Über das Buch

Als Kind und Jugendlicher war er ein Außenseiter, im 1. Weltkrieg ein Soldat wie Millionen andere, als Kunststudent scheiterte er. Wie konnte Adolf Hitler der politische Aufstieg gelingen? Wie schaffte er es, so viele Menschen für seine Theorien zu begeistern? Wie wurde er der mächtigste Mann in Deutschland, der Begründer des Nationalsozialismus, der "Führer"? Und wie sah der Alltag dieses Kriegsherrn, dieses Massenmörders aus? Wie hat er überhaupt regiert? Gab es ein Privatleben? Wie Hitler wurde, was er war: eine Biografie der zentralen Figur des Antisemitismus und Faschismus im 20. Jahrhundert. Auf dem neuesten Forschungsstand und mit Fotos von Hitlers "Leibfotograf".

Thomas Sandkühler

Adolf H.

Lebensweg eines Diktators

Carl Hanser Verlag

Dem Andenken
an meine Mutter

Vorwort

»Endlich genug von Hitler?« Diese Frage ist sehr berechtigt. Denn Adolf H., der deutsche Diktator zwischen 1933 und 1945, ist im öffentlichen Leben und in den Medien allgegenwärtig. Trotzdem oder gerade deswegen ist aber eine moderne Hitler-Biographie für jugendliche Leserinnen und Leser sinnvoll und notwendig. Denn was derzeit im Fernsehen oder im Internet dargeboten wird, trägt oft wenig dazu bei, das »Phänomen Hitler« zu erklären und zu verstehen. Eine Biographie Hitlers für Jugendliche gibt es bisher nicht. Das vorliegende Buch versucht, diese Lücke zu schließen.

Biographien sind das Ergebnis erforschter Lebensgeschichten. Im 19. Jahrhundert galten sie als hohe Kunst eines Geschichtsschreibers. Man schrieb Biographien, um das Leben und Wirken bedeutender Menschen für die Nachwelt festzuhalten. »Große Männer« machten die Geschichte. So dachten viele.

Biographien stellen üblicherweise eine geschichtliche Person in den Zusammenhang ihrer Zeit. Im Fall Hitlers sind sich die Historiker uneins. Machte Hitler Geschichte, oder wurde er von der Geschichte gemacht? Beherrschte er die deutsche Gesellschaft, oder wurde er von der Gesellschaft beherrscht? Antworten auf diese Fragen haben Auswirkungen auf die Methode der Geschichtsschreibung. Historiker, die in Hitler den Herrn und Meister des nationalsozialistischen Deutschlands sehen, schreiben Hitler-Biographien. Historiker, die der gegenteiligen Auffassung sind, schreiben die Geschichte der deutschen Gesellschaft in der NS-Zeit. Biographie und Gesellschaftsgeschichte schließen einander also aus, jedenfalls auf den ersten Blick.

Der Titel dieses Buches, »Adolf H.«, soll darauf aufmerksam machen, dass zwischen Hitlers persönlicher Lebensgeschichte und seiner Wirkung als Politiker ein erheblicher Unterschied bestand. Man kann durchaus daran zweifeln, ob dieses Leben als solches überhaupt erzählenswert ist. Nach 1945 entwickelte sich eine regelrechte Hitler-Forschung, die zahlreiche Details seines Lebens zutage förderte. Die Kenntnis dieser Einzelheiten ist unerlässlich, wenn man eine Hitler-Biographie schreiben will. Aber für sich genommen sagen sie wenig aus.

Sebastian Haffner, ein in der NS-Zeit aus Deutschland vertriebener Rechtswissenschaftler und Historiker, weist auf die »ungewöhnliche Dürftigkeit« von Hitlers persönlichem Leben hin. Außerhalb der Politik war er für Haffner ein Niemand. Alles was am Leben Hitlers zähle, »verschmilzt mit der Zeitgeschichte, ist Zeitgeschichte. Der junge Hitler reflektiert sie; der mittlere reflektiert sie immer noch, wirkt aber auch schon auf sie ein; der spätere bestimmt sie. Erst wird er von der Geschichte gemacht, dann macht er Geschichte. Darüber lohnt sich zu reden. Was Hitlers Leben sonst hergibt, sind im wesentlichen Fehlanzeigen — nach 1919 wie vorher.«

Historiker sind immer auch Zeitgenossen. Ihre Sicht auf Geschichte verändert sich mit den Fragen, die sie an die Vergangenheit stellen. Der Publizist Joachim Fest, dessen große Hitler-Biographie 1973 erschien, wirft die Frage auf, warum das gebildete Bürgertum dem »Führer« in Scharen nachgelaufen war. Hierfür sieht Fest im Wesentlichen zwei Gründe: Das Bürgertum hatte »die Politik« verachtet und sich zu wenig dem Schutz der Demokratie verpflichtet gefühlt. Vor allem aber hatte Hitler die Deutschen durch seine überragenden Fähigkeiten verführt. Fest sieht in Hitler eine »Unperson« ohne bemerkenswerte Eigenschaften, zugleich aber ein »politisches Genie«. Hitler sei für die Deutschen — und wohl auch für Fest — bis Kriegsausbruch »einer der größten Staatsmänner der Deutschen« gewesen, »vielleicht der Vollender ihrer Geschichte«.

Aber war Adolf Hitler wirklich ein großer Mann? Kann jemand Größe haben, der so viel Leid über die Menschheit gebracht hat wie er? Offensichtlich nicht. Hitler war nicht »groß« im vorgenannten Sinne, sondern ein großer Zerstörer. Das ist ein wichtiger Unterschied. Der britische Historiker Ian Kershaw schreibt dazu:

»Niemals in der Geschichte ist ein solches Ausmaß an Zerstörung mit dem Namen eines einzigen Manns in Verbindung gebracht worden. Hitlers Name steht zu Recht für alle Zeiten als der des obersten Anstifters des tiefreichendsten Zusammenbruchs der Zivilisation in der Moderne«, und er fährt fort, Hitler als Person sei »für den schrecklichen Lauf der Ereignisse jener schicksalhaften zwölf Jahre ganz entscheidend« gewesen.

Kershaws Hitler-Biographie erschien rund eine Generation nach Fests Hitler-Biographie. Kershaw geht von ähnlichen Fragestellungen aus wie Fest, aber mit einem entgegengesetzten Blickwinkel. Der britische Historiker sieht nicht von Hitler auf die Gesellschaft, sondern umgekehrt von der Gesellschaft auf Hitler. Die deutsche Gesellschaft sorgte für Hitlers Aufstieg; anschließend wurde die Gesellschaft von Hitler beherrscht. Kershaw fragt also weniger nach der Person von Adolf H. als nach seiner Machtausübung. Die Frage nach der Verantwortung und dem moralischen Versagen der Deutschen lässt sich auf diese Weise besser beantworten als im Rahmen einer klassischen Biographie. Für Historiker, die sich mit dem Leben Adolf Hitlers auseinandersetzen möchten, setzt Kershaws Darstellung Maßstäbe.

Seitdem sind wieder einige Jahre vergangen. Die Forschung über den Nationalsozialismus ist weiter vorangeschritten. Sie hat sich in letzter Zeit vor allem dem Gesellschaftsverständnis des NS-Staates und seinen Verbrechen zugewandt. »Volksgemeinschaft« einerseits, der Holocaust andererseits bilden hierbei die Leitbegriffe. Das Leben Adolf Hitlers wird in diesem Buch in die Vorgeschichte und Geschichte des NS-Staates eingebettet. Es stellt also nicht nur die Lebensgeschichte des Diktators dar, sondern zumindest auch die Geschichte der deutschen (und österreichischen) Gesellschaft seit der Wende zum 20. Jahrhundert sowie die Geschichte des NS-Staates. Nur so kann erklärt und verstanden werden, wie und warum Hitler aufstieg, herrschte und unterging.

Als politische Biographie, denn darum geht es in den folgenden Kapiteln, ist Hitlers Lebensgeschichte ohne Zweifel faszinierend. Sie folgt geradezu einem klassischen Muster von Aufstieg, Höhepunkt, Abstieg und Verfall. Es ist die Geschichte eines jugendlichen Versagers, der mit dreißig Jahren in die Politik findet, innerhalb eines Jahrzehnts zum mächtigen und umjubelten »Führer« aufsteigt, schließlich zum Kriegsherrn und zum Massenmörder wird und sein Leben als Höhlenbewohner in einem Berliner Bunker durch Selbstmord beschließt.

Über Hitler und seinen Staat sind unzählige Bücher und Aufsätze veröffentlicht worden. Wollte man dies alles berücksichtigen, wäre der Rahmen eines Buches, das sich an Jugendliche wendet, sofort gesprengt. Stattdessen soll hier eine knappe Darstellung gegeben werden, die allerdings auf dem neuesten Forschungsstand beruht.

Ich möchte Hitlers Biographie erzählen. Die erzählerische Darstellung soll es den Leserinnen und Lesern ermöglichen, sich in die damalige Zeit hineinzuversetzen und rückblickend zu bewerten, was warum geschah. Allerdings lässt sich dieses Erzählen nicht immer durchhalten. Die Ermordung der europäischen Juden beispielsweise kann man nicht erzählen, nur schildern und beschreiben.

Zur Ausstattung des Buches gehören Fotos und Abbildungen. Da Hitler und der NS-Staat in der heutigen Medienwelt eine ganz wichtige Rolle spielen, habe ich nach Möglichkeit Abbildungen gewählt, die in Medien und Schulbüchern eher selten oder gar nicht auftauchen und einen ungewohnten Blickwinkel auf Hitler eröffnen.

Auslassungen in Zitaten sind nicht gekennzeichnet, um den Lesefluss nicht zu behindern. Die verwendeten Bücher und Aufsätze sind in einem Anhang zusammengestellt. Dieser soll zu weiterer Lektüre anregen. Daher sind dort vor allem Taschenbücher und leicht zugängliche Standardwerke aufgeführt. Im Anhang wird auch die Herkunft der Zitate nachgewiesen.

Dieses Buch ist keine Gelegenheitsarbeit. Ich habe Hitlers Biographie auch nicht geschrieben, weil sich das Kriegsende im Mai 2015 zum siebzigsten Mal jährt. Vielmehr hat das Buch eine lange Vorgeschichte. Auf die Idee brachte mich vor Jahren meine Tochter Katja, damals noch Schülerin der Mittelstufe. Auf einer längeren Autofahrt fragte Katja mich gründlich über Hitler aus und forderte mich auf, das Gesagte doch einmal schriftlich festzuhalten. Dieses Aufschreiben hat viel länger als ursprünglich geplant gedauert, und es war auch schwieriger als gedacht. Umso mehr freue ich mich, dass das Projekt nun abgeschlossen werden konnte.

Ich habe zu danken: Katja, meiner zweiten Tochter Julia, meiner Frau Dr. Petra Mertens und meiner Mitarbeiterin Clara Woopen für wertvolle Anregungen. Dank gebührt auch meinem Agenten Dr. Ernst Reinhard Piper für seine Geduld, Ulrich Störiko-Blume vom Hanser Verlag und meinem Lektor Malte Ritter für die professionelle Betreuung des Buches.

Berlin, im Oktober 2014

TS

Der Versager

© Bayerische Staatsbibliothek München / Fotoarchiv Hoffmann

»Heil Schicklgruber«?
Eine komplizierte Familiengeschichte

Adolf Hitlers Familie stammte aus dem »Waldviertel« im Norden Österreichs. Dieses Gebiet grenzte an Böhmen, das heute zur Tschechischen Republik gehört und damals Teil des Kaiserreichs Österreich war. Das Waldviertel war eine arme Gegend. Der Name »Hitler« kam dort auch in der Form von »Hüttler« oder »Hiedler« häufig vor. Wahrscheinlich deutet er auf den Bergmannsberuf hin, den Hitlers Vorfahren ausgeübt hatten, vielleicht auch auf einen »Kleinhäusler«, einen kleinen Bauern. Im Waldviertel lebten die Menschen eng beieinander.

Im 19. Jahrhundert waren die Familienverhältnisse der unteren Schichten oft unübersichtlich. Ehen zwischen Verwandten und uneheliche Kinder waren nicht selten, obwohl die katholische Kirche, der damals die meisten Österreicher angehörten, dagegen wetterte.

Adolf Hitler, wie so viele Kinder seiner Herkunft, wuchs in einer Patchworkfamilie auf. Im Haushalt lebten seine Eltern Alois und Klara Hitler, seine Geschwister Edmund und Paula und die Stiefgeschwister aus der zweiten Ehe des Vaters, Alois junior und Angela, ferner Klaras unverheiratete jüngere Schwester Johanna (»Hanitante«), die Klara bei der Kindererziehung unterstützte.

Sein Vater war in dritter Ehe verheiratet, seine Mutter Klara war zwanzig Jahre jünger als ihr Mann und höchstwahrscheinlich auch mit ihm verwandt als seine Nichte. Ihr Sohn Adolf, am 20. April 1889 in Braunau an der deutsch-österreichischen Grenze geboren1, war das vierte Kind des Paars. Bevor er zur Welt kam, waren drei ältere Geschwister kurz hintereinander gestorben.

Die wirtschaftlichen Verhältnisse im Elternhaus waren geordnet. Alois Hitler verdiente als Zollbeamter recht ordentlich. Auch war er durch eine Erbschaft zu einer schönen Summe Geldes gekommen. 1892 wurde Alois zum Zollamtsoberoffizial befördert und zog nach Passau um. Diese Stadt bildete damals die Grenze zwischen dem Deutschen Reich und dem Kaiserreich Österreich. Es war üblich, dass Zollbeamte auf beiden Seiten der Grenze Dienst taten, in diesem Fall Alois Hitler auf der deutschen Seite.

Alois Hitler, geb. Schicklgruber, in der Uniform eines Zollbeamten, Fotografie aus den 1880er Jahren.

© Bayerische Staatsbibliothek München / Fotoarchiv Hoffmann

Klara Hitler, undatierte Fotografie

© ullstein bild — Heritage Images/The Print Collector

1894 wurde ein weiterer Sohn geboren, Edmund. Im selben Jahr wurde Alois Hitler in die oberösterreichische Stadt Linz an der Donau versetzt. Die Familie blieb zunächst noch in Passau wohnen und folgte ein Jahr später nach. 1896 kam ein weiteres Kind auf die Welt, Hitlers Schwester Paula. Die Familie Hitler zog mehrmals um. 1898 kam sie schließlich in das Dorf Leonding2 bei Linz.

Alois Hitler war ein unangenehmer Zeitgenosse. Er rauchte stark, verbrachte seine Zeit lieber im Wirtshaus als in der kinderreichen Familie und widmete sich im Übrigen seinem Hobby, der Bienenzucht. Der Zollamtsoberoffizial neigte zu Wutausbrüchen. Er schlug seine Söhne und möglicherweise auch seine junge Frau. Oft war er betrunken. Hitler hat seinen Vater gefürchtet, wie er viel später zugab.

Seit 1895 war Alois im Ruhestand. Da er nicht mehr zum Dienst musste, hatte er viel Zeit für die »Erziehung« seiner Kinder. Alois junior nahm mit vierzehn Jahren Reißaus vor dem gewalttätigen Vater und kehrte nie wieder in sein Elternhaus zurück. Kurz darauf, im Jahr 1900, starb Edmund Hitler an den Masern. Adolf war nun der einzige männliche Nachkomme im Leondinger Haushalt. Er war elf Jahre alt.

Diktatoren und solche, die es werden wollen, machen um ihre Herkunft gern ein Geheimnis. Es verträgt sich nicht mit ihrem Anspruch auf Alleinherrschaft, wenn das Vorleben Schattenseiten hat. Adolf Hitler wollte der Einzige sein, der über seine Lebensgeschichte verbindlich Auskunft geben konnte. Hierzu nutzte er sein Buch Mein Kampf3, das 1925/26 erschien. Es war halb Autobiographie, halb Darstellung der »Weltanschauung«, also der Ideologie, die der Politiker Adolf Hitler vertrat. Was Hitler in dem autobiographischen Teil des Buchs über sein Leben erzählte, war eine schwer entwirrbare Mischung von Wahrheiten, Halbwahrheiten und glatten Lügen.

Kein Wunder, dass politische Gegner Hitlers Herkunft nachspürten, als er ein erfolgreicher Politiker geworden war. Denn es war nur zu offensichtlich, dass Hitler etwas zu verbergen hatte. Im Februar 1932 kam der Wiener Journalist Hans Bekessi mit der groß aufgemachten Pressemeldung heraus: »Hitler heißt Schücklgruber!« Hitler, so deutete Bekessi an, habe seine Herkunft verschleiert.

Tatsächlich hatte Hitlers Vater, der unehelich zur Welt gekommen war, 1876 seinen Nachnamen »Schicklgruber« in »Hitler« ändern lassen. Denn ein Vorfahr von ihm, der anscheinend sein leiblicher Vater war, wollte Alois zu seinem Erben einsetzen und verlangte, dass er seinen Nachnamen trug.

Ob Adolf Hitler von dieser Namensänderung und ihren Gründen überhaupt etwas wusste, ist zweifelhaft. Jedenfalls hätte er ohne sie wohl kaum zum »Führer« werden können: »Heil Schicklgruber« hätte nicht besonders gut geklungen, »Heil Hitler« dagegen ging leicht über die Lippen.

Noch aufregender allerdings war Bekessis Behauptung, Hitlers Vorfahren seien Juden gewesen. Dies sei sogar amtlich bestätigt worden. Die Meldung machte Sensation: Der fanatische Judenhasser Hitler ein Jude! Nach Kriegsende verbreitete auch Hitlers früherer Rechtsanwalt Dr. Hans Frank, dass Hitlers Großvater ein Jude gewesen sei.

Als Frank diese Geschichte erfand, sah er seiner Hinrichtung entgegen. Er war Hitlers Statthalter im besetzten Polen gewesen und hatte Hunderttausende Polen und Juden ermorden lassen. Im Nürnberger Prozess war er wegen dieser Verbrechen zum Tode verurteilt worden. Frank war noch immer Antisemit. Er schob Hitlers Herkunft »den Juden« unter. Hitler hatte keine jüdischen Vorfahren. Dennoch ging die Legende in die Hitler-Literatur ein und hielt sich dort noch lange.

Prägung und Versagen

Was aus einem Menschen wird, ist zu erheblichen Teilen das Ergebnis der Kindheitsjahre. Man kann sich kaum vorstellen, dass Hitler eine glückliche Kindheit verbrachte. Zwischen seinen Eltern bestand ein mehr als zwanzigjähriger Altersunterschied. Alois Hitler behandelte seine Frau wie ein unmündiges Kind. Innerlich nahm Adolf zweifellos für seine Mutter Partei, konnte ihr aber gegen den Vater nicht beistehen. Wenn Hitler in seinem Leben irgendeinen Menschen wirklich geliebt hat, war es seine Mutter. Ihr Bildnis hing noch in seiner Zeit als Reichskanzler über seinem Bett.

Die häufigen Umzüge brachten Unruhe in Adolf Hitlers Kinderjahre. Er war zu jung, um wie sein Halbbruder Alois die Flucht vor dem Vater zu ergreifen. Nachdem Alois weggegangen und Edmund gestorben war, konzentrierte sich die väterliche Autorität allein auf Adolf, der aber bockig und trotzig reagierte. Umso mehr setzte es Schläge des Vaters. Er wollte den Widerstand seines früh pubertierenden Sohnes brechen. Hitler erhielt täglich Prügel. Einmal schlug Alois Hitler seinen Sohn bewusstlos. Wer oft wehrlos geschlagen wird, trägt eine tiefe Demütigung, Groll und Hass in sich.

Zu seinen Schwestern konnte Hitler kein liebevolles Verhältnis aufbauen. Sie wurden nicht geschlagen, er schon. Klara Hitler versuchte ihren Sohn mehr oder weniger erfolglos gegen ihren Ehemann in Schutz zu nehmen. Später, als Alois Hitler tot war, verzärtelte sie Adolf, sehr zu seinem Schaden. Hitler war unfähig, anderen mit Respekt und Achtung zu begegnen und tiefere Bindungen einzugehen. Seine Unreife verstärkte sich im Laufe der Pubertät.

Wenn nicht alles täuscht, hat er von seinem Vater mehr Charakterzüge übernommen als von seiner überfürsorglichen Mutter. Das mag mit dazu beigetragen haben, dass er sich selbst nicht achten konnte. Es liegt nahe, dass Hitler seine Mitmenschen verachtete, weil er aus Liebe zur Mutter das väterliche Erbe in sich selbst ablehnte.

Hitler konnte leidenschaftlich hassen. Lieben konnte er nicht. Sogar seinen Hunden, die er als Erwachsener stets um sich hatte, war er mehr zugetan als Menschen. Zugleich suchte er beständig nach Zuneigung und Zugehörigkeit. Er konnte nicht mit sich allein sein und brauchte daher eine Art Ersatzfamilie um sich. Von dieser verlangte er unbedingte Unterordnung und Gehorsam, auch von den wenigen »Freunden«, die er im Laufe seines Lebens hatte.

»Kein angenehmer Charakter« lautet das treffende Urteil, das ein Biograph über Adolf Hitler fällte. Hitler war zweifellos seelisch gestört. Er sah sich und nur sich im Mittelpunkt alles Geschehens. Leider traf er im Laufe seines politischen Lebens auf kritiklose Bewunderer, die ihn in dieser maßlosen Selbstbezogenheit bestärkten. Als er Mein Kampf schrieb, glaubte Hitler allen Ernstes, er allein sei dazu berufen, das Weltgeschehen zu verändern. Alle Erfolge, die er seitdem erzielte, verstärkten nur seinen früh angelegten Größenwahn.

Adolf wurde im Mai 1895 eingeschult4. Ein vier Jahre später aufgenommenes Klassenfoto zeigt den Zehnjährigen. Er sieht hochnäsig in die Kamera, die Arme hat er vor der Brust verschränkt. Hitler war ein guter Volksschüler. Trotz des unsteten Lebens, das sein Vater ihm und seiner Familie aufzwang, trotz mehrfachen Schulwechsels, gab es keinen Grund zur Klage.

In der Benediktinerabtei von Lambach, einem bekannten Kloster, sang Hitler im Kirchenchor. Eine Zeitlang wollte er Priester werden, obwohl er mit dem tieferen Sinn der Messfeier gar nichts anfangen konnte und nicht an Gott glaubte. Aber er lernte aus dem, was er in der Kirche sah: Bei den späteren Massenveranstaltungen seiner Partei gab es Weihen, Licht und Dunkel, und es war von Tod und Auferstehung der deutschen Nation die Rede. Wenn er die Juden unbarmherzig verfolgte, behauptete Hitler, so handle er im Namen »des Herrn«.

Als Leondinger Volksschüler spielte Hitler mit Schulkameraden gern und oft Indianer und Krieg, wobei er stets der Anführer sein wollte. Mit einem Luftgewehr jagte er Ratten auf dem elterlichen Grundstück, das an den Leondinger Friedhof angrenzte. Er begeisterte sich, wie die meisten Jungen seiner Zeit, für die Abenteuer- und Indianerromane Karl Mays.

Mit der Politik kam er erstmals durch einen Bildband über den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 in Berührung, den Deutschland gewonnen hatte. Ob die Lektüre der Kriegsdarstellung tiefere Spuren in Hitler hinterlassen hat, wissen wir nicht. Es fällt aber auf, dass er sehr viel mehr für Deutschland als für seine österreichische Heimat übrighatte. Dagegen stand Hitlers Vater als Staatsbeamter selbstverständlich treu zum österreichischen Kaiser Franz Joseph I.

Ab September 1900 war Hitler Schüler einer Linzer Realschule5. Seine Leistungen blieben von Anfang an hinter den Erwartungen zurück. Er war zwar intelligent und verfügte über ein ausgezeichnetes Gedächtnis, aber zugleich war er faul und unzuverlässig. Bereits in der fünften Klasse blieb er wegen ungenügender Leistungen sitzen. Die Schulfächer interessierten ihn nicht; seine Lehrer hasste er. Die große Ausnahme war der Geschichtsunterricht bei Dr. Pötsch, der Hitler und seine Mitschüler durch mitreißende Erzählungen über die deutsche Geschichte für sich einnahm.

Sein damaliger Klassenlehrer hat rückblickend ein aufschlussreiches Porträt des Realschülers Hitler verfasst. Dünn und bleich sei er gewesen, »widerborstig, eigenmächtig, rechthaberisch und jähzornig«; in der Klasse habe er eine »Führerrolle« für sich beansprucht und sei den Mahnungen seiner Lehrer mit Trotz und Widerwillen begegnet.

Im Januar 1903 brach Alois Hitler über einem morgendlichen Glas Wein im Wirtshaus zusammen und starb6. Der dreizehnjährige Adolf weinte seinem Vater keine Träne nach. Väterliche Ermahnungen und Misshandlungen brauchte er nicht mehr zu befürchten. Seine schulischen Leistungen sanken trotzdem weiter ab. In das nächste Schuljahr wurde er nur mit Ach und Krach versetzt, nach einer Nachprüfung in Mathematik. Im folgenden Schuljahr ließen ihn die Lehrer die Nachprüfung in Französisch bestehen, weil seine Mutter versprochen hatte, ihn anschließend von der Schule zu nehmen.

Klara Hitler schickte ihren Sohn nunmehr auf eine Realschule in Steyr, das achtzig Kilometer entfernt lag. Adolf wohnte dort bei einer Familie, der seine Mutter Miete und Geld für das Essen zahlte. Im September 1905 verließ Hitler die Realschule7 mit einem schwachen Abschluss. Aus dieser Zeit ist die Porträtzeichnung eines Mitschülers überliefert. Hitler war damals sechzehn Jahre alt.

Hitler als sechzehnjähriger Realschüler, Porträtzeichnung eines Mitschülers, 1905

© bpk/Bayerische Staatsbibliothek/Archiv Heinrich Hoffmann: 18

Hitler hatte den Wunsch, Kunstmaler zu werden, denn er konnte sehr gut zeichnen. In Mein Kampf deutete er an, er habe sich in der Zeit nach seinem Schulabgang ernsthaft auf die Aufnahmeprüfung an der Wiener Akademie der Künste vorbereitet. In Wirklichkeit wurde er bodenlos faul. Er lebte in den Tag hinein und wurde verwöhnt. Seine Mutter verhätschelte ihn. Inzwischen wohnten er, seine Mutter, seine Schwester Paula und die »Hanitante« in einer Wohnung in Linz. Die Stiefschwester Angela war schon verheiratet und hatte den Haushalt verlassen.

Hitler verbrachte in Linz die »glücklichsten Tage« seines Lebens, wie er später schrieb. Kein Wunder: Es fehlte ihm an nichts. Klara Hitler, die von ihrer Witwenrente gut leben konnte, schaffte sogar einen Flügel an, auf dem ihr Sohn einige Monate lang Klavierunterricht erhielt. Dann interessierte ihn auch das nicht mehr. Er blieb bis spät in die Nacht wach, lesend, zeichnend, von einer unbestimmten großen Zukunft träumend. Er schlief lange und stand erst am späten Vormittag auf. Diese Angewohnheiten bestimmten seinen Tagesablauf mehr oder weniger bis zu seinem Lebensende.

Am meisten Freude machte ihm der Besuch der Linzer Oper. Dort war Hitler seit 1905 ein häufiger Gast. Er kleidete sich wie ein junger Herr aus gutem Hause, hatte sich einen dünnen Schnurrbart stehen lassen und trug beim Opernbesuch einen dunklen Mantel und dunklen Hut, dazu einen schwarzen Stock mit Elfenbeinknauf.

In der Oper lernte er zufällig August Kubizek kennen, den etwas älteren Sohn eines Linzer Handwerkers, und freundete sich mit ihm an. Kubizek wollte Berufsmusiker werden. Hitler war in jeder Hinsicht der aktive, Kubizek der passive Teil dieser Freundschaftsbeziehung8. August ertrug bereitwillig Adolfs uferlose Monologe. Er gab seinem Freund stets recht und teilte dessen Tag- und Zukunftsträume.

Diese Träume hatten inzwischen in Richard Wagner ihr Vorbild gefunden. Der 1883 gestorbene Wagner war ein deutscher Komponist, der um die Jahrhundertwende als Schöpfer großer Opern verehrt wurde, aber auch als eine Art Genie und Heldengestalt. Das war ein Mann nach Hitlers Geschmack. Kubizek hat später berichtet, dass sein Freund Wagners Musik9 wie eine religiöse Botschaft aufgenommen habe, völlig hingerissen. Besonders die Oper »Lohengrin« tat es Hitler an. Die späteren Reichsparteitage der NSDAP glichen Wagner-Opern.

Hitler war sexuell unreif. Ob er jemals mit einer Frau geschlafen hat, ist nicht sicher. In Linz verehrte er aus der Ferne eine junge Dame namens Stefanie. Begegnungen mit dem weiblichen Geschlecht ging er aber aus dem Weg. Hitlers Haltung den Frauen gegenüber war gleichzeitig ängstlich, überheblich und verächtlich. Frauen mussten für ihn hübsch, dumm und nachgiebig sein.

Spätere Autoren haben Hitlers eigentümlich enthaltsame Lebensführung als versteckte Homosexualität gedeutet. Er war mit praktizierenden Homosexuellen wie dem sa-Führer Ernst Röhm befreundet. Hitler nahm deren gleichgeschlechtliche Neigungen hin, obwohl homosexuelle Handlungen damals strafbar waren. Beweise für einen homosexuellen Hitler gibt es jedoch nicht. Behauptungen eines ehemaligen Kriegskameraden aus dem Ersten Weltkrieg, Hitler habe Beziehungen zu Männern gehabt, sind nicht verlässlich, denn dieser Mann war ein verurteilter Betrüger.

Einige der Rechtsradikalen, deren Ideen Hitler in seiner Wiener Zeit aufnahm, schrieben, dass ein »germanischer« Führer sexuell enthaltsam sein und auf Tabak und Alkohol verzichten sollte. Tatsächlich rauchte und trank Hitler nicht. Die Opernhelden des verehrten Wagner, Lohengrin und Parsifal, sind enthaltsame Erlöser. Am wahrscheinlichsten ist, dass Hitler ganz einfach kein Interesse an sexuellen Handlungen hatte und Lust nur dann empfand, wenn er die Massen verzaubern konnte. In Mein Kampf vergleich er diese Massen bezeichnenderweise mit einem »Weib«.

Abstieg

Moderne Zeiten

Hitler wurde politisch in der österreichischen Hauptstadt Wien geprägt. Sein Denken war das der Jahrhundertwende. Dies war eine Zeit, als die bürgerliche Gesellschaft überall in Europa in eine tiefe Krise geriet. Im letzten Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende hatte weltweit ein enormes Wirtschaftswachstum begonnen, das bis zum Ersten Weltkrieg anhielt. Innerhalb nur einer Generation wurde Deutschland von einem weitgehend landwirtschaftlichen Staat zu einem modernen Industriestaat.

Durch Fortschritte von Naturwissenschaften und Technik entstanden die Elektro- und die Chemieindustrie. Das elektrische Licht hielt Einzug im Leben der Menschen, zuerst in den großen Städten, zunehmend auch auf dem flachen Land. In den Vereinigten Staaten wurde das Automobil zum Symbol der neuen Zeit, in Deutschland immerhin das Fahrrad. Auch die Medizin machte große Fortschritte, so dass viele Krankheiten wie die Tuberkulose bald ihren Schrecken verloren. Aufgrund der besseren Lebensumstände und geringeren Sterblichkeit durch Krankheiten stieg die Bevölkerungszahl an.

Vor allem die Städte wuchsen dadurch enorm. Sie wurden für viele Menschen aus den ländlichen Gebieten zu Anziehungspunkten, da sich hier die großen Industriewerke und Arbeitsplätze befanden. Auch versprachen die Großstädte größere Entfaltungsmöglichkeiten für den Einzelnen. Berlin beispielsweise verdoppelte seine Einwohnerzahl im Zeitraum von etwa 1890 bis 1913 auf zwei Millionen Menschen. Die Abstände zwischen Reich und Arm vergrößerten sich. Im Vergleich zu einigen superreichen Industriellen, die wie Fürsten lebten, hatten die meisten Angehörigen des Bürgertums wenig Geld, und es gab eine riesige Zahl armer Menschen in Stadt und Land. An den Rändern der Großstädte entstanden regelrechte Slums, in denen die Menschen auf engstem Raum zusammenleben mussten.

Andererseits schossen Warenhäuser nach amerikanischem Vorbild aus dem Boden, regelrechte Konsumtempel. Kinos fanden ein Massenpublikum. Elektrische Straßen- und Untergrundbahnen nahmen ihren Verkehr auf. Für die vielen Zuwanderer waren die hell erleuchteten, verkehrsreichen Städte eine beeindruckende, oft auch überwältigende Erfahrung. Sie fühlten sich regelrecht in die Zukunft katapultiert.

Wegen dieser gesellschaftlichen Veränderungen verloren herkömmliche Lebensweisen an Bedeutung. Zwar blieb auf dem Land die überkommene Ordnung teilweise noch lange erhalten, aber die Religion, die Sexualmoral und die Rollenverteilung in den Familien wurden in Frage gestellt. Der schnelllebige großstädtische Lebensstil wurde von vielen Menschen begrüßt und gefeiert, von anderen abgelehnt.

Das Bürgertum war mit sich selbst uneinig. Einerseits war der rasche Sprung in die moderne Gesellschaft eine Errungenschaft, mit der man sich stolz als führende Schicht feierte. Andererseits wuchsen Zweifel an der Geschwindigkeit und dem Ergebnis der Umwälzungen. Man versuchte, am Bestehenden festzuhalten. Daher war die Baukunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts rückwärtsgewandt, auch und gerade in den Großstädten.

Viele deutsche Intellektuelle und Künstler kritisierten Industrie, Städte und Massengesellschaft, weil sie angeblich dem deutschen Wesen widersprachen. Man übte scharfe Kritik an »Reklame«, Prostitution und Homosexualität. Das Gegenbild war das des reinen Künstlers, der die Welt von ihrem Leiden erlösen sollte. Der Kult um Richard Wagner hatte hierin seinen Grund. Er war Ausdruck tiefer Verunsicherung.

Auch veränderte sich der Stellenwert der politischen Redekunst. Früher waren Reden dem Parlament vorbehalten, wo die herrschenden Schichten unter sich blieben. Jetzt konnten Politiker breite Bevölkerungskreise ansprechen und dadurch ihre Wahlchancen erhöhen. Moderne Ideologien gaben radikale Antworten auf die beginnende Krise der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Ideologien deuteten die Welt in einfachen Formeln, übernahmen also Aufgaben, die zuvor die Religion erfüllt hatte.

Die Sozialisten deuteten die bestehende Gesellschaftsordnung als Ergebnis von Klassenkämpfen zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten. Unter Berufung auf Karl Marx und Friedrich Engels glaubten sie daran, dass diese Klassenkämpfe zu einer Revolution und zum Sieg des Sozialismus überall auf der Erde führen würden.

Die Lage der Arbeiterschaft verbesserte sich allerdings am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Die deutschen Sozialdemokraten waren zunehmend bereit, mit dem Staat zusammenzuarbeiten, um die Gesellschaft durch allmähliche Verbesserungen zu verändern. Die spd erzielte bei den Reichstagswahlen immer größere Erfolge und wurde 1912 mit rund fünfunddreißig Prozent die stärkste politische Partei. Alles deutete darauf hin, dass das 1871 gegründete deutsche Kaiserreich bald eine bessere, freiheitlichere Verfassung erhalten würde.

Aber auch der Druck der Reichsregierung und ihrer politischen Gegner nahm zu. Daher entstand seit der Jahrhundertwende ein radikaler, linker Flügel der spd. Er forderte, dass die Arbeiterschaft nach einer sozialistischen Revolution allein herrschen sollte. Diese marxistische Ideologie fiel vor allem in Russland auf fruchtbaren Boden, wo die Geheimpolizei die Sozialisten gnadenlos verfolgte.

Anders als in Deutschland gab es im russischen Zarenreich wenig Grund zu der Hoffnung, dass Reformen etwas bewirken könnten. Die russischen Sozialdemokraten waren radikaler als ihre deutschen Genossen, weil Russland wirtschaftlich und politisch rückständig war. In den Augen der spd war Russland der Inbegriff von Willkürherrschaft und Unterdrückung.

Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, war seit 1903 Führer des linken Flügels der russischen Sozialdemokraten. Zwei Jahre später, nach einer verheerenden Niederlage des Zarenreiches gegen Japan, kam es zu einer Revolution in Russland. Bereits damals forderte Lenin die »Diktatur des Proletariats«. Lenins »Bolschewiki« spalteten sich 1912 von der Russischen Sozialdemokratischen Partei ab. Daraus ging am Ende des Ersten Weltkriegs die erste kommunistische Partei Europas hervor.

Massenwirksamer als der Sozialismus war der Nationalismus. In Deutschland war der Nationalismus gegen die Fürsten gerichtet gewesen, die eine Vereinigung der vielen deutschen Einzelstaaten zu einem demokratischen Bundesstaat verhindern wollten. Die Revolution von 1848 scheiterte. Das deutsche Kaiserreich war das Ergebnis riskanter Kriege, die der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck vom Zaun gebrochen hatte. 1866 unterlag Österreich in einem »Bruderkrieg«, der um die Vorherrschaft im künftigen deutschen Nationalstaat geführt wurde. 1870 siegten preußische und süddeutsche Truppen in einem von Bismarck provozierten Krieg gegen Frankreich.

Nach der Gründung des Kaiserreichs im Januar 1871 richtete sich der Nationalismus gegen vermeintliche »Reichsfeinde« im Inneren, zunächst vor allem gegen Sozialisten und Katholiken. Die Nationalisten behaupteten, dass das Kaiserreich der Abschluss einer lang andauernden geschichtlichen Entwicklung sei, die in grauer Vorzeit begonnen habe. Im gebildeten Bürgertum, das für solche Botschaften besonders empfänglich war, waren nordische Sagen und Erzählungen über das Mittelalter besonders beliebt. Nicht zufällig vertonte Richard Wagner solche Stoffe und versuchte, Musik und Bühnenkunst zu einem »Gesamtkunstwerk« zu verschmelzen.

Auch nach außen hin wurde der reichsdeutsche Nationalismus aggressiver. Im anwachsenden rechtsradikalen Lager wurde jetzt nicht mehr nur gefordert, die »Nation« nach innen zusammenzuschließen, sondern auch, alle Angehörigen des »Volkes« innerhalb und außerhalb der deutschen Grenzen einzubeziehen. Hierzu zählte man auch die deutschsprachigen Österreicher. »Volk« wurde als »rassische« Abstammungsgemeinschaft verstanden.

Diese »völkische« Botschaft richtete sich zugleich gegen die Juden, die als Urheber aller modernen Übel gebrandmarkt wurden. Die kleine jüdische Minderheit war besonders aufstiegsorientiert und nutzte weitaus stärker als die christliche Mehrheit die Chancen, die das hervorragende Bildungswesen jener Zeit bot. Im Bankwesen, im Handel, im Pressewesen und in den freien Berufen (Ärzte, Rechtsanwälte usw.) waren sie überrepräsentiert. In den Juden fand die Kritik an der Moderne einen willkommenen Sündenbock. Der Antisemitismus wurde zur Massenbewegung.

Christliche Judenfeindschaft gab es seit dem Mittelalter. Neu war die Behauptung der radikalen Antisemiten, die Juden seien eine »Rasse« mit unveränderlich schlechten Eigenschaften, ob sie nun der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten oder nicht. Der Philosoph und Universitätsprofessor Paul de Lagarde verglich schon 1887 die Juden mit »Bazillen«, die vernichtet werden müssten. Diese Entmenschlichung der jüdischen Minderheit hing mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften eng zusammen.

Folgenreich war in diesem Zusammenhang die Entdeckung des englischen Naturforschers Charles Darwin, dass die Entstehung der Arten auf der erfolgreichen Anpassung an die Umwelt beruhte. Nur die am besten angepassten Arten überlebten den Kampf ums Dasein. Diese Lehre wurde seit Ausgang des 19. Jahrhunderts auf die menschliche Gesellschaft übertragen. Aber statt vom Überleben der am besten Angepassten war nun vom Überleben der Stärksten die Rede.

Leider, so schrieben die Anhänger der neuen Rassentheorien, sorgte die moderne Gesellschaft durch bessere Verpflegung, Gesundheits- und Sozialfürsorge dafür, dass dieses Lebensgesetz außer Kraft gesetzt wurde. Nicht die Stärksten, sondern die Schwächsten überlebten, behaupteten sie. Folglich müsse der Staat dafür sorgen, dass die »natürliche Selektion« wieder zu ihrem Recht kam und »Minderwertige« ausgeschaltet wurden. Nur durch die Beseitigung von »Schwachsinnigen«, »Asozialen« und anderen Missliebigen, selbstverständlich auch durch die Ausgrenzung von Juden, könne die »germanische Rasse« ihre guten Eigenschaften behalten und im Daseinskampf bestehen.

Solche Lehren verbanden sich oft mit der Forderung nach der Gewinnung von »Lebensraum« für die Deutschen im Osten Europas oder in Übersee. Der deutsche Reichskanzler Bismarck hatte durch ein kompliziertes Bündnissystem Frankreich isoliert, zugleich aber verdeutlicht, dass Deutschland keine weiteren Gebietsansprüche stellte. 1890 wurde Bismarck vom jungen Kaiser Wilhelm II. entlassen. Dieser Kaiser wollte selbst herrschen und sich von dem übermächtigen Kanzler nicht hineinreden lassen.

Unter Wilhelm II. beanspruchte das Deutsche Reich eine Weltmachtstellung. Es forderte Kolonien in Afrika und Asien. Beflügelt vom technischen Fortschritt, begann nun eine Zeit der militärischen Hochrüstung und der zunehmenden Kriegsgefahr. Eine große Kriegsflotte wurde aufgebaut, um gegen die größte Kolonialmacht England bestehen zu können. Die Spannungen mit England und Frankreich nahmen zu. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges waren Frankreich, England und Russland verbündet. Deutschland unterhielt ein Bündnis mit Österreich und Italien.

Die beschriebenen Entwicklungen beschränkten sich nicht auf Deutschland. In manchen europäischen Staaten waren radikaler Nationalismus und Rassenantisemitismus sogar noch stärker ausgeprägt als in Deutschland — so etwa in Österreich. Wien war die am schnellsten wachsende Stadt Europas. 1850 wurden dort noch fünfhunderttausend Einwohner gezählt. 1910 waren es bereits viermal so viele. Jeder zweite Wiener war ein Zuwanderer. Auch der jüdische Bevölkerungsanteil stieg deutlich an. Während es 1857 nur rund dreitausend Einwohner jüdischen Glaubens gab, waren es 1910 rund hundertfünfundsiebzigtausend, knapp neun Prozent der dortigen Stadtbevölkerung.

Die Juden kamen zum Teil aus den Ländern des Kaiserreiches (Ungarn, Böhmen, Mähren, Galizien), zum Teil aber auch aus Russland, wo gewalttätige Ausschreitungen, Pogrome, die Juden seit Anfang der achtziger Jahre immer wieder trafen. Die meist armen osteuropäischen Juden waren nicht an die Einheimischen angepasst. Ihre Vorfahren waren im Mittelalter aus Deutschland eingewandert: Sie waren vor Pogromen christlicher Kreuzfahrer geflüchtet, die auf ihrem Weg nach Jerusalem die jüdischen Gemeinden Deutschlands überfallen hatten. Viele osteuropäische Juden sprachen untereinander das aus dem Mittelhochdeutschen stammende Jiddisch, trugen dunkle Anzüge und Hüte und waren als Minderheit deutlich erkennbar. Sie verdienten sich ihren Lebensunterhalt als Kleinhändler.

Da die österreichische Arbeiterschaft politisch rechtlos war, wuchs ihre Interessenvertretung, die Sozialdemokratie, stark an. Anders als in Deutschland war der Aufstieg der Arbeiterbewegung zur Massenbewegung eng mit der Nationalitätenfrage verbunden. Denn das Kaiserreich Österreich-Ungarn war ein Vielvölkerstaat, das heißt, es wohnten Nationalitäten mit verschiedenen Sprachen und unterschiedlichen geschichtlichen Entwicklungen innerhalb seiner Grenzen. In der Donaumonarchie wurde Ungarisch, Polnisch, Tschechisch, Kroatisch, Slowakisch, Serbisch, Slowenisch, Rumänisch, Ukrainisch und Italienisch gesprochen.

Zu der Zeit, als Adolf Hitler aufwuchs, rumorte es im Land; die Monarchie drohte zu zerfallen. Denn jede der verschiedenen Nationalitäten forderte einen eigenen Nationalstaat. Nicht nur die Slawen drängten aus dem Reich heraus, sondern auch Teile der deutschsprachigen Österreicher. Sie fürchteten, den zahlenmäßig überlegenen Slawen auf die Dauer zu unterliegen.

Österreichische Völkische, »Alldeutsche« genannt, verlangten den Anschluss Deutschösterreichs an das Deutsche Reich. Auf diese Weise sollte die 1848 versäumte Chance, ein »Großdeutschland« zu gründen, letztlich doch verwirklicht werden. Die Alldeutschen verurteilten die Sozialdemokraten als Marxisten und behaupteten, die Partei sei von Juden beherrscht. Sie waren glühende Anhänger Bismarcks, viele von ihnen auch Verehrer Richard Wagners. Die Alldeutschen glaubten wie ihre deutschen Gesinnungsgenossen an »Rasse« und »Blut« und behaupteten, alle Menschen »deutschen Blutes« müssten in einem gemeinsamen Staat zusammenleben. Nur durch den Anschluss könne das österreichische Deutschtum vor der Flut der Slawen gerettet werden.

Der österreichische Deutschnationalismus vertrat in erster Linie das Bürgertum. Je weiter rechts die Deutschnationalen standen, desto mehr zielten sie aber auch auf die Masse der sprichwörtlichen kleinen Leute: auf Handwerker und Gewerbetreibende, Ladenbesitzer und Gastwirte, kleine Beamte oder Angestellte. Viele dieser Menschen waren verunsichert durch die moderne Welt und hatten Angst vor dem Verlust ihrer wirtschaftlichen Existenz und vor der Zuwanderung. Fremdenangst und Fremdenhass sind bis heute drängende Probleme einer kleiner werdenden Welt.

Wien

Adolf Hitler war einer von vielen Hunderttausenden jungen Männern, die von der Aussicht auf Freiheit und Erfolg nach Wien gelockt wurden. Er war also Teil der Moderne mit ihren riesigen Wanderungsbewegungen. Bald begann er die Moderne zu hassen. Denn Hitler verfehlte seine hochgesteckten Ziele und suchte nach Sündenböcken, die er für sein persönliches Versagen verantwortlich machen konnte.

Im Mai 1906 finanzierte Hitlers Mutter ihrem Sohn einen ersten zweiwöchigen Aufenthalt in Wien. Angeblich wollte der Siebzehnjährige die großen Gemäldegalerien besuchen, um sich auf seinen Künstlerberuf vorzubereiten. In Wirklichkeit lief er rund zwei Wochen ziellos durch die Stadt, die ihn fasziniert und zugleich erschreckt haben dürfte. In der Hofoper sah sich Hitler Aufführungen von Wagners Werken unter der Regie des Komponisten Gustav Mahler an, die ihn fesselten. Besonders beeindruckt war er von der Ringstraße, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an die Stelle der mittelalterlichen Stadtmauer getreten war. Die prächtigen Gebäude rund um den Stadtkern waren durchweg im rückwärtsgewandten, »historistischen« Stil gebaut. Seit der Jahrhundertwende verkehrte eine elektrische Straßenbahn, und die Ringstraße wurde elektrisch beleuchtet. Der Ring war moderne Stadtentwicklung in vormoderner Einkleidung.

Im Sommer 1907 machte sich Hitler erneut nach Wien10 auf, um die Aufnahmeprüfung an der Akademie der Künste abzulegen. Seine Mutter war inzwischen an Brustkrebs erkrankt. Doch ließ sie ihren Sohn ziehen. Klara Hitler versprach sich von einem ernsthaften Versuch, Künstler zu werden, mehr als von Adolfs zielloser Bummelei. Die »Hanitante« lieh ihrem Neffen eine beträchtliche Geldsumme, praktisch ein Geldgeschenk, das dem Jahreseinkommen eines jungen Lehrers entsprach. So ausgestattet, konnte Hitler in der Hauptstadt ein zwar nicht üppiges, aber doch auskömmliches Leben führen, ohne für seinen Lebensunterhalt arbeiten zu müssen.

Er mietete ein kleines Zimmer bei einer tschechischen Vermieterin in der Nähe des Westbahnhofs. Es lag im Stadtbezirk Mariahilf, einem dicht besiedelten Zuwandererviertel. Hitler mietete diese Bleibe, obwohl er die Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie noch gar nicht bestanden hatte. Er rechnete fest mit seinem Erfolg. Mit einem Stoß Zeichnungen war er in die Hauptstadt gereist, denn die Kunstakademie führte ein zweistufiges Verfahren durch: Erst wenn der Bewerber Arbeiten vorgelegt hatte, die seine Begabung unter Beweis stellten, wurde er zur eigentlichen Prüfung zugelassen. Hitler durfte teilnehmen und Probezeichnungen unter Aufsicht anfertigen. Die Prüfung fand am 2. Oktober 1907 statt. Zwei Drittel der Kandidaten fielen durch11. Unter ihnen war Adolf Hitler.