Reinmar Cunis

 

 

WENN DER KREBSBAUM BLÜHT

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

WENN DER KREBSBAUM BLÜHT 

ERSTER TEIL: Die Leute von Torsby (2034 - 2036) 

ZWEITER TEIL: An der Erde wohnen (2039 – 2042) 

DRITTER TEIL: Der geflügelte Löwe (2050 – 2052) 

 

CHRONIK DER JAHRE 1999 - 2052 

 

Das Buch

 

Das ganz große Aus hat es nicht gegeben. Aber sämtliche Prognosen über eine kontinuierliche wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung haben sich als falsch erwiesen: Denn die Menschen in den führenden Industrieländern mussten von vorn anfangen.

Wenn der Krebsbaum blüht ist der Roman des Aufbruchs und der Erinnerung: 35 Jahre nach dem ökologischen Zusammenbruch versuchen Idealisten, eine neue, bessere Gemeinschaft aufzubauen; Abenteurer ziehen sich in die letzte Wildnis zurück; und Politiker trachten danach, die Welt des Gestern zu restaurieren. Einer von ihnen, ein Mann aus dem zerstörten Stockholm, ist auf der Suche nach sich selbst und auf der Flucht vor den Schrecknissen seiner Kindheit...

 

Wenn der Krebsbaum blüht ist der große deutsche Science-Fiction-Roman aus Deutschland, der 1987 erstmals veröffentlicht wurde – Reinmar Cunis gelang mit diesem Meisterwerk das Kunststück, Utopisches und Dystopisches gleichzeitig zu beschreiben und überzeugt vor allem durch die Vision einer Zukunft, welche für das beginnende 21. Jahrhundert aktueller ist als jemals zuvor: Ein Buch mit doppeltem Boden; ein hintergründiges, aufregendes Buch. Ein romantisches Buch. Ein packender Science-Fiction-Thriller.

Der Apex-Verlag veröffentlicht den Roman in einer durchgesehenen Neuausgabe.

 

Der Autor

 

Reinmar Cunis (* 08. August 1933, † 16. April 1989).

Reinmar Cunis war ein deutscher Soziologe, Journalist und Autor von Science-Fiction-Romanen.

Geboren in Bremen, absolvierte Cunis eine Banklehre, studierte anschließend in Berlin und Köln Soziologie, Psychologie und Wirtschaftswissenschaften. Er promovierte im Jahre 1964 mit einer Arbeit in Soziologie über künftige Militärverfassungen in demokratischen Industriestaaten und arbeitete beim NDR.

Mit 17 Jahren veröffentlichte er seine erste Kurzgeschichte und schrieb anschließend für Zeitungen und Zeitschriften. Im Jahre 1966 schließlich wurde sein erstes Hörbild Alpträume und Wunschbilder im NDR-Rundfunk ausgestrahlt.

Reinmar Cunis drehte auch Fernseh-Reportagen zu wirtschafts- und sozialpolitischen Themen und war überdies einige Jahre Projektgruppenleiter bei der Fernsehspielabteilung des Norddeutschen Rundfunks.

Sein erster Science-Fiction-Roman Livesendung erschien 1978. In ihm geht es um den Besuch eines Außerirdischen, der allerdings von der betriebsblinden Presse nicht wahrgenommen wird. Cunis' zweiter Roman Zeitsturm wurde im Jahre 1979 veröffentlicht: Er befasst sich mit dem Thema Zeitreise mittels Drogen und ist vom Werk so unterschiedlicher Autoren wie Philip K. Dick und J. G. Ballard beeinflusst.

Zu Reinmar Cunis' Lieblingsthemen gehörten außersinnliche Wahrnehmungen, Teleportation, psychedelische Drogen, Psi-Phänomene und Leben nach dem Tod.

Als seine herausragendsten Werke gelten Am Ende eines Alltags (1982), eine Sammlung von Kurzgeschichten, sowie der Roman Wenn der Krebsbaum blüht (1987).

Für die Kurzgeschichte Polarlicht wurde er 1986 mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet.

 

Der Apex-Verlag widmet Reinmar Cunis eine umfangreiche Werkausgabe.

 

 

 

 

Manchmal denke ich, so oder ähnlich könnte es werden.

Manchmal denke ich, es wäre bereits so gewesen.

Was ist Vorahnung? Was Geschichte?

Beides lebt durch Phantasie.

Vergangenheit, glaube ich, ist auch Zukunft.

Künftiges auch Vergangenes.

Ich sage »1999« und meine nicht 1999, und »2034« steht nicht für 2034.

Wirklichkeit ist mehr als ein Augenblick in unserer Zeit.

WENN DER KREBSBAUM BLÜHT

 

 

 

 

  ERSTER TEIL: Die Leute von Torsby (2034 - 2036)

 

 

 

 

 

1.

 

 

 

Huda kannte dieses Geräusch. Vor zwanzig Jahren, als er ein kleines Kind gewesen war, hatte er es in den Trümmern der Altstadt gehört und nie vergessen: ein Grollen wie vielstimmiger Männergesang und das Schmatzen berstender Steine. Sein Kajak, den er bisher in der Mitte des breiten Gewässers gehalten hatte, trieb auf das Geröll des Nordufers zu. Er wollte gegensteuern, doch die kräftige Strömung zwang ihm den Kurs auf.

Solange er draußen auf dem Sund gewesen war, hatte er sich sicher gefühlt. Mit der Nähe des üppig bewachsenen Landes kehrte die Furcht zurück. Er wusste, dass ihn die Svatters beobachtet hatten, als er, tief in der Nacht, den Kajak aus seinem Ruinenversteck geholt hatte. Er kannte die Kanäle und das Gebiet hinter den tausend Stadtinseln so genau wie den monatlich wechselnden Inhalt seiner Mietspeicher, trotzdem war er planlos geflohen und hatte hinter jeder Biegung, über jeder Häuserschlucht, unter jeder Durchfahrt eine Sperre der Banditen erwartet. Jetzt, angesichts der grünen Wand aus Kiefern und undurchdringlichem Unterholz war die Furcht wieder da, ihnen nicht zu entgehn.

Der Männerchor wurde lauter, Felssteine blank wie Speck rissen das Wasser auf und spritzten Huda Schaum ins Gesicht, der schmeckte salzig. Ein dornenbewehrter Zweig riss ihm über die Stirn und hinterließ einen brennenden Strich. Mit einem Draht! erschrak er. Mit einem Lasso oder einem Netz von einem der weit herüberhängenden Äste...! Er hätte keine Chance. Er würde ihren Fallen nicht ausweichen, sie nicht einmal rechtzeitig entdecken können, so sehr war er damit beschäftigt, das Boot auf Kurs zu halten. Trotz des warmblauen Junitags fror er, Hände und Nacken waren klamm, die Beine bis zu den Hüften steif, die krausen braunen Kopfhaare und der Bart seeluftverklebt. Über zwölf Stunden hockte er schon im Boot, er hatte keinen Augenblick angehalten, um auszuruhn, und außer einem erbarmungswürdig faulen Apfel und einem wazzi nichts gegessen. Mit der Morgensonne, die hinter ihm, sehr zögernd, aus dem Meer gestiegen war, hatte er die letzten Stadtbefestigungen passiert und dabei seine einzige Flasche tjølk ausgetrunken und zum Salut über Bord geworfen.

In der einen der beiden Taschen vor seinen Füßen steckten neben ein paar hastig zusammengesuchten Wäschestücken noch zwei Wazzipäckchen, aber er hatte kein Verlangen nach ihnen. Diese mehlig-trocknen Scheiben, die seine Eltern andächtig »Knäckebrot« genannt hatten, waren in den ersten Jahren seiner Kindheit Hauptnahrungsmittel gewesen. Sie lagen klebrig-satt auf der Zunge, machten den Hals taub und quollen, sobald man ein Getränk nachschüttete. Offenbar waren die guten alten Rezepte verlorengegangen oder die Erinnerungen seiner Eltern wehmütig verklärt wie alles, was damals gewesen war.

Die andre kleine Segeltuchtasche enthielt, was ihm aus den letzten zwei Jahren geblieben war, Zahlungsmittel im Wert einiger tausend Kronen, eine Blechkarte, die ihn als Mitglied der Internationalen Händler-Union auswies, struppige Lemmingfelle, das angesengte Hauptbuch und eine dieser seltenen Fotografien. Das war eine Kunst, auf die man sich früher verstanden und die ganz besonders dazu beigetragen hatte, Vergangenes in prächtigem Dekor erscheinen zu lassen. Denn Fotografien haben die Eigenschaft, Erinnerungen zu Phantasiegemälden zu machen, von denen die Menschen meinen, sie gäben die Wirklichkeit wieder. Das Foto stellte seine Eltern mit dem damals einjährigen Huda dar, seine Mutter, kurz vor ihrer zweiten Entbindung, wirklich ungewohnt zerbrechlich, und der Mann neben ihr sah aus wie ein zu allem entschlossener Imperator, kurz bevor er fremdes Land betritt.

Das Foto würde die Svatters nicht interessieren, auch das Hauptbuch nicht, und die paar tausend Kronen konnten sie leichter haben, als einen Kajakfahrer durch unwegsames Land zu verfolgen. Aber sie hatten die Waffe in seiner Hand gesehn, seine Hellberger, mit der er wie mit einem Vaterunser aus dem brennenden Haus mitten zwischen sie gesprungen war. Wegen dieser Waffe würden sie ihn bis zum Pol verfolgen.

Es gab nur noch sehr wenige Photonenpistolen, fast alle waren schon um die Jahrtausendwende leergeschossen und weggeworfen worden, denn niemand war imstande, sie neu zu laden. Ob wirklich ein Mann namens Hellberger sie erfunden hatte? Sie tauchte in der Zeit des Zusammenbruchs zuerst in Leningrad auf, vermutlich der Prototyp einer Armeepistole. Huda hatte von atlantiküberquerenden Händlern gehört, auch in Kanada wären Exemplare gesehen worden, und ein Kaufmann in Neu Tromsø sollte eine vergoldete und in Holz gerahmte über seinem Tresor hängen haben. Hudas Hellberger hatte sein Vater aus Riga mitgebracht und stets in einem Geheimfach im Kontor aufbewahrt. Diese zierliche, kaum handgroße Waffe mit dem seltsam dünnen Lauf bedeutete Macht über alle, die nur Pulver, Speere oder Messer besaßen. Sie durchbohrte jeden Schutz und vernichtete lautlos wie der Biss einer Giftschlange. Huda spürte sie jetzt nicht, aber er wusste, sie steckte in der rechten Wadentasche, und er war entschlossen, sie zu benutzen.

Der Sund, auf dem er westwärts floh, verengte sich hier auf wenige hundert Meter und mündete in die Sveafälle. Unterhalb des alten Stockholm, woher er kam, liegen die Küsten dreißig Kilometer auseinander. Gegen Mittag hatte er den Abstand nach beiden Seiten noch auf zwölf Kilometer geschätzt, genug, um vor Angriffen von Land geschützt zu sein. Flach und klar hatte sich das Wasser ausgebreitet, hohe Zirruswolken blickten aus dem Spiegel, manchmal pflügten Möwen ihre Fangspur hinein, dann verebbten die feinen Wellen, und nichts blieb als der Vogelschrei in der Stille des Tages.

Jetzt war das Wasser in Aufruhr. Zwischen dem Nord- und dem Südufer bleckten Steinreihen, Schaum brach sich an Felseninseln, an Baumstämmen und sperrigen Zivilisationstrümmern. Huda war mit dem Kajak aufgewachsen, der ist das wichtigste Gefährt in den Inselwelten der Stadt. Ohne Kajak ist man wie ohne Beine, und sogar im Winter, wenn Seen und Kanäle einmal zugefroren sein sollten, gleitet man mit dem Kajak übers Eis. Im Kajak hatte er zwischen Vaters Füßen gekuschelt, kaum dass er laufen konnte, und das grollende schmatzende Geräusch stürzenden Wassers war damals, als die Fluten durch die Häuser brachen, sein Märchenlied gewesen.

Der Sog wurde immer stärker. Huda übersprang Steinplatten und wirbelte um Felsen herum, mal schwappte ihm die Uferwand entgegen, mal sah er nur noch einen Vorhang aus Gischt. Der Männerchor stieg in schrilles Crescendo. Plötzlich Kippen, nichts mehr unter ihm, sein Kajak fällt, Bugspitze voran, zwischen Felsblöcken durch den Vorhang hindurch. Im Fallen sieht er seinen Vater wie auf dem Foto, den galizischen Kaufmann Ef Leblinski, R 1170 419 M, sehr steif und aufrecht an der Reling, neben ihm Dora Leblinski, geborene Ernuleit, sie trägt eine weiße Kappe, und daraus wachsen der Mast des Fährschiffs und der Rettungsring. Vater hat den oberen Teil des Mantels aufgeknöpft; neben der Auswandererkarte, die ihm vorschriftsmäßig um den Hals hängt, blinzelt das Baby in die schwarzweiße Welt, leicht vergilbt und unscharf, so dass man nicht erkennen kann, ob ängstlich oder forsch.

Huda ging unter und spürte den Schlag gegen die Schläfe nicht mehr. Der Chor fror ein wie die alten Tage auf dem Foto, und als er ihn nach langer Pause wieder hörte, schien er fern und lieblich. Huda schaukelte in einer Wiege, das Holzgestell ächzte im Takt, und Wasser lief durch ihn hindurch. Vor seinen Augen schwankten die Trossen des Fährdampfers. Noch immer meinte er, das Gesicht seines Vaters wäre zum Greifen nah, und er fühlte sich klein wie Tamme, die noch in Mammis Bauch war. Dann erschien eine Spinne zwischen den Seilen, so nah, dass ihr Pelz seine schmerzende Stirn berührte. Er versuchte, sich aufzurichten, und merkte, dass sein Arm eingeklemmt war.

Er lag im Geröll einer kleinen Bucht mit dem Gesicht zwischen Zweigen eines Hartriegelstrauchs. Der Kajak, noch fest um seinen Leib geknüpft, schwappte im Wellenschlag auf und nieder, der Bug war seltsam verrenkt. Hudas linker Arm steckte in einer Felsspalte und war ohne Gefühl, vielleicht verletzt; mit der freien Hand begann er, ihn herauszuziehen. Erstaunt, außer Schrammen und Abschürfungen keine Schäden zu finden, bewegte er die Finger. Auch die Knochen schienen ganz, und er konnte sich aufstützen. Was er sah, nahm ihn ganz gefangen. Er saß auf einer kleinen Insel mitten im Strom, und viele solcher Inseln waren ringsum und darüber ein mächtiger Dom aus kugelrunden Felssteinen, überwachsen von jahrhundertealtem Kieferngeäst und Eschenlaub und grausilbernen Erlenzweigen. Die Schlucht war hundert Meter breit oder breiter, am oberen Eingang ein Orgelpfeifenwerk aus stürzendem Wasser, das wälzte sich wie an heidnischen Altären vorbei und durch steinerne Bankreihen hindurch, schäumte über Götterfiguren und spuckte in alle Nischen und drängte hinaus, der untergehenden Sonne entgegen. Die tauchte den Dom in rosafarbenes Licht, die Steine leuchteten rosa, die Schatten, das Laub auf der kleinen Insel und am Ufer, die Wellen und der Kajak. Huda zog das Boot aufs Trockene. Die beiden Segeltuchtaschen steckten noch drin, aber der Bugsteven war weg, den fand er zersplittert im Achterteil. Er holte ein Wazzipäckchen hervor, das Kauen schmerzte, aber der Magen grunzte.

Nach dieser Wiedererweckungsmahlzeit richtete er den Kajak. Er zog das Messer aus dem Ärmel und schnitzte aus einem Kiefernast einen neuen Steven. Schließlich hielt er einen dreißig Zentimeter langen Knüppel in der Hand, der ihm passend schien. Die Reparatur des Bootes brauchte einige Zeit, und als er fertig war, hatte sich die Sonne hinter den Domtürmen verkrochen. Es war ein Augenblick erfüllter Stille, ein Abend wie ein Morgen. Huda schob den Kajak unter den Busch und legte sich daneben. Bevor ihm die Augen zufielen, tastete er zur rechten Wadentasche, und so, mit der Hand auf der Hellberger, schlief er ein.

 

2.

 

 

 

 

Es wurde eine lange Nacht, traumlos zuerst und dann, schon im Sonnenaufgang, in ächzender Erinnerung an Tamme. Tamme, ein Jahr jünger und immer schneller und mutiger als Huda, war ein hageres, zähes Mädchen mit rostigen Haaren und weißer, braunfleckiger Haut. In Zeiten, in denen der Pelzkaufmann Leblinski auf Reisen war, um Ware zu kaufen oder zu verkaufen (und diese Reisen dauerten überaus lange und garantierten keineswegs die Existenz der Familie), ging sie plündern.

Die Methode, in den Trümmern der Stadt nach Essbarem zu suchen, war zwar üblich, aber von Jahr zu Jahr  gefährlicher geworden. Die Lebensmitteldepots aus der Zeit vor dem Zusammenbruch und die Lager der ehemaligen Kaufhäuser waren längst leer, und auch die privaten Vorratskammern, so geheim sie gewesen sein mochten. Tamme war findig, besonders bei Kajaktouren durch die abgesoffenen Häuser der südlichen, nicht mehr von Land her zugänglichen Stadtzentren. Sie kletterte ins Gebälk und tauchte in Kellerräume und brachte oft sechs oder sogar acht der begehrten Dosen mit. Huda meinte, die Menschen früher müssten überhaupt nur Nahrung aus Dosen zu sich genommen haben, so unerschöpflich schien das, was sie hinterlassen hatten. Manchmal nahm ihn Tamme mit, aber er war ungeschickt und für sie eher hinderlich. Er wusste auch nicht, wie man die Beute am Körper versteckte, damit man anderen Kindern nicht auffiel und nicht ausgeraubt wurde. Er trug sie im Rucksack, doch wehe; wenn man so nachts im Revier angetroffen wurde! Da wurde oft mehr als nur ein Trägerriemen abgeschnitten.

Tamme knöpfte sich zu Hause auf, und die Ergebnisse ihrer Streifzüge purzelten aus ihrer Kleidung heraus, und Huda schlug die Büchsen und Plastikschachteln mit Vaters Werkzeug auf. Wenn der endlich hungrig und erschöpft zurückkehrte, nahm er gern von dem, was Tamme besorgt hatte. Manchmal klotzte er einen Lederbeutel mit Kronen auf den Tisch, und Mammi nahm die Goldmünzen heraus und sagte: »Ich hatte schon fast vergessen, wie Geld aussieht«, und biss hinein, weil jeder wusste, dass mehr unechte als echte Stücke im Umlauf waren. Dass es früher einmal Geld aus schlechtem Metall oder sogar aus Papier gegeben haben sollte, darüber lachten die Kinder nur. Sie kannten den Tauschwert des Goldes genau, und den Tag, an dem Tamme eine kleine Truhe voll alter Schmuckstücke gefunden hatte, feierten sie noch lange.

Huda träumte, wieder mit ihr zusammen auf Streifzug zu sein. Sie kletterten in einer gewaltigen, rosa leuchtenden Ruine herum, Wände und Säulen standen im Wasser und Baumäste hingen zu den Fensterhöhlen herein. An der Stirnwand dieses Riesenhauses wuchsen glitzernde Orgelpfeifen in den Himmel, und davor tanzte ein Chor der Svatters, die warfen brennende Speere und johlten, wenn sie trafen, und Huda sah Tamme in Flammen. Er schrie, aber da war kein Schrei, er würgte, und ein vergilbter Hut und Mast und Rettungsring kollerten ihm aus dem Mund. »Tamme!« Er schluckte. Durch die Zweige des Hartriegelstrauchs sah er den stillweiten Himmel über sich, das Wasser hatte eine leise, vieltönige Melodie, darüber waren Vogelträllern und der Trompetenton der Möwen. Eine Eidechse schlüpfte aus den Steinen, er griff nach ihr und wunderte sich, dass sie stillhielt. Eine Saurierminiatur, dachte er, ein Wesen der Vergangenheit für die nächste Jahrmillion? Das Meer ist in die Sveafälle zurückgekehrt, die Monsterstädte sind untergegangen, der Himmel hat neue Reiche gemacht. Ob wir stillhalten oder weiterfliehen, so oder so, wir laufen dem Kommenden immer hinterher...

Das Tier in seiner Hand war kühl; jetzt merkte er, wie sehr die Morgensonne wärmte. Seine Drillichhose mit den vier aufgesetzten Taschen und das weitgeschnittene Hemd waren trocken. Er reckte sich, kam auf die Füße und zog das Boot unter dem Busch hervor. Er hatte Lust, die Eidechse mitzunehmen, aber schließlich setzte er sie auf die Felsplatte zurück.

»Du hast hier deine Oase gefunden, sie gehört dir«, sagte er, »es ist meine Reise, nicht deine«, und stieß ab. Die schnelle Fahrt durch das Tal des Doms brachte ihm Spaß, dann verließ er die rosafarbenen Felsen, und der Sund weitete sich in eine fruchtbare Ebene. Auf Hügeln standen Bauernhöfe,  einige schienen verlassen, manchmal entdeckte er Vieh. Die Strömung schob ihn noch, aber er musste schon wieder kräftig einstechen. So erreichte er den Vänern-See, der jetzt wieder Teil des Meeres geworden war. Eine baumbestandene Bucht zog ihn an. Der gestrige Tag hatte viel Kraft gekostet; heute, meinte er, müsste er damit sparsamer umgehen.

Kieselsteine knirschten unter seinem Boot. Er stieg aus, zog es ganz auf den Strand und setzte sich in den Schatten von Kiefern. Da wuchsen so viele Walderdbeeren, dass er in kurzer -Zeit satt wurde, sich behaglich streckte und hinausblickte. Er sah hinter der Bucht wieder eine und noch eine Bucht, und weiter weg wurde das Land steiler, felsiger, und er sah die schwarzen Schatten der Berge unterm Horizont. Die lockten ihn. Einen Augenblick lang glaubte er, fernab Segel zu sehn, Schemen wie Schiffe auf Nordkurs, aber als er noch einmal hinschaute, blieb im Dunst nichts als ein Vogelschwarm.

»Verschwinde!«, sagte eine grobe Stimme hinter ihm. Er hatte die beiden Männer nicht kommen gehört. Die ledergekleideten, langbärtigen Kerle hielten doppelläufige Bärentöter auf ihn gerichtet und machten mit den Mündungen unmissverständliche Bewegungen. »Du bist ein Städter! Hättest du mehr bei dir als nur das Messer, hätten wir dich sofort abgeknallt. Verschwinde, bevor wir's tun!«

Huda bewegte sich nicht. Er suchte seine Antwort sorgfältig aus und sagte: »Entschuldigt. Ich habe nicht erkannt, dass dies bewohntes Revier ist.«

»Red nicht. Hau ab!«, sagte der eine, und der andre: »Wieso bist du allein? Hab noch nie einen Stadtbanditen allein gesehn. Wo sind die anderen?«

Huda wandte ihnen den Rücken zu und ging, ohne Hast zum Boot. »Ihr habt mich kommen sehen. Ihr wisst, dass ich allein bin. Natürlich wisst ihr auch, dass ich kein Svatter bin.«

»Quatsch nicht! Verschwinde! Komm nie wieder hierher!«

Und während er den Kajak aufs Wasser zurückschob, beobachtete er die beiden, die zu den Häusern zurückstapften, ohne sich noch einmal nach ihm umzusehn. Ich bin für sie keine Gefahr, vermutete er. Aber erst, als er aus der Bucht glitt, bemerkte er über den Kiefern den Hochstand. Da plötzlich hatte er's eilig, außer Schussweite zu kommen, und so lange die Bucht noch hinter ihm war, spürte er den Feldstecher des Ausgucks im Rücken.

Ich muss vorsichtiger werden, dachte er und sah Tammes böse Blicke vor sich. Du siehst, Schwesterchen, ich hab's immer noch nicht begriffen, immer noch unterlaufen mir tödliche Fehler. Du hättest den Hochstand eher als die Bäume und die Bucht ausgemacht. Er versuchte, sich an Tammes Verhaltensregeln zu erinnern, schmeckte auf der Zunge den herben Saft der Erdbeeren und grinste.

Er kam nach Karlstad oder dem, was von dem Ort übriggeblieben war. Der Name war ihm geläufig, denn in den nordwestlichen Stadtteilen von Stockholm gibt es immer noch Wegweiser, die hierherzeigen, auch wenn die Straßen längst geborsten, zugewachsen oder überflutet sind. KARLSTAD stand auch an einem hohläugigen Autobus, der an Hudas Schulweg liegengeblieben war und der seine Phantasie beflügelt hatte, wie prachtvoll man früher gereist war. Aus einer Flussmündung ragte ihm ein finsteres, aus dunkelrotem Stein gefügtes Gebäude entgegen. Tief unten im Wasser hatte es zwei Höhlen oder Kammern, die den Bau wie versteinerte Wurzeln umgaben. (Vor vielen Jahren, als der Wasserstand niedriger gewesen war, hatten sie den Fluss gehindert, den Vänern zu erreichen.) An dem Steinklotz waren in verschiedenen Höhen Isolatoren befestigt, von denen fingerdicker Draht herabhing, offenbar der Anfang einer gewaltigen Stromleitung. Er stoppte und versuchte, eine Öffnung in dem Klotz zu finden, und schließlich gelang ihm ein Blick hinein. Von griesen grünen Seepflanzen umschlungen, war da ein Generator, ein Ungetüm, wie Huda es noch nie gesehen hatte, denn in der Stadt, aus der er kam, waren die Lichtmaschinen selten größer als ein Rucksack. In fast jedem Haus gab's eine, man trieb sie über Windmühlenflügel oder mit Schaufelrädern an, über die man Wasser leitete. Von seinem Vater hatte er gehört, in einigen bäuerlichen Betrieben würden Generatoren auch mit Tiermist angetrieben, aber wie das geschah, war unklar geblieben. Hatte man die aufsteigenden Gase aufgefangen und über eine Turbine geleitet? Vaters Berichte waren nie präzise, eher skurril und exotisch und auf märchenhafte Weise wunderbar gewesen, sie hatten sich unter die Lieder gemischt, die Hudas Mutter in einer fremdartigen Sprache zu singen pflegte... Himmelslichter, Meeresleuchten... leuchtende Rohre... leuchtende Kühe... tief unten, unter den Seepflanzen, schlief der Generatormann, der nøk, der Kinder zu sich lockt...

Ein Geräusch, ein Scharren oder Schnaufen, lenkte seinen Blick auf das östliche, unverändert föhrenschwarze Ufer, dann prüfte er auch das westliche. Da waren Birken und hohes Gras auf Hügeln, Weizenhalme und Margueritenblüten und knackrote Hagebutten, Steine wie Greifenvogeleier und Bergwände, aus denen Fetthenne spross. Keine Bewegung, auch flussaufwärts nicht, Wasser und Wind ganz mückenstumm, und schließlich schob er den Kajak sacht um den Steinklotz und starrte noch einmal zu dem Uferstück hinüber, auf das sein Blick zuerst gefallen war, und nach einer Weile teilte sich das Unterholz, und ein Braunbär erschien am Fluss, ein zentnerschwerer, fast ausgewachsener Kerl, der seine Nase behutsam in das blanke Wasser stippte. Würde er, vom ranzigen Stadtgeruch angelockt, herüberschwimmen? War er jung, nervös und unerfahren, um einen Angriff zu riskieren, oder schon alt genug, Menschen aus dem Weg zu gehn? Huda dachte: Tamme hilf! und hielt sich im Schatten der Steininsel und rührte sich nicht, bis das Tier weitergetrottet war.

Dann trieb er den Kajak dem gegenüberliegenden Ufer zu und mit kräftigen Schlägen stromaufwärts. Ab und zu tauchten jetzt Gehöfte oder kleine Ansiedlungen auf, aber er sah keine Menschen. Er beobachtete Masten mit Windmühlen, Wachtürme und Hochsitze, und hielt das Boot in Strommitte. Der Fluss war breit wie ein Fjord und mit vielen kleinen Klippen und Schären. Huda wusste, die Reaktion der beiden Bauern in der Mittagsbucht war keine Ausnahme gewesen. Niemand mochte Fremde. Wenn man, wie sein Vater, während langer Handelsreisen auf Stützpunkte angewiesen war, musste man Leute kennen, die zwischen Fremden und Bauern vermitteln konnten. Solche Bürger öffneten Reisenden die Höfe, garantierten Nachtruhe, Verpflegung und frische Pack- und Reittiere und gaben dem Bauern die Gewissheit, einen Handelsmann und nicht den Vorreiter einer Svatterbande zu beherbergen. Denn nach dem Zusammenbruch hatten Städter das Land überrannt und Schlimmes angerichtet. Dann waren die Terroristen gekommen, die Höfe anzündeten, Bauernfamilien mordeten und alles mitnahmen, was die Städter übriggelassen hatten. Waren sie weg, war den überlebenden kaum Zeit geblieben, bis die nächsten eingefallen waren.

An diese Jahre dachte man hier mit Zorn und Schrecken zurück. Und die Jüngeren, die sie nicht miterlebt hatten, übernahmen, was ihnen so eindringlich geschildert worden war. Seither galt auf dem Land jeder Fremde als Mitglied einer Stadtbande. Andererseits war auch die Angst der Städter vor den Bauern groß. Sie hielten sie für schießwütig, dumm und sektiererisch und erzählten, die Landbevölkerung könnte nicht lesen und schreiben, überhaupt wäre ihr jede Kultur abhandengekommen, sie lebte ohne Sitte und Gesetz in Horden und müsste in absehbarer Zukunft von den Städten aus wieder zivilisiert werden. Huda murmelte den Vers, den er in der ersten Schulklasse gelernt hatte:

 

»Der Boss dein Herr und Freund,

der es gut mit dir meint,

der Gottes Engel um sich schart

und dich vor bösen Bauern bewahrt.«

 

Die Luft vibrierte, oder war's die Wasseroberfläche, der Kajak schwebte zwischen Tag und Tiefe, wie weggewischt schienen Wald und Wachtürme und Wiesen und Weizenfelder. Der Himmel floss heran und umspülte Hudas Ohren, Töne von nirgendwoher, Sphärenmusik und ein unirdisches Echo tief in seiner Brust. Er öffnete sich widerstandslos und ließ das Himmelsrosa ein, und nach einer Weile wurde es Sepia und wehmütig. Im dunklen Spiegel des Wassers sah er Bäume, Blüten und Kieselsteinbuchten, und dann, über Kopf, zwei lichtblaue menschliche Gestalten, und sein Kajak glitt durch sie hindurch. Als er aufblickte, bemerkte er die Frau und den Mann über sich auf einem gelbgeblümten Hang, beide trugen kurze, wollne Kittel und schulterlange Haare, die der Frau waren moorbraun und die des Mannes weiß. Der spielte auf einer Gitarre oder Laute, die er mit einem Bogen strich, und die Frau sang. Die Farben mischten sich und kehrten an ihre Plätze zurück, und der Mann legte das Instrument zur Seite, und die Frau winkte.

Im Rosarausch glitt Huda näher, da sah er neben der Gitarre das doppelläufige Gewehr. Jäh wachte er auf. Eine Falle? Hatte er wieder einen Wachturm übersehen, oder den Draht oder ein Netz, am Ufer verankert? Er drehte den Kajak über Heck und steuerte in Kreuzfahrt auf eine schützende Klippe zu, erwartete den Schuss und war bereit, in blitzschneller Rolle auszuweichen. Als er schließlich, viele hundert Meter flussaufwärts, die Arme sinken ließ und sich umblickte, waren Moorfrau und Nebelmann nicht mehr zu sehen, nur noch Margueritenweiß und Hagebuttenrot und der sepiafarbene, ganz und gar unsentimentale Himmel, und von der Sphärenmusik war nur das ziemlich penetrante Kichern eines Feldvogels übriggeblieben.

Stunden später wurde die Sonne flach, die Berge im Nordwesten schimmerten goldkalt, durch die dünne Fellwand des Bootes hindurch spürte Huda die Gletscherschmelze. Er zog einen weiten Bogen über den Fluss, sah aber keine Insel. Die Bucht, die er schließlich geeignet fand, lag zwischen zwei Landzungen, die Gegend dahinter war heidebewachsen, gut überschaubar und leer, keine Windmühlen, keine Wachtürme, kein dichtes Buschwerk, nur einzelne Wacholdersträucher, spitzhütig wie Trolle. Huda hob den Kajak ins Schilf, das die südliche Landzunge umstand, aß den Inhalt des letzten Wazzipäckchens und trank dazu aus dem Fluss. Der Mehlkloß im Hals sackte wie ein Stein in seine Därme.

Die Nacht war ohne Stern, so hell blieb der Horizont, das bleiche Licht tunkte Heidelandschaft und Fluss in Einsamkeit. Eine Weite, wie Huda sie nie erlebt hat, klein ist er, mutlos, in dieser Juninacht friert er und zweifelt, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Da hört er wieder dies Schnaufen und Scharren, unheimlich schnell ist das Raubtier da, die Krallen reißen ihm die Schulter auf, bevor er das Messer in der Hand hat. Das Maul schnappt nach ihm, er rollt zur Seite, springt auf und wird wieder umgestoßen. Warmes Blut spritzt über sein Gesicht, er weiß nicht, ob's sein eignes ist. Er sticht so tief in den Leib, dass schließlich sein Messer drinbleibt, und erst, als ihm eine Pranke das rechte Bein zerschlägt, erinnert er sich der Photonenpistole. Schmerz und Blut lassen ihn blind werden, er hört, als der Bär auf den Kajak fällt, Splittern und Knirschen, dann nur noch Töne warm wie Blütentanz...

Er muss die Blutungen stoppen. Er zwingt sich hoch und richtet das gebrochne Bein und umwickelt es stramm mit den Resten seines Ärmels, und den Pistolenlauf benutzt er als Schiene. Dann will er zu seiner Tasche kriechen, um etwas zu finden, womit er die Schulter verbinden könnte, aber jetzt sind seine Kräfte am Ende. Er sackt zwischen die Schenkel des toten Tiers. Tamme, hol mich hier raus! sagt er stumm. Schlaf schwemmt ihn weg.

 

 

 

 

 

3.

 

 

 

In der Fischhalle ging's laut zu. Der Morgen hatte den flachen Holzbau zwischen den Klippen noch nicht erreicht, Boote mit nachtblauen Segeln machten am Steg fest, die letzten kamen noch das Frykental herauf, angelockt vom Licht einiger Dutzend Glühbirnen. Frauen, Männer und Kinder in bunten Kitteln trugen den Fang herein und sortierten. Das war die Stunde für Hallobegrüßungen, eine Nachrichten- und Klatschbörse zwischen Dorsch, Plötzen und Forellen. Auf einem Podest in der Mitte der Halle stand ein Mann, dem jeder Fischer einen Zettel mit den Fangergebnissen brachte, der schrieb sie in ein Buch. Fischfisch, machte er dabei und rümpfte die Nase, fischfischfisch.

»Lachs von den Elchwiesen!«, sagte einer und stieß ihm den Zettel auf die Brust, er schaute kurz auf und murmelte: »Respekt, Respekt.«

»In gute, wunderbar geronnene Milch eingelegt. Elchmilch, Timo! Elchmilch.«

Er klappte das Buch zu, nahm die Brille ab, starrte an dem Fischer vorbei und auf den Steg hinaus.

Unten am Ende des Hafens, wo der Fryken silbern wird, stieg eine junge Frau aus dem Wasser, wrang die langen Haare aus und hob ein Handtuch auf und wickelte sich hinein und winkte dabei einem hereinfahrenden Fischerboot zu.

»He! He, Timo!« Eine Fischerin hielt ihm ihren Zettel bis vor die Knollennase. »He Timo! Schreib auf!«

Man sollte so viel Rücksicht aufbringen, während der Fischanlandung nicht zu baden! Er schluckte und klappte das Buch wieder auf. Die Fischerin sagte: »Leoni? Die ist im Wasser zur Welt gekommen.«

Das war so eine Redensart im Dorf. Jeder wusste, dass sie morgens durch die Bucht schwamm, im Juni und auch im Dezember, schnell wie olympische Zehntelsekundenjäger (erzählten die Alten) und als ob sie durch Kiemen atmete (sagte Timo). Wenn, zum Ende der Nacht, die Boote mit den blauen Segeln zurückkehrten, kraulte sie ihnen entgegen und kletterte an Bord und sprang vom Steven aus wieder ins Wasser, und alle Fischersleute salutierten. Wär sie ein Stadtkind, dachte er, wäre sie längst Boss einer Svatterbande, die berühmteste Chefin der berühmtesten Svatterbande.

»Im Wasser«, sagte er.

Der sortierte Fang wurde vor die Halle geschafft, auf Dampfwagen geladen und ins Dorf gebracht. Das letzte Boot machte am Steg fest, weit draußen, wo Leoni gerade in ihren Kittel geschlüpft war, und er ging hin, um den Zettel abzukassieren und »hej Leoni« zu sagen und einen Augenblick länger neben ihr stehenzubleiben und ihre kühle Wärme zu riechen. Denn er liebte sie so, wie alle im Dorf sie liebten, und noch ein bisschen anders, weil er sie schon geliebt hatte, als sie noch klein und stupsnasig wie eine Forelle im März gewesen war, damals vor achtzehn Jahren in den ersten Tagen von Torsby.

Sie sprach mit den Fischern, aber er konnte nicht verstehn, worüber. Als sie ihn kommen sah, winkte sie ihm. Er war wie ein Ball, er rollte, wenn er rannte. Er rollte bis ans Ende des Stegs, sie rief: »Eine Bahre.« Das letzte Boot hatte einen Mann an Bord, der blutverkrustet und besinnungslos war, und sein rechtes Bein war gebrochen und notdürftig geschient.

Timo rannte. Die Fischer hoben den Mann über die Reling und trugen ihn in die Halle, und die ganze Zeit hielt er ein langes, sehr blutiges Messer in der Hand. Leoni ging neben ihm und sah den tiefen Riss hinter seinem Ohr und auf der Schulter, und da, wo das Hemd zerfetzt war, eine Schnur oder Kette mit einem Metallplättchen dran. Parallel zu dem Riss verlief eine zweite, weniger tiefe Kerbe, und am Ende der beiden Wunden war die Haut aufgestülpt.

Sie warteten vorm Hallentor neben den Fischkisten, inzwischen hatte Timo Signal gegeben, und gleich darauf sahn sie den Krankenwagen vom Hospitalhügel herabrollen. Die Pflegerin hielt dem Verletzten ein Fläschchen unter die Nase, fühlte ihm den Puls, schaute unter die Lider und studierte die Wunden. Schließlich nickte sie. Die Fischer luden auf, und gerade, als der Mann an Leoni vorbeigehoben wurde, sah sie ihn die Augen aufschlagen, nussbraune Augen so voll Angst, dass sie erschrak. Aber ihre stumme Antwort schien ihn zu beruhigen, er lächelte, und dann fielen die Augen wieder zu. Der Krankenwagen schnaufte davon, und Timo sagte: »Die haben ihren Kumpan übel zugerichtet.«

»Das waren Bärenkrallen«, sagte sie und ging ins Dorf zurück.

Das liegt auf einem Südhang, der vom Ufer des Fryken zwischen den beiden Zuflüssen Ljusnan und Rojdälv zu mehreren Hügeln ansteigt, und von der Fischhalle aus zieht sich ein leicht geschwungener Weg zwischen flachen, meist rotgestrichenen Häusern hinauf bis zum Hospital, das damals, als die Siedler kamen, wiederhergerichtet worden war. Viele Häuser am Hang stammten aus dem vorigen Jahrhundert, die Siedler hatten sie leer vorgefunden, umgebaut oder erweitert und einige einfach abgerissen und dort wieder aufgestellt, wo sie sie brauchten. In den sechzehn Wohn- und Arbeitsgemeinschaften (sie nannten sie Kommunen) lebten jeweils zwanzig, dreißig oder auch vierzig Leute, alte und junge gemeinsam. Die Kommune, zu der Leoni gehörte, lag fast in der Mitte auf einem ungewöhnlich großen Areal. Außer dem Wohnhaus gab es da eine Werkstatthalle mit einer Schmiede, einen Turm mit einer großen weißen Kugel drauf, einen fensterlosen Klotz und eine flache, ovale Kuppel, an die sich dicht wucherndes Buschwerk anschloss. Leoni ging auf den kleinen Bau am Fuß des Turms zu, streckte den Kopf zur Tür hinein und sagte: »Sie haben einen verletzten Städter gefunden.«

Eine Technikerin, die gerade die Wasserzufuhr für die westlich gelegenen Häuser überprüft und reguliert hatte, redete von Druckverlust und bat, die Leitungen bei 14 kontrollieren zu lassen.

»Schwer?«

Leoni dachte an die Risswunde und an das gebrochne Bein. »Er wird durchkommen.«

»Wir brauchen neue Rohre«, sagte die Technikerin.

Leoni ging in die Werkstatt, da fand sie Jovva den Schmied. Der war ein Mann um fünfundfünfzig, mit vielen grauen Stoppeln rings um den Kopf und mit klobigen Schultern und Armen wie Rohrzangen. Die drei Kinder, die um die Esse herumstanden und seinen Erklärungen zuhörten, prüften gegenseitig ihre Muskeln, ob sie auch schon so hart wären wie seine.

»Die Leitungen bei 14 sind dicht«, antwortete er, und die zehnjährige Barbe bestätigte, sie hätten gestern Abend den ganzen Abschnitt durchgemessen.

»Wir brauchen neue Rohre«, sagte Leoni.

Der Weg zum Hospital führt durch den Teil der alten Ortschaft, der nur noch aus überwucherten Fundamenten und Schutt und klapperdürren Birken besteht. Hier hatte es früher auch einen Bahnhof und eine Trasse mit Eisenschienen gegeben, aber jetzt war's ein Feld, auf dem Schafe grasten. Die Weide grenzte an einen mehrstöckigen Gebäudekomplex, von dem nur der vordere Teil erhalten war. Die Leute von Torsby nannten ihn stolz ihre Klinik, aber die Ärzte aus den Hauptstädten dieser Welt des Jahres 2034 hätten vor dem Behandlungsraum und. den Heilzimmern ratlos gestanden. Denn nirgendwo registrierten Computer die Körperfunktionen des Patienten, es gab keine Versorgungsautomaten, keine Herzmaschinen, kein Strahlmesser, nicht einmal eine Anästhesie. Wunden und Operationsschnitte wurden von Hand genäht, und als einziges aseptisches Mittel benutzte man Alkohol.

Huda erwachte aus Gesang. Nicht sepia- und nicht rosafarben, sondern einem achatgrünen Meer aus Tönen, die den Schmerz wegschwemmten. Eben im Traum glaubte er noch, die Frau am Ufer winken zu sehen, und seine Muskeln und Sehnen und Knochen lösten sich in Farben auf und schwebten zu ihr hin, da erwachte er und sah in die Augen, die ihm die Angst genommen hatten.

Leoni war keine Nebelfrau. Sie war so nah wie die Eidechse, und er wollte sie anfassen. Da merkte er, dass noch jemand im Raum war. Die Gesundsängerin, die neben seinem Ohr gehockt hatte, drückte ihn energisch aufs Laken zurück.

»Hörst du mich?«, sagte Leoni.

Er nickte.

»Kannst du reden?«

In ihren Augen war das Grün der Töne, die ihn geweckt hatten.

»Fühlst du Schmerz?«

Nein.

»Schwäche?«

Nein.

»Angst?«

Er dachte an Tamme, aber Leonis Augen löschten diese Erinnerung.

»Woher kommst du?«

Ich.

»Magst du sagen, woher du kommst?«

»Aus der Stadt.«

»Aus welcher Stadt?«

Der Dom. Sie waren ihm gefolgt. Sie hatten ihn bis zum rosasteinernen Dom verfolgt...

»Sie werden hierherkommen.«

Ihre dunkle Stimme war wie schon-immer-vertraut und ganz ohne Spuren dessen, was Furcht anrichten kann. »Aus welcher Stadt?«

Kaufhausruinen. Untergegangene Türme und Kuppeln. Hochhäuser, vom Rost geborsten. Mauern. Straßen, die nirgendwohin führen. Schutzzäune. Waffen.

Er wollte zur Wadentasche greifen, aber die Frau neben ihm hinderte ihn. Schmerz zuckte auf.

»Du bist hier sicher«, sagte Leoni.

Sie hatte ein breites, sanftes Gesicht mit hohen Wangenknochen, einer kurzen, geraden Nase und einem langen Kinn. Die hellen Haare fielen weit über ihren Kittel, strähnig und als ob sie noch ein bisschen nass wären.

»Bleib!« bat er. Sie sagte: »In zwei Stunden bin ich wieder da.«

Als sie den staubigen Weg zum Wasserturm zurückging, spielte sie mit dem Metallplättchen, das er am Hals getragen hatte.

 

 

 

 

 

4.

 

 

 

»LEBLINSKI+HUDA+5+8+2009 15+STHLM+204

INTERNATIONALE HÄNDLERUNION

VERB+NORDEUROPA+NEU-TROMS0«,

las sie vor. »In drei Tagen kannst du das Bett verlassen,

Huda. Wohin wirst du gehen?«

Er antwortete: »Weiß nicht.« Aber seine Augen hatten eine andre Antwort.

»Leoni.«

»Willst du bei uns bleiben?«

Er saß, in die Kissen gelehnt, die Schulter frisch verbunden, sein Oberkörper war bemitleidenswert bleich, und das rechte Bein steckte noch vom Knie ab zwischen Schienen. Er sagte: »Meine Hellberger?« Sie deutete auf das Schränkchen, und er glaubte ihr und sah nicht nach. »Wer seid ihr?«

»Die Leute von Torsby.«

»Hast du mich gefunden?«

Sie erzählte von den Fischern.

»Hab keine Boote gesehn.«

Sie segelten in der frühen Nacht, erklärte sie, um am Morgen bei den Fangplätzen zu sein, und anderntags kämen sie den Fryken wieder herauf.

»Aus Vorsicht?«, sagte er. »Sie nutzen den Schutz der Dunkelheit, um nicht angegriffen zu werden?«

Diese Zeiteinteilung hätte sich im Lauf vieler Jahre als praktisch erwiesen, erwiderte sie. Ihm war, als wiche sie ihm aus.

Er dehnte sich, reckte den Hals, die Wunden waren kaum noch zu spüren. Plötzlich schwenkte er die Beine aus dem Bett und setzte das gesunde auf den Boden, sie sagte: »Der Bruch braucht noch drei Tage Schonung.«

»Es geht schon«, behauptete er und stand schief, den rechten Fuß hochgezogen, wacklig wie einer, der Tapferkeit beweisen muss. Er war kaum größer als Leoni, sehr sehnig, krause Haare bedeckten seine Brust, seinen Bauch und seine Beine. Er hatte hellbraune, tiefliegende Augen und eine scharfe Nase, und der Bart, ziemlich struppig, verdeckte seine weichen Lippen. Er spannte die Muskeln und zuckte zusammen, sie sagte: »Keine Sorge! Beim letzten Tag des Festes bist du dabei.«

Am nächsten Morgen brachte sie ihm eine Krücke und einen Kittel, der reichte knapp bis zum Knie und war vorn zu knöpfen (so wie ihr eigener), und als er an ihrem Arm hinaushüpfte, sah er alle Leute diese Kittel tragen. Durch das grobmaschige Gewebe hindurch wärmte die Sonne, auch wenn sie hinter Wolken verschwand, Wind fing sich darin, und wenn es regnete, blieben die Tropfen auf den Fäden, als wären die aus Wachs. Einige Dorfbewohner, meist ältere, trugen Mützen aus dem gleichen Gewebe, und in einem Garten sah er einen lederhäutigen Alten, der arbeitete nackt, aber mit Hütchen auf dem kahlen Schädel.

Der Weg vom Hospital hinab ins Dorf war nun nicht mehr staubig, und unten im Frykental gab's viel Dunst, und auch die Berge im Westen und Norden waren weggetaucht. Er sagte, nun wär's aus mit dem Festtagswetter, aber Leoni schüttelte den Kopf und behielt Recht. Tags darauf war das Regengrau abgezogen. Sie saß mit Huda in der steinernen Wärme der Terrasse, die Luft flimmerte wie in den Wochen vor seiner Ankunft.

Er begann zu erzählen, stockend, als ob er nach Worten suchte, aber er stockte, weil sie alle gleichzeitig gesagt werden wollten.

»Ihr habt keine Mauer um euer Gebiet?« Jedes Revier, erzählte er, müsste eine Mauer haben. An den wenigen Durchlässen müssten Wachen stehen, und herein käme nur, wer unbewaffnet wäre.

»Wir sind unbewaffnet«, sagte sie.

Trotz der Wachen würden Messer, Giftflaschen und Bomben geschmuggelt. Er sagte: »Private Fehden«, und stockte.

»Die schwarzen Banden?«

Die Svatters, er nannte sie eine straff geführte Organisation, hätten ihre Kriege untereinander beendet. Die Bandenführer wären ermordet oder dem Boss unterstellt worden. »Der residiert in einer streng bewachten, ehemaligen Kirche hoch über dem Hafen«, erzählte er. »Sie nennen sie die Reichskanzlei.« Er stockte. Vor Jahren, sagte er, als das Wasser des Hafens noch nicht so hoch und das Gebiet unterhalb des Palastes noch bewohnt gewesen war, hätten in diesem alten Bau Parlamentarier das letzte Mal versucht, eine demokratische Regierung einzusetzen.

»Parlamentarier?«

Er konnte das Wort nicht erklären.

Eine Zeitlang schwiegen sie beide, dann fing er an, vom Ekolnhafen zu erzählen und von den Handelsschiffen, mit denen er die Küsten entlanggefahren war.

Der Vormittag war unglaublich kurz.

»Die meisten Leute in der Stadt sind dem Boss ergeben«, erzählte er. »Selbstverständlich alle Honoratioren, und die Präsidenten der Zünfte, die Standeswächter und der Polizeichef. Ohne den Boss geht nichts.« Er sagte, wer auch nur in den Verdacht geriete, gegen den Boss zu sein, verfiele dem Standrecht.

»Recht?«, fragte Leoni.

Die Svatters machten die Gesetze, erzählte er. Jeden Abend müsste man ihre Radiostation abhören, um zu wissen, was gilt und was verboten ist. Er sagte: »Ich habe jede Anordnung im Wohnzimmer auf die Tapete geschrieben.«

»Warum seid ihr nicht weggegangen?«

Er sah sie an.

Sie sagte zärtlich: »Warum habt ihr euch keinen anderen Ort gesucht?«

Die Südsonne drückte auf die Terrasse.

»Wir...«, sagte er und stockte.

»Ihre Macht reicht nicht weit über Stockholm hinaus.«

Zum ersten Mal hatte sie den Namen der Stadt ausgesprochen, und ihr war, als wollte er sich nicht erinnern.

»Entschuldige.«

»Du verstehst?«, sagte er hastig. »Die Liste auf der Wohnzimmertapete.«

Aus den Küchenräumen wehte der Duft von Steaks herüber.

Leoni antwortete: »Du wolltest deine Eltern und Geschwister nicht allein lassen.«

Sein Vater, sagte er, wäre oft Monate, manchmal Jahre weggewesen. Ihm fielen Abenteuer ein, die ihm der reisende Kaufmann Leblinski abends, auf der Kante des Kinderbettes sitzend, erzählt hatte, bunte und, wie ihr schien, romantische Geschichten aus einer Zeit, die Huda »gesetzloser« und »freier«, »hoffnungsvoller« nannte.

Wieder fragte sie: »Gesetz?«

Jetzt redete er eifriger, ganz ohne Punkte, seine Stimme, von Erinnerung gewärmt, war nicht mehr rau. Erst als er seine Mutter erwähnte, stockte er wieder. »Sie war viel krank«, erzählte er. »Ich glaube, sie legte sich absichtlich ins Bett.« Einmal, als ihr Mann nach sechsmonatiger Abwesenheit unversehens in die Tür trat, kippte sie ohnmächtig über den Herd. Leblinski, ohne zu begreifen, stotterte: »Dora, Dora?« Und die Kinder trugen sie die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. »Aus Wut!«, sagte Huda. »Aus Wut ist sie umgefallen. Sie verachtete ihn.«

Leoni, ruhig: »Glaubst du das wirklich?«

Am Nachmittag, sie hatte zusammen mit Huda und anderen Patienten am üblichen dagens smorgäs teilgenommen, folgte er ihr zum Wasserturm. Sie stützte ihn, und er tat, als ob er sich mächtig an sie lehnen müsste. Ihr gefiel das, und als sie stehenblieb und sein Kopf auf ihre Schulter sackte, erwiderte sie die Berührung.

Plötzlich sagte er: »Sie haben ihn mitten in seinem Kontor erschossen.« Ein paar Schritte weiter: »Er hatte keine Chance.« Und als sie den Weg zur Versorgungsstation einbogen: »Vor zwei Jahren.«

Sie hatten den Hauseingang und die Fenster besetzt, zwei waren im Vorraum geblieben, zwei ins Büro eingedrungen. Sie hatten Leblinski keine Zeit gelassen und sofort geschossen. »Standrechtlich.«

»Standrechtlich?«

»Sie haben ihn verurteilt und das Urteil sofort vollstreckt. Ich hab's gehört!«, rief er. »Ich stand hinter der Tür.«

»Du armer Dummkopf«, sagte sie. »Du armer Dummkopf.«

Huda übernahm das Kontor, erhielt aus Neu-Tromsø die Zunftgenehmigung, und die wurde ihm offiziell von einem Vertreter des Bosses überreicht, der eine Rede hielt und ihn »einen treuen Bürger unserer Stadt« nannte. Zu Anfang entwickelte sich das Geschäft unerwartet gut; zu den alten Kunden kamen viele neue. Tamme war jetzt Mitinhaberin, und sie brachte es fertig, so viel Vorschuss aufzutreiben, dass er die Pelze schiffsladungsweise aus Luleå holen konnte. Zwei Mitarbeiter wurden auf Veranlassung der Svatters entlassen, Huda stellte zwei andere ein.

»Der Svatters?«

Er stockte.

Sie führte ihn in den Kontrollraum der Trinkwasserversorgung und erklärte das Netz. »Einen Teil nehmen wir aus dem Ljusnan, das ist der nördliche Frykenzufluss. Das übrige kommt aus einer Bergquelle. Wir führen es über Rohrleitungen in den Turm.«

»Wasser aus Rohren?« Er zog eine Grimasse.

Die meisten Rohre wären noch vorhanden gewesen, sagte sie, als ob's ein Witz wäre, und er lachte.

»Wir haben auch eine zentrale Energieversorgung.«

»Strom?«

»Willst du sie sehen?«

Sie durchquerten den nächsten Raum, da schlapfte eine eiserne Pumpe vor sich hin, und kamen wieder ins Freie und über den Hof in die hochgewölbte, ovale Kuppel.

»Sie haben uns das Haus über dem Kopf angezündet«, sagte Huda. »Ich war gerade aus Luleå zurück und hockte noch zwischen der Ware in unserer Lagerhalle, einem Anbau, in dem früher Benzinkutschen aufbewahrt worden waren. Ich hörte Schüsse, dann sah ich den ganzen Dachstuhl brennen.«

»Warum?«, fragte sie.

»Ich bin ins Haus und durch den Rauch bis nach oben gerannt. Jemand hatte die Tür zu den Privaträumen abgeschlossen. Als ich sie eintrat, schlugen mir schon die Flammen entgegen.« Er starrte sie an. Nach einer langen Pause sagte er: »Zeig mir euren Generator!«

Es war nicht die flache, seltsam gestreckte Form der Lichtmaschine, die ihn so sehr überraschte, auch ihre Größe nicht (die versunkene in Karlstadt war wesentlich größer gewesen), es war dies merkwürdige, fast ebenso gestreckte Gerät, das sie antrieb, ein Rohr, aus dem viele schmalere Rohre herausragten, die in einer Feuerstelle erhitzt wurden. Oberhalb des Hauptrohres saßen zwei Zylinder, die zischend Dampf ausstießen und dabei ein Doppelgestänge hin und her bewegten. Dieses Gestänge setzte die Schubkraft in Drehbewegung um, und ein paar Zahnräder übertrugen sie auf den Stromerzeuger.

»Ich habe so etwas noch nie gesehn«, gestand er.

Sie erklärte: »Wir nutzen den Druck von Wasserdampf, eine Technik, die man schon vor zweitausend Jahren kannte.«

Er betrachtete das Wunder von allen Seiten, den Takt der Ventile, die Räder und die Schubstangen, das Schwungrad und die glühenden Rohre. Niemals hatte sein Vater über solch eine Maschine zu berichten gewusst.

»Dampfkraft?«

Sie sah fast feierlich aus.

Auf dem Weg zum nächsten Gebäude erzählte sie, mit Dampf würde nicht nur Strom erzeugt, sondern sie beheizten damit während der Wintermonate auch die Häuser der Siedlung. »Alle Häuser!«, sagte sie. »Ein unterirdisches System verbindet die Versorgungszentrale mit allen Kommunen. Ist das nicht sehr fortschrittlich?«

Was soll das heißen, dachte er. Ihre Frage schien komisch, aber als er ihr ins Gesicht blickte, merkte er, wie ernst ihr's war. Er sah ihren Stolz, und der verwirrte ihn noch mehr als ihre Offenheit.