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Die Herausgeber

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Priv.-Doz. Dr. med. Johanna Anneser, Neurologin und Palliativmedizinerin, leitet den Palliativmedizinischen Dienst des Klinikums Rechts der Isar der Technischen Universität München. Die Facharztausbildung und Habilitation absolvierte sie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Universität Newcastle upon Tyne (Großbritannien).

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Prof. Dr.med. Gian Domenico Borasio, Neurologe und Palliativmediziner, ist Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Universität Lausanne und Lehrbeauftragter für Palliativmedizin an der Technischen Universität München. Von 1991-2011 hat er die ALS-Forschungsgruppe an der Ludwig-Maximilians-Universität München geleitet.

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Prof. Dr. Wendy Johnston lehrt Neurologie an der University of Alberta (Kanada) und ist Co-Vorsitzende der Canadian ALS Research Group. Umfangreiche Forschungsarbeit zu den Themen Palliative- und End-of-Life-Care bei ALS, insbesondere zur Entscheidungsfindung am Lebensende.

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Prof. Dr. David Oliver ist Facharzt für Palliativmedizin und Leiter a.D. des Wisdom Hospice in Rochester, Kent. Er ist Honorarprofessor am Tizard Centre an der University of Kent und hat zahlreiche Publikationen und Bücher zum Thema Palliative Care bei ALS und anderen neurologischen Erkrankungen verfasst.

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Prof. Dr. med. Dr. phil. Andrea Sylvia Winkler ist Neurologin und Ko-Direktorin des Centers for Global Health an der Technischen Universität München. Seit April 2016 hat sie außerdem eine Professur für Globale Gesundheit an der Universität Oslo inne und leitet das dazugehörige Centre for Global Health.

Johanna Anneser, Gian Domenico Borasio, Wendy Johnston, David Oliver, Andrea Sylvia Winkler (Hrsg.)

Palliative Care bei Amyotropher Lateralsklerose

Von der Diagnose bis zur Trauerbegleitung

Verlag W. Kohlhammer

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Wir bedanken uns für die Unterstützung durch die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e. V. (DGM).

 

PALLIATIVE CARE IN AMYOTROPHIC LATERAL SCLEROSIS: FROM DIAGNOSIS TO BEREAVEMENT, THIRD EDITION was originally published in English in 2014. This edition, translated into German by Sibylle Tönjes, and adapted from the original work by Gian Domenico Borasio, Johanna Anneser and Andrea Winkler, is published by arrangement with Oxford University Press.

© Oxford University Press 2014

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029982-5

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-029983-2

epub:   ISBN 978-3-17-029984-9

mobi:   ISBN 978-3-17-029985-6

Inhalt

 

 

  1. Vorwort
  2. Vorwort zur deutschen Auflage
  3. Abkürzungsverzeichnis
  4. 1 Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)
  5. Christopher E. Shaw, Annika Quinn und Emma Daniel
  6. 2 Palliative Care
  7. David Oliver
  8. 3 Kommunikation und Aufklärung
  9. Richard Sloan und Gian Domenico Borasio
  10. 4 Entscheidungen treffen
  11. Wendy Johnston
  12. 5 Patientenverfügung und Advance Care Planning
  13. Gian Domenico Borasio und Raymond Voltz
  14. 6 Respiratorische Komplikationen
  15. Deborah Gelinas
  16. 7 Dysphagie
  17. Edith Wagner-Sonntag
  18. 8 Kognitive Dysfunktion
  19. Laura H. Goldstein
  20. 9 Schmerzen, psychischer Distress und andere Symptome
  21. David Oliver, Gian Domenico Borasio und Wendy Johnston
  22. 10 Psychosoziale Betreuung
  23. Sue Smith und Maria Wasner
  24. 11 Spititual Care
  25. Robert Lambert
  26. 12 Physiotherapie
  27. Ulrike Hammerbeck und Emily Jay
  28. 13 Ergotherapie
  29. Chris Kingsnorth und Sarah Lavender
  30. 14 Logopädie
  31. Amanda Scott und Maryanne McPhee
  32. 15 Pflege
  33. Dallas A. Forshew
  34. 16 Komplementär- und Alternativmedizin
  35. Gregory T. Carter, Sunil Kumar Aggarwal, Michael Weiss und Richard S. Bedlack
  36. 17 End of Life-Care: ethische Aspekte
  37. Leo McCluskey, Lauren Elman und Wendy Johnston
  38. 18 End of Life-Care bei ALS
  39. Nigel Sykes
  40. 19 Trauer
  41. Joy Kelly
  42. 20 Keine Zeit zu verlieren: die Reise einer Familie von der Diagnose bis zur Trauerphase
  43. Marika Warren, Michelle Warren und Douglas Warren
  44. 21 Die Rolle der Selbsthilfe im Palliativ-Kontext
  45. Autorenverzeichnis
  46. Sachregister

 

Vorwort

 

 

Trotz des zunehmenden Verständnisses der genetischen Grundlagen der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) und der molekularen Grundlagen der Krankheit ermöglichen die derzeit verfügbaren Behandlungsansätze nur eine mäßige Verlängerung der Lebenserwartung. Daher steht der palliative Ansatz bei der medizinischen Versorgung der Patienten und ihrer Angehörigen im Zentrum der Good Clinical Practice bei ALS. Dieses Buch betrachtet die verschiedenen Aspekte der Palliativbetreuung von ALS-Pateinten anhand der aktuellsten wissenschaftlichen Ergebnisse. Die vorliegende Auflage wurde aktualisiert und umfasst Studien und Veröffentlichungen der letzten Jahre sowie neue Kapitel über Komplementärmedizin und familiäre Erfahrungen.

Alle mitwirkenden Autoren sind an der Behandlung von ALS-Patienten beteiligt. Sie liefern klare Vorgaben zur medizinischen, psychosozialen und spirituellen Versorgung während des gesamten Krankheitsverlaufs – von der Diagnose bis zur Trauerbegleitung. Die internationalen Autoren ermöglichen einen Vergleich der interkulturellen Unterschiede, der sozialen Bedingungen, der Gesundheitssysteme und der Länder. Die Palliative Care bei ALS wird umfassend beleuchtet und die Rolle des multidisziplinären Teams betont. Dieses Buch übernimmt einen evidenzbasierten Ansatz, der auf der täglichen Arbeit mit den Patienten gründet. Alle Kapitel beginnen mit einem kurzen Fallbeispiel, das den Leser auf die klinische Anwendung der besprochenen Studien vorbereitet.

Die Autoren möchten allen an der Betreuung von ALS-Patienten Beteiligten, wie Neurologen, Hausärzten, Rehabilitationsspezialisten, benachbarten medizinischen Berufsgruppen und insbesondere den multidisziplinären Palliative Care-Teams, einen Nachschlagewerk zur Verfügung stellen. Die Betreuung von ALS-Patienten und ihren Angehörigen ist eine oft schwierige Aufgabe, der sich alle gemeinsam stellen sollten, um den Patienten ein erfülltes Leben zu ermöglichen.

Wir danken allen, die an der Herstellung dieses Buches beteiligt waren, insbesondere Caroline Smith von Oxford University Press, Professor Declan Walsh, dem Mitherausgeber der ersten und zweiten Auflage, sowie all unseren Kollegen, die uns mit Anmerkungen und Vorschlägen bei der Veröffentlichung halfen.

 

DJO, Rochester, UK

GDB, Lausanne, Schweiz

WJ, Edmonton, Kanada

 

Vorwort zur deutschen Auflage

 

 

»When you think that you’ve lost everything

You find out you can always lose a little more«

(Bob Dylan, Trying To Get To Heaven)

Die Diagnose einer Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) verändert das Leben für die Betroffenen und ihre Angehörigen meist in radikaler Weise: Im Alltag müssen zunehmende physische Einschränkungen wie Lähmungen der Extremitäten, Sprech- und Schluckstörungen oder Atembeschwerden gemeistert werden. Zudem ist das Zerbrechen von bisherigen Lebensplänen und das Wissen um den nun absehbar bevorstehenden Tod eine oft immense Belastung für die Patienten und ihre Familien. Die mit der Erkrankung verbundenen physischen Herausforderungen durch die Pflege des Erkrankten und eine neu zu definierende Rollenverteilung innerhalb der Familie sind Aufgaben, für die Angehörige häufig Unterstützung benötigen. Für viele Betroffene ist es zudem schwierig, mit der Tatsache zurechtzukommen, dass es für die Erkrankung trotz intensiver Forschung und beeindruckender Ergebnisse der Grundlagenforschung weiterhin keine Medikamente gibt, die eine Aussicht auf Heilung oder auf eine wesentliche Verzögerung des Fortschreitens der ALS bieten könnten. Es bleibt die Hoffnung, dass sich dies in den kommenden Jahren ändern wird.

Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass die mit der Erkrankung verbundenen Schwierigkeiten und Problemen am besten durch eine multiprofessionelle Betreuung bewältigt werden können. Die sich seit einigen Jahren in Deutschland, Österreich und der Schweiz entwickelnden palliativmedizinischen Versorgungsangebote können hier eine wertvolle Unterstützung bieten, ebenso wie die spezialisierten Ambulanzen für Motoneuron-Erkrankungen (die oft Teil von Muskelzentren der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke sind), die in Zusammenarbeit mit niedergelassenen Neurologen und Hausärzten seit vielen Jahren ALS-Patienten betreuen.

Das vorliegende Buch basiert auf der nun schon dritten Auflage des von D. Oliver, G.D. Borasio und W. Johnston herausgegebenen englischen Buchs »Palliative Care in Amyotrophic Lateral Sclerosis«. Für die deutsche Ausgabe wurden alle Artikel aktualisiert, ergänzt und den Rahmenbedingungen der deutschsprachigen Länder angepasst.

Beiden Werken gemeinsam ist das Anliegen, möglichst praxisnahe Informationen für alle an der Betreuung beteiligten Berufsgruppen zu bieten. Wir hoffen so, dass nicht nur Hausärzte, Neurologen und Palliativmediziner Hilfreiches finden werden, sondern auch Pflegekräfte, Sozialarbeiter, Physiotherapeuten und alle anderen professionellen und ehrenamtlichen Helfer, die ALS-Patienten betreuen.

Unser Dank gilt allen, die an der Entstehung des Werks beteiligt waren, besonders der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke für ihre Unterstützung, den Autoren, den Mitarbeitern des Kohlhammer-Verlags Frau Annegret Boll, Herrn Dominik Rose und Herrn Ruprecht Poensgen, und nicht zuletzt den Patienten und ihren Angehörigen, die uns an ihren Sorgen und Erfahrungen teilhaben ließen.

München, Lausanne, Oslo, im Dezember 2017

 

J. Anneser

G.D. Borasio

A.S. Winkler

 

Abkürzungsverzeichnis

 

 

 

AAN

American Academy of Neurology

ALS

amyotrophe Lateralsklerose

ALS-bi

Verhaltensstörung bei ALS

ALSFRS

ALS Functional Rating Scale

BDNF

Brain-derived Neurotrophic Factor

BMI

Body Mass Index

Bp

Basenpaar

bvFTD

behaviorale Variante der FTD

C9orf72

Chromosome 9 open reading frame 72

CAM

Komplementär- und Alternativmedizin

CCTR

Cochrane Controlled Trials Register

CNTF

Ciliary Neurotrophic Factor

EAAT

exzitatorischer Aminosäuretransporter (excitatory amino acid transporter)

EAPC

European Association for Palliative Care

EEG

Elektroenzephalografie

EFNS

European Federation of Neurological Societies

EMG

Elektromyografie

EOL

End of Life

FEES

fiberoptische endoskopische Evaluation des Schluckens

FTD

frontotemporale Demenz

FUS

Fused in Sarcoma

FVC

forcierte Vitalkapazität

GABA

Gamma-Aminobuttersäure

GERD

gastroösophageale Refluxkrankheit

i.v.

intravenös

IGF

Insulin-like Growth Factor

IPPB

Intermittent Positive Pressure Breathing

LMN

unteres Motoneuron (lower motor neuron)

MI-E

maschineller Insufflator-Exsufflator

MIP

maximaler inspiratorischer Druck (maximum inspiratory pressure)

MMN

multifokale mototirsche Neuropathie

MNDA

[UK] Motor Neurone Disease Association

MRT

Magnetresonanztomografie

MS

multiple Sklerose

NF

Neurofilament

NGF

Nervenwachstumsfaktor (Nerve Growth Factor)

NICE

National Institute for Health and Care Excellence

NIPPV

nicht-invasive Überdruckbeatmung (Non-invasive Positive-pressure Ventilation)

NIV

nicht-invasive Beatmung (Non-invasive Ventilation)

NSAID

nicht steroideales Antiphlogistikum (Non-steroidal Antiinflammatory Drug)

ODWDA

Oregon Death with Dignity Act

PCF

Hustenspitzenfluss (Peak Cough Flow)

PCV-VG

Pressure Control Ventilation – Volume Guaranteed

PEG

perkutane endoskopische Gastrostomie

PLS

primäre Lateralsklerose

PMA

progressive Muskelatrophie

PRG

perkutane radiologische Gastrostomie

QOL

Lebensqualität (Quality of Life)

REM

Rapid Eye Movement (Schlaf)

SBMA

spinobulbäre Muskelatrophie

SDB

schlafassoziierte Atemstörung (sleep-disordered breathing)

SMA

spinale Muskelatrophie

SNIP

Sniff Nasal Inspiratory Pressure

SOD1

Superoxiddismutase 1

SSRI

selektiver Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer

SVC

langsame Vitalkapazität (Slow Vital Capacity)

TENS

transkutane elektrische Nervenstimulation

UK

Unterstützte Kommunikation

UMN

oberes Motoneuron (Upper Motor Neuron)

VFSS

videofluoroskopische Schluckuntersuchung (viedoscopic swallowing study)

WMA

World Medical Association

ZNS

zentrales Nervensystem

 

1          Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)

Christopher E. Shaw, Annika Quinn und Emma Daniel

Zusammenfassung

In diesem Kapitel sollen folgende Fragen beantwortet werden: Was ist die amyotrophe Lateralsklerose (ALS)? Was bedeutet im Unterschied hierzu die Diagnose einer Motoneuronerkrankung? Wir beginnen mit einer Darstellung des typischen klinischen Bildes der ALS und der bei dieser Erkrankung notwendigen Diagnostik und gehen kurz auch auf andere Krankheiten ein, die zur Degeneration von Motoneuronen führen oder mit ähnlichen Symptomen einhergehen. Anschließend befassen wir uns mit der Krankheitsentstehung und -entwicklung der ALS und geben einen Überblick über die Forschungsergebnisse auf den Gebieten der Molekulargenetik und Zellbiologie. Zum Schluss gehen wir auf Therapien ein, die den Krankheitsverlauf beeinflussen können.

Was ist eine Motoneuronerkrankung?

Der Begriff Motoneuronerkrankung umfasst mehrere unterschiedliche Krankheitsbilder, bei denen sich der Krankheitsprozess vornehmlich an den motorischen Nervenzellen (Motoeurone) abspielt. Klinische, histopathologische und molekulargenetische Studien haben dazu beigetragen, viele dieser Krankheiten von der typischen ALS abzugrenzen. Die Amyotrophe Lateralsklerose wird in vielen Ländern auch als »typische« Motoneuronerkrankung bezeichnet. Im englischsprachigen Raum ist mit »motor neuron disease« daher oft die ALS gemeint (und nicht die ganze Gruppe der Krankheiten, die die Motoneurone betreffen). In den Vereinigten Staaten von Amerika ist sie auch bekannt als Lou Gehrig’s disease – nach dem berühmten, an ALS verstorbenen Football-Spieler.

Ursprünglich ging man davon aus, dass es sich um eine Erkrankung der Muskulatur handelt, bis Charcot im Jahr 1869 klinisch-pathologische Studien veröffentlichte, in denen er korrekt die Degeneration von motorischen Neuronen als Ursache des Muskelschwunds identifizierte (Charcot JM, Joffroy A 1869). Diese Krankheit unterscheidet sich von anderen Krankheiten des Bewegungsapparates durch eine kombinierte Degeneration des 1. und 2. Motoneurons (MN) (die Nervenleitungsbahnen sind in image Abb. 1.1 dargestellt). Als andere Bezeichnung ist auch zentrales und peripheres Motoneuron gebräuchlich.

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Abb. 1.1: Nervenbahnen in Rückenmark und Gehirn

Die Zellkörper der 2. Motoneurone (2.MNs) finden sich in Rückenmark und Hirnstamm und haben über die peripheren Nerven direkten Kontakt mit Muskelfasern, die sie aktivieren. Wenn die 2. MNs degenerieren, kommt es zu einer Schwäche der von ihnen innervierten Muskeln. Ein weiteres Symptom hierfür sind die Muskelzuckungen (Faszikulationen) und Muskelschwund (Atrophie). Die 1. Motoneurone (ZMNs) liegen im sog. Motorischen Kortex, im Stirnlappen des Großhirns. Die Fortsätze (Axone) dieser Neurone verlaufen im Rückenmark nach unten zu den 2. MNs, die durch sie aktiviert werden. Wenn die 1. MNs degenerieren, entwickelt sich eine Muskelsteifigkeit (Spastik) der betroffenen Muskeln und es kommt zu gesteigerten Muskeleigenreflexen. Als weiteres Zeichen findet sich bisweilenein sog. »Babinski-Zeichen«: die Großzehe wird beim Bestreichen der Fußsohle nach oben gezogen statt sich nach unten einzurolllen). Bei den meisten ALS-Patienten finden sich kombinierte Zeichen der 1. MNs und 2. MNs. Liegen nur Zeichen der 2. MNs vor, wird die Krankheit als progressive Muskelatrophie (PMA) bezeichnet, bei ausschließlichen 1. MN-Symptomen als primäre Lateralsklerose (PLS). Histopathologische Studien legen nahe, dass diese Syndrome jeweils Unterformen der ALS sind und sich an den Enden eines gemeinsamen klinischen Spektrums befinden. Bei der Progressiven Muskelatrophie überwiegt demnach eine Schädigung der 2. Motoneurone und bei der primären Lateralsklerose die der 1. Motoneurone. Es ist interessant, dass diese beiden Varianten langsamer progredient verlaufen und mit einem längeren Überleben verbunden sind als eine »klassische« ALS.

Die Diagnose einer ALS wird klinisch gestellt und durch technische Zusatzuntersuchungen gestützt. In der Regel geht die ALS mit progressiver Schwäche und Atrophie der Extremitätenmuskulatur und der zum Sprechen und dem Schlucken notwendigen Muskulatur, einher. Die Motoneurone, die die Augenbewegungen sowie die Schließmuskeln von Harnblase und Darm kontrollieren, bleiben typischerweise ausgespart. Das Gleiche gilt für die sensiblen Neurone, die z. B. Schmerz oder Berührung übermitteln und die Neurone des vegetativen Nervensystems. Die diagnostischen Kriterien der ALS wurden bei einer Konferenz in dem spanischen Schloss El Escorial festgelegt und 2002 aktualisiert (»El Escorial Kriterien«) (image Abb. 1.2). Sie werden als Einschlusskriterien für Therapiestudien verwendet und verdeutlichen, dass für die Diagnose einer sicheren ALS -Symptome des 1. und 2. MNs in mehreren Bereichen der Muskulatur nachgewiesen werden müssen.

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Abb. 1.2: Überarbeitete El-Escorial-Kriterien zur Diagnose der Motoneuronerkrankung (MND)/amyotrophen Lateralsklerose (ALS) (2. MN = zweites Motoneuron; 1. MN = erstes Motoneuron; EMG = Elektromyografie).

Motoneuronerkrankungen, die der ALS ähneln

Es gibt zahlreiche Motoneuronerkrankungen, die – zumindest im Anfangsstadium – mit einer ALS verwechselt werden können. Aufgrund der Bedeutung einer ALS-Diagnose für den Patienten muss diese möglichst zweifelsfrei gestellt und alle anderen in Betracht kommenden Erkrankungen ausgeschlossen werden. Die häufigste Differenzialdiagnose ist eine Kompression des Rückenmarks und/oder einer Nervenwurzel durch eine Degeneration der Wirbel und der Bandscheiben. Hierdurch kann es in einer oder mehreren Extremitäten zur schmerzlosen Muskelatrophie, zu Muskelschwäche und Faszikulationen kommen. Daher wird bei Verdacht auf ALS in der Regel eine Magnetresonanztomografie (MRT) des Rückenmarks und der Nervenwurzeln durchgeführt. Die MRT deckt auch in seltenen Fällen vorkommende Rückenmarkstumoren oder eine Syringomyelie (zystische Erweiterung im Rückenmark) auf. Eine weitere Krankheit, die ausgeschlossen werden muss, ist die multifokale motorische Neuropathie (MMN). Bei dieser Autoimmunerkrankung greifen Autoantikörper selektiv die motorischen Nerven an und es kommt zu einer -in der Regel- asymmetrischen Schwäche der oberen Extremitäten. Bei der MMN ist die Nervenleitgeschwindigkeit der motorischen Nerven oft an mehreren Stellen reduziert – dies kann im Einzelfall jedoch nur schwer nachzuweisen sein. Außerdem finden sich im Serum Anti-GM1-Gangliosid-Antikörper (Pestronk A et al. 1988). Zeichen einer Schädigung des 1. MNs finden sich bei dieser Erkrankung nicht. Die MMN hat eine deutlich bessere Prognose und kann sich durch eine immunsuppressive Behandlung z. B. mit intravenös oder subkutan verabreichtem humanem Immunglobulin bessern.

Die Kennedy-Krankheit oder spinobulbäre Muskelatrophie (SBMA) ist zwar insgesamt selten, wird aber häufig falsch als ALS diagnostiziert. Dieses Syndrom betrifft ausschließlich die 2. Motoneurone und tritt nur bei erwachsenen Männern auf. Es kommt zur progressiven Muskelatrophie insbesondere der Zunge und zum Haltetremor der Hände. Weitere Symptome sind eine Hodenatrophie und eine Gynäkomastie (Vergrößerung der Brustdrüse) durch niedrige Androgenspiegel (Harding AE et al. 1982). Bei der Messung der Nervenleitgeschwindigkeit findet sich oft eine leichte sensible Neuropathie, obwohl die klinische Untersuchung häufig keine Sensibilitätsverluste zeigt. Ursache ist die Expansion einer CAG-Nukleotidrepeat-Sequenz in dem für den Androgenrezeptor kodierenden Gen auf dem X-Chromosom (La Spada AR et al. 1991). Das CAG-Triplet kodiert für die Aminosäure Glutamin. Durch die Expansion ändert sich die Konformation des Androgenrezeptorproteins: Diese akkumulieren in den Motoneuronen und gewinnen hierdurch zellschädigende Eigenschaften.

Noch seltener ist die autosomal-rezessive spinale Muskelatrophie (SMA). Sie manifestiert sich meistens im Säuglingsalter oder in der Kindheit, gelegentlich aber auch als SMA Typ IV erst im Erwachsenenalter. Dieses langsam progrediente reine 2. MN-Syndrom geht mit Muskelatrophie, Muskelschwäche und fehlenden Muskeleigenreflexen einher (Dubowitz V 1995). In mehr als 95% der SMA-Fälle ist das sog. Survival-Motor-Neuron-Gen (SMN-Gen) deletiert (Lefebvre S et al. 1995).

Zur Differenzialdiagnose gehören noch zahlreiche weitere Krankheiten, wie die Multiple Sklerose und die hereditäre spastische Paraplegie, die zu Symptomen der 1. MNs führen. Bei Muskelzuckungen ohne fokale Muskelatrophie besteht der Verdacht auf ein benignes Faszikulationssyndrom oder auf Erkrankungen der Schilddrüse und der Nebenschilddrüsen, das durch Bestimmung der Hormonspiegel diagnostiziert werden kann (image Tab. 1.1).

Tab. 1.1: Differenzialdiagnosen der amyotrophen Lateralsklerose

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KrankheitUntersuchungsverfahren

Klinischer Verlauf der ALS

Bei den meisten ALS-Patienten (85%) beginnt die Muskelschwäche schleichend an einer Extremität, typischerweise mit einer Schwäche beim Greifen oder einer Fußheberschwäche. Da in der Folge weitere periphere Motoneurone im Rückenmark zugrunde gehen, kommt es zu Faszikulationen und einer fortschreitenden Muskelatrophie der betroffenen Extremität. Die Spastik – als Zeichen einer Beteiligung des 1. MNs – kann der Muskelschwäche aber auch vorausgehen oder gleichzeitig mit dieser auftreten. In einem fortschreitenden Prozess zeigen auch andere Extremitäten Lähmungen, Faszikulationen und Atrophie, sodass bei vielen Patienten schließlich alle Gliedmaßen betroffen sind. Seltener beginnen die Beschwerden im Bereich der Sprech-, Kau- und Schluckmuskulatur (»Bulbärbereich«) (15%) mit verwaschener Sprache oder Schluckstörungen (Haverkamp LJ et al. 1995). Da diese Symptome durch Degeneration der 2. MNs im Hirnstamm (früher als »Bulbus« bezeichnet) verursacht sind, wird a diese Verlaufsform oft als progressive Bulbärparalyse bezeichnet (image Abb. 1.3). Gelegentlich finden sich bulbäre Symptome auch als Folge einer Schädigung des 1. MNs: Es kommt zu einer Spastik der Zunge und zu einer Erhöhung des Muskeltonus im Kiefer. Hier kann es auch zu ruckartigen Bewegungen (Kloni) des Unterkiefers kommen.

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Abb. 1.3: Klinisches Bild der amyotrophen Lateralsklerose. Deutlich zu erkennen ist die Muskelatrophie an Händen und Zunge.

Dieser Symptomkomplex wird oft als Pseudobulbärparalyse bezeichnet. Bulbärparalyse und Pseudobulbärparalyse können in einer ALS münden: Es kommen bei diesen Patienten im Verlauf Symptome der Extremitätenmuskulatur hinzu und eine typische ALS entwickelt sich. Umgekehrt treten bei etwa 90% der Patienten, bei denen die ALS an den Extremitäten beginnt, schließlich bulbäre Symptome auf; nur bei sehr wenigen Patienten und überwiegend Männern wird der Hirnstamm überhaupt nicht in die Erkrankung miteinbezogen.

Die ALS führt meist frühzeitig zu Behinderungen und schreitet – wenn auch in unterschiedlichem Tempo – unaufhaltsam voran. Die meisten Patienten können in einem fortgeschrittenen Stadium nicht mehr eigenständig gehen, essen, sprechen und schlucken und sich auch nicht mehr eigenständig um ihre Körperhygiene kümmern. Viele Menschen empfinden es als besonders grausam, dass die intellektuellen Fähigkeiten überwiegend erhalten bleiben. Die Patienten sind sich ihres Zustandes bewusst, jedoch vollständig gelähmt und durch die Einschränkungen im sozialen Kontakt und der Kommunikation häufig isoliert. Bei etwa 10% der Patienten treten deutliche Persönlichkeits-, Verhaltens- und Sprachstörungen im Sinne einer frontotemporalen Demenz auf. Bis zu 30–40% der Patienten weisen ähnliche, aber mildere kognitive Defizite auf (image Kap. 8).

Die meisten Patienten versterben durch eine Schwäche der Atemmuskulatur. Diese wird oft lange unterschätzt, da die Mobilität der Patienten eingeschränkt ist und ein Abfall der Vitalkapazität auf 60% des Normwertes zunächst häufig asymptomatisch bleibt. Die mittlere Überlebenszeit nach dem Auftreten der ersten Symptome beträgt 3 Jahre. Nur 25% der Patienten überleben 5 Jahre und 10% sind nach 10 Jahren noch am Leben (Kondo K 1995). Bei älteren Frauen mit initialer Bulbärsymptomatik ist die Prognose deutlich schlechter, bei der langsam progredienten ALS junger Männer mit primärer Extremitätenschwäche besser.

Wie wird die Diagnose ALS gestellt?

Die ALS ist eher selten und die Diagnose kann zu Beginn der Erkrankung schwierig sein. Die meisten Allgemeinmediziner werden im Laufe ihres Lebens höchstens einmal mit der ALS konfrontiert. Daher werden die Frühzeichen und -symptome oft übersehen und die Patienten erst zu Rheumatologen, Orthopäden oder Hals-Nasen-Ohren-Ärzten geschickt, bevor sie schließlich einem Neurologen vorgestellt werden. Die Symptome und die Befunde der körperlichen Untersuchung liefern zu Beginn oft nur Hinweise auf eine ALS, einen einfachen »Test auf ALS« gibt es nicht. Aufgrund der doch erheblichen Auswirkungen für den Patienten sprechen die Neurologen meist die Möglichkeit einer ALS erst an, wenn sie absolut sicher sind, dass die Diagnose zutrifft. Alle diese Faktoren tragen dazu bei, dass die Diagnose nach dem erstmaligen Auftreten der Symptome mit erheblicher Verzögerung gestellt wird.

Hilfreich sind alle Untersuchungen, mit denen die Differenzialdiagnosen der ALS ausgeschlossen werden können (image Tab. 1.1). Am wichtigsten ist eine MRT des Rückenmarks oder des Hirnstamms zum Ausschluss anderer Ursachen der Symptome. Durch die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit werden eine generalisierte oder multifokale Neuropathie ausgeschlossen und Nervenkompressionen sowie Leitungsblöcke entdeckt. Mittels Elektromyografie (EMG) wird der akute und/oder chronische Verlust des peripheren Motoneurons insbesondere in klinisch nicht betroffenen Regionen bestätigt und eine Myopathie ausgeschlossen. Für die ALS typische EMG-Befunde sind Fibrillationen und niederfrequente Faszikulationen (0,3 Hz). Die Potentiale motorischer Einheiten sind polyphasisch und verbreitert. Typisch sind auch instabile Potentiale. Muskelbiopsien und Liquoruntersuchungen sind meist nicht erforderlich und sollten nur bei untypischer Symptomatik und Verdacht auf eine andere Krankheit, wie degenerative Muskelerkrankung oder eine entzündliche Krankheit (z. B. Multiple Sklerose), durchgeführt werden.

Wer bekommt ALS?

Aus unbekannten Gründen erkranken Männer häufiger als Frauen an ALS; das Verhältnis liegt bei 1,7 : 1,1. Die mittlere Inzidenz der ALS liegt bei 1–2 Neuerkrankungen auf 100.000 Einwohner pro Jahr. Damit tritt sie in Deutschland etwa halb so häufig auf wie die Multiple Sklerose. Wegen der bei ALS relativ kurzen Überlebenszeit beträgt die Prävalenz nur 3–7/100.000 und ist unabhängig von geografischen, sozioökonomischen und ethnischen Unterschieden. Regionen mit hohem Risiko sind die Insel Kii in Japan und die pazifische Insel Guam, wo ALS oft gemeinsam mit dem Parkinson-Syndrom und einer Demenz auftritt. Da die Inzidenz auf Guam in den letzten 30 Jahren gesunken ist, scheint die Exposition gegenüber einem Umweltfaktor als Auslöser wahrscheinlich zu sein. Allerdings konnten zahlreiche Fall-Kontroll-Studien kein bestimmtes Toxin und keine Infektion als Risikofaktor für ALS ermitteln. Epidemiologische Studien außerhalb von Guam lassen vermuten, dass vorausgegangene Verletzungen des Bewegungsapparates (Kondo K, Tsubaki T 2001) sowie Berufe mit häufiger Exposition gegenüber elektrischem Strom oder elektrischen Schocks (Deapen DM, Henderson BE 1986) das ALS-Risiko um den Faktor 2–3 erhöhen, insgesamt gesehen ist dieser Effekt eher als gering zu beurteilen (Kondo K 1995). Es ist bekannt, dass das Risiko mit dem Alter zunimmt, wobei die Häufigkeit jenseits des 50. Lebensjahres sprunghaft ansteigt. Auch danach ist in altersbereinigten Analysen weiterhin ein Anstieg zu verzeichnen.

Was passiert bei ALS mit den Motoneuronen?

Post mortem findet sich zwar eine ausgeprägte Atrophie der Muskeln und der Spinalwurzeln, ansonsten sehen das Rückenmark und das Gehirn aber meist weitgehend normal aus. Die minimalen makroskopischen Veränderungen stehen in deutlichen Gegensatz zu den dramatischen Veränderungen auf mikroskopischer Ebene. Charcot (Charcot JM, Joffroy A 1869) beschrieb als einer der Ersten diese charakteristischen Veränderungen des Rückenmarks. Typisch sind ein ausgeprägter Verlust der Motoneurone mit Proliferation und Hypertrophie der angrenzenden Astrozyten (Stützzellen des zentralen Nervensystems). Die wenigen überlebenden Motoneurone sind entweder geschrumpft oder geschwollen und weisen verschiedene Proteinaggregate (zytoplasmatische Einschlüsse) sowie eine axonale Degeneration auf (image Abb. 1.4). Ähnliche Veränderungen finden sich in den großen 1. MNs des motorischen Kortex (Betz-Zellen). Allerdings gibt es zunehmend Belege dafür, dass es auch zum Untergang von Nervenzellen in anderen, nicht-motorischen Regionen des Kortex kommt (Maekawa S et al. 2004). Ein charakteristisches histopathologisches Kennzeichen der ALS sind zytoplasmatische Aggregate des TAR-DNA-binding-Proteins (TDP-43) in den Motoneuronen. Diese finden sich in mehr als 90% der Fälle (Neumann M et al. 2006).

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Abb. 1.4: Histopathologische Charakteristika der amyotrophen Lateralsklerose in der Licht- und Elektronenmikroskopie.
(a) Der Horizontalschnitt des Rückenmarks zeigt eine verminderte Anzahl von Motoneuronen im Vorderhorn. (b) Bei geringer Vergrößerung imponieren die Motoneurone des Rückenmarks geschwollen oder aber geschrumpft. Bei stärkerer Vergrößerung sind unterschiedliche Aggregate zu erkennen: wie (c) hyaline Einschlüsse, (d) Einschlüsse, die immunhistochemisch mit Antikörpern gegen Neurofilamente und Ubiquitin markiert werden können und die (e) typische fadenförmige Stränge sowie (f) Lewy-Körperchen-ähnliche und proximale axonale Einschlüsse aufweisen. (g) Die Transmissionselektronenmikroskopie zeigt, dass der Zellkörper mit Neurofilamenten, Lipofuszin und andere Proteinaggregaten vollgepackt ist (Maßstabsbalken = 1 μm).

Genetik der ALS

Die bislang wichtigsten Hinweise auf die Pathogenese der ALS stammen aus der Molekulargenetik. Meistens tritt die ALS zwar sporadisch auf, in etwa 5–10% der Fälle sind jedoch noch weitere Familienmitglieder betroffen. Meistens wird die familiäre ALS dominant vererbt und lässt sich klinisch nicht von der sporadischen Form unterscheiden.

Im Jahr 1991 wurde der erste mit ALS assoziierte genetische Faktor auf Chromosom 21 beschrieben (Siddique T et al. 1991). Zwei Jahre später wurde als Ursache die Kupfer/Zink Superoxiddismutase-Gen (SOD1) identifiziert, die bei diesen Patienten mit familiärer ALS Mutationen aufwies (Rosen DR et al. 1993). SOD1 ist ein wichtiges antioxidatives katalytisches Enzym, das potenziell schädliche freie Radikale, die im Rahmen der normalen Zellaktivität entstehen, neutralisiert. Bislang wurden mehr als 150 krankheitsverursachende Mutationen beschrieben, die meistens durch einen Basenaustausch mit Substitution einer Aminosäure entstehen (Andersen PM et al. 2003; Abel O et al. 2012). Allerdings stören nicht alle krankheitsverursachenden, ALS-assoziierten SOD1-Mutationen die antioxidative Funktion des Enzyms. Die Toxizität der mutierten SOD1 scheint daher eher auf einer Akkumulation des Proteins zu beruhen (Gurney ME et al. 1994). Bei einer durch SOD1-Mutation verursachten ALS akkumuliert so das SOD1-Protein, jedoch nicht TDP-43, das in den Motoneuronen der Mehrzahl aller andern ALS-Patienten in aggregiertem Zustand zu finden ist (Mackenzie IR et al. 2007; Maekawa S et al. 2009). SOD1-Mutationen finden sich in etwa 20% der familiären und 3% der offenbar sporadischen Fälle (Shaw CE et al. 1998).

Die in der europäischen Bevölkerung am häufigsten mit ALS assoziierte Mutation ist eine Expansion im »offenen Leseraster 7« auf Chromosom 9 (C9orf72) (Dejesus-Hernandez M et al. 2011; Renton AE et al. 2011). C9orf72-Mutationen machen etwa 35% der familiären und 5% der sporadischen ALS-Erkrankungen aus (Rademakers R et al. 2013). Die meisten gesunden Menschen haben 2–8 Wiederholungen (Repeats) einer Sequenz aus 6 Basenpaaren (bp) (GGGGCC). Bei einer C9orf72-Mutation sind es jedoch 600–2000 Repeats. Die Funktion des C9orf72-Proteins ist derzeit unbekannt. Es gibt unterschiedliche Hypothese zur Krankheitsentstehung bei C9orf72-Mutationen: Teils wird vermutet, dass der Verlust des C9orf72-Proteins krankheitsverursachend wirkt. Alternativ wird gemutmaßt, dass die langen Repeat-RNA-Ketten toxische Wirkungen haben oder aber von C9orf72 codierte Proteine akkumulieren. Auch bei Patienten mit C9orf72-Mutation findet sich eine pathologische Akkumulation des TDP-43-Proteins. Allerdings werden auch Protein-Aggregate bei diesen Patienten beobachtet, die kein TDP-43 beinhalten (Al-Sarraj S et al. 2011).

Mutationen in dem für TDP-43 kodierenden Gen selbst sind selten und machen nur etwa 1% der familiären und sporadischen ALS-Erkrankungen aus, obwohl die Akkumulation von TDP-43 in 95% der Fälle ein Kennzeichen der ALS ist – und zwar unabhängig davon, ob die Erkrankung familiär oder sporadisch aufgetreten ist. Diese Verbindung zwischen der Genetik und der Histopathologie ist ein wichtiges Indiz dafür, dass die Akkumulation von TDP-43- tatsächlich krankheitsverursachend ist (Maekawa S et al. 2004; Sreedharan J et al. 2008). Normalerweise findet sich TDP-43 im Zellkern und spielt dort eine wichtige Rolle bei der Regulation und der Gentranskription. Bei ALS sowie in 60% der Patienten mit frontotemporaler Demenz verlagert sich TDP-43 aus dem Zellkern in den Zellkörper und die Axone. Dort bildet es granuläre, globuläre und strangförmige Einschlüsse, an die Ubiquitin und p62 angelagert ist (Maekawa S et al. 2004). Mutiertes TDP-43 akkumuliert und aggregiert mit höherer Wahrscheinlichkeit im Zytoplasma und entfaltet hierdurch eine toxische Wirkung, aber auch eine Überexpression oder ein Verlust der gesunden »Wildform« von TDP-43 verursacht möglicherweise eine Zellschädigung. Sicher ist, dass die Spiegel des TDP-43-Proteins konstant gehalten werden müssen, damit das Motoneuron überleben kann. Die TDP-43 Spiegel werden durch die gezielte Degradierung von beschädigten oder mutierten Proteinen kontrolliert. Dem geht eine »Markierung« mit Ubiquitin und p62 voraus, die den Transport des Proteins zur zelleigenen »Recycling-Maschine« erleichtern. Aus noch unbekannten Gründen kommt dieser Abbauprozess bei ALS zum Stillstand, sodass die Akkumulation zellschädigender Proteine, wie TDP-43, direkt zum Tod der Motoneurone beitragen kann.

Fused in Sarcoma (FUS) ist ein weiteres nukleäres Protein, das an der Regulation der Genexpression beteiligt ist und für das ein Zusammenhang mit der Krankheitsentstehung der ALS vermutet wird, da in 1–4% der Familien FUS-Mutationen entdeckt wurden (Vance C et al. 2009). Ebenso wie TDP-43 akkumuliert auch das FUS-Protein bei Patienten, die pathogene Mutationen tragen, im Zytoplasma der Motoneurone.

Weitere Gene, für die ein Zusammenhang mit ALS vermutet wird, sind am Proteinabbau beteiligten Proteine, wie Valosin Containing Protein (VCP), Ubiquilin 2 (UBQLN2) und Sequestosom 1 (SQSTM1). Diese sind am Transport beschädigter Proteine zum zelleigenen »Recycling-System« beteiligt. Wenn durch diese genetischen VeränderungenTDP-43 nicht entfernt werden kann, akkumuliert es und führt zur Neurodegeneration.

Hypothesen zur Pathogenese der ALS

Die im vorherigen Abschnitt aufgeführten Mutationen besitzen einen gut belegten kausalen Zusammenhang mit der ALS und folgen einem klar erkennbaren Erbmuster in den betroffenen Familien. Zunehmend werden auch genetische Faktoren mit weniger direkter Wirkung auf das ALS-Risiko identifiziert. Vermutlich entsteht die sporadische ALS durch Interaktionen zwischen mehreren genetischen Risikofaktoren und/oder zwischen genetischen und Umweltfaktoren (Turner MR et al. 2013).

Es gibt zahlreiche Umweltfaktoren, denen eine pathogenetische Rolle bei der ALS zugesprochen wird. Virusinfektionen, Toxinexpositionen und Autoimmunerkrankungen wurden zwar als Risikofaktoren vorgeschlagen, konnten aber in umfangreichen Studien nicht als solche bestätigt werden. Zwar gibt es Hinweise darauf, dass Verletzungen von Kopf und Wirbelsäule oder die Exposition gegenüber Elektroschocks das Erkrankungsrisiko erhöhen, der statistisch erkennbare Effekt ist aber nur mäßig und erhöht das Risiko um den Faktor 2–3. Wegen der erhöhten Inzidenz bei Sportlern und sportlichen Menschen wurde auch ein Zusammenhang mit körperlich anstrengenden Berufen vermutet, eine belastbare epidemiologische Evidenz fehlt aber bislang.

Der folgende Abschnitt befasst sich damit, welche Hinweise uns die mit der Krankheit assoziierten genetischen Veränderungen und Umweltfaktoren zur Pathogenese der ALS geben können. Der Fokus liegt dabei auf den Mechanismen, für die es aufgrund experimenteller Befunde die größte Evidenz gibt. Dies sind: Proteinaggregation, gestörte Regulation der Genexpression, Exzitotoxizität, oxidative Schädigung, Veränderungen des Zytoskeletts und verminderte neurotrophe Stimulation (Zusammenfassung in image Abb. 1.5). Alle diese Theorien werden durch die Ergebnisse zahlreicher Forschungsarbeiten gestützt, jedoch ist keine als alleinige Erklärung ausreichend. Angesichts der vielen genetischen Faktoren, die mit einem höheren Risiko assoziiert sind, an ALS zu erkranken, ist es denkbar, dass Funktionsstörungen unterschiedlicher Systeme eine gemeinsame Endstrecke besitzen und somit auch unterschiedliche Ursachen zum Absterben der Motoneurone führen.

Proteinaggregation

Bei vielenneurodegenerativen Erkrankungen, einschließlich der ALS, kommt es zum anormalen Verklumpen und zur Ablagerung von Proteinen in Neuronen. Bei Patienten mit SOD1-Mutationen finden sich SOD1-Proteinaggregate, bei Patienten mit FUS-Mutationen FUS-Proteinaggregate, während bei fast allen anderen ALS-Fällen TDP-43-Proteinaggregate zu beobachten sind. Wie diese Proteinaggregate die Erkrankung auslösen, ist jedoch unklar. Befunde aus der Alzheimer-Forschung lassen vermuten, dass viele kleine Ansammlungen aus anormalem Protein mehr Schaden anrichten als ein einzelnes großes Aggregat (Haass C, Selkoe DJ 2007). Durch die Proteinaggregate kann das zelleigene System zum Abbau von Proteinen in seiner Funktion beeinträchtigt werden. Zudem können in die Aggregate andere für die Zellfunktion notwendige Proteine miteinbezogen und somit funktionsunfähig werden. Ein wichtiger therapeutischer Ansatz, der aktuell verfolgt wird, zielt darauf, Substanzen zu finden, die diese pathologische Proteinaggregation reduzieren können.

Gestörte Regulation der Genexpression

TDP-43 und FUS, zwei Proteine, die mit der Pathogenese der ALS in Verbindung gebracht werden, sind an der Regulation der Genexpression in Nervenzellen beteiligt. Nervenzellen können sich durch Expression bestimmter Gene und der Synthese der durch sie codierten Proteine dynamisch an unterschiedliche Aktivitätsniveaus, Belastung oder Mangelsituationen anpassen. Mutationen in Proteinen,

Images

Abb. 1.5: Pathogenese der amyotrophen Lateralsklerose (ALS)
Zusammenfassung der wichtigsten Hypothesen. Durch verschiedene Mechanismen, wie die aberrante RNA-Verarbeitung im Nukleus und die Überproduktion freier Radikale aufgrund einer Fehlfunktion der Mitochondrien, kommt es zur Fehlfaltung des nukleären Proteins TDP-43 mit Aggregatbildung und Übertritt in das Zytoplasma. Das aberrant gefaltete TDP-43 wird mit dem Molekül Ubiquitin zur Degradierung markiert, aber weder das Ubiquitin-Proteasom-System noch das autophagosome Degradationssystem können das Protein entfernen. Dadurch verbleiben die TDP-43-Aggregate in der Zelle. Diese Aggregate führen zur Belastung des endoplasmatischen Retikulums. Astrozyten tragen in vielfacher Weise zur Schädigung der Motoneurone bei, unter Anderem durch die reduzierte Expression von Glutamatrezeptoren, die zur Exzititoxizität führt. Aggregierte Neurofilamente im Axon können den axonalen Transport blockieren, sodass ein distales Energiedefizit, das zur axonalen Degeneration beiträgt, entsteht.

die für die Kontrolle der Genexpression wesentlich sind, beeinflussen daher die Synthese von sehr vielen unterschiedlichen Proteinen, und damit auch die Fähigkeit der Neurone, auf veränderte Bedingungen zu reagieren. Vor Kurzem wurde festgestellt, dass TDP-43 die Expression von mehr als 600 Proteinen steuert (Polymenidou M et al. 2011). Auch C9orf72-Mutationen können sich auf die Genexpression auswirken. Die lange Repeat-RNA-Kette verknäuelt sich, sodass einerseits kein C9orf72Protein produziert werden kann, andererseits in die verknäuelte Kette andere Proteine – die ähnliche regulatorische Funktionen wie TDP-43 und FUS haben – eingebunden und damit funktionsunfähig gemacht werden.

Glutamat und neuronale Exzitotoxizität

Die Feststellung, dass exzitatorische Neurotransmitter und ihre pharmakologischen Analoga, Neurone schädigen können, führte dazu, dass bei vielen neurodegenerativen Erkrankungen die pathogenetische Bedeutung der »Exzitotoxizität« intensiv erforscht wurde. Bei der ALS steht die Regulation der exzitatorischen Aminosäure Glutamat im Vordergrund: Sobald die Erregungsschwelle eines Neurons überschritten ist, wird entlang des Axons ein elektrischer Impuls bis zur Synapse weitergeleitet. Dort veranlasst der Reiz die Freisetzung eines chemischen Botenstoffes (Neurotransmitters) in den synaptischen Spalt (dies ist der winzige Raum zwischen den beiden kommunizierenden Neuronen). Spinale und kortikale Motoneurone verwenden hierfür überwiegend den Neurotransmitter Glutamat. Obwohl Glutamat potenziell toxisch ist, enthält das Gehirn mehr als 1000 Mal mehr Glutamat, als für das Abtöten aller seiner Neurone erforderlich wäre. Eine exakte Kontrolle der Glutamatspiegel ist für das Nervensystem daher überlebenswichtig. Dies wird überwiegend durch die den Neuronen benachbarten Astrozyten gewährleistet. Nur ein kleiner Anteil des in den synaptischen Spalt freigesetzten Glutamats bindet tatsächlich an die Rezeptoren des Zielneurons. Der Rest wird durch exzitatorische Aminosäuretransproter (EAATs) wieder aus dem synaptischen Spalt entfernt (EAATs; image Abb. 1.5).

Welche Evidenz gibt es nun dafür, dass die Regulation des potenziell toxischen Glutamats bei ALS gestört ist? Die Glutamatspiegel im Nervenwasser (Liquor cerebrospinalis) sind bei 80% der ALS-Patienten im Vergleich zu Kontrollen um das bis zu Dreifache erhöht, wie eine Studie zeigen konnte (Rothstein JD et al. 1992). Einer der Transporter, der für die Wiederaufnahme von Glutamat aus dem synaptischen Spalt verantwortlich ist, EAAT2, war – wie eine andere Studie zeigen konnte – bei 70% der Patienten mit sporadischer ALS selektiv in Motorkortex und Rückenmark reduziert (Rothstein JD et al. 1995). Somit könnte eine reduzierte Wideraufnahme von Glutamat für die erhöhten Spiegel im Liquor cerebrospinalis verantwortlich sein. Allerdings fanden andere Forschergruppen nur bei wenigen Patienten (30%) erhöhte Glutamatspiegel im Liquor (Shaw PJ et al. 1995) und eine Reduktion der Spiegel des EAAT2-Proteins ausschließlich im Rückenmark (Fray AE et al. 2001). Somit könnte die glutamatbedingte Toxizität zwar zur Motoneurondegeneration beitragen, jedoch ist es unwahrscheinlich, dass sie alleine hierfür verantwortlich ist.

Freie Radikale, oxidativer Stress und ALS

Auch beim normalen oxidativen Stoffwechsel werden mehrere Spezies freier Radikale, die reduzierte Sauerstoffionen enthalten (O, NO und OH), gebildet. Freie Radikale können Proteine, Fette und Nukleinsäuren schädigen und tragen vermutlich zur normalen Zellalterung bei. Alle Zellen besitzen zum eigenen Schutz zahlreiche antioxidative Moleküle, um die freien Radikale aufzunehmen, und verfügen auch über Mechanismen, die oxidierte Zellbestandteile erkennen und entfernen. Bei ALS-Patienten (Shaw PJ et al. 1995) und transgenen Mäusen, die mutierte SOD1 exprimieren (Andrus PK et al. 1998), wurde im Motorkortex und Rückenmark eine vermehrte Proteinoxidation nachgewiesen.

Ein weiteres potenzielles oxidatives Toxin für Zellen ist Peroxynitrit (NOO). Dieses freie Radikal bindet an die Aminosäure Tyrosin, einen häufig vorkommenden Baustein vieler Proteine, und bildet dadurch 3-Nitrotyrosin. Bei Patienten mit sporadischer und familiärer ALS (Beal MF et al. 1997) sowie bei transgenen Mäusen, die mutierte SOD1 exprimieren (Ferrante RJ et al. 1997), fanden sich im Nervengewebe Hinweise auf durch NOO und 3-Nitrotyrosin verursachte Schäden. Zudem wurden im Liquor von Patienten mit sporadischer ALS extrem hohe Spiegel von 3-Nitrotyrosin gemessen (Tohgi H et al. 1999). Diese Zunahme ist allerdings unspezifisch und tritt auch bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen auf. Dennoch legt diese Beobachtung nahe, dass es bei ALS zu einer verstärkten Nitrosylierung von Proteinen kommt. Dies wiederum ist ein wichtiges Indiz dafür, dass oxidativer Stress bei der Pathogenese der Erkrankung eine Rolle spielt.

Auch die mit ALS assoziierten Proteine TDP-43 und FUS sind möglicherweise Teil des Prozesses, bei dem es durch oxidativen Stress zur Schädigung der Motoneurone kommt. Beide Proteine sind an der Regulation der Genexpression unter Belastungsbedingungen, wie z. B. bei oxidativem Stress, beteiligt. Um solche Stresssituationen zu bewältigen, muss sich die Zelle auf die Synthese von Proteinen, die für ihr Überleben wichtig sind, konzentrieren, während andere, nicht überlebenswichtige Proteine vorübergehend nicht mehr produziert werden. TDP-43 und FUS sind jedoch Teil des Prozesses, der nicht überlebenswichtige RNAs im Zytoplasma zu Granula aggregiert und die Produktion der jeweiligen Proteine unterbricht (Colombrita C et al. 2009; Bosco DA et al. 2010). Es wurde vermutet, dass diese Granula, die große Mengen von TDP-43- und/oder FUS-Protein enthalten, die Bildung der in den Motoneuronen von ALS-Patienten gefundenen Aggregate initiieren.

Veränderungen des Zytoskeletts und Degeneration der Motoneurone

Motoneurone sind die größten Zellen des Körpers und funktionieren bei den meisten Menschen lebenslang perfekt. Eine pathogenetische Bedeutung von Neurofilamenten für die ALS wurde vermutet, nachdem in den Motoneuronen Aggregate von Neurofilamenten (NF) gefunden wurde. Die miteinander verbundenen Neurofilamente bilden das innere Gerüst der Neurone und sind insbesondere auch für die Aufrechterhaltung des Axonkalibers verantwortlich. Sie verlaufen in der gleichen Richtung wie die Mikrotubuli, in denen z. B. Mitochondrien, Vesikel und Proteine transportiert werden.