Ricki zieht um

Häuser, Häuser, Häuser … Ricki sah aus dem Fenster und fragte sich, ob das irgendwann auch wieder aufhörte. Sie fuhren schon eine halbe Ewigkeit quer durch die Stadt, und hinter jeder Biegung kam eine neue Straße, an der sich ein Haus neben das andere reihte: Bürotürme, Supermärkte, Läden und Restaurants. Dicht neben dem Auto rauschte plötzlich eine Straßenbahn an ihnen vorbei, und Ricki zuckte zusammen.

In dem Dorf, in dem sie bisher mit ihrer Familie gewohnt hatte, gab es keine Straßenbahn. Alles war viel kleiner, und man brauchte nur ein paar Minuten, um einmal durch den Ort zu fahren. Das war hier anders. Hier kam es einem vor, als würde man nie ankommen. Und Ricki wollte auch gar nicht ankommen! Sie wollte am liebsten umkehren und zurückfahren. Aber ihr Vater hatte eine neue Arbeitsstelle gefunden, und deshalb mussten sie nun hier wohnen, in dieser fremden Stadt, in der sie niemanden kannte. Wirklich überhaupt niemanden! Außer ihre Eltern und ihre beiden Brüder Jonas und Fabian.

»Wir sind gleich da«, sagte ihr Vater und zeigte auf ein blaues Straßenschild. »Hier geht’s rein, seht ihr? Das ist die Schotterbachstraße.«

»Hup doch mal«, forderte Jonas. »Damit alle wissen, dass wir da sind. Hey! Ja! Die Bucks sind in der Stadt!«

Ricki verdrehte die Augen. »Das interessiert doch keinen, ob wir da sind oder nicht.«

»Na klar! Hallo Nachbarn, HAAALLOOO!« Jonas klopfte gegen die Scheibe, und ihre Mutter drehte sich kopfschüttelnd um.

»Geht’s noch, Jonas? Hör auf zu schreien! Du weckst Fabian auf.«

»Schon passiert«, sagte Ricki und sah, wie ihr jüngerer Bruder gähnte und sich verschlafen die Augen rieb. Fabian war erst zwei und konnte sehr anstrengend werden, wenn er müde war. »Fanti? Fanti!« Fabian verzog das Gesicht, und Ricki gab ihm schnell seinen grauen Kuschelelefanten, der auf den Boden gefallen war.

»Wir sind gleich da, mein Schatz«, sagte Frau Buck. »Gleich siehst du, wo wir wohnen.«

Ricki drehte sich zum Fenster und stellte beruhigt fest, dass es in der Schotterbachstraße viel grüner war als vorne an der Hauptstraße. Zwischen den Wohnhäusern standen viele Bäume, und die Straße selbst war eine Sackgasse. An einem kleinen, runden Wendeplatz hörte sie einfach auf, und dahinter begann eine Wiese. Ein Kiesweg führte zwischen Holunderbüschen hindurch in einen großen, grünen Park, und Ricki wusste, dass es in dem Park einen Spielplatz gab und einen Hügel.

Sie hielten vor dem Haus mit der Nummer 19, und Jonas sprang sofort aus dem Auto, aber Ricki seufzte und zog erst mal ihre lila Turnschuhe an.

»Jetzt mach nicht so ein Gesicht«, sagte ihre Mutter und strich ihrer Tochter über die kurzen, blonden Haare, die von der langen Autofahrt ganz zerzaust waren. »Schau dir doch zuerst alles an.«

 

Sie stiegen durch das Treppenhaus nach oben in den vierten Stock.

Ricki erschrak, als sie die leere Wohnung sah. Alles war weiß, und jeder Schritt hallte von den kahlen Wänden wider. Sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie man hier wohnen sollte, auch wenn ihre Mutter immer wieder betonte, wie gemütlich sie es haben werden.

»Wirklich, Ricki, das sieht jetzt in den ersten Tagen schlimm aus, aber wenn alles eingerichtet ist, wird es schön.«

Kurz darauf hielt der Umzugswagen vor dem Haus, und ihr Vater klatschte in die Hände. »Unsere Möbel sind da. Es geht los!«

Sie gingen alle wieder nach unten, um auszuladen, aber Ricki blieb noch einen Moment am Fenster stehen und schaute hinaus. Von hier oben hatte sie einen guten Blick in den Park. Sie entdeckte sofort den Hügel, von dem ihr Vater erzählt hatte. Wie eine grüne Welle türmte er sich am Rand der Wiese auf und war oben mit Büschen und Bäumen bewachsen. Im Winter konnte man dort sicher gut Schlitten fahren. Und auf der Wiese konnte man rennen. Das gefiel Ricki. In ihrer alten Schule war sie das schnellste Mädchen gewesen, obwohl man ihr das auf den ersten Blick nicht zutraute. Sie war nicht kräftig, eher zierlich und hatte ein sanftes Gesicht mit großen, blauen Augen.

Hinter ihr polterte es laut.

»Geschafft!«, keuchte Jonas und schleppte die ersten Sachen in die Wohnung: seinen blauen Rucksack, seinen CD-Player und seinen Fußball.

War ja klar, dass er nur SEINE Sachen hochträgt, dachte Ricki. Sie war es gewohnt, dass ihr großer Bruder immer und überall zuerst an sich dachte.

Ricki wollte nun auch nach unten gehen und drehte sich um, doch plötzlich hörte sie laute Schreie, weit entfernt. Sie kamen aus dem Park.

Was war denn das?

Ricki sah wieder aus dem Fenster und entdeckte vier Kinder, die oben auf dem Hügel standen. Sie hatten alle die Arme weit ausgebreitet, als wollten sie fliegen, und liefen gleichzeitig los. Schreiend rannten sie den Hügel hinunter, schneller und schneller und weiter über die Wiese, bis sie sich fallen ließen, alle übereinander.

Ein bunter Haufen lachender Kinder.

Da huschte auch über Rickis Gesicht ein kleines Lächeln.

 

In den nächsten Tagen fing Ricki an, mit ihrem Roller die Umgebung zu erkunden. Eigentlich war es ihr ein bisschen peinlich, mit dem Roller gesehen zu werden, denn er hatte mal ihrer Cousine gehört: Er war hellrosa und von oben bis unten mit Einhorn-Aufklebern beklebt. Ricki hatte versucht, sie abzumachen, aber manche ließen sich nicht mehr ablösen, und so hatte sie die Einhörner übermalt und mit anderen Aufklebern abgedeckt, schön sah das jedoch nicht aus.

Ricki rollte durch die Straßen. Überall standen dieselben hohen Wohnhäuser, kleine Türme aus mehreren Stockwerken, einer neben dem anderen. An einer Kreuzung entdeckte Ricki ein paar Läden, eine Bäckerei und eine Eisdiele. Aber am besten gefiel ihr der Park mit dem Hügel. Es gab gute Kletterbäume und ein ausgetrocknetes Bachbett, das sich wie ein langer Graben am Rand der Wiese entlangschlängelte.

»Wo ist denn der Bach?«, fragte Ricki ihren Vater, als sie einmal alle zusammen spazieren gingen.

»Er fließt unter der Erde durch ein Rohr«, sagte er.

»Und warum fließt er UNTER der Erde?«

»Weil hier oben kein Platz ist, wegen der Straßen und Häuser. In den Städten werden Bäche oft umgeleitet.«

Komisch, dachte Ricki. Eine große Stadt, in der nicht mal Platz für einen kleinen Bach ist.

Da entdeckte sie ein Brett, das jemand über den Graben gelegt hatte, wie eine Brücke. Und auf der anderen Seite stand ein schiefes, kleines Schiff. Es war aus Holzbrettern zusammengenagelt und hatte einen Mast mit einer Piratenflagge. Auf einem der Bretter stand in schiefen, roten Buchstaben: BACHPIRATEN.

»Wie nett! Das haben bestimmt Kinder gebaut«, sagte Rickis Mutter. »Frag doch einfach mal, ob du mitspielen kannst.«

Frag doch einfach mal … Einfach! Ihre Mama hatte keine Ahnung. Roller fahren war einfach. Aber fremde Kinder fragen, ob man mitspielen kann, war ganz und gar nicht einfach. Es gab nämlich Kinder, die laut »Nein!« schrien, gemeine Sachen sagten oder so blöd waren, dass man lieber doch nicht mit ihnen spielen wollte. Ricki war deshalb vorsichtig. Sie beobachtete lieber und wartete ab, bis sie angesprochen wurde.

In den nächsten Tagen ging Ricki immer wieder zu dem Piratenschiff. Aber die Kinder, die sich dort trafen, beachteten sie gar nicht. Sie gingen einfach an ihr vorbei, als wäre sie unsichtbar. Ein großer Junge mit braunen Haaren wurde von den anderen Kindern Leon genannt. Er schien so etwas wie der Anführer zu sein. Aber er war nicht sehr freundlich, wie Ricki feststellen musste, denn einmal schubste er sie einfach zur Seite.

»Was hängst du die ganze Zeit hier herum? Hau ab!«

Ricki zuckte zusammen. »Aber«, stammelte sie. »Ich … ich wollte doch nur –«

»Das ist unser Schiff«, fuhr Leon sie an. »Du darfst nicht auf die Brücke.«

»Betreten verboten!«, rief ein anderer Junge, und dann trat noch ein Mädchen nach vorne, mit langen, blonden Haaren und einem Glitzer-T-Shirt. Sie sah Ricki von oben bis unten an. »Geh lieber mal einen neuen Roller kaufen«, sagte sie, und die anderen Kinder lachten.

Ricki war wie erstarrt. In ihrem Hals bildete sich ein dicker Kloß, und sie bekam kein Wort heraus. Langsam drehte sie sich um und ging davon. Ihre Augen brannten, und sie wünschte sich nichts mehr, als wieder in ihrem alten Dorf zu sein, wo ihre Freundinnen wohnten und keine fiesen Bachpiraten. Ricki fing an zu weinen und setzte sich ins Gras.

Da hörte sie hinter sich plötzlich eine Stimme.

»He du, hast du dir wehgetan?«, fragte ein Mädchen mit einer Taucherbrille auf dem Kopf.

Ricki hatte sie schon einmal gesehen, auf der Straße vor ihrem Haus, zusammen mit drei Jungen.

»Nein«, sagte Ricki und wischte sich die Tränen weg. »Es ist nur … die Kinder da –«

»Hast du etwa mit denen geredet?«, fragte das Mädchen erschrocken. »Tu das nicht! Die sind alle gemein.«

»Das hab ich gemerkt«, sagte Ricki und zog die Nase hoch.

Das Mädchen mit der Taucherbrille setzte sich neben Ricki ins Gras. Sie hatte lustige, braune Locken, die in alle Richtungen von ihrem Kopf abstanden, und viele Sommersprossen auf der Nase.

»Ich bin Tina. Und wie heißt du?«

»Ricki.«

»Du bist neu hier, oder? Ich hab den Umzugswagen gesehen.«

»Ja«, sagte Ricki. »Ich kenne hier keinen. Aber ich dachte, die Kinder auf dem Schiff lassen mich vielleicht mitspielen.«

»Vergiss es.« Tina winkte ab. »Das sind die Trockenpaddler.«

»Trockenpaddler?«, fragte Ricki verwundert. »So nennen die sich?«

»Nein, natürlich nicht. Die nennen sich Bachpiraten, aber das finden wir bescheuert. Weil doch gar kein Wasser im Bach ist! Die hängen nur auf ihrem Boot herum und finden sich toll. Trockenpaddler. Ha! Das sind unsere Feinde.«

»Aha.« Ricki sah sich verwirrt um. »Und wer seid ihr?«

»Wir? Wir sind die Hügelflitzer!«, sagte Tina.

»Hügelflitzer«, wiederholte Ricki. Das gefiel ihr. »Hört sich gut an.«

»Ja. Find ich auch.« Tina lächelte und zupfte ein paar Grashalme aus der Wiese. »Wir sind vier. Ich bin leider das einzige Mädchen. Und dann gibt es noch Hugo, der wohnt im selben Haus wie ich. Er ist der schnellste Junge der ganzen Schule und natürlich auch der schnellste Hügelflitzer. Und Max und Vincent wohnen nebenan, in deinem Haus. Die hast du bestimmt schon gesehen. Max ist so ein kleiner Junge mit blonden Haaren, und Vincent hat immer das gleiche grüne T-Shirt an.« Tina drehte sich zu Ricki um. »He, ich kann dir zeigen, wo wir uns immer treffen! Willst du mitkommen?«

Sie sprang auf und hielt Ricki die Hand hin. Und Ricki zögerte keine Sekunde. Natürlich wollte sie mitkommen! Sie nahm Tinas Hand und ließ sich von ihr hochziehen.

»Warte, ich muss noch meinen Roller holen«, sagte Ricki, und als sie ihren alten, verklebten Roller aus dem Gras zog, musste Tina lachen.

»Meiner sieht genauso aus. Ich hab den alten Roller von meinem Bruder bekommen, aber der hatte überall Spiderman-Aufkleber drauf. Die hab ich weggekratzt und übermalt, mit Blau und Türkis. Das sind meine Lieblingsfarben, weil ich das Meer mag. Ich gehe gern schwimmen, weißt du, mein Vater ist Bademeister im Schwimmbad, und ich bin im Schwimmverein.«

»Ach so, dann kommst du gerade vom Schwimmen«, sagte Ricki. »Oder warum hast du eine Taucherbrille auf dem Kopf?«

»Die Taucherbrille ist mein Haarband«, erklärte Tina.

»Dein Haarband?«

»Ja. Die hält viel besser und verrutscht nicht. Echt! Ich hab oft Taucherbrillen auf dem Kopf. Musst du auch mal versuchen.« Tina schüttelte sich plötzlich, beugte sich vor und zurück und ließ den Kopf nach unten hängen wie eine Marionette.

»Siehst du? Ein Haarreif wäre schon längst rausgefallen, aber die Taucherbrille hält«, sagte Tina, und Ricki musste lachen.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass Tina auch ganz in Meeresfarben gekleidet war: Sie trug eine dunkelblaue, kurze Hose und ein hellblaues T-Shirt mit einem bunt gestreiften Fisch in der Mitte.

»Komm, ich helf dir schieben«, sagte Tina. Sie hielt den Roller mit der linken Hand fest und Ricki mit der rechten. So gingen sie nebeneinander über die Wiese. Zwei Mädchen, genau gleich groß. Und Ricki war sich plötzlich auf wunderbare Weise sicher, dass sie eine neue Freundin gefunden hatte.

Das Wettrennen

Tina nahm Ricki mit auf den großen Hügel hinter dem Spielplatz. Von oben hatte man einen weiten Blick über die Wiese und die angrenzenden Häuser. Ricki sah sogar die Dachterrasse ihrer Wohnung, auf der sich immer noch ein paar Umzugskisten stapelten.

»Das ist unser Treffpunkt«, erklärte Tina und setzte sich auf einen Felsen. Um sie herum waren dichte Büsche, und man kam sich vor wie in einer Höhle mit Blätterdach.

Es dauerte nicht lange, da kamen auch schon die anderen Hügelflitzer. Tina zeigte auf den kleinsten Jungen, der ganz vorne lief. »Das ist Max. Und der mit dem Skateboard unter dem Arm, das ist Vincent.«

Rickis Blick fiel auf den dritten Jungen. Das musste Hugo sein. Er war größer als die anderen und hatte hellbraune, kurze Haare. Seine Turnschuhe sahen sehr neu und teuer aus, und an seinem Handgelenk trug er eine Armbanduhr, die gleichzeitig eine Stoppuhr war. Als er Ricki sah, blieb er für einen Moment stehen und runzelte die Stirn.

»He, du bist die Neue!«, rief Max und kam aufgeregt auf sie zu. Doch plötzlich stolperte er und fiel Ricki vor die Füße.

»Oh, hast du dir wehgetan?«, fragte Ricki und bemerkte, dass er ziemlich viele Schrammen an den Beinen hatte.

»Nein, nein, nichts passiert«, sagte Max und grinste. »Du bist doch die Neue, oder? Du wohnst in unserem Haus!«

»Ich hab dich auch schon gesehen«, meinte Vincent. »Du wohnst einen Stock über mir.«

Ricki nickte überrascht. »Ja, das stimmt.«

»Wir wissen alles«, sagte der kleine Max mit wichtiger Miene. »Wenn du irgendwas wissen willst, musst du nur uns fragen. Ich bin Max. Und ich hab noch eine kleine Schwester, die heißt Susanna. Sie ist drei und kann ziemlich laut schreien, vielleicht hast du sie schon gehört.«

»Äh … ja, ich glaube schon«, sagte Ricki, die sich erinnerte, dass sie mal ein sehr wütendes kleines Mädchen vor dem Haus gesehen hatte, mit blonden Zöpfen. Sie sah Max ähnlich, wie sie jetzt feststellte, denn auch Max hatte blonde Haare, ein rundes Gesicht mit roten Backen und leicht abstehende Ohren.

Verglichen mit ihm war Vincent sehr blass im Gesicht, fast weiß, aber das lag vielleicht auch an seinen strähnigen dunklen Haaren, die sein schmales Gesicht umrahmten. Er trug ein zerknittertes T-Shirt, und Ricki sah zu, wie er immer höher einen Baum hinaufkletterte und plötzlich zwischen den Ästen verschwand.

»Vincent versteckt sich gern«, sagte Tina. »Wir nennen ihn Versteckmeister Vincent, weil er alle geheimen Orte kennt und die besten Verstecke.«

»Huhu!« Zwischen den Ästen tauchte plötzlich eine Hand auf und winkte Ricki zu. Sie lächelte und wollte zurückwinken, doch Max zog von der anderen Seite schon an ihrem Arm.

»Schau mal, was wir hier haben«, sagte er und holte eine kleine Kiste aus dem Gebüsch.

In der Kiste bewahrten die Hügelflitzer ihre Vorräte auf: Kekse und Schokolade. Ricki bekam auch etwas davon. Sie saß kauend neben Tina und fühlte sich immer wohler. Gut gelaunt erzählte sie den anderen, wo sie herkam und wie ihre neue Schule hieß. Es war dieselbe Schule, auf die auch die anderen Kinder gingen, und Tina klatschte vor Freude in die Hände: »Und du bist auch acht Jahre alt, wie ich? Hoffentlich kommst du in meine Klasse!«

Plötzlich stand Hugo auf. Er hatte noch nicht viel gesagt und Ricki die ganze Zeit beobachtet, mit wachsamen Augen und verschränkten Armen, als würde es ihm gar nicht passen, dass an ihrem Treffpunkt plötzlich ein fremdes Mädchen saß.

»Kannst du eigentlich rennen?«, fragte er und sah sie herausfordernd an. »Ich meine, kannst du den Hügel hinunterrennen, ohne Hinfallen? Das sollte ein Hügelflitzer nämlich können.«

Ricki zuckte mit den Schultern. Rennen. Was sollte daran schwierig sein? Vor der ganzen Klasse etwas erzählen, wenn einen alle ansahen, das war schwierig. Aber doch nicht rennen.

»Ich kann es mal versuchen«, sagte Ricki und schob die Äste zur Seite.

Sie stand oben auf dem Hügel und sah hinunter. Oje, das ist ganz schön steil, dachte sie noch, aber da konnte sie schon nicht mehr anhalten. Wie der Wind sauste Ricki hinunter und lief weiter und weiter, bis sie auf der Wiese zum Stehen kam.

»Das war aber schnell«, staunte Vincent.

»Raketenschnell! Sie hat gar nicht gebremst«, meinte Max und hatte gleich eine Idee: »Wir nennen sie Ricki Rasenrakete.«

»Ja! Ricki ist schneller als Hugo!«, rief Tina.

Doch da drehte sich Hugo wütend um und knurrte: »So ein Quatsch. ICH bin der Hügelkönig!«

Max schlug vor, dass Hugo Hügelkönig und Ricki Rasenrakete ein Wettrennen machen sollten, damit alle sehen konnten, wer schneller war. Er stellte sich zwischen die beiden und rief: »Auf die Plätze, fertig, los!«

Hugo und Ricki rannten los, aber keiner konnte sich absetzen. Sie blieben immer auf der gleichen Höhe und liefen nebeneinander über die Ziellinie.

»Gleich schnell!«, rief Tina. »Keiner hat gewonnen.«

»Kann nicht sein!«, japste Hugo und ließ sich ins Gras fallen. Er war so schnell gerannt wie noch nie, und dieses Mädchen, dieses neue Mädchen … Puh! Er schnappte nach Luft. Auch Ricki war außer Atem, aber sie konnte noch lachen: »Wir haben beide gewonnen, Hugo! Ist doch okay.«

»Ist gar nicht okay! Noch mal!«

»Noch mal?«, fragte Vincent. »Bist du sicher?«

»Ja!«, schrie Hugo mit rotem Kopf. »Wiederholung! Sofort!«

Und dann rannten sie noch mal. Und noch mal. Sie rannten ohne Schuhe. Barfuß. Mit Socken. Sie fuhren Roller und Fahrrad, aber was sie auch taten: Sie erreichten immer zusammen das Ziel. Hugo und Ricki waren gleich schnell.

»Also langsam wird es langweilig«, gähnte Tina.

»Ich muss auch nach Hause«, meinte Vincent.

»Nein«, widersprach Hugo. »Wir brauchen eine Entscheidung.«

»Wir haben Hunger!«, riefen die anderen.

Hugo schüttelte den Kopf. Er wollte jetzt nichts essen, er wollte gewinnen.

Da hatte der kleine Max eine Idee. Wie so oft. Er war vielleicht jünger als die anderen und manchmal etwas ungeschickt, aber Ideen hatte er viele.

»Morgen«, sagte er. »Morgen macht ihr noch mal ein Wettrennen. Aber ihr müsst mit einem selbst gebauten Fahrzeug an den Start gehen. Also nichts, was es schon gibt und was man kaufen kann, sondern eine neue Erfindung. Irgendwas, das rollt.«

Und mit diesem Vorschlag waren alle einverstanden.

 

Als Ricki am nächsten Morgen die Sonne ins Gesicht schien, war sie sofort wach. Heute war das Wettrennen! Sie freute sich schon, ihre neuen Freunde wieder zu treffen, und sprang gut gelaunt aus dem Bett. Beim Frühstück erzählte sie ihren Eltern alles von den Hügelflitzern, und gleich danach machte sie sich an die Arbeit, denn sie wusste schon genau, welches Fahrzeug sie bauen wollte. Sie nahm einen leeren Umzugskarton und befestigte ihn mit Seilen und Klebeband auf einem Rollbrett. Das hatte Ricki nämlich bei ihrem Umzug beobachtet: Wenn eine Kiste zu schwer war, hatten die Männer sie auf einem Rollbrett zum Haus geschoben.

Da pass ich genau rein, fand Ricki und legte noch ein Kissen in die Kiste, damit es gemütlicher war. Außerdem schrieb sie in großen Buchstaben »RICKIS RASENDE KISTE« auf den Karton und malte hinten noch eine Rakete darauf.

»Jetzt kann’s losgehen!«, rief sie und klatschte in die Hände.

Im Haus nebenan tat Hugo sich schwerer. Überall lagen zerknüllte Papierbälle auf dem Boden und zerrissene Entwürfe. Er zerbrach sich den Kopf, welches Fahrzeug wohl am schnellsten war, und konnte sich einfach nicht entscheiden: Eine Schublade auf zwei Skateboards? Oder ein Stuhl auf dem Leiterwagen? Und vielleicht konnte man irgendwo einen Motor einbauen oder ein Segel setzen, damit der Wind ihn nach vorne trug … Hugo hatte seinen Bleistift vor lauter Aufregung schon fast zerkaut und aufgegessen, da hatte er plötzlich eine neue Idee. Er rannte in den Keller, wühlte sich durch die Ecke mit den Wintersachen und schnappte sich seinen Schlitten.

 

Oben auf dem Hügel warteten schon alle, als Hugo endlich mit seinem Rennschlitten kam. Er hatte ihn auf zwei Roller gebunden und eine kleine, rote Fahne daran befestigt, die hinter ihm herflattern sollte, wenn er zum Sieg fuhr. Ricki saß schon in ihrer rasenden Kiste, mit einem Helm auf dem Kopf, und Tina hielt eine selbst gebastelte Krone in der Hand.

»Die ist für den Gewinner!«, verkündete sie.

Dann gab Max das Startsignal, und es ging los.

Hugo und Ricki starteten. Doch hoppla! Beide hatten Schwierigkeiten zu lenken, es krachte und schepperte, und plötzlich kippte Hugos Schlitten um. Hugo rollte ein Stück den Hügel hinunter und blieb liegen. Tina schrie erschrocken auf, und auch Ricki hielt sofort an und sprang aus ihrer Kiste.

»Bist du verletzt?«, fragte sie besorgt.

»Es geht schon«, sagte Hugo und biss die Zähne zusammen, denn er wollte nicht zugeben, dass seine Schulter wehtat. »Los, wir starten noch mal.«

Auch bei ihrem zweiten Versuch wackelten die selbst gebauten Fahrzeuge hin und her und ratterten wild den Hügel hinunter. Diesmal war es Ricki, die aus ihrer Kiste herausfiel, doch Hugo fuhr weiter und raste lachend auf die Ziellinie zu. Er riss die Arme hoch und jubelte. »Gewonnen! Ha! Ich bin der Hügelkönig, immer noch, hab ich’s doch gesagt: Ich bin der Schnellste!«

Strahlend drehte er sich zu den anderen um, aber keiner freute sich mit ihm. Sie rannten alle zu Ricki, die sich den Ellenbogen aufgeschlagen hatte und blutete.

»So sehen meine Ellenbogen auch immer aus«, sagte Max. »Brauchst du ein Pflaster? Ich hab immer welche dabei.«

»Was ist denn jetzt?«, rief Hugo von unten. »Hallo! Ich bin hier, ich hab gewonnen!«

»Schön für dich! Da hast du deine blöde Krone«, rief Tina und warf sie Hugo wütend vor die Füße.