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Monika Felten

Die Elfen des Sees

Ein Roman aus der Welt der Saga von Thale

hockebooks

Prolog

Als sich die Flammen dem Kern des riesigen Scheiterhaufens näherten und das Holz der geweihten Schatulle erreichten, die dort unter armdicken Ästen verborgen lag, hob Lya-Numi die Arme zum Himmel. Augenblicklich erstarb das leise Gemurmel, welches das Knistern und Knacken des Holzes begleitet hatte, und die Blicke der zweihundertfünfzig Nebelelfen, die sich an diesem Abend um das Feuer im Zentrum Caira-Dans versammelt hatten, ruhten in gespannter Erwartung auf ihr. »… iunij koku na siq-qasa min tag – wenn wir uns wiedersehen, wird es ein guter Tag sein.« Lya-Numis Stimme hallte hell und klar durch die Nacht, und selbst die vielen Windspiele in den Bäumen rund um die Lichtung schwiegen, während sie das traditionelle Gebet zu Ehren der Verstorbenen sprach. »… sinya du-n she ed treysa star inro – möget ihr das Licht finden, das hinter den Sternen leuchtet!«

In diesem Augenblick öffnete sich die Schatulle unter dem Ansturm des Feuers mit einem lauten Knall und gab den Inhalt den Flammen preis. Ein Sturm aus glühenden Funken schoss aus dem Scheiterhaufen und strebte dem nächtlichen Himmel wie eine Wolke brennenden Sternenstaubs entgegen. Getragen von der Hitze des Feuers stieg sie höher und höher, während ihr glühender, schier endloser Schweif noch immer den Scheiterhaufen berührte.

Lya-Numi erschauerte. Überwältigt von der Schönheit des Anblicks, füllten sich ihre Augen mit Tränen und ihre Gedanken wanderten weit zurück. Es war wie damals, als sie von den Bergrücken des Ylmazur-Gebirges aus das heilige Elfenfeuer zum ersten Mal beobachtet hatte …

Lya-Numi

Dirair hielt den Speer abwehrbereit in den Händen. Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt, der Blick starr geradeaus gerichtet. Sein Atem ging stoßweise. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Auf dem Boden lag sein Langbogen. Achtlos fortgeworfen, der letzte Pfeil verschossen. Daneben zwei Körper. Blutverschmiert und reglos im Steppengras.

»Dirair!« Lya-Numi schrie, so laut sie konnte, während sie über die Steppe rannte. »Dirair, flieh!«

Vergeblich.

Dirair hörte sie nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Quarlin, der keine fünf Schritte von ihm entfernt mit angelegten Ohren und gebleckten Zähnen im Gras kauerte.

Lya-Numi lief schneller. Doch was sie auch tat, wie schnell sich ihre Beine auch bewegten, sie kam nicht voran.

»Dirair!«

Lya-Numi schluchzte auf. Verzweiflung schnürte ihr die Kehle zu. Dirair durfte nicht sterben. Nicht Dirair, den sie so sehr liebte …

Lya-Numi schreckte aus dem Schlaf auf. Ihr Herz raste. Und sie zitterte, während die Bilder des Traums weiter an ihren Gedanken hafteten wie ein lebendiges Ding, das sich nicht abschütteln ließ.

Dirair!

Tränen schossen ihr in die Augen, als sie an den jungen Nebelelfen dachte, der ihr mehr bedeutete als alles andere und der ihr so nahestand wie niemand sonst. Dirair, der mit zwei Freunden aufgebrochen war, um einen Quarlin zu jagen. Dirair, der tot ist …

»Nein!« Hastig verscheuchte Lya-Numi die innere Stimme, die ihr zuflüstern wollte, dass der Traum die Wahrheit gezeigt habe. Es war ein Albtraum gewesen! Eine Ausgeburt der Ängste, die sie quälten, weiter nichts.

Lya-Numi straffte sich und versuchte, nicht auf die innere Stimme zu achten, die ihr einreden wollte, dass sie sich etwas vormache und die Wahrheit verleugne.

Seit vielen Sommern schon wurde sie häufig unvermittelt von Visionen heimgesucht. Heraufziehende Stürme, Trockenheit oder Elfen in Not, dies und noch vieles mehr offenbarte sich ihr in Form von verworrenen Bildern, die sich zumeist in der Nacht, aber auch am Tage wie von selbst vor ihrem geistigen Auge formten. Zunächst hatten die Bilder sie verwirrt und geängstigt, dann aber hatte sie gelernt, sie anzunehmen und sie zum Wohle aller zu nutzen.

»Es war nur ein Traum!« Lya-Numi ballte die Fäuste, während sie die Worte so nachdrücklich sprach, als wären sie eine Beschwörungsformel. »Nur ein furchtbarer Traum.«

Drei Mondläufe war Dirair nun schon fort. Lya-Numi hatte nicht gewollt, dass er ging, aber er hatte sich nicht umstimmen lassen. »Jeden Abend bei Sonnenuntergang werde ich deinem Bruder eine Nachricht senden«, hatte er ihr zum Abschied versprochen und sich auch daran gehalten, bis die Gedankenverbindung vor mehr als einem Mondlauf plötzlich abgerissen war. Sogleich war das ganze Dorf in großer Sorge um die drei jungen Elfenjäger gewesen.

Viele hatten Rat bei Lya-Numi gesucht, sie aber hatte ihnen nichts von den Träumen erzählt und behauptet, keine Bilder empfangen zu haben, obwohl der Traum von Dirair und dem Quarlin sie auch damals schon jede Nacht heimgesucht hatte.

Vor ein paar Sonnenläufen hatte ein Suchtrupp die entsetzlich verstümmelten Leichen von Dirairs Freunden nahe einem Lagerplatz in der nördlichen Steppe gefunden und sie ins Dorf zurückgebracht. Es gab keinen Zweifel, dass sie einem Quarlin zum Opfer gefallen waren. Von Dirair hingegen fehlte jede Spur. Nur seine Decke war am Lagerplatz zurückgeblieben. Für Lya-Numi war das Beweis genug, dass er am Leben war. Vielleicht verfolgte er den Quarlin allein? Oder er war verletzt geflohen und hatte die Fähigkeit der Gedankensprache wieder verloren, die er erst vor Kurzem erlernt hatte? Lya-Numi war noch zu jung, um die Gedankensprache zu erlernen. Erst in zwei Sommern würde man sie in dieser Kunst unterweisen. Sie wusste aber, dass man etwas vergessen konnte, wenn man einen Schlag auf den Kopf bekam, und klammerte sich daran. Das Einzige, was für sie zählte, war, dass es Hoffnung gab, die für sie erst dann enden würde, wenn die Suchtrupps auch Dirairs Leichnam in das Dorf am See brachten.

»Lya-Numi? Lya-Numi, bist du schon wach?« Jemand klopfte energisch gegen die Tür der aus Schilfgeflecht und Hölzern errichteten Hütte. Lya-Numi erkannte die Stimme ihrer Mutter und richtete sich auf. Durch die Ritzen und Spalten der Wände war das erste Grau des Morgens zu sehen.

»Ja, ich bin wach!«, gab sie zur Antwort, machte aber keine Anstalten aufzustehen. »Was gibt es?«

»Es ist Besuch gekommen. Jemand möchte dich sehen.« Die Stimme ihrer Mutter klang sehr aufgeregt.

»Besuch?« Dirair! Die Worte ließen Lya-Numi schlagartig alle Müdigkeit vergessen. Das konnte nur Dirair sein. Er ist zurück!, dachte sie mit klopfendem Herzen. Er lebt!

»Es ist nicht, wie du denkst.« Ihre Mutter schien ihre Gedanken zu erraten. »Gilraen, die Hohepriesterin aus den Sümpfen von Numark, ist mit ihrem Riesenalp gekommen und verlangt nach dir.«

»Die Hohepriesterin?« Lya-Numi fühlte, wie sich das Hochgefühl und die jäh aufgeflammte Hoffnung binnen eines Herzschlags in nichts auflösten. Die Welt wurde wieder dunkel. Seufzend sank sie zurück auf ihr Lager. Wozu aufstehen, wenn es nicht Dirair war?

»Lya-Numi, hast du gehört? Die Hohepriesterin möchte dich sehen.« Ihre Mutter ließ nicht locker. Lya-Numi wusste, dass sie so lange vor der Tür stehen würde, bis ihre Tochter herauskam.

»Und was will sie von mir?«, fragte sie unwirsch.

»Steh auf, kleide dich an und frage sie selbst«, erwiderte ihre Mutter mit leicht gereiztem Unterton. »Mir hat sie es nicht verraten. Aber beeile dich. Einen so ehrenwerten Gast lässt man nicht warten.«

»Wo bleibst du denn so lange, Kind?« Lya-Numi fing einen tadelnden Blick ihrer Mutter auf, als sie nach einer in ihren Augen angemessenen Zeitspanne die Hütte ihrer Eltern betrat. Ihren Vater konnte sie nirgends entdecken. Wie immer war er schon früh auf den See hinausgefahren, um zu fischen.

Ihre Mutter saß mit der hochgewachsenen Elfenpriesterin allein an dem einzigen Tisch in der Hütte. Gilraen blickte auf und musterte Lya-Numi aufmerksam aus ihren ungewöhnlich hellgrauen Augen. Sie hatte den dunkelblauen Reiseumhang nicht abgelegt. Ihr Gesicht war alterslos, aber ihre schlohweißen Haare zeugten davon, dass sie schon viele Hundert Sommer gesehen hatte.

»Ich kam, so schnell ich konnte.« Lya-Numi wusste, dass ihre Mutter und auch die Hohepriesterin die Lüge mühelos durchschauten, aber das war ihr gleichgültig. Sie wandte sich der Hohepriesterin zu, neigte ehrerbietig das Haupt und sagte höflich: »Ich grüße Euch, ehrwürdige Gilraen.«

»Und ich grüße dich – meine Tochter.«

… meine Tochter. Schon die Art, wie die Hohepriesterin das sagte, jagte Lya-Numi einen Schauder über den Rücken. Obwohl Gilraen ihr zulächelte, spürte sie das Endgültige, das in den Worten mitschwang. In ihrem Magen schien plötzlich ein Stein zu liegen, und sie fragte sich voller Unbehagen, was nun kommen mochte. Es dauerte einen Augenblick, ehe sie sich so weit gefasst hatte, dass sie äußerlich gelassen die Frage stellen konnte, die auch ihre Mutter bewegte. »Was führt Euch hierher?«

»Ich bin gekommen, dich zu holen.«

»… zu holen?« Lya-Numi prallte zurück. Die Offenheit der Hohepriesterin raubte ihr fast den Atem.

»Ihr … Ihr wollt meine Tochter mit Euch nehmen?« Die bestürzte Frage ihrer Mutter verschaffte Lya-Numi etwas Zeit, um sich wieder zu fassen.

Gilraen nickte.

»Aber warum?«

»Weil sie sieht.« Drei Worte, vorgetragen auf eine Weise, als erkläre dies alles. Worte, die wie ein Sturm aus heiterem Himmel über Lya-Numi hereinbrachen und in ihr eine heftige Abwehr heraufbeschworen. Stumm schüttelte sie den Kopf. Ihre Lippen bebten, während es in ihrem Kopf nur Raum für einen Gedanken zu geben schien: Nein! Niemals! Ich gehe nicht fort.

Der Hohepriesterin entging ihre abweisende Haltung nicht. »Es überrascht mich, dass du es nicht gesehen hast«, hörte Lya-Numi sie wie aus weiter Ferne sagen. »Ich nahm an, du hättest bereits eine Vorahnung. Es tut mir leid, wenn dich meine Worte erschreckt haben, aber selbst wenn ich sie weniger direkt vorgetragen hätte, würde es nichts an der Tatsache ändern, dass es deine Bestimmung ist, mit mir zu kommen.« Sie machte eine kurze Pause und schien etwas zu überlegen, dann fuhr sie fort: »Du bist die, nach der ich viele Sommer lang gesucht habe, die Einzige im ganzen Land, die würdig ist, meine Nachfolge anzutreten.«