»

«Erzähl mir davon», sagt sie. «Egal wie alt wir werden, wir bleiben doch immer Kinder.»

«Deine Mom lebt noch?»

«Mehr oder weniger. Im Oktober wird sie neunzig, kannst du dir das vorstellen?»

«Dad ist fünfundachtzig. Hat ein paar Jahre allein gelebt. Meine Mom ist vor einiger Zeit gestorben, und zehn Monate später hat er wieder geheiratet – mein Dad ist sehr effizient, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Nächstes Ziel: eine neue Frau finden. Das Dumme war nur, die neue Frau hielt nicht so lange, wie sie sollte, und anscheinend ist es schwieriger, jemand zu finden, wenn man nicht mehr siebzig, sondern achtzig ist. Eine bittere Enttäuschung für einen, der gewohnt ist, alles zu kriegen, was er will. Aber als ich fuhr, war er schon dabei, ein paar seiner Nachbarinnen im Heim anzugraben. Ich wette, die Aussichten auf eine Nummer drei, bevor der Vorhang fällt, sind recht gut.»

Seine Bitterkeit hat noch immer diese Leichtigkeit, die sie kennt, und sie muss unfreiwillig lachen.

«Mom lebt jetzt bei mir», berichtet sie. «Bei uns, sollte ich sagen. Genauer gesagt leben wir bei ihr, im selben Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Ich bin verheiratet, seit einundzwanzig Jahren, kannst du dir das vorstellen? Ich habe sogar ein Kind. Keine Ahnung, wie das alles passieren konnte, aber es ist so.»

Sie bereut, dass sie versucht, denselben zynischen Ton zu treffen wie er. Ehe und Familie ist das Beste, das ihr je passiert ist.

Und du? Was führst du für ein Leben?, möchte sie fragen, aber etwas hält sie zurück. Er wirkte immer so beherrscht, selbst als sie sich gut kannten. Anatole hat ihr erzählt, dass ihr alter Freund für eine britische Firma arbeitet, die Risikomanagement anbietet – nicht dass sie wirklich wüsste, was das bedeutet.

«Und von wo kamst du nach Denver?», fragt sie. «Ich nehme nicht an, dass du dort lebst.»

Er lacht ein merkwürdiges kleines Lachen, das sie nicht von ihm kennt.

«Genau genommen ist dies mein erster Besuch in den Staaten seit 2003.»

Sie braucht einen Moment, um das zu verdauen.

«Und wo bist du dann zuhause?»

«Sagen wir, ich bin ein wenig herumgezogen. Chris der Wanderer. Im Moment habe ich in Nigeria zu tun. Nichts besonders Aufregendes.» Er lacht wieder, ein halb nervöses, halb verlegenes Lachen, und sieht sich um. «Ich kann nicht glauben, dass ich wieder in Poughkeepsie bin. Es ist ein Gefühl, als müsste ich gleich aufwachen.»

«Willkommen im kleinen Albtraum, den manche von uns nie verlassen haben.» Wieder dieser ungewollte Zynismus. «Im Grunde ist es gar nicht so schlimm, du wirst ja sehen. Am Bahnhof findet man keinen Parkplatz. Ich habe den Wagen bei Reflexion abgestellt und bin das Stück gegangen.»

«Reflexion gibt es noch? Erstaunlich. Anatole und Daniel –»

«Daniel ist leider vor einiger Zeit gestorben.»

«Das tut mir leid.»

Sie macht ein tapferes Gesicht. «Aber Anatole geht es bestens. Es gibt jetzt drei Reflexions, kannst du dir das vorstellen? Eins in Kingston und eins in Rhinebeck.»

Sie merkt, dass sie immer wieder «kannst du dir das vorstellen» sagt.

«Hey, ich habe eine Bitte», sagt er. Er schnippt die Zigarettenkippe weg und schaut sich um, als hätte er Angst, jemand könnte es gesehen haben. «Macht es dir was aus, runter zum Fluss zu gehen? Ich würde ihn gern sehen. Klar, ich habe ihn die ganze Zeit vom Zug aus gesehen, aber das war wie fernsehgucken. Du hättest den Soundtrack hören sollen. Ein Typ hat seiner Freundin von einem weisen Buddhisten erzählt, der die Erleuchtung erlangt hat, und einer seiner Studenten hat sich so darüber aufgeregt, dass dem weisen Mann die Wiedergeburt erspart bleiben würde, dass er in dem Moment, als er starb, etwas sagte, das den Weisen derart verwirrte, dass er die Erleuchtung verpasste. Also wurde der weise Mann wiedergeboren, und er brauchte weitere achtundzwanzig Jahre auf der Erde, um die drei Sekunden der Verwirrung wiedergutzumachen, die ihm im Augenblick seines Todes widerfahren war.

Irgendwie schien die Freundin die Geschichte nicht verstanden zu haben, also wiederholte der Typ, was er gesagt hatte, beinahe Wort für Wort, und ich habe gedacht, wenn du das jetzt noch einmal erzählst, dann mach ich dich kalt. Und die ganze Zeit schaue ich aus dem Fenster und denke, dieser Fluss ist eine der schönsten Landschaften, die ich je gesehen habe.»

«Kaltmachen?»

«Auslöschen. Töten. Ich arbeite mit Rhodesiern, na ja, Ex-Rhodesiern. Egal. Ich rede schon wie sie.»

Ihm ist klar, dass er einfach drauflosredet, aber er weiß nicht, was er sonst tun soll. Dass Lydia ihn vom Bahnhof abholt, hat ihn ehrlich gesagt verblüfft. Die Jahre haben ihr nicht besonders zugesetzt. Auf den ersten Blick wirkt sie kompakt, wie eine Matrone, aber dann beeindruckt ihn ihr forsch platinblond gefärbtes Haar, ihre riesige, auffällige Handtasche, der zu knallige Lippenstift und die sogar noch knalligeren orangen Schuhe. Einmal Schwulenmutti, immer Schwulenmutti, denkt er – nicht unfreundlich. Ehrlich gesagt hat er schon lange nicht mehr an sie gedacht. Vor Anatoles überraschender E-Mail hatte er an keinen von ihnen mehr gedacht. Plötzlich macht es ihn verlegen, Anatole zu begegnen. Das Zwiegespräch mit dem Fluss soll die Begegnung nur herauszögern; genau genommen war so vieles in seinem Leben nur eine Verzögerung.

Er fragt sich, ob Anatoles Idee, Lydia zum Bahnhof zu schicken, auch eine Verzögerungsstrategie darstellt.

Auf den Bänken im kleinen Park am Ende der Main Street sitzen alte Männer und junge Mütter und lesen Zeitung, essen Sandwiches oder starren ins Leere. Ein Radio spielt den eingängigen, entnervenden Song, der die letzten Monate ständig im Kasino der Rumukoroshe-Anlage zu hören war. Früher hätte er gewusst, wie der Sänger hieß, aber jetzt hat er keine Ahnung. Er steckt sich noch eine Zigarette an und starrt ebenfalls in Leere; der braune, unerbittliche, großartige Fluss, eingerahmt von der hübschen Art-déco-Hängebrücke im Süden und dem verfallenen Monstrum der Eisenbahnbrücke im Norden …

«… das ist jetzt der Fußweg über den Hudson State Historic Park», erklärt Lydia. «Gepflastert, eingezäunt und sicher. War ein großer Erfolg, mit einer halben Million Besucher im Jahr, so ungefähr, kaum zu glauben. Ich gehe mit dir hin. Man muss keine Angst haben, es ist wie auf einem großen Pier. Und die Aussicht ist überwältigend.»

Jetzt erkennt er die Schutzgitter und die fröhlichen Wimpel. Er fand die verfallene Brücke extrem poetisch – eine Art Symbol für alles, das falsch und schön war an Poughkeepsie. Er wollte immer über die Zäune klettern und sich eines Nachts hinauswagen, aber er brachte nie den Mut zusammen. Jetzt flanieren dort Touristen. Schon okay: Er hat seitdem sehr viel gefährlichere und notwendigere Dinge getan.

Ein Wochenende in Poughkeepsie war Kinderkram verglichen mit dem Leben, das er gewählt hatte. Trotzdem fragt er sich, was ihn dazu gebracht hat, sich das anzutun. Er wohnt im Inn at the Falls und hat sich dorthin einen Leihwagen bestellt. Gewohnheiten sind hartnäckig: Den größten Teil der letzten zehn Jahre war es wichtig, sich auf seinen fahrbaren Untersatz verlassen zu können, eine gute Ausrüstung, Schutzweste und Sonnenbrille. Und natürlich sein privates Waffenarsenal.

Er hört sich sagen, «Es macht bestimmt Spaß da rauszugehen. Wo ich so weit gereist bin, kann ich ruhig auch das Touristenprogramm mitnehmen.»

Wann hat er wohl das letzte Mal gesagt, «Es macht bestimmt Spaß»?

Bei Reflexion rennt Anatole immer wieder zum großen Fenster zur Main Street. Eine Polizistin schreibt Strafzettel für Falschparker. Ein Rad fahrender Latino und ein großer Jamaikaner mit Dreadlocks liefern sich ein fröhliches Wortgefecht; der Mann auf dem Fahrrad fährt immer im Kreis, damit er in Hörweite bleibt. Jedes Mal, wenn er wieder vorbeikommt, geht das Geschrei von Neuem los. Beiden macht das so viel Spaß, dass sie nicht damit aufhören können. Die Polizistin schleicht von Auto zu Auto wie eine Katze, die den Garten auskundschaftet, und schenkt den beiden keine Beachtung.

Seit dreißig Jahren nennt er es sein Fenster zur Welt. Es ist ein Symptom für latentes ADHS, keine Frage, aber die Wahrheit ist, er kann sich besser konzentrieren, wenn er sich ablenkt. Daniel hat immer gespottet, er sei von diesem Fenster so abhängig wie andere Leute vom Fernsehen.

Jetzt stellt er sich vor, wie es sein wird, den ersten Blick auf Chris zu erhaschen. Warum ist er so nervös? Vielleicht ist er immer noch verliebt. (Er hat vorhin schon eine Xanax eingeworfen, aber das hat nichts genützt.)

Unsinn, sagt er sich und wendet seine Aufmerksamkeit wieder Carole Braunschweig und ihrer widerspenstigen Haarpracht zu. Er hat Rafa reinen Wein eingeschenkt. Es gehört sich nicht, ich weiß, vielleicht bin ich zu egoistisch. Aber ich möchte, dass Chris dabei ist. Vielleicht will ich, dass er begreift, dass es mir gut geht. Sein Verrat hat mich nicht umgehauen, ich bin nicht krank geworden. Ich habe überlebt. Vielleicht will ich herausfinden, ob ihn das interessiert.

Und Rafa hat ihn daran erinnert, ganz ruhig, wie es seine Art ist, dass drei, in Worten: drei seiner ehemaligen Lover zur Hochzeit kommen. Da kann Anatole doch wohl einen einladen.

Anatole hat ihm nie erzählt, dass Chris technisch gesehen kein Lover war – aber was hat Liebe schon mit Technik zu tun? Es beunruhigt ihn beinah, dass Rafa so viel Vertrauen hat. Meistens wirkt dieses Vertrauen wie ein Ausdruck von Reife; nur manchmal kommt es ihm ein wenig wie – Gleichgültigkeit vor. Oder wie Selbstüberschätzung? Aber Rafa überschätzt sich nicht und ist nicht gleichgültig. Er ist nur, nun ja, Rafa – der Computerfreak mit fast magischen Fähigkeiten, der gute Tänzer mit schrecklichem Musikgeschmack, der großartige Koch, der seine Schöpfungen fotografiert und auf Facebook postet, der begeisterte Radfahrer, der eine Methode entdeckt hat, wie er die Daten seiner täglichen Fahrradtour automatisch posten kann. Anatole wird nie begreifen, warum jemand solche Sachen posten möchte, aber all das ist nun einmal die Quintessenz von Rafael Pujols: großzügig, extrovertiert, ein wenig exhibitionistisch, vollkommen selbstvergessen, einfach anbetungswürdig.

«Ich glaube, ich probiere die neue Spülung aus», sagt er zu Carole und fährt mit den Fingern durch ihre königliche Mähne.

Dann läuft er wieder zum Fenster, und dieses Mal bekommt er seine Beute zu Gesicht. Sie gehen ohne Eile, Lydia redet lebhaft, Chris raucht und wendet entspannt den Kopf hin und her, wie um alles genau wahrzunehmen. Es ist, als sähe er einen Geist. Anatole prüft sein Herz; in seiner Brust sitzt ein ängstliches Kaninchen. Sie sind nicht mehr zu sehen; sie kommen die Treppe herauf. Carole tut ihm leid – genauer gesagt ihr Haar. Sie ahnt nicht, wie dramatisch es an Bedeutung verloren hat. Dabei ist ihr Gatte stellvertretender Staatsanwalt.

Dann betreten sie den Salon. Köpfe drehen sich. Warum auch nicht? Ein stark gebräunter, auffällig attraktiver Mann, nicht mehr jung, steht vor ihnen. Chris’ Haar ist brutal geschoren – er hatte so schöne Locken –, und Anatole begreift sofort warum: Wäre das Haar länger, sähe man die kahle Stelle. So kann man das machen, entschlossen und ohne die kahle Stelle zu vertuschen: Nimm sie als das, was sie ist. Richtig kurzes Haar bei Männern kann unglaublich scharf wirken.

Chris lächelt – scheinbar reumütig angesichts so vieler Verfehlungen: seines Verschwindens, des langen Schweigens, der verlorenen Jahre.

Anatole geht auf ihn zu. Chris streckt die Hand aus, aber damit gibt sich Anatole nicht zufrieden. Er stürzt sich auf ihn und nimmt ihn in die Arme, was Chris komplett überrumpelt. Er erinnert sich, dass Chris Berührungen noch nie gemocht hatte. Es gab eine Zeit, als Anatole sich ausmalte, wie es sein würde, mit Chris zu schlafen. Lydia und Leigh war etwas gelungen – falls das das richtige Wort war –, woran er gescheitert war. Lange Zeit hatte er beide deswegen gehasst, aber jetzt, als Chris sich aus seiner Umarmung löst, ist er vielleicht sogar froh, es nie getan zu haben. Das macht es ihm jetzt leichter.

«Lange nicht gesehen, weißer Bruder», sagt Chris in seiner todernsten Art, mit der er ihn früher so oft zum Lachen gebracht hat. Anatole wünscht, er könnte denselben Ton treffen, aber er ist viel zu verwirrt.

«Oh Mann, ich weiß nicht, was ich sagen soll», stottert er. «Ich bin so froh, dass du da bist.»

«Hey, na klar doch», erwidert Chris – als hätte er gerade nur einen kleinen Umweg gemacht.

«Wir bleiben nicht», sagt Lydia. «Ich weiß, du hast wahnsinnig viel zu tun. Ich wollte dir nur zeigen, dass das Paket gut angekommen ist. Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich um ihn. Wir treffen uns um sieben bei dir, okay?»

Und damit sind sie schon wieder verschwunden. In seinem Kopf geht alles drunter und drüber, aber so ist es nun einmal geplant: Bis sechs wie verrückt arbeiten, dann ein ruhiges Essen zur Feier des Wiedersehens im kleinen Haus in der Garden Street, das er und Rafa in den letzten Jahren renoviert haben und wo Rafa schon jetzt in der Küche wundervolle Dinge zaubert. Trotzdem kann er nicht dagegen an, sich beraubt zu fühlen, als wäre er gerade durch einen alten, halb vergessenen Traum getaumelt, in dem ihm etwas Kostbares gezeigt und dann weggeschnappt wurde.

Anatole wendet sich wieder Carole zu. «Verzeih die Unterbrechung. Ein alter Freund, der wegen der Hochzeit zu Besuch kommt.»

«Anatole, mein Lieber, du weinst ja», sagt sie. Und es stimmt. Eine verräterische Träne ist seine Wange hinuntergewandert. Er schnippt sie weg.

«Was soll ich sagen», erwidert er und macht sich an die Arbeit. «Ich bin nun mal sentimental.»

«Du wirst ein umwerfendes Wochenende haben», sagt sie.

Anatole hat zugenommen. Seine einstmals klar umrissenen Konturen haben Wülste bekommen; der Körper einer zum Leben erweckten Vogelscheuche, an deren Ruhelosigkeit Chris sich erinnert, ist schlaff geworden. Nicht, dass er ungesund oder gar unattraktiv wirkte – es ist nur beunruhigend, weil es die Gegenwart von der Vergangenheit unterscheidet.

«Tut mir leid, dass ich uns da gleich wieder rausgelotst habe», sagt Lydia. «Ich weiß, dass Anatole liebend gern alles stehen und liegen gelassen hätte, um mitzukommen. Aber er muss noch arbeiten.»

«Hast du Durst?», fragt Chris. «Bertie’s gibt es wohl nicht mehr, oder? Ich würde dir gern einen ausgeben.»

«Den gibt’s schon lange nicht mehr», sagt sie. «Außerdem ist es dafür noch etwas zu früh, meinst du nicht?»

Er schaut auf die Uhr. Halb vier, die perfekte Zeit für einen Drink. Er ist froh, dass er einen Flachmann in der Reisetasche hat. Immer einen Fluchtweg frei halten.

«Du hast Recht», sagt er. Ihre Enthaltsamkeit ist fast ebenso beunruhigend wie Anatoles Pölsterchen. «Dann schlage ich Folgendes vor», verkündet er und übernimmt damit wieder die Kontrolle. «Ich würde gern vor dem Essen im Hotel einchecken. Vielleicht mache ich ein Nickerchen. Und wenn du mir erklärst, wie ich zu Anatole komme –»

«Oh, ich hole dich ab, keine Sorge.»

«Das schaffe ich schon allein. Ich habe einen Wagen gemietet.»

«Du hast dich nicht verändert», sagt sie und ist für einen Moment ganz die alte Lydia. «Genauso menschenscheu wie damals.»

«Klär mich auf», sagt er, als sie an den Eis- und Samosa-Ständen vorbeigehen, die den Eingang zur Fußgängerbrücke flankieren. Es sind Informationstafeln aufgestellt; sie beschreiben die Geschichte des Flusses und die Heldentaten der Ingenieure, die die Brücke gebaut haben; das Feuer, das ihre Funktion beendete, die Jahre des Verfalls und die Verwandlung in ihren heutigen Zustand als Touristenattraktion – ein schmales Band aus Beton, bevölkert von Müttern mit Kinderwagen, alten Ehepaaren, Radfahrern. «Erzähl mir von diesem Rafa. Ich erkunde vorher gern das Terrain.»

Du lernst nur Anatoles Ehemann kennen, denkt Lydia, du musst hier nichts auskundschaften. Aber er wirkt schon seit seiner Ankunft eigentümlich nervös und schaut die ganze Zeit unruhig umher. Konzentrier dich auf mich, möchte sie sagen, aber sie hat durch ihren Sohn gelernt, dass solche Aufforderungen auch nach hinten losgehen können.

«Er ist fünf Jahre jünger als Anatole, in Washington Heights aufgewachsen und arbeitet im Marist College, wo ich ihn kennengelernt habe. Seine Mom kommt aus der Dominikanischen Republik, sein Vater war ein französischer Arzt, der in der Heimatstadt der Mutter ein Krankenhaus leitete. Ist vor ein paar Jahren gestorben. Ich weiß nicht genau, wann sie in die Staaten gekommen sind. Das alles kann dir Rafa heute Abend erzählen, wenn ihr euch trefft. Seine Mom wird auch da sein. Ziemlich kreativ, Boheme alter Schule. Malt, töpfert, macht Schmuck – der hier ist von ihr.» Lydia schiebt eine Strähne platinblondes Haar beiseite und zeigt ihm ihren knallig orange-blauen Ohrring. «Ich liebe ihre Sachen. Sie ist schon über siebzig und noch topfit. Hoffentlich haben wir auch so viel Glück. Oh, und Rafa hat zwei Schwestern in der Stadt, die morgen mit ihren Familien kommen werden. Was gibt es noch? Er ist das Beste, was Anatole je widerfahren ist. Sie sind seit zwölf Jahren zusammen, kannst du dir das vorstellen! Sie sind richtig zur Ruhe gekommen und häuslich geworden, und das meine ich nicht einmal ironisch.»

Chris denkt an Anatoles Saufgelage, seine fanatischen, schnell verflogenen Verliebtheiten in Teenager, seine Hochs und Tiefs – all das, was ihn zu einem anarchischen und angenehmen Kumpel machte.

«Schwer vorstellbar», sagt er.

«Oh, Anatole wollte schon immer zur Ruhe kommen. Selbst damals, als du noch hier warst. Wir wollten es beide, hatten aber keine Ahnung, wie man das anstellt.»

«Komisch, ich kann mich nicht erinnern, dass einer von euch das je erwähnt hat.»

«Wir waren zu cool, um zu sagen, was wir wirklich wollten.»

«Und am Ende habt ihr’s geschafft.»

«Gott sei Dank», sagte sie. «Sonst wäre einer von uns oder wir beide wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Wie Daniel, die arme Seele, jeden Abend betrunken oder high. Jeden Morgen verkatert. Irgendwann kann man einfach nicht mehr. Man versteht, warum alle andern solch ein langweiliges Leben führen, und man findet es selbst gar nicht mehr so langweilig.»

Die Sonne auf dem hellen Beton erinnert Chris daran, dass er den ganzen Tag schon leicht verkatert ist, weil es am Abend zuvor unglaublich spät wurde.

«Erzähl mir mehr über Daniel», sagt er, als sie wie die andern Touristen stehenbleiben, um die letzte Informationstafel zu lesen. «Du weißt ja, ich habe ihn nie besonders gemocht. Er war so …» Er sucht nach dem richtigen Wort.

«Schwul?», sagt sie.

«Nein, das meine ich nicht. Eher zu …»

«Tuntig?», versucht sie, und plötzlich fällt ihm ein Abend bei Bertie’s ein. Er und Anatole tranken Scotch, und Daniel saß perfekt aufgefummelt an der Bar. Lydias jüngerer Bruder Craig hatte Urlaub vom College, es müssen die Herbstferien gewesen sein. Die Details sind etwas verschwommen, jedenfalls hat er Craig darin bestärkt, die scharfe Blondine anzusprechen, die er schon seit Langem von Weitem anhimmelt, und bei den beiden geht es wirklich ab, erst tanzen sie zusammen, dann verschwinden sie – worauf Anatole vernünftig-besorgt und Chris voll Schadenfreude reagiert; und dann kam Craig verwirrt und genervt zurück, weil Daniel wie gewohnt gekniffen hat, bevor es zur unvermeidlichen und riskanten Stunde der Wahrheit kam – und das alles nur, weil Chris Lust hatte, jemandem aus Rache einen Streich zu spielen – aber wem? Daniel, der ihm egal war (oder war er ein wenig eifersüchtig, weil Anatole sich ihm derart zu Füßen geworfen hatte?), oder Craig, den er unglaublich hübsch fand?

Oder war der Witz auf seine eigenen Kosten gegangen? Craig war hetero bis zum Gehtnichtmehr, aber was hätte Chris nicht dafür gegeben, ihn in einer dunklen Seitenstraße zu überwältigen – in einem anderen Universum, wo alles möglich und alles erlaubt ist.

Ihn überfällt die schmerzliche Erinnerung, dass er nur deshalb mit Lydia geschlafen hat, weil sie die Schwester des unerreichbaren Craig Forman war. Ein mieser Ausrutscher, und nicht der einzige in seinem Leben.

Lydia beschreibt ihm den Verlauf von Daniels Krankheit. Er spürt, dass sie diese Geschichte schon mehrmals erzählt hat. «Er war kein besonders guter Patient», sagt sie. «Er konnte den Schnaps und die Drogen nicht lassen, und manchmal nahm er die Medikamente nicht, weil ihm danach schlecht wurde. Anatole hatte eine Engelsgeduld. Er musste Daniel ständig im Auge behalten, um zu verhindern, dass er etwas Verrücktes und Selbstzerstörerisches anstellte. ‹Daniel ist nicht stubenrein›, beschwerte er sich. Sie haben sich furchtbar gestritten. Daniel schrie, ‹Lass mich sterben, du Arschloch, verdammt noch mal›, aber Anatole ließ es nicht zu. Er war wie ein Heiliger, wirklich. Er ist bis zum Ende bei Daniel geblieben.»

«Ich will nicht den advocatus diaboli spielen», wendet Chris ein, «und natürlich war ich nicht dabei und kann das nicht beurteilen, aber abstrakt gedacht könnte man fragen, ob es nicht egoistisch ist, jemand am Leben zu erhalten, der nicht mehr leben möchte? Also ich an Daniels Stelle hätte in dieser Situation so schnell wie möglich den Abgang gemacht.»

Sie schüttelt den Kopf. «Lebe schnell, stirb jung, bleib hübsch – glaubst du das wirklich noch immer?»

Sie ist unerbittlich, wie man es von Ex-Rauchern oder -Trinkern kennt. Chris denkt, allein schon dieser Ton ist ein guter Grund, nie mit irgendetwas aufzuhören. «Wahrscheinlich willst du mir damit zu verstehen geben, dass ich alt geworden bin, aber nicht erwachsen?»

Sie ist verärgert. Das wollte er nicht, aber ihn irritiert, dass sie sich aufführt, als hätte sie die Weisheit gepachtet.

Das Wochenende hat erst vor zwei Stunden begonnen und schon der erste Streit. Sie beneidet Anatole, der bei Reflexion arbeitet und zum Glück keine Ahnung hat, welche Geister er und seine alberne Nostalgie heraufbeschworen haben.

Sie überqueren jetzt den Hudson, diesen Fluss, der im See Tränen der Wolken in den Adirondacks entspringt (wie sie von einer der Informationstafeln wissen) und Richtung Süden nach Manahatta fließt. Als sie das Ufer in sechzig Metern Tiefe hinter sich zurücklassen und sich über das Wasser hinauswagen, bewirkt der freie Ausblick, dass auch ihre Stimmung die Enge überwindet. Muhheakantuck. Fluss-der-in-zwei-Richtungen-fließt. Chris nutzt die Chance, einen anderen Ton anzuschlagen.

«Mich interessiert das Leben, nicht der Tod», sagt er. «Erzähl mir, was du so treibst, Lydia. Deine Familie. Was ist das für ein Kerl, den du geheiratet hast? Wie habt ihr euch kennengelernt?»

«Stell dir vor, ich fahre mit meinem Honda zur Inspektion.» Sie weiß, dass sie Konfektionsware liefert, aber das hält sie nicht davon ab, ihren vielfach erprobten Bericht vorzutragen, wie sie ihren alten Civic noch einmal in die Werkstatt brachte und Tom mit seinem Klemmbrett kam, um den Kilometerstand aufzuschreiben und nach besonderen Wünschen zu fragen. Dass er auch am Abend da war, als sie den Wagen wieder abholte und um ein paar Hunderter erleichtert wurde. Das war 1992, und er sagte, «Hm, ich bin ja nicht prüde, aber ist Ihnen das hier schon aufgefallen?», und zeigte auf ihren «Vize Gore»-Aufkleber, den jemand in «Votze Gore» verändert hatte. Beide mussten lachen, zwei völlig fremde Menschen, und ein paar Tage später liefen sie sich im Supermarkt über den Weg, und das war mehr oder weniger schon das Ende des Anfangs, wie sie gern sagt.

«Ich hätte nie gedacht, dass ich mal solch einen Menschen heiraten würde. Wir sind fast nie einer Meinung, aber vielleicht bleibt es gerade deswegen spannend. Er ist ziemlich konservativ, Dole, Bush, McCain – die ganze Bande. Im Herbst drückt er die Taste für Romney. Aber verdammt noch mal, vielleicht mach ich das auch, wenn die Wirtschaft weiter den Bach runtergeht. Er ist kein Jude, aber er ist sehr ritterlich zu meiner Mutter, was für sie sehr, sehr viel bedeutet, denn sie war offenbar felsenfest überzeugt, dass ich einen Juden heiraten würde. Aber er ist so pro-israelisch wie überhaupt möglich.

Und noch etwas. Es ist ein klein wenig homophob, irgendwie reflexhaft; manchmal kann das ein kleines Problem sein.»

Von hier aus gesehen ist Poughkeepsie ein Wald, aus dem schlanke Kirchtürme und plumpe Hochhäuser emporragen. Im Süden sieht man die dunklen Hudson Highlands, im Norden die blauen Catskills. Ein kleines Flugzeug dreht langsam seine Kreise über dem Fluss, das Motorengeräusch wird erst leiser, dann lauter und wieder leiser. Es erinnert Chris an etwas, aber das Bild ist verschwunden, bevor er es zu fassen bekommt.

«Kommt Tom zur Hochzeit?»

«Oh, aber sicher. Er und Anatole verstehen sich gut. Klar, ohne mich wären sie nicht befreundet, aber das muss ich Tom lassen, er hat dazugelernt, er ist jetzt viel offener, als ich je erwartet hätte.»

«Du hast auch von einem Kind gesprochen», sagt Chris charmant.

«Caleb. Unser Prachtkerl. Er ist gerade siebzehn geworden. Im Herbst kommt er auf die Arlington Highschool. Er hat es nicht leicht, aber das ist ja normal in dem Alter. Das Leben hat ihm ganz schön zugesetzt, aber alles in allem macht er sich wunderbar. Es ist nämlich so, er ist mit schwer beschädigten Nervenenden in beiden Ohren zur Welt gekommen. Mit zwei Jahren hat er Cochlea-Implantate gekriegt, das hat sehr geholfen. Er spielt sogar Schlagzeug in einer Band, wenn du dir das vorstellen kannst. Dummerweise hat die Versicherung nur einen kleinen Teil der Kosten für die Implantate übernommen, wir haben einen Berg Schulden. Aus dem Grund wohnen wir bei Mom. Wir sind noch nicht wieder richtig auf die Füße gekommen. Aber das war es auf jeden Fall wert. Du wirst es sehen, wenn du ihn triffst. Anatole hat geholfen, wo er konnte. Er ist eine Art Mentor für Caleb.»

Schon wieder der heilige Anatole. «Ich hätte nicht gedacht, dass du den alten Perversling näher als zehn Lichtjahre an deinen Sohn ranlässt», kann sich Chris nicht verkneifen. «Nach allem, was du von ihm weißt.» Er sagt es, als wäre es nicht ernst gemeint – irgendwie nicht ernst gemeint – oder am Ende doch.

Lydias heftige Reaktion trifft ihn unvorbereitet. «Wir waren damals ein Haufen dummer, selbstsüchtiger Raubtiere, alle drei. Es ist eine Schande. Ich weiß genau, dass ich jetzt erwachsen bin. Anatole ist auch erwachsen.»

«Ich bin sicher, dass Anatole –», versucht Chris zu sagen, aber Lydia unterbricht ihn.

«Soll ich dir mal was sagen? Ich war schon einmal auf dieser Brücke, damals, als sie eine Ruine war. Und zwar mit Leigh. Du erinnerst dich bestimmt an Leigh. Leigh Wie-hieß-er-noch-mal.»

Ihr Ton tut ihr leid, aber jetzt ist es raus.

«Leigh Gerrard», sagt Chris. «Was hast du denn gedacht?»

«Entschuldigung, natürlich tust du das. Hat er dir nie gesagt, dass wir hier draußen waren?»

«Nein», sagt Chris. Er spürt eine schreckliche Leere. «Das hat er nicht.»

«Wir sind hinauf zum Vanderbilt-Anwesen gefahren, ich glaube, das war unser erstes Date, wenn man so will. Ein paar Flaschen Wein und eine Tüte Magic Mushrooms. Tolle Sache. Na ja, irgendwie sind wir schließlich hier draußen auf der Brücke gelandet. Ich glaube, Leigh hat mich dazu herausgefordert. Ich hatte schreckliche Angst, dass wir uns das Genick brechen. Das hab ich noch keinem erzählt, darauf kannst du dir was einbilden.»

«Ich nehme an, der Ehemals Junge Gott der Fußgängerzone ist nicht eingeladen», sagt Chris, der längst gemerkt hat, dass die Möglichkeit, Leigh könnte auch dort sein, der heimliche Reiz war, Anatoles Einladung anzunehmen. Wie wundersam wäre es gewesen, wie befremdlich, ihn am anderen Ende des Raums zu erblicken, einen Drink in der Hand, vollkommen erwachsen und attraktiv und noch immer im vollen (oder auch im verminderten, das würde genügen) Besitz jener unbeschreiblichen Eigenschaften, die ihn auf so absurde Weise unwiderstehlich gemacht hatten.

Lydia macht jede Hoffnung darauf zunichte.

«Natürlich nicht. Niemand weiß, was aus ihm geworden ist. Es sei denn, du weißt es.»

«Nein, weiß ich nicht. Als ich fortging, habe ich meine Verbindungen zu allem und jedem abgebrochen. Das musste sein.»

«Genau, jetzt, wo du’s sagst. Das Porzellan zertrümmert und auf und davon. Aber das muss ich dir lassen, für einen Elefanten warst du wirklich etwas Besonderes. Ich habe noch eine kleine Frage, nach all den Jahren. Darf ich sie stellen? Nach allem, was war, schuldest du mir ein Geheimnis.»

Er nimmt an, es lohnt sich, dieses Etwas endlich aus der Welt zu schaffen. «Na los», sagt er.

«Ich drücke mich gewählt aus, okay? Hat Leigh dich verführt? Oder du ihn? Diese Frage hat uns zurückgelassene Erdlinge beschäftigt. Seid ihr zwei zusammen weggelaufen, wie man anhand der Indizien, oder zumindest des Timings, vermuten musste?»

Chris hört sehr genau die Frage, die sie nicht stellt: Warst du der Verräter, den wir in dir sehen mussten? Und wenn du es warst, bist du es immer noch?

«Nein», sagt er zu ihr. «Ich habe Leigh nicht gefickt, wenn du das meinst. Glaub mir. Das hätte ich nie getan. Dass ich gegangen bin, hatte nichts mit Leigh zu tun.»

«Womit dann?»

Aber Chris schweigt. Er steckt sich eine Zigarette an. Früher hatte er eine wunderbar stilvolle Art, die Zigarette zu halten, aber jetzt wirkt es nur zwanghaft und automatisch. Über ihnen vollführt das kleine Flugzeug ein paar Kunststücke, es zieht für die Touristen auf der Brücke eine Show ab.

«Was du auch denken magst», sagt er schließlich, «nicht alle von uns waren Raubtiere.»

Sie hatte sich darauf gefreut, Chris ein paar Stunden für sich zu haben, bevor Anatole ihn in Besitz nimmt. Jetzt fragt sie sich, was genau an dieser Aussicht so erfreulich war.

Es riecht nach Weihrauch. Rafa steckt gern ein paar Stäbchen an, ungefähr eine Stunde bevor die Gäste kommen; er sagt, das weckt das Haus auf. Anatole ist nicht allzu begeistert davon. «Das ist wie Passivrauchen. Ich bin nicht scharf auf Lungenkrebs. Können wir kein Raumspray nehmen?» Darauf erwidert Rafa für gewöhnlich: «Schatz, du hast mehr als zwanzig Jahre geraucht. Der Schaden ist angerichtet. Und außerdem» – er fächelt den aufsteigenden Rauch in Anatoles Richtung – «ist das heiliger Rauch. Buddhistische Nonnen haben ihn aus heiligen Bäumen gewonnen.»

Diesen Abend überdeckt der Rauch zwar andere köstliche Düfte, aber er löscht sie nicht aus. Anatole lugt durch den Türspalt in die kleine Küche und sagt sein obligatorisches, aber aufrichtiges «Riecht wunderbar!».

«Na, das will ich hoffen», sagt Rafa. Er ist barfuß und trägt Turnhose und ein T-Shirt voller Farbkleckse. Er hat sich den Tag freigenommen und ist weder rasiert noch geduscht. Sein struppiges schwarzes Haar ist ein einziges wundervolles Durcheinander und fordert dazu auf, mit der Hand hindurchzufahren. «Ich schufte hier schon seit Stunden.»

Im Lauf der Jahre haben sie aus den gemeinsamen Kindheitserinnerungen an I Love Lucy, Gilligan’s Island und Familie Feuerstein eine Parodie auf häusliches Leben entwickelt, das ähnlich wie der Weihrauch die realen und zumeist befriedigenden Haushalts-Gewohnheiten überlagert.

«Ist er gut angekommen? Hast du ihn gesehen?», fragt Rafa, als Anatole der Versuchung erliegt, ihn auf den Nacken küsst und ihm die Schultern massiert. «Hey, Finger weg vom Koch», warnt ihn Rafa. «Die Zubereitung der Speisen befindet sich in einer heiklen Phase.»

«Was hat der Maestro denn gezaubert? Ja, Lydia hat mir einen einzigen, verheißungsvollen Blick auf ihn gestattet. Er hat sich kein bisschen verändert, mit Ausnahme des entsetzlichen Haarschnitts. Vielleicht hat er sich also doch verändert. Ach herrje – was ist, wenn er sein Stilgefühl verloren hat? Das war schließlich alles, was er hatte! Und es war einfach ganz und gar perfekt.»

«Ich sag dir, mein Kätzchen, du bist noch immer verliebt. Ich werde den ganzen Abend den eifersüchtigen Ehemann spielen. Gibst du mir die Schale mit Walnüssen, bitte?»

«Ist das Rote Beete?»