Für meine drei Wichtelmädchen zu Hause – KK

1. Kapitel

Hoch oben im Norden von Schweden, wo es im Winter klirrend kalt ist und nur ein paar Stunden am Tag die Sonne scheint, dort wohnen die Zwillinge Jonna und Jonas. Die beiden sind acht Jahre alt und erst vor ein paar Wochen mit ihren Eltern auf den alten Bauernhof gezogen. Zu dem Hof gehören ein Wohnhaus, ein Viehstall und einige Schuppen. In der Nachbarschaft leben nur wenige Menschen, doch dafür gibt es einen riesigen Wald und dazwischen kleine, ummauerte Felder.

Gerade kommen die Kinder von der Schule nach Hause. Sie nehmen die Abkürzung durch den Wald und stapfen durch den tiefen Schnee. Die Mützen haben sie tief ins Gesicht gezogen, sodass man kaum erkennen kann, wer von den beiden wer ist. Jonnas blonde Strubbelhaare sind unter einer roten Zipfelmütze versteckt, Jonas’ glatte Haare unter einer blauen.

Jonna ist wild wie ihre Locken, und ihr Kopf ist voller guter Ideen. Manchmal sind die Ideen etwas zu gut, dann muss ihr Bruder Jonas sie stoppen.

»Jonas ist unser Denker«, sagt Mama immer.

»Warum kann denn bloß nicht schon morgen Weihnachten sein!«, stöhnt Jonna und schiebt sich eine kleine Glocke aus Schokolade in den Mund. Am Morgen durften die Kinder ihr erstes Adventssäckchen öffnen, und beide hatten ein Glöckchen darin.

»Nur noch 24 Tage, um unsere Tannenbaumanhänger fertig zu machen«, sagt Jonas, und Jonna ist sofort klar, was jetzt kommt …

»Ach, Jonas, wir haben doch noch eeewig Zeit. Man sollte nie zu früh mit den Geschenken anfangen. Weißt du noch, als letztes Jahr deine selbst gemachte Marmelade vergammelt war? Ich habe meine Plätzchen erst Heiligabend gebacken, und sie waren richtig lecker! Außerdem können wir doch die Weihnachtswichtel fragen, ob sie uns mit den Geschenken helfen!« Jonna lacht.

Aber plötzlich erschrickt sie, denn genau vor ihnen ist jemand auf dem Waldweg aufgetaucht! Es ist natürlich kein Wichtel, sondern da steht ein kleines Reh. Und es blickt Jonna und Jonas mit braunen Knopfaugen an.

Das Reh hat sich mindestens genauso erschrocken wie die Kinder und springt hinter eine Tanne. Dann lugt es vorsichtig zwischen den Zweigen hervor.

»Jonas«, flüstert Jonna erstaunt. »Das Reh läuft gar nicht weg, es guckt uns an!«

Der Schnee knirscht unter Jonas’ dicken Stiefeln.

»Pssst«, zischt Jonna.

Die Zwillinge bleiben ganz still und reglos stehen. Und auf einmal tritt das Reh wieder hinter der Tanne hervor und läuft langsam auf die beiden zu. Es stupst Jonna mit seiner nassen Schnauze an.

»Iiihh …«, ruft Jonna kichernd. Aber als sie die traurigen Augen des Rehs sieht, sagt sie schnell noch etwas Nettes. »Ähm, es hat bloß ein bisschen gekitzelt.«

Das Reh legt den Kopf schief, als würde es jedes Wort verstehen. Die Geschwister staunen: Das gibt’s doch nicht! Dieses Reh ist irgendwie besonders. Auf seinem Rücken hat es drei große, helle Flecken, sie erinnern ein wenig an die Punkte auf einem Würfel.

»Verstehst du etwa, was wir sagen?«, fragt Jonna.

Da macht das Reh eine Bewegung, als würde es nicken, und im nächsten Moment ist es auch schon zwischen den dunklen Tannen verschwunden.

»Woow, das Reh hat mir geantwortet!«, sagt Jonna.

»Was für ein Quatsch«, erwidert Jonas. »Nur weil es zufällig den Kopf bewegt hat, musst du doch nicht gleich an Märchen glauben.«

 

Als Jonna und Jonas später mit ihren Eltern beim Abendessen im warmen, gemütlichen Haus sitzen, fragt Mama: »Wer von euch beiden hat vorhin von meinem Teig für die Haselnussplätzchen genascht? Ich hatte ihn nur kurz auf die Fensterbank gestellt.«

Bevor die zwei antworten können, zeigt Papa verwundert zum Fenster. »Nanu, wer bist du denn?«

Draußen vorm Fenster, im Schein der kleinen Laterne, steht doch tatsächlich das Reh mit den drei Punkten auf dem Rücken! Jonna und Jonas wechseln schnell einen Blick.

»Heißt du vielleicht Bambi?«, fragt Papa lachend.

Da drückt das Reh seine Schnauze an die Scheibe und springt in Richtung Wald davon.

Alle starren erstaunt auf den nassen Abdruck am Fenster.

»Es wollte dir bestimmt ein Küsschen geben!«, ruft Jonna aufgeregt. »Jonas und ich haben es vorhin schon im Wald gesehen, da kam es auch ganz nah an uns ran.«

»Ein verliebtes Reh«, sagt Mama kopfschüttelnd. »Komisch, dass es so zutraulich ist. Wahrscheinlich hat es einfach Hunger. Wenn es morgen wieder da ist, geben wir ihm was. In dem dicken Schnee findet es ja bestimmt kein Fressen.«

»Oh ja, und wir brauchen auch dringend Fressen, ähm … Essen«, verbessert sich Jonna schnell und guckt Papa extra brav an, während sie sich den Bauch reibt. »Morgen backen wir ganz viele Plätzchen, und dann stellen wir dem armen Reh ein paar hin.«

»Na, hoffentlich kriegt Bambi davon kein Bauchweh«, meint Papa.

2. Kapitel

»Wärst du lieber auch eine Schneeflocke geworden?«, fragt Jonna ihren Bruder am nächsten Tag nach der Schule. Sie stapfen wieder durch den Wald nach Hause, rechts und links vom Weg stehen hohe Tannen, die Äste biegen sich unter der dicken Schneedecke. Es hat den ganzen Vormittag über geschneit, doch jetzt lugt die Sonne hervor, und der Schnee glitzert.

»Oh nein, bloß nicht! Ein Baum ist viel besser, da muss ich mich nicht bewegen und nichts sagen.«

»Typisch …«, lacht Jonna.

In etwa zwei Wochen ist die große Weihnachtsaufführung in der Schule. Jonna wird dann als Schneeflocke singend über die Bühne tanzen, während Jonas einer der Bäume ist, die stumm am Rand stehen.

Bald lichtet sich der Wald, und die Kinder laufen auf den Hof zu. Aus dem Schornstein steigt Rauch.

»Zum Glück müssen wir heute gar keine Hausaufgaben machen! Dann können wir ja das Reh mit den drei Punkten suchen«, schlägt Jonna vor und rennt die letzten Meter bis zur Haustür.

Jonas rennt ihr hinterher.

Drinnen wartet ein Teller köstlich heiße Suppe auf die Kinder. Sie wärmen sich am Kamin auf und erzählen Mama das Wichtigste von der Schule, dann stürmen sie direkt wieder raus. Das kleine Reh spukt ihnen nach wie vor im Kopf herum, außerdem gibt es auf dem Hof noch immer so viel zu erkunden!

Jonas’ und Jonnas Eltern sind keine Bauern, darum haben sie bisher nur das Wohnhaus renoviert und sich nicht um die alten Nebengebäude gekümmert. In dem verlassenen Viehstall sind die Zwillinge bisher gar nicht gewesen.

Draußen müssen die zwei sich natürlich erst mal in den dicken, frischen Schnee werfen. Sie liegen nebeneinander im weißen Nass, breiten die Arme aus und machen Schnee-Engel. Inzwischen schneit es wieder ein bisschen. Die Sonne geht bald unter, einzelne Schneeflocken tanzen im letzten, orangen Licht des Tages.

»Ich glaube, wir sollten langsam los, bevor es dunkel wird«, sagt Jonas und fängt mit dem Mund eine dicke Schneeflocke aus der Luft. »Wo wollen wir denn eigentlich nach dem Reh suchen?«

»Im Wald natürlich, komm!« Jonna springt auf und zieht ihren Bruder hoch.

Mama winkt ihnen mit mehligen Händen durchs Küchenfenster zu. Heute muss sie wohl doch alleine ihre Plätzchen backen.

Jonas schnuppert sehnsuchtsvoll in der Luft, es kommt ihm so vor, als würde er Mamas Plätzchen sogar hier draußen riechen. Wie gerne wäre er jetzt in der Küche, aber er weiß, dass seine Schwester keine Ruhe geben wird, bevor sie nicht das Reh gefunden haben.

Als die beiden kurz darauf im Wald leise durch den Schnee gehen, entdecken sie auf einmal einen kleinen, zugeschneiten Pfad. Wie seltsam, dass er ihnen bisher noch nie aufgefallen ist!

»Guck mal, Jonas! Wo der wohl hinführt?«, sagt Jonna.

»Meinst du nicht, wir sollten lieber umdrehen?« Jonas versucht, nicht zu ängstlich zu klingen.

Aber wenn Jonna einen Plan hat, lässt sie sich davon nicht so leicht abbringen. Also stapfen sie hintereinander den schmalen Pfad entlang, hinein in den immer dunkler werdenden Wald, bis sie eine Lichtung erreichen.

»Siehst du, was ich sehe?«, fragt Jonna.

Jonas nickt. Dort steht ein kleines Haus, umgeben von einem Zaun mit einer Pforte – mitten im Wald. Aus dem Schornstein raucht es, warmes Licht fällt aus den Fenstern, und es hängt ein herrlicher süßer Duft in der Luft. Auch hier scheint gerade jemand zu backen.

»Komm, lass uns lieber schnell weg«, flüstert Jonas und zieht seine Schwester am Arm. »Wir wollen doch noch mit Mama backen.«

Eigentlich würde Jonna gerne wissen, wer in dem Häuschen wohnt – und das Reh haben sie auch noch nicht gefunden. Aber ein bisschen unheimlich ist es im Wald inzwischen wirklich, denn jetzt ist es schon ziemlich finster. Darum folgt Jonna ihrem Bruder nach Hause.

 

Als sie zurück auf dem Hof sind, geht Jonna noch kurz in den großen Tischlerschuppen, der gegenüber vom Wohnhaus liegt. Dort drinnen steht in einer Ecke die Werkbank, außerdem gibt es eine Hobelbank und einen Schrank mit vielen kleinen Schubladen voller Nägel, Schrauben und was man sonst noch so braucht.

Der Tischlerschuppen ist Jonnas und Jonas’ absoluter Lieblingsplatz auf dem Hof, schon vom ersten Tag an. Hier dürfen sie nach Herzenslust werkeln, sie mussten Mama und Papa nur versprechen, vorsichtig mit den Werkzeugen zu sein. Jonas hat auch Mamas alte Nähmaschine im Tischlerschuppen aufgestellt, weil er so gerne näht.

Jonna liebt Holzarbeiten und streicht stolz über das kleine Pferd, das sie letzte Woche mit der Laubsäge ausgesägt hat. Sie schmirgelt noch ein wenig mit Schleifpapier daran herum, dann tut sie das Papier in die Schublade zurück. In einem Tischlerschuppen muss man Ordnung halten.

3. Kapitel

»Stimmt, sie sieht eigentlich gar nicht unheimlich aus. Eher wie eine normale Oma«, sagt Jonas, als die beiden am nächsten Tag wieder vor dem Häuschen im Wald stehen und durchs Fenster spähen. Jonna wollte unbedingt direkt nach dem Mittagessen los, um endlich das Reh zu finden und um das Geheimnis zu lüften, wer da mitten im Wald wohnt. Und nun beobachten sie eine alte Frau, die in einem Sessel sitzt und strickt.

»Haaallo!«, ruft Jonna und klopft an die Scheibe.

Die Frau blickt überrascht auf und winkt ihnen zu. Dann verschwindet sie und öffnet kurz darauf die Haustür.

»Ach, wie schön, dass ich Besuch bekomme. Wie heißt ihr denn, ihr Wichtel?«

Jonas und Jonna müssen lachen. Wichtel? Na klar, mit ihren Zipfelmützen erinnern sie wirklich an die Wichtel aus dem Kinderbuch, das bei ihnen zu Hause auf der Kommode liegt.

Jonna zeigt erst auf sich und dann auf ihren Zwillingsbruder. »Wichtel Jonna, Wichtel Jonas. Wir wohnen seit Kurzem auf dem Hof am Waldrand.«

Jetzt lacht auch die alte Frau. »Wollt ihr reinkommen? Ihr könnt eure nassen Klamotten am Kamin aufhängen, das haben meine Jungs früher genauso gemacht. Mögt ihr Kakao und Kekse? Ich habe gestern ein paar Bleche voll gebacken, ihr habt den Plätzchenduft bestimmt gerochen.«

Die Zwillinge schauen sich verdutzt an.

»Ihr denkt vielleicht, die Alte kann nicht mehr richtig gucken, was?«, fragt die Frau lachend, und durch die dicken Brillengläser hindurch sehen ihre Augen ganz groß aus. »Nee, nee, da täuscht ihr euch. Ich heiße übrigens Anna, und ich weiß längst, dass ihr drüben wohnt und gestern hier vorm Haus wart. Nisse erzählt mir alles. So, aber immer der Reihe nach.« Anna redet wie ein Wasserfall. »Jetzt machen wir es uns erst mal ganz gemütlich. Wir müssen eure roten Nasen mit einem heißen Kakao auftauen. Jonas, bringst du mir die Milch aus dem Kühlschrank? Und Jonna, holst du bitte die Kekse aus der Vorratskammer neben dem Herd? Such dir einfach eine Sorte aus.«

Als Jonna die Vorratskammer öffnet, traut sie ihren Augen kaum – und sie dachte immer, ihre Mama würde viel backen! In Annas Regalen türmen sich Blechdosen mit bunten Bildern, alle ordentlich beschriftet. Als Jonna die Etiketten liest, spürt sie, wie ihr das Wasser im Mund zusammenläuft: Schoko-Haferkekse, Zuckerkringel, Haselnuss- und Sirupplätzchen und jede Menge Karamell. Das ist ja wie in der Engelsbäckerei, findet Jonna und entscheidet sich für die Dose mit den Schoko-Haferkeksen.

Kurz darauf sitzen die drei mit dampfenden Kakaobechern am Tisch. In der Mitte des Tisches steht eine Rührschüssel mit Plätzchenteig.

»Der muss gehen, daraus mache ich nachher etwas besonders Leckeres«, erklärt Anna, als sie Jonnas neugierigen Blick bemerkt.

Jonna tunkt ihren Keks in den Becher. Dann greift sie blitzschnell in die Schüssel und steckt sich ein bisschen Teig in den Mund.

Jonas stößt seine Schwester unter dem Tisch an. »Nicht!«, flüstert er.