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Lothar Tiedtke, Mundtot? Stasi-Opfer der DDR-Haftpsychiatrie klagt an

© 2018 der vorliegenden Ausgabe: underDog

Verlagshaus underDog, www.underdog-verlag.de

© 2018 Lothar Tiedtke

Lothar Tiedtke

Mundtot?

Stasi-Opfer der DDR-Haftpsychiatrie
klagt an

Portrait- und Umschlagfoto: © Kai Reußner

Umschlaggestaltung: © Daniel Brabec, www.contactdesign.de

Satz und Layout: © Daniel Brabec, www.contactdesign.de

Druck: CPI, www.cpibooks.com

Inhaltsverzeichnis

Verlustreiche Kindheit

Schmerzhafte Jugend

Illegale Einweisung in die DDR-Haftpsychiatrie

Mein Leben nach der Entlassung aus der Psychiatrie

Die Zeit bis zum Untergang der DDR

Nach der Wende - Untergrundarbeit der SED und Stasi-Kader alter Manier

Die Verhinderung der Aufklärung politischer Psychiatrisierung in der DDR

Verlustreiche Kindheit

Ich wurde im Jahr 1958 in Saßnitz auf der Insel Rügen geboren. Mein Vater Harry Tiedtke war Marineoffizier, meine Mutter Sekretärin. Ich habe einen fünf Jahre älteren Bruder, Udo, und eine vier Jahre ältere Schwester, Sabine. Harry Tiedtke wurde Anfang der 1960er Jahre von Saßnitz nach Stralsund an die Offiziershochschule versetzt, 1963 wurde er aus der Marine entlassen.

Bis zu meinem sechsten Lebensjahr verlief meine Kindheit normal. Meine Mutter arbeitete auf der Post, mein Vater als Waschmaschinenmechaniker. Wir wohnten in einem Offiziersblock in Stralsund.

Mein Vater hatte ein Verhältnis mit einer Frau aus unserem Haus, deren Ehemann ebenfalls Offizier war. Ich führte später unzählige Gespräche mit meiner Oma darüber. Daher nehme ich an, dass dieses Verhältnis schon seit Jahren andauerte und der wahre Grund für die Entlassung Harry Tiedtkes aus der Marine war.

1964 verunglückte meine Mutter bei einem Arbeitsunfall tödlich. Ich war damals sechs Jahre alt. Vermutlich wusste sie von dem Verhältnis meines Vaters und war dadurch stark seelisch belastet. Der Unfall, den sie auf dem Bahnhof verursachte, geschah, weil sie unkonzentriert war. Dies konnte natürlich mit ihrem Unglück in der Ehe zusammenhängen.

In Begleitung einer Kollegin fuhr sie auf einem Elektrokarren auf die Gleise und war sofort tot. Ihre Kollegin Frau Müller* erlitt dabei schwere Verletzungen.

Das war ein einschneidendes Ereignis, das traumatische Auswirkungen auf mich hatte. Als kleiner Junge verstand ich einfach noch nicht, dass Mutter nicht mehr wiederkommen würde. Ich litt so sehr, dass ich stark abnahm. Man schickte mich schließlich zur Kur.

In unserem Haushalt lebte auch unsere Oma. Nach Mutters Tod übernahm sie die Erziehung von meinen Geschwistern und mir. Unser Vater verließ meine Geschwister und mich kurz nach dem Todesfall. Er zog aus unserer Wohnung aus und bei seiner Geliebten, die drei eigene Kinder hatte, ein. Sie hatte inzwischen eine Wohnung in der Innenstadt von Stralsund gemietet und war geschieden.

Die ganze Last der Kindererziehung übernahm meine Oma. Harry Tiedtke war jedoch weiterhin bei uns gemeldet und holte regelmäßig seine Post bei uns ab. Sonst kam er eher selten, nur wenn es mal Probleme mit uns Kindern gab.

Oma schickte mich ein Jahr lang in den Kindergarten. Dadurch sollte ich etwas aufgeschlossener werden, denn seit dem Tod meiner Mutter war ich sehr ruhig und verschlossen.

Nach dem Kindergartenjahr kam ich auf die Adolf-Diesterweg-Schule, in die auch meine beiden Geschwister Udo und Sabine gingen. Zu Beginn meiner Schulzeit hatte sich meine Gemütslage noch nicht wesentlich verändert, weshalb Udo und Sabine beschlossen, mich zum Judo mitzunehmen. Es war eine gute Entscheidung, denn durch den Sport besserte sich allmählich mein Zustand.

In der Schule war ich auf mich alleine gestellt. So recht hat mir keiner geholfen. Udo und Sabine unterstützten sich gegenseitig, Oma hatte mit ihren 65 Jahren aber nicht mehr den Draht, mit mir zu lernen. Ich gab mir Mühe, alles, was mir im Unterricht erklärt wurde, zu behalten. Nach der Schule tat ich aber nicht mehr viel und lernte eher selten. Die Leistungen, die ich in der Schule erbrachte, waren somit das Resultat des Aufpassens im Unterricht. Aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass meine Noten, wenn man mich entsprechend gefördert und zum Lernen angehalten hätte, bei Weitem besser hätten ausfallen können.

Stattdessen konzentrierte ich mich ganz auf den Sport. Durch den Kampfsport entwickelte ich Eigenschaften und Fähigkeiten wie Zielstrebigkeit, Selbstvertrauen, Konzentration und auch einen gewissen Fleiß. Nach einigen Jahren, in denen ich Sport gemacht hatte, ging es mir gut. Auch meine schulischen Leistungen waren für ein Kind, das nicht viel lernte, nicht schlecht. Viermal in der Woche stand ich auf der Matte, davon trainierte ich zweimal im Leistungszentrum von Dynamo Stralsund.

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DDR-Meisterschaft im Judo, 1971. Unten rechts Lothar Tiedtke, 32 kg, Rostock

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Hier sieht man mich nochmals im Ausschnitt mit meiner Bronze-Medaille

Mit zehn Jahren träumte ich das erste Mal von einer Delegierung zur Kinder- und Jugendsportschule (KJS). Nach einer DDR-Meisterschaft war es dann so weit. Nur knapp verlor ich das Halbfinale gegen einen Sportler vom Sportclub Dynamo Hoppegarten durch Kampfrichterentscheid. Mein Gegner wurde im Finale DDR-Meister. Nach dem Kampf wurde ich von Trainern des SC Dynamo Hoppegarten zum Test nach Berlin eingeladen. Ich freute mich riesig, denn ich wollte Europameister oder gar Olympiasieger werden. Bis zum Aufnahmedatum war es noch Zeit und ich erlegte mir ein zusätzliches Kraft- und Konditionstraining auf, um auch genommen zu werden.

Der große Tag kam und ich fuhr mit einem Sportsfreund, Gerd Krüger, nach Berlin zum Club der Welt- und Olympiasieger. Die Testphase dauerte ungefähr drei Wochen. Wir waren während dieser Zeit im Internat des Clubs untergebracht. Das gesamte Gelände war eingezäunt und man kam nur mit einem Passierschein hinein. Das Training und die Anforderungen waren sehr hoch und ich war mit voller Konzentration und Freude dabei. Ich wollte unbedingt die Berliner Trainer davon überzeugen, dass ich auf die KJS gehörte. Das ganze Umfeld dort gefiel mir sehr gut. Die Turnhallen waren beeindruckend und mit allem ausgestattet, was ein Sportlerherz begehrt. Ich war mir sicher, man würde mich aufnehmen. Meine persönliche Bereitschaft, mich anzustrengen, hatte ich ja schon vor dem Test unter Beweis gestellt.

Beim Abschlussgespräch sagte man mir dann aber, ich wäre nicht geeignet, ohne es näher zu begründen. Ich verstand die Welt nicht mehr, hatte ich doch in allen sportlichen Prüfungen beste Ergebnisse erzielt. Ich merkte damals, dass man mir nicht die Wahrheit sagte. Es gab einen anderen Grund, den man verschwieg. Die erste politische Entscheidung war gegen mich gefällt worden, denn ich hatte West-Verwandtschaft. Von Omas Seite gab es mehrere Geschwister, die in Westdeutschland lebten und uns besuchen kamen. Auch Oma fuhr als Rentnerin regelmäßig in den Westen. Über diesen Sachverhalt klärte sie mich auf, als ich wieder nach Hause kam. Ich war total enttäuscht. Als Mitglied des Sportclubs Dynamo Hoppegarten wäre ich aber Reisekader der DDR gewesen, und mit Westkontakt war das nicht möglich. Das verstand ich als Kind natürlich nicht und konnte meine maßlose Enttäuschung nicht verbergen. Auch in der Schule sprach es sich herum, dass ich aus diesen Gründen abgelehnt worden war und nicht auf die Kinder- und Jugendsportschule gehen konnte.

Wenn wir von unseren Verwandten aus dem Westen Besuch bekamen, nutzte ich dies zu zahlreichen Gesprächen. Was mir bei diesen Gelegenheiten vor allem von meinem Großonkel erzählt wurde, brachte ich dann, sehr zum Leidwesen meiner Lehrerin, in der Schule an. Sie unterrichtete Deutsch und Staatsbürgerkunde. Ulrike Schneider* war ihr Name, und anfänglich war sie mir nicht einmal unsympathisch. Es waren meist kontroverse Diskussionen, die ich mit ihr führte und in denen sie mir anfänglich gute Beispiele entgegenhielt. Aber ich redete auch mit meinen Geschwistern Udo und Sabine häufig über Politik, sodass ich mit zunehmendem Alter immer bessere Argumente fand und in Diskussionen immer gewandter wurde. Dadurch konnte ich bei Gesprächen mit Frau Schneider im Staatsbürgerkundeunterricht immer wieder mit praktischen Beispielen aufwarten. Mein Onkel erzählte mir stundenlang mit wachsender Begeisterung von Westdeutschland und ich hörte ihm aufmerksam zu. Diese Fakten kamen in der Schule nicht gut an. Meine Lehrerin vertrat schließlich die Auffassung, dass ich die Klasse negativ beeinflusse. Um den ständigen Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, ließ sie mich in der neunten und zehnten Klasse in die FDJ-Leitung wählen, mit dem Ziel, mich auf ihre Seite zu ziehen. Ihr Vorhaben scheiterte jedoch und ich wurde abgewählt.

In der zehnten Klasse wurde ich neben Beate Frei* gesetzt. Ihre Mutter Renate Frei* war Elternratsvorsitzende und laut Stasi-Unterlagen damals als Informelle Mitarbeiterin (IM) der Staatssicherheit tätig. Es ist daher wahrscheinlich, dass ich bereits als Schüler bespitzelt wurde.

In einem Vieraugengespräch gab Ulrike Schneider mir einmal zu verstehen, es würde noch einmal ein schlimmes Ende mit mir nehmen. Mittlerweile hasste ich diese Lehrerin. Ihr Staatsbürgerkundeunterricht war gekennzeichnet von Hetzkampagnen gegen den sogenannten Klassenfeind.

Viele Jahre später sollte ich Ulrike Schneider in der ihr früher so verhassten Gesellschaftsordnung wieder treffen. Sie hatte einfach das Fach „Stabü“ gegen Französisch getauscht.

Abgesehen von ihr fand ich die Schule nicht schlecht und glaubte auch zu wissen, dass ich einen guten Stand innerhalb der Klasse hatte. Ich gab mir immer große Mühe, die Dinge objektiv zu sehen und stets fair zu sein, so wie ich es von meiner Oma und im Sport gelernt hatte.

* Name geändert

* Name geändert

Schmerzhafte Jugend

In der zehnten Klasse musste ich mich für einen Beruf entscheiden; dafür war das Halbjahreszeugnis ausschlaggebend. Zum ersten Mal setzte ich mich hin und lernte bewusst für dieses Ziel. Mit Erfolg! Ich hatte einen Notendurchschnitt von 2,1 und bewarb mich mit diesem Zeugnis bei der Volkswerft Stralsund als Maschinenbauer. Die Werft antwortete mir, dass sie mich aufgrund des eingereichten Zeugnisses nehmen würden.

Ich schloss die zehnte Klasse mit einer guten Drei ab und begann die Lehre als Maschinenbauer auf der Werft. Die Lehre machte mir auf Anhieb Spaß. Außerdem konnte ich auch als Lehrling meinem Sport nachgehen. Zum Judosport gesellte sich jetzt eine zweite Sportart hinzu: Kraftsport. Meine Woche war voll ausgefüllt. Jeden Tag machte ich Sport, entweder Judo oder Krafttraining. Durch meine Lehre und den Sport hatte ich einen großen Freundes- und Bekanntenkreis. In den Sommerferien wurde ich von der Werft außerdem für die Betreuung im Kinderferienlager freigestellt. Darauf freute ich mich immer ganz besonders.

Ich verstand mich auch gut mit dem weiblichen Geschlecht, so lernte ich bald meine erste Freundin kennen. Sie war zwei Jahre älter als ich und als Unterstufenlehrerin tätig. Uns verband vor allem der Sport, da sie das Fach ebenfalls unterrichtete. Ich war längere Zeit mit ihr zusammen und es wurde nie langweilig mit ihr.

Bereits im ersten Lehrjahr interessierte ich mich für den Schiffsbau und die Seefahrt. Auch der praktische Teil, das Arbeiten an den Schiffen, machte mir großen Spaß. Doch bei der Arbeit bekam ich mit, dass es auf der Werft nicht gerecht zuging.

Es gab einen Wettkampf, der hieß „Stärkster Lehrling gesucht“. Die Volkswerft Stralsund war ein Garant für den Sieg. Das bedeutete vorzugsweise Training für meinen Sportsfreund Frank Glass* und mich.

Dieser Wettkampf war gleichzeitig ein Prestigekampf mit anderen Lehrlingsausbildern in der DDR. In der Praxis sah das so aus, dass wir verkürzt arbeiteten und anschließend mit unserem Sportlehrer trainierten. Das fand ich sehr gut. Der Wettkampf fand auch in der DDR-Presse große Beachtung.

Gegen Ende des ersten Lehrjahres kam es zur Trennung von meiner Freundin, der Sportlehrerin. Ich lernte nämlich eine angehende Kindergärtnerin kennen, die meine große Liebe wurde. Wir konnten uns über alles unterhalten und ich habe ihr voll vertraut. Sie hieß Petra*. Wir hatten eine sehr schöne Zeit und waren Jahre zusammen. Petra hatte eine Zwillingsschwester, und ihr Vater war Fernfahrer und pendelte zwischen der BRD und Österreich. Nach einiger Zeit sprachen wir über Heirat. Der Grund dafür war, dass ihre Zwillingsschwester heiraten wollte, und es sollte eine Doppelhochzeit geben. Das ging mir gegen den Strich. Ich besprach mit Petra meine Situation auf der Werft und ließ sie von meinem Vorhaben wissen, zur See zu fahren. Ich wollte nicht als Werftarbeiter enden, sondern etwas von der Welt sehen. Ich hatte schon immer eine gute Beziehung zum Wasser gehabt. Petra hatte nichts gegen meine Pläne einzuwenden. Wir vereinbarten also zu heiraten, wenn ich bei der Deutschen Seereederei angenommen würde. Die Gespräche mit Petras Vater bestärkten mich in diesem Entschluss. Auch er wusste nur Positives über den „Klassenfeind“ zu berichten.

1978 stellte ich einen Antrag bei der Deutschen Seereederei (DSR). Ich wollte auf große Fahrt als Maschinist gehen. Da ich im Schiffsbau arbeitete, rechnete ich mir große Chancen aus. Es dauerte lange Zeit, bis mein Antrag bearbeitet war. Doch seit meinem Erstantrag lief praktisch alles gegen mich. Nach einiger Zeit erhielt Petras Vater Berufsverbot. Von einem Tag auf den anderen wurde er vom Lkw genommen, ohne Begründung. Erst nach der Wende habe ich durch Akteneinsicht erfahren, dass ich als sein angehender Schwiegersohn der Grund dafür war. Petras Zwillingsschwester hatte sich einen Mitarbeiter der Staatssicherheit als Zukünftigen ausgesucht. Sein Deckname war „Keule“, wie ich erfuhr, denn er ist in den Stasi-Unterlagen einwandfrei entschlüsselt.

An eine Begebenheit mit ihm kann ich mich noch genau erinnern. Petra und ich, wir waren mittlerweile verlobt, fuhren mit ihrer Schwester und deren Verlobten in den Urlaub nach Lüchen. Zur damaligen Zeit ahnte ich allerdings von nichts und kannte die Stasi nur vom Hörensagen. Der Verlobte von Petras Schwester verwickelte mich ständig in irgendwelche Gespräche. Dabei stellte er mir unzählige Fragen und laufend wechselten die Themen. Ich konnte das damals nicht richtig einordnen. Ich wusste schon, dass ich sicherheitsmäßig begutachtet wurde, hätte aber nie geglaubt, dass sich dies in meiner allernächsten Nähe abspielte.

Nach eigenen Angaben war der Verlobte Binnenschiffer. Seine Fragen reichten vom Thema Frauen über die Seefahrt bis zur BRD und mehr. Alles sollte ich ihm beantworten. Er war auch sehr spendabel und zahlte zum Beispiel alle Getränke. Ein Typ, der mir Unbehagen einflößte. In Wahrheit hatte IM „Keule“ die Aufgabe übernommen, mich auf meine Treue zum sozialistischen Vaterland zu überprüfen.

An dieser Stelle noch ein Wort zu meiner Familie: Harry Tiedtke war inzwischen Heimleiter der Berufsschule „Albert Funk“ des VEB Erdöl-Erdgas Grimmen geworden - dank seiner politischen Einstellung hatte ihn die Stasi auf diesen Posten gesetzt. Seine Lebensgefährtin Nadja war von einer Kellnerin zur Dienststellenleiterin der Militärhandelsorganisation (MHO) aufgestiegen. Ihr Schwiegersohn Dieter Krüger war Offizier in der Kreisdienststelle Grimmen des Ministeriums für Staatssicherheit. Er war zum damaligen Zeitpunkt der Einzige, von dem ich wusste, dass er hauptamtlicher Mitarbeiter der Stasi war. Von der Existenz der IM, der Informellen Mitarbeiter der Staatssicherheit, hatte ich damals jedoch überhaupt keine Ahnung. Demzufolge vermutete ich auch nicht, dass es weitere Stasi-Mitarbeiter innerhalb meiner Familie geben könnte. Detlef Heinrich war offiziell Sicherheitsinspektor der Feuerwehr auf der Volkswerft Stralsund. So wurde seine Tätigkeit nach außen hin dargestellt.

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Letzte Gehaltsabrechnung der Staatssicherheit der DDR vom Dezember 1989. Detlef Heinrich ist mit Personenkennzahl und Diensteinheit aufgeführt.

Heute weiß man, dass Detlef Heinrich Sicherheits-Offizier der Staatssicherheit und für die Bespitzlung der Werftarbeiter zuständig war. Frank Heinrich, sein Bruder, war Rohrschlosser auf der Werft und bekam natürlich alles mit.

Mein Bruder Udo war Straßenbauingenieur bei der Bezirksdirektion Straßenwesen. Er machte zu jener Zeit einen unpolitischen Eindruck auf mich.

Meine Schwester Sabine wechselte, nachdem sie in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) eingetreten war, von der Sekretärin beim Wohnungsbaukombinat (WBK) zur Fischereiproduktionsgenossenschaft (FPG) in Stralsund und machte dort die Personalarbeit. Mit einer derartigen Tätigkeit war zwangsläufig eine geheime Mitarbeit im Ministerium für Staatssicherheit verknüpft, was ich zu der Zeit aber nicht wusste.

Damals hatte ich zu Sabine und Udo ein gutes Verhältnis. Zu meiner Schwester hatte ich noch etwas mehr Vertrauen als zu meinem Bruder. Das Verhältnis zu meinem Vater war hingegen sehr schlecht. Alleine durch sein Auftreten war ich, als ich noch ein Kind war, von ihm eingeschüchtert worden. Sein Benehmen war immer noch das eines Marineoffiziers. Seine Stimme und sein äußeres Erscheinungsbild waren Respekt einflößend. Als ich älter wurde, änderte sich der Blick auf meinen Vater allmählich. Dass nur seine Meinung richtig sein sollte, habe ich jedoch nie akzeptiert. Oma nahm mich zu jeder Zeit in Schutz vor ihm. Dass er keine andere Meinung als seine eigene duldete, merkt man auch daran, dass er die Berufe für uns Kinder ausgesucht hatte. Udo wollte eigentlich Koch werden, musste aber gegen seinen Willen studieren. Für Sabine hat mein Vater immer etwas mehr übrig gehabt als für Udo und mich. Die Stelle bei der FPG hatte Sabine in erster Linie ihm zu verdanken. Mein Schwager Wolfgang Ostenberg war Ingenieur und arbeitete als Hauptmechaniker im Seehafen. Auch er war SED-Mitglied und im Grenzgebiet der DDR tätig. Meine Schwägerin Christina Tiedtke arbeitete bei der Reichsbahn.

Als ich meinen Facharbeiterbrief erworben hatte, wurde ich auf der Hauptwerft im Bereich der Wellenendmontage als Maschinenbauer eingesetzt. Doch nachdem ich meinen Antrag auf das Seefahrtsbuch am 06.07.1978 gestellt hatte, wurde ich plötzlich und entgegen früheren Absprachen von der Hauptwerft zum Maschinenapparatebau (MAB) versetzt. Das war ein Zulieferer und befand sich am anderen Ende der Stadt, am Platz des Friedens. Kein Werftarbeiter wollte dort freiwillig arbeiten, denn dort gab es die schlechtesten Arbeitsbedingungen und die miesesten Aufträge zum Geldverdienen. Das alles wusste ich von den älteren Kollegen, sie hatten es öfter erzählt. Viel später, als ich endlich in einem Rechtsstaat lebte, erfuhr ich, dass unzuverlässige Werftarbeiter mit Ausreiseantrag oder einem Antrag auf das Seefahrtsbuch dorthin abgeschoben wurden.

Damals konnte ich mir jedoch keinen Reim auf meine Versetzung machen. Von Anfang an bekam ich nur noch solche Aufträge, bei denen ich als Jungfacharbeiter kein Geld verdienen konnte. Dazu gehörte zum Beispiel die Arbeit an Stahltüren, an denen gestandene Facharbeiter verzweifelten. Das ging eine ganze Weile so; ich verdiente einfach kein Geld. Ich bekam dauernd solche Aufträge, für die wenige Stunden angerechnet wurden, deren Schwierigkeitsgrad aber sehr hoch war. In einer Versammlung beschwerte ich mich über diesen Zustand. Es änderte sich aber nichts. Ich war sehr unzufrieden mit meiner Situation.

Gleichzeitig ereignete sich noch etwas Gravierendes in meinem Privatleben: Es kam zur Trennung von meiner langjährigen Freundin Petra, und zwar wegen des Verlobten ihrer Zwillingsschwester. Dabei hatten Petra und ich die feste Absicht gehabt zu heiraten.

Nach dem Kraftsporttraining war ich an einem Mittwoch mit meinem Motorrad in den Tanzschuppen gefahren. Ich wollte dort nur eine Cola trinken und Musik hören. Petra war zu dieser Zeit im Internat in Franzburg. Im Tanzschuppen neben mir stand ein Mädchen, das ich schon am Wochenende davor bei einem Kraftsportwettkampf gesehen hatte, an dem ich teilgenommen hatte. Sie war mir durch ihre langen blonden Haare aufgefallen. Jetzt stand sie unmittelbar neben mir und sprach mich an. Wir unterhielten uns und tanzten auch miteinander. Sie sprach Berliner Dialekt. Schließlich fragte sie mich, ob ich sie zum Bahnhof bringen könnte.

Wir fuhren aber nicht zum Bahnhof, sondern zu mir nach Hause, ein One-Night-Stand. Danach war ich geschlechtskrank und steckte auch Petra an.

Heute denke ich, dass man Petra und mich auseinanderbringen wollte. Ich glaube fest daran, dass dieses Berliner Mädchen vonseiten der Stasi deshalb auf mich angesetzt war. Danach erhielt ich die Ablehnung meines Seefahrtbuches. Darüber ärgerte ich mich wochenlang. Dazu kam die Misere auf der Arbeit. Schließlich kam es zu einer Kurzschlussreaktion: Ich kündigte auf der Werft und arbeitete wochenlang gar nicht.

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Seemannskartei der Staatssicherheit der DDR.
Ablehnungsvermerke 03. August 1978 und 17. Juli 1980
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Seemannskartei Rückseite.
Ablehnungsgrund 1978: BRD-Kontakt der Großmutter.
Ablehnungsgrund 1980: Der Leiter des Kreisamts der Volkspolizei lehnt ab, weil man
befürchtete, ich könnte in der BRD verbleiben
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* Name geändert

* Name geändert

Illegale Einweisung in die DDR-Haftpsychiatrie

Schon während meine Bewerbung lief, um zur See zu fahren, hatte ich eine gewisse Aufmerksamkeit bemerkt, die einige Leute mir gegenüber an den Tag legten. Sie beobachteten mich genau. Ich berichtete meiner Schwester Sabine davon, denn wir hatten immer ein sehr enges Verhältnis zueinander gehabt, und wenn es irgendetwas gab, konnte ich zu ihr kommen.

Unsere Verbindung war besonders eng, weil wir ohne Mutter groß geworden waren. Wortlos nahm sie meine Beobachtungen zur Kenntnis. Udo hatte mir inzwischen eine neue Arbeit als Schlosser bei der Bezirksdirektion für Straßenwesen beschafft. Man gab mir die Möglichkeit, einen zweiten Abschluss als Facharbeiter auf der Abendschule zu machen, als KFZ-Schlosser.

Fast gleichzeitig, am 30.06.1980, bewarb ich mich ein zweites Mal auf See, diesmal bei der Fischereiproduktionsgenossenschaft Strelasund. Ich hatte den Eindruck, sehr zum Leidwesen meiner Familie. Denn Sabine arbeitete dort als Kaderleiterin. Ich gab die Bewerbung persönlich bei ihr ab. Meine Hoffnung, zur See zu fahren, hatte ich nämlich noch lange nicht begraben, zumal man mir beim ersten Mal keine Begründung geliefert hatte. Ein Freund, der bei der FPG zur See fuhr, sagte mir, ich könne auch ohne Wehrdienst zur See fahren. Er nahm mir auch meine Angst, weil man mich das erste Mal aufgrund meiner Westverwandtschaft abgelehnt hatte. Er hätte auch Westverwandtschaft, meinte er.

Meine Musterung lag bereits eine ganze Weile zurück. Ich glaubte auch, dass mein Auftreten bei der Musterung zu einer Verzögerung der Einberufung führen konnte. Denn man hatte mir dort einreden wollen, dass ich der ideale Mann für die Westgrenze sei. Harry Tiedtke hatte ja auch mit der Waffe in der Hand Jahre für unser sozialistisches Vaterland eingestanden. Darauf erwiderte ich, dass ich nicht viel von Waffen hielte und auch nicht wie mein Vater sei. In der Tat hatte ich noch nie geschossen. Ein Luftgewehr, das ich bei einem Sportwettkampf gewann, hatte ich schon am nächsten Tag verkauft. Sabine jammerte ich nun vor, ich könne nicht verstehen, weshalb man meinen Antrag auf das Seefahrtbuch beim ersten Mal abgelehnt hatte. Ich war der Meinung, es müsste etwas in meiner Kaderakte stehen. Sie brachte die Kaderakte mit nach Hause und warf sie wutentbrannt auf den Tisch. Ich sollte nachsehen. Es war nichts drin.

Die Zeit verging und ich machte an der Abendschule meinen KFZ-Mechaniker. Kurz vor dem Abschluss verkaufte ich mein Motorrad und erstand einen Wartburg 313 Cabriolet. Heute würde man sagen, ein rattenscharfes Teil, mit dem man überall auffiel. Die Baureihe wurde nur in geringer Stückzahl produziert und war ein totaler Hingucker im Osten.

Meine Freizeit gestaltete ich genau wie in der Vergangenheit. Ich hatte mich einer Gruppe von Motorradfahrern angeschlossen und war ohne feste Freundin. Am Wochenende fuhren wir oft nach Baabe auf Rügen auf den Zeltplatz und machten die Gegend unsicher.

Beruflich arbeitete ich jetzt als vollwertiger Autoschlosser und reparierte Lkw. Die Arbeit machte mir Spaß.

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Mit meinem Kumpel Karsten Wiese* und seiner Freundin Elke Behnke* waren wir extra nach Leipzig gefahren und ich hatte das Auto dort von einem Theaterschauspieler gekauft.

Schon mit Anfang zwanzig besaß ich nun ein solches Teil. Das führte unter meinen Freunden zu einem gewissen Neidfaktor. Das Gefühl, dass meine Familie Probleme mit dem Kauf des Cabrios hatte, sollte mich nicht täuschen. Ich erinnere mich noch gut an folgende Begebenheit: Ich stand am Ostkreuz in Stralsund mit offenem Verdeck. Zuvor hatte ich mir im Intershop ein Autoradio mit Boxen gekauft und in das Cabrio eingebaut. Da ich Fan von Udo Lindenberg war, spielte ich eine Kassette mit Udo ab, die Lautstärke war so ziemlich normal. Es dauerte nicht lange und ein Polizist kam zu mir an den Wagen. „Bürger, was Sie hier machen, ist ruhestörender Lärm. Machen Sie sofort die Musik aus!“ Ich schaltete aus und blieb stehen. Zehn Minuten später war er wieder da, diesmal war eine Verkehrskontrolle angesagt. Er fand aber nichts und zog stinksauer wieder ab. Solchen Spielchen war ich öfter ausgesetzt.

Vor allen Dingen, wenn wir am Wochenende auf Rügen auf dem Campingplatz waren. Mit mir hatten noch zwei weitere Kumpel einen 313er Wartburg. Der Polizist von Baabe war weniger erfreut, wenn wir Stralsunder freitagnachmittags kamen und erst am späten Sonntag wieder nach Hause fuhren. Wir machten einfach den Wochenendzeltplatz unsicher, zum Teil mit lauter Musik von Udo Lindenberg.