cover
Belinda Grimaldi

Unter den Sternen Kalabriens

Scharfe Küsse schmecken besser!





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

UNTER DEN STERNEN KALABRIENS

 

 

 

 

 

Scharfe Küsse schmecken besser!

 

•♡•

 

2. Auflage

 

 

1

 

Der knallrote Fiat 500 zuckelte gemächlich die eng gewundenen Serpentinen hinauf. Am oberen Ende der Steigung führte die Straße nahtlos durch die unbedarfte Ortschaft Cassandria im tiefsten Süden Italiens. Zwischen den Städten Crotone und Catanzaro auf einer langgezogenen Hügelkette angesiedelt und schätzungsweise zehn Kilometer von der Küste entfernt, lag das Städtchen gut dreihundertfünfzig Meter über dem Meeresspiegel und bot einen fantastischen Ausblick über die sanften Ausläufer des kalabrischen Apennin. Das Panorama wurde mit jedem zurückgelegtem Höhenmeter grandioser, doch die Fahrerin des Kleinwagens war zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, um der farbenprächtigen Natur mehr als einen flüchtigen Blick zu schenken. Nur hin und wieder erfreute sie sich am Oleander, der in unregelmäßigen Abständen den Straßenrand säumte und mit seinen leuchtend pinkfarbenen Blüten einen sehenswerten Kontrast zum azurblauen, wolkenlosen Himmel bildete. Ließ man seine Augen über die von der Sonne verbrannte Landschaft streichen, konnte man in der Ferne den kilometerlangen Küstenabschnitt ausmachen und die beinahe unnatürlich wirkenden Aquamarinschattierungen des Ionischen Meeres bewundern.

Rechts der Straße bildeten massive Felsen eine natürliche Wegbegrenzung, linker Hand verhinderten Steinmauern und Leitplanken den unvermeidlichen freien Fall in die Tiefe. Die sich stetig wiederholenden Haarnadelkurven drosselten die Fahrgeschwindigkeit ohnehin auf unter vierzig Stundenkilometer. Stellenweise durchbrachen imposante Schlaglöcher die vor Hitze flirrende Asphaltdecke. Zum Teil waren die Straßenschäden einfach nachlässig mit Schotter aufgefüllt. Die verbogene, teils zerstörte Leitplanke an der abgrundgerichteten Straßenseite zeugte von einem schweren Verkehrsunfall und gemahnte zu Vorsicht und Konzentration.

Estella fluchte lautlos vor sich hin, als dem Auspuff des vor ihnen fahrenden Lasters eine dunkle, stinkende Abgaswolke entströmte und ihre Sicht behinderte. Eigentlich ist diese Straße eine typische Metapher für mein derzeitiges Leben, dachte sie griesgrämig. Eine Achterbahnfahrt mit Augenbinde ohne Sicherheitsgurt und Airbag. Nur dass sie beziehungsweise ihr Gefühlsleben im letzten Jahr gänzlich von den kurvenreichen Wegen der Liebe abgekommen war und in einen bodenlosen Abgrund stürzte. Hinuntergestürzt wurde, verbesserte sie sich im Stillen. Und zwar von dem eiskalt lächelnden Mann ihrer Träume, dem sie seit achtzehn Jahren verfallen war und der ihre Treue und Zuneigung durch eine wilde außereheliche Affäre mit anschließender Reproduktion verhöhnte und ihr Herz mit seiner maskulinen Schuhgröße 44 zu einem blutroten Brei zerstampfte. Wie konnte sie nur so blind sein, haderte sie zum gefühlten millionsten Mal mit sich. Ihre Hände würgten das Lenkrad, so dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Die typischen Anzeichen waren doch alle vorhanden gewesen! Die immer häufiger stattfindenden Geschäftsessen, das neue, sündhaft teure Rasierwasser, sein wachsendes Interesse an Mode und körperlicher Fitness. Ihre Wahrnehmung offensichtlicher Tatsachen war schlicht und einfach durch die tiefen Empfindungen zu diesem Mann abgestumpft, ihr Blick auf die Realität durch die rosarote Brille vernebelt. Anders ließ es sich nicht erklären, dass sie sich monatelang hinters Licht führen ließ. Wie eine Ertrinkende klammerte sie sich an seine Ausreden, machte in ihrer grenzenlosen Naivität seine Lügen zu ihrer Wahrheit. Kein Wunder, dass Manuel sich einer Anderen, Klügeren zuwandte – ein Dummerchen wie sie konnte einfach nicht in seiner Liga mitspielen, selbst wenn sie es wollte.

Estella stöhnte frustriert auf. Sofort warf sie einen erschrockenen Blick auf die Beifahrerseite, doch ihre Tochter Lara schien ihren kleinen Gefühlsausbruch aufgrund der eingestöpselten Kopfhörer überhört zu haben. Scheinbar entspannt lümmelte sie in ihrem Sitz, ihr Kopf mit den geschlossenen Augen war gegen die Seitenscheibe gesunken. Wahrscheinlich hätte der Seelenzustand ihrer Mutter sie ohnehin nicht weiter gekümmert. Aus dem einst süßen kleinen Mädchen, welches ständig an Mamas Rockzipfel hing und für das Estellas Worte gleichbedeutend waren wie die heilige Schrift, hatte sich im Laufe der Pubertät ein launisches, widerspenstiges junges Geschöpf herauskristallisiert, welches nur noch entfernt an das engelsgleiche Wesen aus Kindertagen erinnerte. Gleichermaßen hübsch wie rebellisch – so ließ sich die bald Siebzehnjährige wohl am Besten beschreiben. Das vergangene Jahr war leider auch nicht spurlos an dem jungen Mädchen vorübergegangen: Die unschöne Trennung der Eltern erfolgte zum denkbar schlechtestem Zeitpunkt. Das Trauma eines zerrütteten Elternhauses und die darauf folgende frohe Botschaft eines neuen Geschwisterchens verarbeitete die bis dahin pflegeleichte Vorzeigetochter in ihrer eigenen Teenagermanier: Sex, Drugs & Rock´n Roll. Obwohl sich die Laras Drogenexzesse bis dato nur auf den einen oder anderen Freizeit-Joint beschränkten, versetzten sie ihre Eltern in höchste Alarmbereitschaft. Dagegen verblasste die Aufregung um das Brauen- und Zungenpiercing und das darauf folgende Drachen-Tattoo am Knöchel zu einer lächerlichen Anekdote. Doch damit nicht genug. Lara wartete noch mit ganz anderen Eskapaden auf. Vor allem die unsägliche Beziehung zu dem zehn Jahre älteren Gelegenheitsarbeiter Gerald war für die Familie ein Schock. Beim Aufräumen von Laras Zimmer fand Estella neben leeren Zigarettenschachteln Kondome in den verschiedensten Geschmacksrichtungen und wusste nicht, ob anhand ihrer Entdeckung weinen oder eher lachen angebrachter wäre. Letzten Endes tat sie beides – und zwar gleichzeitig. Auch wenn sich ihr wertvolles Kind schon dem erstbesten Versager hingab, war sie wenigstens verantwortungsbewusst genug, um sich vor Geschlechtskrankheiten zu schützen. Als Lara ihren inakzeptablen Freund zu Estellas Erleichterung endlich abserviert hatte, ließ sie sich auf eine äußerst emotionale On-Off-Liebelei mit einem jungen Tänzer ein, in deren Verlauf sie sich langsam, aber sicher zur Drama-Queen entwickelte. Nach monatelangem Hin- und Her outete sich besagter Freund als bisexuell und gab Lara wegen eines aufstrebenden YouTubers den Laufpass. Als das Mädchen zur Krönung ihrer jugendlichen Rebellion auch noch bekanntgab, die Schule abbrechen und eine Stelle als Au-pair in London antreten zu wollen, zog Manuel mit Estellas ausdrücklichem Einverständnis die Notbremse und schickte Lara auf ein privates Internat in der Nähe von Lüneburg. Entgegen aller Erwartungen lebte sich die kleine Rebellin in der idyllisch gelegenen Schule Marienau recht schnell ein. Vermutlich war ein strikt durchorganisierter Tagesablauf nebst systematischem Controlling genau das Richtige für Laras aus den Fugen geratenen Gefühlsleben. Nachdem sie ihre Grenzen abgesteckt und akzeptiert hatte, mauserte sie sich zu einer überraschend fleißigen Schülerin. Einem erfolgreichen Abschluss auf dem renommierten Gymnasium im kommenden Schuljahr stand demnach nichts mehr im Weg.

Estella wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Verkehr zu. Verärgert ließ sie den Wagen etwas zurückfallen, als weitere Rußwolken dem Auspuff des Vordermanns entfleuchten. Was für eine Umweltverschmutzung! Und überhaupt: Wie lange wollte sie sich denn noch dieses Schneckentempo vorschreiben lassen? Hatte sie sich nicht geschworen, von nun an ihr Leben selbst zu bestimmen?

Weiter vorne konnte sie eine willkommene Verbreiterung der Bergstraße ausmachen. Estella machte sich bereit, schaltete in den zweiten Gang zurück und lauerte wie eine Berglöwin auf Beutezug auf ihre Gelegenheit. Endlich! Der ausbleibende Gegenverkehr erlaubte trotz der Steigung ein flottes Überholmanöver, welches dem Motor des Kleinwagens ein entrüstetes Aufjaulen entlockte und ihr einen erstaunten Blick ihrer plötzlich hellwachen Tochter einbrachte.

"Dir ist schon bewusst, dass es hier ziemlich tief runtergeht, oder?", murrte der Teenager und reckte den Kopf, um einen Blick über die Leitplanke in die Tiefe zu erhaschen.

Estella schenkte Lara ein beruhigendes Lächeln. "Keine Sorge, Liebling. Deine Mutter hat vielleicht nicht viele Talente, doch Autofahren gehört definitiv dazu. Immerhin fahre ich nicht umsonst seit fast zwanzig Jahren unfallfrei."

"Hauptsache du meckerst nicht, wenn du nächstes Jahr bei mir mitfährst", meinte das Mädchen lapidar. Immerhin war vorgesehen, dass Lara nach dem Abitur Fahrstunden nehmen sollte. Und wie Manuel bereits seit Jahren ankündigte, würde an Laras achtzehntem Geburtstag ein fabrikneuer Kleinwagen als überdimensionales Geschenk unter dem Fenster seiner Tochter parken. Estella schüttelte widerwillig den Kopf. Ihr zukünftiger Exmann war schon immer der Meinung, sich mit Geld alles erkaufen zu können, sei es auf geschäftlicher Basis oder im Privatleben. Im Laufe der Zeit hatte er diese Idee so verinnerlicht, dass er sie offenbar sogar auf die Liebe seines Kindes übertrug.

 

Nach kurzer Zeit hatte Estella die letzte, besonders haarsträubende Kurve passiert und folgte der endlich geraden Straße zum Ortseingang. Ein großes Schild mit der Aufschrift Benvenuto a Cassandria hieß die Neuankömmlinge willkommen. Mit einem erwartungsfrohen Grinsen wandte sich Estella an ihre Tochter.

„Na, was meinst du? Willst du eine schnelle Stadtführung, bevor wir zu dem Haus deiner Urgroßmutter fahren?“

Lara starrte gelangweilt aus dem Fenster. „Stadtführung klingt wohl ein bisschen idealistisch, Mama. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man mehr als zwei Minuten braucht, um dieses Kaff einmal komplett zu durchqueren.“

„Meinst du? Immerhin zählt Cassandria fast zehntausend Einwohner. Von einem Kaff kann man also wirklich nicht sprechen. In den sechziger und siebziger Jahren ja – da mussten die jungen Leute aufgrund der hiesigen Arbeitslosigkeit notgedrungenen in den Norden oder ins benachbarte Ausland ziehen. In diesen mageren Jahren war Cassandria, ach was – die ganze Region – regelrecht entvölkert. Die meisten fanden in der Emilia Romagna oder in der Lombardei feste Anstellungen, andere wiederum suchten in der Schweiz und in Deutschland ihr Glück. Wie mein Vater zum Beispiel. Er reiste einer Eingebung folgend nach Augsburg und machte dort seinen Weg. Viele zog es auch nach Amerika. Damals blieben nur die Alten zurück, und die jungen Familien kehrten nur im Sommer heim.“

„Weiß ich doch alles, Mama. Opa Francesco hat es ja nur ungefähr eine Million Mal erzählt. Wie er als junger Mann in die Fremde aufbrach und so weiter. Wie ihm vor Heimweh fast das Herz zerriss, wie die Deutschen ihn anfangs misstrauisch begegneten und wie Oma Jasmins Vater die Beziehung der beiden zu sabotieren versuchte.“

Estella verlor sich in der Vergangenheit. „Ja, der Vater meiner Mutter war schon ein harter Knochen. Ich konnte nie eine wirklich herzliche Beziehung zu ihm aufbauen, so sehr ich mich auch bemühte, ihm zu gefallen. Meinen Vater ignorierte er komplett, und ich war für ihn nur die Enkelin zweiter Wahl. Die Tochter eines Immigranten. Mit jedem Lebensjahr verhärtete sich sein Charakter, bis Mama schließlich den Kontakt zu ihm abbrach.“ Sie seufzte. „Ich war zehn Jahre alt, als er starb und habe ihn eigentlich nie richtig kennengelernt.

„Und damit hast du offenbar auch nicht viel verpasst. Ich kann Leute nicht ausstehen, die andere wegen ihrer Herkunft ablehnen.“

Estella konnte sich ein stolzes Lächeln nicht verkneifen. „Das ist meine Tochter!“

„Trotzdem, ich verstehe nicht, warum Opas Stimme immer melancholisch klingt, wenn er von diesem Nest hier erzählt“, lenkte Lara das Gespräch wieder in die Gegenwart zurück. „Ich finde diesen Ort jedenfalls nicht besonders originell. Die meisten Häuser machen doch einen ziemlich verwahrlosten Eindruck, wenn du ehrlich bist. Schau mal, die hässliche Bauruine da vorne! Und das hier – soll das etwa ein Kinderspielplatz sein? Also bitte! Nee, Mama – hier werden wir den langweiligsten Urlaub unseres Lebens verbringen“, prophezeite sie.

„Schätzchen, mach dir mal keine Sorgen. In spätestens einer Woche wimmelt es hier von jungen Menschen in deinem Alter. Im Sommer sind hier dreimal so viele Leute wie in den übrigen Monaten. Alle, die hier verwurzelt sind und aus welchen Gründen auch immer woanders wohnen, kehren in den nächsten Tagen hierher zurück. Cassandria ist im August rappelvoll. Du wirst schneller Anschluss finden, als du denkst und am Ende gar nicht mehr nach Hause fahren wollen. Ich meine, du sprichst dank deines Großvaters sehr gut italienisch -“

Leidlich gut trifft es wohl eher. Ich kann mich verständigen, aber mehr auch nicht. Aber um dies überhaupt tun zu können, müsste ich auch Leute zum reden finden. Doch wo sind diese Unmengen von Einwohnern, von denen du sprachst? Schau doch, keine Menschenseele weit und breit. Sieht aus wie in einer Geisterstadt!“

„Kein Wunder, bei fünfunddreißig Grad im Schatten geht doch kein vernünftiger Mensch vor die Türe. Es ist Mittagszeit, die Leute bleiben bei der Hitze in ihren Häusern und halten Siesta. Oder sie gehen ans Meer.“

„Das ist wahrscheinlich auch das einzig Wahre, was man hier am Ende der Welt tun kann!“

Estella schmunzelte in sich hinein. „Okay, ich sehe schon: hier herrscht großer Nachholbedarf. Es ist bei weitem nicht so schlimm, wie du denkst. Pass auf, wir fahren jetzt zu Omas Haus, machen uns frisch und essen eine Kleinigkeit. Ich habe gestern noch einmal mit Angelita telefoniert. Mamma mia, so eine herzliche Frau! Ich kenne sie schon seit meiner Kindheit. Du wirst sie bestimmt sofort mögen. Sie war die beste Freundin meiner Oma und hat das Haus schon ein bisschen für unsere Ankunft vorbereitet. Sie hat mir versichert, für unser leibliches Wohl zu sorgen, also werden wir bestimmt Zutaten für eine Brotzeit im Kühlschrank vorfinden. Danach ruhen wir uns ein wenig aus. Die Läden öffnen sowieso erst wieder um sechzehn Uhr.“

„Das ist eine wirklich vernünftige Ansage, Mama.“ Lara gähnte demonstrativ. „Ich bin todmüde und komme außerdem um vor Hunger. Wann sind wir denn endlich bei diesem sagenumwobenen Haus?“

„Wenn ich mich richtig erinnere, müssen wir hier … Nein, falsch! Himmel, seit über zwanzig Jahren war ich nicht mehr hier! Ich weiß noch, dass man nach der Piazza nach links abbiegen muss …“ Estella setzte den Blinker, bog in eine leicht ansteigende Seitenstraße ein und folgte ihr ein Stück. „An diese kleine Kreuzung erinnere ich mich …“, murmelte sie konzentriert vor sich hin. „Wir müssen ganz in der Nähe sein … Ha! Ecco qua! Wir sind angekommen, mein Kind. Via Costantino“, rief sie aus und deutete auf ein an einer Hauswand angebrachtes Marmorschild.

Vor einem schmucken, sonnengelb getünchtem zweistöckigem Haus am am Ende der Straße stoppte Estella schließlich den Wagen und seufzte erleichtert. „Mein Gott, ist das ein schönes Gefühl! Es ist wie nach Hause kommen.“ Sie lachte befreit auf. „Ich hätte gar nicht gedacht, wie ich diesen Ort über die Jahre hinweg vermisst habe! Komm schon, Schnecke, lass uns endlich hinein gehen!“

 

Lara schwang ihre langen Beine aus dem Auto und streckte sich ausgiebig. Die Autofahrt in dem ungemütlichen Kleinwagen vom Flughafen in Lamezia Terme bis hierher war für ihre stattliche Körpergröße von ein Meter fünfundsiebzig die reinste Tortur. Als sie sich nochmals in Wageninnere beugte und nach ihrem Rucksack griff, hörte sie auf einmal, wie eine Türe geöffnet wurde. Gleich darauf ertönten neben hastigem Trippeln freudige, stark dialektgefärbte Begrüßungsfloskeln, die gewehrsalvenartig aus dem Mund einer verhutzelten alten Frau schossen. Lara verstand nicht mal die Hälfte, doch Mama quietsche beglückt auf, eilte der Greisin entgegen und umarmte sie liebevoll. Sogleich plapperte sie munter in fließendem Italienisch mit der gerührten alten Dame und rief im nächsten Moment nach ihrer Tochter.

„Lara! Komm schnell, Liebes, ich möchte dir jemand ganz Besonderes vorstellen: Signora Angelita, die beste Freundin deiner Urgroßmutter!“

Lara ging auf die beiden zu und streckte der Fremden artig lächelnd die Hand zur Begrüßung entgegen. „Schön, Sie kennenzulernen. Ich bin Lara“, begrüßte sie in ihrem besten Italienisch.

Die alte Dame ergriff die ihr dargebotene Hand und zog Lara dann mit überraschender Kraft zu sich hinunter. Schnell gab sie dem überraschten Mädchen Küsschen auf beide Wangen. „Sei bellissima, Lara, davvero!“, piepste sie ergriffen, trat einen Schritt zurück und betrachtete ihr Gegenüber. „Wunderschönes Mädchen. Schön wie die Sonne, wie deine Mutter!"

Grazie, signora“, stammelte Lara und blickte hilflos zu ihrer Mutter.

Die alte Frau winkte ungeduldig ab. „Ah, nix da signora! Nenn mich ruhig Lita, das tun hier alle. Bei uns im Süden es geht nicht so – wie sagt man? - förmlich zu wie in Deutschland. Und außerdem bist du fast so etwas wie eine Verwandte. Non lo sapevi? La tua bisnonna, deine Urgroßmutter, war nicht nur la mia migliore amica, sondern auch eine entfernte Cousine.“

Wie Mama Lara in einer Schnellfassung erklärte, lebte Angelita lange Jahre bis zu ihrer Pensionierung in Düsseldorf, bevor sie und ihr Mann beschlossen, ihren Lebensabend in der geliebten Heimat zu beschließen. „Ich habe lange Zeit nicht mehr Deutsch gesprochen und bin ein bisschen – come si dice?“ Angelita runzelte ratlos die Stirn.

„Eingerostet?“, half Lara lächelnd.

Si, eingerostet. Aber das kommt wieder alles. Ihr beide werdet mir helfen, meine Sprachkenntnisse aufzufrischen, vero?“

„Und du redest im Gegenzug italienisch mit Lara“, warf Mama lachend ein.

Ma certo, cara! Doch jetzt lasst uns aus dieser Hitze gehen, ihr Lieben! È ora di pranzo! Heute Mittag ihr seid meine Gäste.“ Das Weiblein hakte sich kurzerhand bei Lara und deren Mutter unter und führte die beiden zu ihrem Haus schräg gegenüber. Auf dem Gehsteig zu beiden Seiten der halbgeöffneten Haustür standen Dutzende Blumentöpfe mit den größten Basilikumpflanzen, die Lara je gesehen hatte. Die stark aromatischen Blätter waren zum Teil so groß wie ihre Hand. Putzige Insekten, die wegen ihrer besonderen Art zu fliegen auf Lara wirkten wie Mikro-Kolibris, umschwirrten die weißen Blüten. Ein schwarzweißes Kätzchen erschien auf der Türschwelle und betrachtete mit unverhohlener Neugierde die beiden unbekannten Besucherinnen.

„Der kleine monello hier heißt Leo“, erzählte Angelita und scheuchte den Stubentiger zurück in den Eingangsbereich. „Vor drei Monaten er war plötzlich da, vor meiner Tür, und wollte nicht mehr weg. Hat ganz laut geweint. Er war magrissimo, ganz dünn. Und verletzt. Hinteres Bein war gebrochen. War vier Tage in der Tierklinik, poverino … Aber schaut ihn euch jetzt an: Sieht er nicht gesund und munter aus?“ Wie zum Beweis schmiegte sich der kleine Kater laut schnurrend um die Beine seiner Retterin. Lara fand das betagte Weiblein mit dem großen Herz für hilfebedürftige Tiere immer sympathischer.

Im Hausinneren war es angenehm kühl, die Klimaanlage summte leise im Hintergrund. Ein köstlicher Geruch durchzog die Räumlichkeiten. Angelita brachte ihre Gäste zur Küche und deutete auf die um einen runden Tisch gruppierten Stühle. „Accomodatevi! Ich hoffe, ihr mögt Lasagne?“

 

 

•♡•

 

Als Mutter eines naseweisen Teenagers benötigt man Nerven aus Stahl. Vor allen Dingen ist stets damit zu rechnen, dass sich das vor einer Sekunde noch wohlgefällige Kind innerhalb eines Wimpernschlags in einen feuerspeienden Drachen verwandelt, dem mit vernünftigen Erklärungen nicht mehr beizukommen ist. Das konfliktreiche Zusammenleben mit Lara hatte Estella in der Vergangenheit eines gelehrt: sich nie auf die dieselbe Stufe mit einem provozierenden Teenager ziehen zu lassen. Dabei hat der Erwachsene von Anfang an verloren. Deshalb blieb sie rein äußerlich die Ruhe selbst, als Lara nach dem köstlichen Mittagessen bei Angelita von einem Moment auf den anderen die Krallen ausfuhr.

„Okay, Mama. Irgendwie ist das zu hoch für mich. Ich meine, dieser Ort gehört zu Europa! Also erklär´s mir bitte nochmal: Warum zur Hölle kann ich jetzt nicht duschen? Ich klebe am ganzen Körper!“

Estella, die aus den Fehlern von damals gelernt hatte, zählte lautlos bis zehn und setzte ein freundliches Lächeln auf, während sie sich zu ihrer Tochter umdrehte. Nur in Unterwäsche bekleidet und mit in den Hüften gestemmten Fäusten stand Lara in der offenen Badezimmertür und starrte ihre Mutter mit blitzenden Augen an. Schwierig, sich von dem divenhaften Auftreten der jungen Amazone nicht beeindrucken zu lassen. Ruhig, Estella, ruhig … Immerhin hast du sie praktisch gezwungen, dich nach Cassandria zu begleiten. Lara war von Anfang an nicht scharf darauf, hierher zu fahren. Sie hat nur dir zuliebe nachgegeben. Und wenn du ihr auch bereits zweimal erklärt hast, was es mit der Wasserknappheit auf sich hat, wirst du es eben auch ein drittel Mal tun.

„Wie ich dir bereits gesagt habe, herrscht hier in den Sommermonaten allgemeiner Wassernotstand. Das bedeutet, dass die Gemeinde nur an jedem zweiten oder dritten Tag das Wasser für die Haushalte freigibt. Aus diesem Grund haben hier alle diese sogenannte riserva in der Garage stehen, in denen das Wasser angesammelt wird. Auch in diesem Haus gibt es so einen Wasserspeicher, nur ist er relativ klein mit nur zweitausend Litern Fassungsvermögen. Für eine alleinstehende alte Frau war es vollkommen ausreichend, meine Großmutter hatte mit Sicherheit nie Probleme, ihren Wasserhaushalt zu regeln. Angelita hat sich nach Omas Tod wie zuvor vereinbart um das Haus und natürlich auch um den Garten gekümmert. Du weißt es vielleicht nicht, doch der Garten war Omas ganzer Stolz. Du siehst ja, wie prächtig alles blüht. Nun ja, Angelita hat gestern wie jeden Abend gegossen in der Annahme, dass heute morgen wie erwartet das Wasser freigegeben wird. Nur leider hat die Gemeinde beschlossen, noch einen weiteren Tag damit zu warten, und deshalb ist unser hauseigener Tank praktisch leer. Das letzte bisschen Wasser darin brauchen wir für die Toilettenspülung. Duschen wird eben auf morgen verschoben.“

„Ach so? Wunderbar, einfach großartig!“ Lara hob ihren Arm und schnupperte naserümpfend in Richtung Achsel. „Puh! So gehe ich jedenfalls nicht aus dem Haus. Das Einkaufen musst du schon alleine übernehmen. Dir sind deine Körperausdünstungen vielleicht egal, aber ich lege sehr viel Wert auf meine persönliche Hygiene!“ Lara drängte sich erbost an ihrer Mutter vorbei und warf sich theatralisch auf die Couch. Beim Blick auf das Desktop ihres Handys verdüsterte sich ihr ohnehin schon griesgrämiger Gesichtsausdruck. „Na toll, auch das noch!“ Anklagend hielt sie ihrer Mutter das Mobiltelefon entgegen. „Ich habe kein Netz! Oh Mann, wo zur Hölle bin ich hier nur gelandet!“