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FILM-KONZEPTE

Begründet von Thomas Koebner

Herausgegeben von Michaela Krützen, Fabienne Liptay und Johannes Wende

Heft 50 · April 2018

Wim Wenders

Herausgeber: Jörn Glasenapp

Redaktion: Michelle Koch

Print ISBN 978-3-86916-655-1
E-ISBN 978-3-86916-657-5

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer

Umschlagabbildung: Wim Wenders Paris, Texas (1984) / © ullstein bild – United Archives / 90061

Die Abbildungen aus den Filmen sind Screenshots.

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2018
Levelingstraße 6a, 81673 München
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Inhalt

Jörn Glasenapp
Vom Geschichtenverweigerer, der bisweilen Geschichten erzählt, zum Geschichtenerzähler, der bisweilen Geschichten verweigert. Wim Wenders und seine Spielfilme

Corina Erk
»On the Road Again«. Wim Wenders’ Roadmovie-Stil als ästhetisch-narrative Kategorie und Produktionszusammenhang

Brad Prager
Angst um die Echtheit des Gefilmten. Zwischen NICK’S FILM und »Wim’s Film«

Christina Bartz
TOKYO-GA und die Möglichkeiten eines filmischen Erinnerns

Florian Lehmann
»Jetzt oder nie«. Die Sehnsucht nach der Gegenwart in Wim Wenders’ Berlin-Dilogie

Jessica Nitsche
Bilder, die die Welt bedeuten. Wim Wenders’ Figuren der Fotografie im Film

Felix Lenz
Vom begehrlichen Suchen zum differenzierten Erzählen. Wim Wenders’ späte US-Spielfilme

Lisa Gotto
Alles auf Anfang. Wim Wenders’ Pina und der Raumzauber des 3D-Kinos

Biografie

Filmografie (Auswahl)

Autorinnen und Autoren

Jörn Glasenapp

Vom Geschichtenverweigerer, der bisweilen Geschichten erzählt, zum Geschichtenerzähler, der bisweilen Geschichten verweigert

Wim Wenders und seine Spielfilme

Zugegeben, es ist lange her – gut 35 Jahre –, dass Wim Wenders als Musterautor des deutschen Films, der er damals schon war und heute noch ist, mit Blick auf sein Œuvre vermerkte, »daß jeder Film auf den vorigen reagiert«.1 Und doch will mir scheinen, als sei diese Behauptung, geäußert im Vortrag Unmögliche Geschichten aus dem Jahr 1982, auch bei der Auseinandersetzung mit seiner jüngeren und jüngsten Schaffensphase nicht ohne Wert. Besonders prägnant zeigt dies beispielsweise ein Blick auf das Nacheinander von EVERY THING WILL BE FINE (2015) und DIE SCHÖNEN TAGE VON ARANJUEZ (2016), zwei Schriftsteller-Filmen – der eine (auf den ersten Blick) recht konventionell gehalten, der andere hingegen offensiv radikal –, die das Thema »künstlerische Inspiration« kaum unterschiedlicher abhandeln könnten. Von der Kritik wenig beziehungsweise überhaupt nicht geschätzt, ist ihrer beider Qualität tatsächlich außerordentlich hoch und unbedingt dazu angetan, all jene, die meinen, Wenders’ große Zeit als Regisseur, zumindest als Spielfilmregisseur, liege bereits Jahrzehnte zurück, eines Besseren zu belehren. Um es in aller Entschiedenheit zu sagen: Der späte Wenders steht dem frühen keineswegs nach und verdient es, dass sich ihm von filmwissenschaftlicher Seite endlich mit demselben Engagement wie Letzterem gewidmet wird.

In dieser Richtung den einen oder anderen Anstoß zu geben, ist eines der Ziele des vorliegenden Hefts sowie meiner nun folgenden Ausführungen. Ihnen vorausgeschickt sei der Hinweis, dass sie ihrem Auftrag, Wenders einführend vorzustellen, nicht über einen chronologischen Durchgang durch dessen kinematografisches Schaffen nachkommen; dies würde ob des gewaltigen Umfangs desselben – der bis heute unerhört produktive Filmemacher drehte seit Ende der 1960er Jahre neben zig Kurzfilmen und Musikvideos circa 40 Spiel- und Dokumentarfilme – auf etwas hinauslaufen, das einer bloßen Werk-Aufzählung nahekäme. Stattdessen wird eine, um nicht zu sagen: die zentrale Problemachse des Wenders’schen Œuvres sondiert, über die sich letztlich allen Filmen des Regisseurs sehr zielführend und produktiv nähern lässt.

I. Vampirische Geschichten

Der Vortrag Unmögliche Geschichten ist insofern ausgesprochen substanziell, als er mit dem Gegenüber von Bildern auf der einen und Geschichten, im Sinne von Stories, auf der anderen Seite einen Kerndualismus des Wenders’schen Kinos, möglicherweise sogar großer Teile des Kinos überhaupt, zum Thema hat.2 Dass sich der Sprecher, der seine künstlerische Karriere als Maler begann, eigenen Angaben zufolge »(über die Bilder und als Maler) in das Filmemachen hineingeraten«3 ist und seit den 1970er Jahren parallel zu seiner Regietätigkeit fotografiert, als Anwalt der Bilder begreift, Geschichten indes äußerst skeptisch gegenübersteht, ist leicht nachzuvollziehen. Er macht aus dieser Tatsache auch gar keinen Hehl, wobei er sich, um seine Position zu veranschaulichen, einer auffallend bildreichen Sprache bedient: »Die Manipulation, die nötig ist, um all die Bilder eines Films in eine Geschichte zu pressen, mag ich nicht; für die Bilder ist sie sehr gefährlich, denn tendenziell absorbiert sie, was an ›Leben‹ in ihnen steckt. Im Verhältnis von Geschichte und Bild ähnelt für mich die Geschichte einem Vampir, der versucht, dem Bild das Blut auszusaugen. Bilder sind sehr empfindlich, ein bißchen wie Schnecken, die sich zurückziehen, wenn man ihre Fühler berührt. Sie wollen nicht wie ein Pferd arbeiten; sie wollen nichts tragen und transportieren: weder Botschaft noch Bedeutung, weder Ziel noch Moral. Genau das wollen aber Geschichten.«4 Mag sein Misstrauen gegenüber Geschichten auch groß sein, so ist sich Wenders sehr wohl im Klaren darüber, dass der Mensch ohne Geschichten, oder genauer: ohne das Ordnungsversprechen, das Geschichten geben, beziehungsweise die Kontingenzbewältigung, die sie zu leisten scheinen, nicht leben kann, dass die Geschichtenbedürftigkeit nichts weniger als eine anthropologische Konstante und Universalie darstellt. »Geschichten«, so führt er ganz in diesem Sinne aus, »geben den Leuten das Gefühl, daß es einen Sinn gibt, daß sich eine letzte Ordnung und Reihenfolge hinter der unglaublichen Verwirrung aller Erscheinungen verbirgt, die sie umgeben. Diese Ordnung wünschen sich die Menschen mehr als alles andere, ja ich würde beinahe sagen, daß die Vorstellung von Ordnung oder von Geschichte mit der Vorstellung von Gott zusammenhängt. Geschichten sind Gottersatz. Oder umgekehrt.«5 So gesehen, avanciert das Kino als der prominente Geschichtenlieferant, der es spätestens seit David Wark Griffith ist, zu einer Art Kirchensubstitut.

Freilich fühlt sich Wenders, der als ein in einem konservativen katholischen Elternhaus aufgewachsener Jugendlicher tatsächlich einmal Priester zu werden gedachte (dies allerdings nicht zuletzt unter dem Einfluss der von ihm wiederholt als »lebensrettend«6 titulierten Rockmusik verwarf), als Regisseur keineswegs zur Orthodoxie berufen. Ebendies lässt auch und besonders jener Film erkennen, der just zu der Zeit entstand, als Wenders seinen Vortrag über die unmöglichen Geschichten hielt: DER STAND DER DINGE (1982), den sein Schöpfer selbst denkbar treffend als »Antifiktionsfilm«7 titulierte. Gedreht als Reaktion auf das seit 1978 andauernde Debakel um HAMMETT (1982), Wenders’ heillos gescheiterten Versuch, als eigenwilliger auteur in Hollywood, wenn nicht Fuß zu fassen, so doch wenigstens künstlerisch ertragreiche Arbeit abzuliefern, wartet das in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnete, Federico Fellinis OTTO E MEZZO (ACHTEINHALB, 1963), vor allem aber Rainer Werner Fassbinders WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE (1971) nahestehende Werk mit dem Porträt eines Autorenregisseurs namens Friedrich Munro (Patrick Bauchau) auf,8 der von der »Unmöglichkeit (…), im Film eine Geschichte zu erzählen«,9 fest überzeugt ist. Entsprechend apodiktisch fällt sein Leit- und Grundsatz zum Filmemachen aus: »Geschichten gibt es nur in Geschichten.« Dass der Wenders von 1982, der aufgrund seiner ernüchternden Erfahrungen mit HAMMETT vom geschichtenversessenen Hollywood erst einmal genug hatte, diese Ansicht grundsätzlich teilte, mehr noch: dass er mit Munro zu guten Teilen ein Selbstporträt geschaffen hatte, steht außer Frage.

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Friedrich Munros und Wim Wenders’ Leit- und Grundsatz in DER STAND DER DINGE

Er habe DER STAND DER DINGE drehen müssen, »(u)m HAMMETT zu überleben«,10 so Wenders retrospektiv, dem aber bereits während der Produktion seines selbstreflexiven »Thesenfilm(s)«11 klar wurde, dass sich auf einen programmatischen Anti-Geschichten-Rigorismus keine Regiekarriere aufbauen ließ. Darüber hinaus überkam ihn, als Reaktion auf seine diesbezügliche Askese in DER STAND DER DINGE, schon bald die Lust an der Geschichte, am Geschichtenerzählen – erneut, muss man sagen, denn bereits nach IM LAUF DER ZEIT (1976), seinem zwar durchaus geschichtsgesättigten, aber ohne nennenswerte Geschichte auskommenden Hauptbeitrag zum slow cinema,12 hatte er sie gespürt, diese Lust. Damals hatte er ihr mit der fulminanten Patricia-Highsmith-Adaption DER AMERIKANISCHE FREUND (1977) nachgegeben,13 nun hieß die Antwort PARIS, TEXAS (1984), und sie geriet zum Triumph: Denn nicht nur, dass Wenders in Cannes unangefochten die Goldene Palme gewann, auch an der Kinokasse erwies sich das in Kooperation mit Sam Shepard entstandene Meisterwerk als großer internationaler Erfolg, wofür die Tatsache, dass es dem Geschichtenbedürfnis des breiten Publikums vergleichsweise bereitwillig entgegenkam, entscheidend mitverantwortlich gewesen sein dürfte. »PARIS, TEXAS hatte von Beginn an eine viel direktere Richtung, ein genaueres Ziel. Und er hatte von Anfang an mehr Geschichte als meine früheren Filme, und diese Geschichte wollte ich erzählen, was das Zeug hielt«,14 so Wenders, für den der Film auch insofern eine Genugtuung darstellte, als er ihm und aller Welt bewies, dass er, der mit HAMMETT in Amerika Gescheiterte, sehr wohl einen Amerika-Film mit klar erkennbarer Wenders-Handschrift zu realisieren imstande war.15

Das neben DER STAND DER DINGE und PARIS, TEXAS dritte Hauptwerk, das Wenders in den 1980er Jahren schuf, DER HIMMEL ÜBER BERLIN (1987), lässt prima facie erkennen, dass bei dessen Entstehung dem Regisseur die Erzähllust, die ihn bei seinem Film von 1984 angetrieben hatte, inzwischen gründlich vergangen war, dass er stattdessen wieder weitgehend jene Haltung eingenommen hatte, die ihn DER STAND DER DINGE hatte drehen lassen.16 Nichts weiter als ein »Prolog« beziehungsweise »das Versprechen einer Geschichte«17 sei sein Berlin-Film, dessen auf das bewährte Muster der Zirkusromanze aufsetzende Liebeshandlung um den zum Menschen werdenden Engel Damiel (Bruno Ganz) und die mit Engelsflügeln ausgestattete Trapezakrobatin Marion (Solveig Dommartin) derart konventionell und stereotypengesättigt daherkommt,18 dass man versucht ist, zu folgendem Schluss zu gelangen: Mit ihr hat Wenders – in mustergültig postmodern-ironischer Manier – im Exzess geliefert, was seine Skepsis gegenüber Geschichten so sehr nährt. Bekanntermaßen hat der Regisseur seinen vielleicht berühmtesten, von der Form her durchaus einem Gedicht nahestehenden Film in Kooperation mit seinem langjährigen Freund Peter Handke realisiert. Die entrückt wirkenden monolithischen Dialoge und Texte, die dieser zu dem Projekt beisteuerte, avancierten, so Wenders, zu »Inseln in dem Wust von Ideen, die ich hatte für den Film. Beim Drehen ging es darum, immer wieder auf eine der Inseln zu gelangen, ein Stück festen Boden unter die Füße zu bekommen und dann weiter zu schwimmen.«19

DER HIMMEL ÜBER BERLIN war bereits Wenders’ vierte Zusammenarbeit mit Handke; vorangegangen waren der 13-minütige Kurzfilm 3 AMERIKANISCHE LP’S (1969), DIE ANGST DES TORMANNS BEIM ELFMETER (1972), eine Adaption der gleichnamigen Handke-Erzählung, sowie das an Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre angelehnte Roadmovie FALSCHE BEWEGUNG (1975), dem ein Drehbuch des Schriftstellers zugrunde lag. Sie alle präsentieren ihren Regisseur eher mehr denn weniger offenkundig als kompromisslosen Geschichtenverweigerer, der gegen die Usancen des klassischen Handlungskinos auch und vor allem dadurch aufbegehrt, dass er bei der Szenen- und Sequenzabfolge auf ein ziellos anmutendes Mäandern jenseits eingeschliffener Reiz-Reaktions-Schemata setzt.

Dieser Geschichtenverweigerer – und nun machen wir im Œuvre einen gewaltigen Sprung nach vorn – scheint mittlerweile seinen Dienst quittiert zu haben. Oder anders formuliert: Wenders’ späteren und späten Filme wie AM ENDE DER GEWALT (1997), THE MILLION DOLLAR HOTEL (2000), LAND OF PLENTY (2004), DONT COME KNOCKING (2005), PALERMO SHOOTING (2008) oder EVERY THING WILL BE FINE machen den Eindruck, als habe der Regisseur seinen Frieden mit dem Geschichtenerzählen gemacht. Er selbst erklärt Letzteres 2003 gar zu seinem künstlerischen »Hauptinteresse«.20 Doch so ganz ist dem Frieden nicht zu trauen. Wenders’ Erzählrenitenz bricht sich nämlich bisweilen doch noch, und zwar kräftig, Bahn. Aufs Imposanteste legen hiervon die in nur zehn Tagen gedrehten SCHÖNEN TAGE VON ARANJUEZ Zeugnis ab, Wenders’ fünfte Kooperation mit Handke, die nachhaltig bestätigt, dass auch für den mittlerweile über 70-jährigen Regisseur gilt, was der Filmkritiker Peter Buchka bereits 1983 in seiner nach wie vor lesenswerten Monografie über den jungen Wenders vermerkte: dass dieser »mit jedem Film (…) seine Möglichkeiten erweitert, seine Grenzen hinaus(schiebt)«.21 Das Gros der internationalen Presse freilich zeigte sich entsetzt von der – in diesem Fall ganz erheblichen – Grenzverschiebung, die der Filmemacher mit DIE SCHÖNEN TAGE VON ARANJUEZ vornahm, und kanzelte die Adaption des gleichnamigen, 2012 uraufgeführten Handke-Theaterstücks sichtlich empört als »inert and exasperatingly supercilious two-hander«,22 »dully verbose 3D talkfest«,23 »snoozy gabfest«24 und »experiment gone horribly wrong«25 ab. Dass eine solche Sichtweise flagrant zu kurz greift und dem Film nicht im Mindesten gerecht wird, möchte ich nun mit einigen Überlegungen speziell zu dessen reichhaltiger intra- und intermedialer Verweisstruktur zumindest andeuten. Hierzu ist, um es filmbegrifflich zu formulieren, eine drastische Einstellungsveränderung gegenüber dem bisher Gesagten notwendig: und zwar von der Totalen zur Groß- und Detailaufnahme, von der Übersicht zur Nahsicht.

II. Wenders’ Versuch über die Jukebox

»(E)s schien, als sei die Zeit der Jukeboxen in den meisten Ländern und an den meisten Orten so ziemlich vorbei«,26 heißt es in Peter Handkes 1990 erschienenen Versuch über die Jukebox, jene einstmals weitverbreitete Musikquelle des öffentlichen Raums, deren Bedeutung mit Blick auf den Bildungs- und Individualisierungsgang sowohl des 1942 geborenen Schriftstellers als auch seines knapp drei Jahre jüngeren Freundes Wim Wenders getrost als eminent tituliert zu werden verdient. Letzterer hatte sie in seinen frühen Filmen immer wieder prominent in Szene gesetzt, in SUMMER IN THE CITY (1970),27 in DIE ANGST DES TORMANNS BEIM ELFMETER, in ALICE IN DEN STÄDTEN (1974) oder in IM LAUF DER ZEIT, doch ihr reales Abtreten spiegelte sich in seinem Schaffen: Die Jukebox verschwand mit der Zeit auch aus ihm. Nach Jahrzehnten allerdings kehrte sie – als mittlerweile längst nicht mehr nur »fast schon urtümlich gewordene Sache«,28 wie es bei Handke heißt – unvermutet und triumphal zurück, und zwar in DIE SCHÖNEN TAGE VON ARANJUEZ, Wenders’, wenn man so will, eigenem Versuch über die Jukebox.

Man könnte in Versuchung geraten, dessen erste gut fünf Minuten schlichtweg perfekt zu nennen – und dies nicht etwa nur, weil Perfect Day, die unverwüstliche, aus dem Jahr 1972 stammende Hymne von Wenders’ Musikerfreund Lou Reed,29 in voller Länge zu hören ist. Bevor sie einsetzt – der Vorspann läuft zu diesem Zeitpunkt noch –, ist bereits viel passiert, wenn auch nur auf akustischer Ebene: Wir hören Vogelgezwitscher und eine tickende Uhr, dann, nach einigen Sekunden, Schritte, gefolgt von so etwas wie Drücken einer Tastenkombination, worauf ein altertümlich klingender Apparat zu arbeiten beginnt und kurz darauf die Klavierakkorde von Reeds Song anheben. Die Tonspur wurde hierfür schlagartig und komplett von allen anderen Geräuschen gewissermaßen leergefegt. Die erste Strophe (»Just a perfect day/Drink Sangria in the park/And then later/When it gets dark, we go home«) ist kaum vorbei, da fluten die Hintergrundgeräusche – nun Vogelgezwitscher und Blätterrauschen – machtvoll zurück, und es öffnet sich die Blende zu einer grandiosen Totalen, die uns die auf den Arc de Triomphe zulaufende Champs-Élysées in strahlender frühmorgendlicher Sommerhelligkeit präsentiert. Drei weitere Paris-Ansichten schließen sich an, wie die erste irritierend in ihrer Schönheit, irritierend aber auch aufgrund der Tatsache, dass sich uns die Metropole auf ihnen weitgehend still und unbewegt, vor allem aber menschenfrei, um nicht zu sagen: vom Menschen befreit, darbietet. Dass auf den Aufnahmen neben fahrenden auch parkende Autos fehlen, verdient angesichts der Tatsache, dass Wenders auch und vor allem als Roadmovie-Spezialist zu nationalem und internationalem Ruhm gelangte,30 zumindest Erwähnung. Natürlich liegt der Bezug zur Fotografie, genauer: zu Eugène Atget und dessen berühmten Bildern vom entvölkerten Paris, nahe, dies, zumal die Schwenks, die die Kamera vollführt, ob ihrer extremen Langsamkeit fast unmerklich sind, die Einstellungen nur allzu sehr an statische Fotoansichtskarten oder dergleichen erinnern. Doch genauso natürlich stellen sich vage Postapokalypse-Assoziationen ein beziehungsweise der Verdacht, dass der perfekte Tag möglicherweise nur deswegen perfekt sein könnte, weil die Menschen nicht (mehr) da sind, also niemand Sangria im Park trinkt, niemand in den Zoo und niemand ins Kino geht, wie es das lyrische Ich von Perfect Day mit dem von ihm angesprochenen »you« zu tun gedenkt. Und stellt man last but not least die weithin verbreitete (und wohl auch zutreffende) Vermutung in Rechnung, der Musiker besinge in dem Song seine damals innige Beziehung zum Heroin,31 so ist klar: Die Perfektion des anbrechenden Tages ist mit einer gewissen Vorsicht zu genießen.

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Just a perfect daу in DIE SCHÖNEN TAGE VON ARANJUEZ?

Die fünfte Einstellung positioniert uns schließlich außerhalb und zugleich über der Stadt, deren Häusermeer und Skyline wir von einem erhöht liegenden Garten aus sehen. Vögel fliegen durchs Bild. Sodann die nächste, die sechste Einstellung, die sich von den vorangegangenen durch eine merklichere Kamerabewegung unterscheidet, einen – freilich immer noch langsamen – Rechtsschwenk, der unseren Blick allmählich auf eine Landhausvilla lenkt. Reeds Song, offenkundig von rechts kommend und mit dem mitunter recht lauten Blätterrauschen um die akustische Vorherrschaft konkurrierend, erhält nun erstmals eine Positionierung innerhalb der filmischen Diegese, genauer: Er erklingt aus dem Haus, auf dessen einladend geöffnete Eingangstür die Kamera sich allmählich zubewegt, wobei wir im Flurbereich etwas – passend zum alles dominierenden Grün des Gartens – enigmatisch-grün leuchten sehen. Dass es sich um eine Jukebox, eine ehrwürdige Wurlitzer, handelt, verrät uns die sich anschließende Naheinstellung, die jenen Moment erfasst, in dem der Song zu seinem Ende kommt, sich der Tonarm von der Vinyl-Single abhebt und Letztere in das zirkulär angeordnete Musikarsenal zurückgeführt wird. Danach löst sich die Kamera von der Box, und zwar mit einem Linksschwenk, der in eine Fahrt nach vorn übergeht, die uns den Blick auf das Arbeitszimmer eines Schriftstellers (Jens Harzer) eröffnet. Dieser sitzt unbewegt an einem Schreibtisch, vor ihm eine Olympia-Schreibmaschine, links daneben ein Tablet-PC, der – die Welt, die in DIE SCHÖNEN TAGE VON ARANJUEZ entworfen wird, dürfte Nostalgiker und Freunde des Analogen erfreuen – bis zum Schluss unverwendet bleibt. Auf der Tonspur hören wir nun erneut das Vogelgezwitscher und die tickende Uhr, das heißt, der Film, in dem über die Form der Schallplatten und deren kreisförmige Positionierung in der Jukebox das Zirkuläre bereits eine subtile Betonung erfuhr, kehrt an dieser Stelle zu seinem hörspielartigen Beginn zurück und löst dabei das akustische Rätsel, das uns Letzterer aufgab.32

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Herz und Zentrum von DIE SCHÖNEN TAGE VON ARANJUEZ: die Jukebox

Für den jugendlichen Wenders war die Jukebox, die die britische und angloamerikanische Rock- und Popmusik und mit ihr eine neue unverbrauchte Welt ins provinzielle, kulturell noch massiv an der NS-Zeit leidende Westdeutschland trug, verständlicherweise ein geradezu magischer Apparat. Als ein solcher wird er auch in DIE SCHÖNEN TAGE VON ARANJUEZ in Szene gesetzt, wenn er plötzlich – die Klavierballade Into My Arms läuft gerade – dessen Sänger und Komponisten Nick Cave herbeizaubert, den wir nun leibhaftig am Flügel seinen Song live und in gegenüber dem auf Platte erschienenen Original abweichender Version spielen sehen.33 Nachdem er damit fertig ist, dreht sich Cave um und blickt – in einer wohlkomponierten Einstellung, die auch dem Luchino Visconti von L’INNOCENTE (DIE UNSCHULD, 1976) gut zu Gesicht gestanden hätte – auf die Frau (Sophie Semin) und den Mann (Reda Kateb) hinaus, die auf der bühnenartig anmutenden Terrasse jenes Zwei-Personen-Stück zur Aufführung bringen, das der Schriftsteller, wie es scheint, gerade am Verfassen ist. Dessen Figur, die in Handkes Theaterstück keine Entsprechung hat, sei seine Idee gewesen, so Wenders,34 der sich bei ihr möglicherweise vom Versuch über die Jukebox seines Freundes hat inspirieren lassen. Immerhin handelt der Text von einem Schriftsteller, der einen »Versuch über die Jukebox« zu schreiben gedenkt und sich ihn zunächst als »Bühnen-Zwiegespräch«35 und eine Art »Frage-Antwort-Spiel«36 vorstellt, also in jener Form, der Handkes im Untertitel als »Sommerdialog« apostrophierten Schönen Tage von Aranjuez voll und ganz entsprechen.

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Der Jukebox entsprungen: Nick Cave in DIE SCHÖNEN TAGE VON ARANJUEZ

Handkes Stück ist komplett handlungsfrei, es erzählt nichts, was als Geschichte bezeichnet zu werden verdiente, auch in Wenders’ Adaption nicht, die, diesbezügliche vage Hinweise der Vorlage folgend und drastisch verstärkend, apokalyptisch schließt, mit Sirenengeheul und einem sich schlagartig verdunkelnden Himmel. Als einzige Lichtquelle verbleibt bezeichnenderweise die grün (und damit hoffnungsstiftend) leuchtende Jukebox, die am Schluss – ebenfalls bezeichnenderweise – Gus Blacks einschlägig betitelten Gitarrensong The World Is On Fire spielt, bis auch dieser endet und sich die Kamera von der Truhe löst, um – durchaus überraschend – ein über der Garderobe hängendes Bild zu fokussieren. Dass es sich bei ihm um ein um 1900 entstandenes Aquarell Paul Cézannes von der von diesem wieder und wieder gemalten provenzalischen Montagne Sainte-Victoire handelt, wird den Handke-Kenner aufhorchen lassen. Schließlich gehört auch jene speziell über die Auseinandersetzung mit Cézanne zu einer Poetik gelangende Erzählung namens Die Lehre der Sainte-Victoire (1980) zum umfangreichen Œuvre des Österreichers, der in Wenders’ Film im Übrigen einen Cameo-Auftritt hat, und zwar als Gärtner, der die Büsche stutzt. Bedenkt man ferner, dass es sich bei der Schauspielerin, die die Frau verkörpert, um Handkes Gattin handelt, so mutet die von Andreas Kilb ins Spiel gebrachte Bezeichnung der Schönen Tage von Aranjuez als »Familientreffen«37 so falsch nicht an.

Doch folgen wir der Kamera auf ihrer letzten Fahrt bis zum Schluss: Stetig näher kommt sie Cezannes Aquarell, mit der Konsequenz, dass dieses seine ikonischen Qualitäten bald schon einbüßt und sich in reine Abstraktion auflöst. Möglich, dass sich Assoziationen zu jenem allein übrigbleibenden, ins Extrem aufgeblasenen Abzug aus Michelangelo Antonionis BLOW UP (1966) beim Betrachter einstellen, doch zielt Wenders bei seinem Finale auf gänzlich anderes ab als sein von ihm so sehr geschätzter italienischer Regiekollege. Denn er schickt sein Publikum weiter und weiter, tiefer und tiefer ins Bild, bis dieses plötzlich – eine erneute Überraschung – medienontologisch gleichsam umschlägt, indem es in einzelne Pixel zerfällt und damit seine digitale Fundierung preisgibt. Letztere liegt natürlich nicht nur dem Bild, sondern der gesamten Diegese des Films zugrunde, dessen via Schreibmaschine und Vinyl beschallte Feier des Analogen somit rückwirkend als bloßer Schein, als digitaler Schein, entlarvt wird. Keine Frage: Wie der Anfang so bietet auch das Ende von DIE SCHÖNEN TAGE VON ARANJUEZ gute Gründe dafür, warum Wenders sich dagegen entschied, Handkes ursprünglicher Bitte nachzukommen, Die schönen Tage in Aranjuez im Theater zu inszenieren.38

III. Aufbruch und Resignation: Wenders und 3D

DIE SCHÖNEN TAGE VON ARANJUEZ wurde als mittlerweile dritter Wenders-Film in 3D gedreht; vorangegangen waren die Tanzdokumentation PINA (2011) sowie EVERY THING WILL BE FINE. Aufgrund der Tatsache, dass die neue Technologie bislang fast ausschließlich in Filmen ohne Tiefgang zum Einsatz kam – in solchen also, in denen die neue Tiefe des Bildes bisweilen reichlich ungebrochen mit der Flachheit der Gedanken korrespondiert –, habe sie mittlerweile massive Reputationsprobleme, so Wenders: 3D »hat den schlechten Ruf weg, weil so viele Mistfilme gedreht worden sind«39 und weil sich renommierte Filmautoren auf das stereoskopische Bildverfahren nicht einließen. Als die Regel bestätigende Ausnahmen könnten allein Martin Scorsese mit HUGO (HUGO CABRET, 2011) und Ang Lee mit LIFE OF PI (LIFE OF PI: SCHIFFBRUCH MIT TIGER, 2012) gelten.40 An anderer Stelle führt er ganz in diesem Sinne weiter aus: »In my conviction, 3D is the most tender, gentle and friendly language the cinema has ever invented. Unfortunately, it is never used to that purpose but always for the opposite. It is a cold, violent medium, used for kids and not adults. It is always being used and abused.«41

Während Wenders mit PINA noch enorme Erfolge sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik feiern konnte und man ihm unter anderem bescheinigte, er hätte mit seiner Pina-Bausch-Hommage »den ersten wirklichen 3D-Film«42 erschaffen (und sich selbst mit ihr »künstlerisch neu erfunden«43), so wurde ihm sein engagiertes Bemühen, die Wirkungsweisen von 3D jenseits des »Cinema of Attraction« und bloß Spektakelhaften auszuloten, seitdem nicht mehr gedankt. In EVERY THING WILL BE FINE, vor allem aber in DIE SCHÖNEN TAGE VON ARANJUEZ sei die Verwendung des stereoskopischen Bildes nicht der Rede wert oder schlicht überflüssig, so das Urteil großer Teile der Kritik.44 Zwar liefert Wenders mit beiden Filmen gute Gründe, anderer Meinung zu sein, doch scheint auch er, der sich noch vor wenigen Jahren so enthusiastisch auf das Abenteuer 3D eingelassen hat, diesbezüglich mittlerweile resigniert zu haben. Sein bislang jüngster Film, das mit allenfalls mäßiger Begeisterung aufgenommene romantische Thrillerdrama SUBMERGENCE (2017), präsentiert sich uns wieder in 2D. Zudem kommt in ihm, nach der Geschichtenverweigerung von DIE SCHÖNEN TAGE VON ARANJUEZ, wieder der Geschichtenerzähler Wenders voll zum Zuge, dem die Kritik unter anderem bescheinigte, mit SUBMERGENCE »his most broadly accessible fiction film in ages«45 gedreht zu haben. Die eingangs zitierte Behauptung, die der Regisseur 1982 als überzeugter Geschichtenverweigerer, der er damals war, machte – nämlich, »daß jeder Film auf den vorigen reagiert« –, bestätigt sich somit in gewisser Weise von Neuem.