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vorsatz
Titelseite

INHALT

Die Nacht des Geistes

Aufruhr in der Eselsgasse

Das Gastmahl

Geheim-Gehämmer

Das Zeichen

In der Höhle des Löwen

Besuch

Tod in der Eselsgasse

Der Fluch in der Leitung

Ans Messer

Das Feuer

Frei!

vor

DIE NACHT DES GEISTES

Es war eine unruhige Nacht. Der Vollmond schien auf das Forum Romanum mit seinen Säulenhallen und Tempeln und eine große schwarze Ratte verjagte drei Mäuse von den Stufen des Cäsartempels. Unten am Tiberufer trieben sich sieben finstere Gestalten herum.

Aber plötzlich huschten auch sie in einen Hauseingang, um sich in Sicherheit zu bringen. Denn im kreisrunden Tempel, der nahe am Fluss stand, regte sich etwas. Rauchschwaden waberten aus der Pforte die Stufen hinab. Dann flackerte das Licht einer Fackel auf. Die sieben Männer umklammerten ihre Messer, als sie ein Tock-tock hörten. Es war ein Geräusch, das nichts Menschliches an sich hatte. Ein Geräusch, das aus dem innersten Heiligtum des unbewohnten Tempels zu kommen schien. „Bloß weg hier, bei allen Göttern!“, raunte einer der sieben seinen Kumpanen zu. Dann rannten sie los, als wäre ihnen der Gott der Unterwelt persönlich auf den Fersen.

Als sie mit einigem Abstand zurück zum Tempel schauten, blieben sie vor Schreck wie angewurzelt stehen.

„Er kommt!“, flüsterte einer.

„Der Dämon der Nacht“, krächzte ein anderer und fasste sich an die Kehle.

Die Erscheinung war riesig, ohne Hände, ohne Füße, ganz in schwarze Tücher gehüllt. Und was das Schrecklichste war: Sie hatte kein Gesicht. Zusammen mit dem Geist quoll eine Wolke aus grünlichem Rauch aus dem Tempel. Er schien darauf zu schweben, als er langsam die Stufen des Tempels auf die Straße hinunterging. Tock-tock hallten seine Schritte. War das ein Bote von Pluto, dem Gott der Toten? Dem Gott der Unterwelt? Die Männer schluckten. Sahen sich an. Und dann rannten sie weg, ohne sich noch einmal umzublicken.

Der Geist aber setzte seinen Weg unbeirrt fort. Er wandte sich nach rechts, ließ den Tiber hinter sich und schritt in die Stadt. Er schien genau zu wissen, wohin er wollte.

Tock-tock, klang es durch die Straßen. Tock-tock, als würde das Unheil an die Türen der schlafenden Römer klopfen.

Auch für die Freunde Remus, Meander und Olivia war diese Nacht nicht besonders erholsam. Meander lag in seinem bequemen Bett und wälzte sich im Schlaf hin und her. Ein Lufthauch bewegte die Vorhänge vor dem Fenster, sodass Mondlicht in zackigen Linien über Meanders verschwitztes Gesicht huschte. Meander hatte einen Albtraum.

Remus hingegen hatte gar kein Bett. Er lag in einer versteckten und verdreckten Nische, ganz in der Nähe der großen Abwasserkanäle, auf einem Strohsack. Remus war ein Sklavenjunge, der seinem Herrn weggelaufen war und somit immer in Gefahr, entdeckt zu werden. Deshalb schlief er lieber nie zu tief ein. Und in dieser Nacht, das spürte Remus, ging etwas Unheimliches vor sich.

Am unruhigsten war die Nacht aber in der Eselsgasse. Olivia lag auf ihrem Lager. Ihr Vater, der Schmied Titus Surdusius, schlief in der Kammer nebenan. Plötzlich schreckte Olivia hoch. Sie hatte von ihrer Mutter geträumt. Ihre Mutter hatte sie im Traum gewarnt. Sie solle sich in Acht nehmen. Aber vor wem? Vor was? Olivia ließ sich auf das Lager zurücksinken. Sie lauschte, ob sie ihren Vater schnarchen hörte. Aber es war still im Nebenzimmer.

Doch da drang etwas an Olivias Ohr, das sie noch nie gehört hatte.

Tock-tock.

Es waren Schritte. Und sie hallten die Eselsgasse herauf.

Olivia lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, obwohl die Nacht warm war. Was war da draußen los?

Wieder hörte sie es. Tock-tock.

Wer oder was auch immer das war – es kam näher. Olivia stand von ihrem Lager auf. Sie trat an die Tür.

Tock-tock. Die Schritte waren jetzt ganz nah. War das etwa wieder einer von drüben? Einer von der anderen, von der rechten Straßenseite der Eselsgasse? Die Bewohner der rechten und der linken Straßenseite führten schon seit einer halben Ewigkeit einen erbitterten Kampf gegeneinander. Denn auf der linken Straßenseite wohnten und arbeiteten die lauten Handwerker: Olivias Vater, ein Kupferschmied und ein Metzger. Außerdem gab es noch eine Gaststätte, in der nachts meist noch kräftig gefeiert wurde. Die rechte Straßenseite war hingegen die der ruhigen Leute: Hier bot ein Tuchhändler seine Ware an, außerdem konnte man Wein kaufen, es gab eine kleine Garküche und die Bäckerei machte das beste Brot des Viertels. Direkt hinter der Häuserzeile der rechten Straßenseite lagen am Hang die Häuser des Senators Gaius Tiberius und das Haus von Meanders Onkel Quintus.

Wann immer etwas in der Eselsgasse gestohlen wurde, verdächtigten die Leute der linken Straßenseite die der rechten und umgekehrt. Meanders Onkel Quintus hatte sich als Fürsprecher der rechten Straßenseite beliebt gemacht. Er hatte dem schweigsamen Tuchhändler ein Spruchband geschenkt, das nun über dessen Ladentür im Wind flatterte. „In der Ruhe keimt das Glück“, stand darauf geschrieben.

Olivias schwerhöriger Vater hatte sich dagegen als Vertreter der lauten linken Seite einen Namen gemacht und hatte ein Holzschild mit dem Spruch „Was lebt, das lärmt!“ an die Werkstatttür gehämmert. Und am liebsten hätte er es wohl über das alberne Spruchband des Tuchhändlers genagelt.

Olivia hasste diesen Krieg der beiden Straßenseiten. Denn wenn es diese Kämpfe nicht gegeben hätte, dann wäre ihre Mutter vermutlich noch am Leben. Sie öffnete die Tür einen Spalt und sah hinaus. Eine schmale Holzstiege führte hinunter auf den engen Hof, der durch ein Tor von der Straße getrennt war. Sie konnte aber von hier oben bequem über das Tor auf die Gasse gucken. Der Vollmond stand so hoch am Himmel, dass sein Licht die Pflastersteine der Straße wie einen silbernen Teppich erscheinen ließ. Für einen Augenblick hörte Olivia nichts mehr. Nur das Rauschen des Schöpfbrunnens mit dem Eselskopf, aus dem nur die Leute der rechten Straßenseite ihr Wasser holten, war zu hören. Der Löwenbrunnen, zu dem Olivia immer laufen musste, wenn Wasser fehlte, war oben hinter dem Kupferschmied auf der linken Straßenseite. Auch von dort glaubte sie, ein leises Plätschern zu hören. Ansonsten aber war da in diesem Augenblick nichts. Selbst in der Weinstube, in der eigentlich immer gelärmt wurde, war es still. Es war gespenstisch still.

Doch da hörte sie es wieder.

Tock-tock.

„Papa“, flüsterte Olivia.

Sie hätte schreien müssen, um ihren schwerhörigen Vater zu wecken. Olivia schrie aber nicht. Sie stand einfach nur an der Tür und starrte mit offenem Mund. Was sie sah, war unglaublich. Ein großer schwarzer Geist schwebte auf einer grünlichen Wolke durch die Gasse. Obwohl sie keine Beine erkennen konnte, klackte und schabte es hölzern. Jetzt blieb die Gestalt stehen. Genau vor ihrem Haus! Der Geist war so groß, dass er über das Tor gucken konnte.

„Hilfe!“, piepste Olivia und schlug sich gleich darauf die Hand vor den Mund.

Doch der Geist schien sie gehört zu haben und hob nun seinen Kopf. Der grünliche Rauch machte es Olivia schwer, ein Gesicht auszumachen. Selbst Augen sah sie nicht. Da war nur ein tiefes schwarzes Nichts. Und der Geist schien Olivia zu kennen. Denn nun hob er einen Arm und deutete in ihre Richtung. Aber am Ende des Arms war keine Hand. Was war das? Ein Haken? Ein Stab? War dieser Geist ein Bote der Unterwelt? Kam er etwa aus dem Reich der Toten, um sich nun Olivia zu holen, so wie er ihre Mutter bereits vor einem Jahr geholt hatte?

Olivia zitterte am ganzen Körper. Aber sie schaffte es nicht, die Augen von dem Geist abzuwenden.

Jetzt klopfte er an die schwere Tür des Hofes.

„Nein! Mich nimmst du nicht mit!“, schrie Olivia. Sie senkte den Blick. Sie schloss die Haustür und legte den schweren Riegel vor. Dann schnappte sie sich zwei der kleinen Götterfiguren vom Hausaltar.

„Ihr Penaten, ihr müsst mich beschützen, und zwar sofort, verstanden?“, betete sie hektisch zu den Hausgöttern.

Und mit einer Figur in jeder Hand huschte sie zurück auf ihr Lager, zog sich die Decke über den Kopf und hoffte, dass sie am nächsten Morgen nicht im Reich der Toten aufwachen würde.

AUFRUHR IN DER ESELSGASSE

Meander wurde schon früh von seiner Mutter geweckt. Das Haus, in dem Meanders Familie lebte, lag auf einem der sieben Hügel in einer der vornehmen Gegenden Roms. Meanders Vater war Architekt und hatte das Gebäude nach eigenen Plänen bauen lassen. Es hatte zwei Stockwerke, einen Innenhof, auch Atrium genannt, einen Garten und jede Menge Zimmer. In diesem Haus lebten Meander und seine Schwester Aurelia, seine Eltern und zahlreiche Sklaven. Die Sklaven waren dazu da, der Familie das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Wobei Meander nicht jeden Sklaven angenehm fand – auf den griechischen Lehrersklaven Besserwisskrates hätte er gerne verzichten können.

An diesem Morgen wurden die Geschwister von Besserwisskrates im Garten unterrichtet. Zum Glück trat Meanders Vater mitten in der Schulstunde aus seinem Arbeitszimmer, das seine Tür zum Garten hin hatte. Senator Gaius Tiberius begleitete ihn. Er war ein alter, feiner Mann, der eine weiße Toga trug, bei der jede Falte auf der Schulter wie angegossen saß. Meanders Vater brachte den Gast, mit dem er offenbar ein neues Haus geplant hatte, zur Haustür und kehrte direkt zurück in den Garten, um nachzudenken.

„Ich habe keine Ahnung, wo der Senator das Grundstück dafür hernehmen will. Sein Haus ist doch ringsherum von Häusern umgeben“, murmelte Meanders Vater, als er mit großen Schritten begann, seine Runden zu drehen.

Denn wenn Architekt Publius Petronius scharf nachdenken musste, sprach er seine Gedanken immer laut aus. Und am besten konnte er denken, wenn er dabei ging. Meander und Aurelia saßen also mit Besserwisskrates auf dem Rasen, während ihr Vater nun durch den Säulengang marschierte, der den Rasen umgab. Sosehr sich der Lehrer auch bemühte, an Unterricht war nicht mehr zu denken. Das Gemurmel von Meanders Vater lenkte seine Schüler zu sehr ab.

„Er bräuchte Platz für dieses Riesenhaus“, brummte Publius. „Aber das soll nicht meine Sorge sein, hat er gesagt. Ob Quintus davon weiß? Quintus sollte wissen, was sein Nachbar plant … Aber ich selbst kann es ihm nicht sagen, ohne den Senator zu verärgern. Was mache ich nun?“ Meanders Vater blieb hinter Besserwisskrates stehen und sah in den Himmel.

„Der wohl größte Redner Roms war?“, fragte der Lehrer in diesem Moment.

„Papa!“, antwortete Aurelia.

Meander musste lachen. Seine kleine Schwester hatte recht: Ihr Vater redete einfach zu viel.

Besserwisskrates sah seine beiden Schüler streng an.

Doch Publius schien die freche Antwort seiner Tochter gar nicht gehört zu haben. Stattdessen rief er geistesabwesend: „Abendessen! Das ist es!“

„Aber Papa!“, sagte Aurelia entrüstet. „Sei nicht so verfressen! Wir haben doch gerade erst gefrühstückt!“

Meander leckte sich die Lippen. Gegen ein ordentliches Abendessen mit Oliven und Käse und gebratenem Fleisch hatte er eigentlich nie etwas einzuwenden. Auch nicht mitten in einer Lateinstunde am Vormittag.

„Meander! Du läufst sofort zu Onkel Quintus und zu Senator Gaius Tiberius und lädst beide für heute zum Abendessen ein!“, bestimmte der Architekt.

„Aber die Lateinstunde …“, wandte Besserwisskrates ein.

Meanders Vater machte nur eine wegwerfende Handbewegung. „Latein reden wir schon seit Jahrtausenden, oder nicht? Da wird es doch auf einen Tag mehr oder weniger nicht ankommen! Besserwisskrates, du begleitest meinen Sohn sofort zum Haus von Quintus und anschließend zum Senator Gaius Tiberius!“ Publius Petronius machte kehrt und lief auf das Haus zu, um seiner Frau zu sagen, dass er für den Abend Gäste erwartete. Auf halbem Weg blieb er plötzlich stehen, drehte sich noch einmal zu Besserwisskrates um und sagte: „Oder du unterrichtest Meander einfach unterwegs!“

„Papa! Nein! Das geht doch nicht!“, stöhnte Meander. Sein Vater hatte manchmal echt verrückte Einfälle.

„Sehr gute Idee!“, lobte Besserwisskrates und strahlte übers ganze Gesicht.

Sobald sie auf der Straße waren, hörte er nicht mehr auf, Meander mit Cicero und Cato und all diesen besonders römischen Römern zu nerven. Dabei war es ein schöner sonniger Tag! Einen Spaziergang zu Onkel Quintus liebte Meander schon deshalb, weil sein Onkel ganz in der Nähe der Eselsgasse wohnte. Und die Eselsgasse kannte Meander ziemlich gut. Denn dort wohnte seine Freundin Olivia, die Tochter des Schmieds.

Die Stadt stank zwar wie immer nach Pferdepisse und Schweinemist, aber Meander konnte das die Laune nicht verderben. Zum Launeverderben hatte er seinen Lehrer dabei, der immer schön einen Schritt hinter ihm ging und ihm die wichtigsten Zitate von Cicero ins Ohr säuselte.

Meander fand das überhaupt nicht witzig.

Remus hingegen musste kichern, als er es sah. Er war etwas später als Meander aufgewacht und hatte sein Frühstück, das aus einem Stück Brot und einer Tasse Wasser bestanden hatte, runtergeschlungen. Wie jeden Morgen war er anschließend über die Dächer Roms geklettert, bis er auf Meanders Dach angekommen war. Nur war sein Freund an diesem Morgen nicht mehr in seinem Zimmer, sondern schon beim Unterricht im Garten gewesen. Er hatte alles genau beobachtet und war Meander und Besserwisskrates gefolgt. Natürlich oberhalb der Straßen.

Remus musste unbedingt ein wenig näher heran – der Lateinstunden-Spaziergang sah von oben wirklich zu komisch aus …

Meander ging voran, schließlich war er der Sohn von vornehmen Leuten. Und gleichzeitig wurde er von seinem Lehrer genervt, bis er an der Ecke am Eingang der Eselsgasse endlich stehen blieb. Remus kraxelte auf das niedrige Vordach, das dem Laden des Weinhändlers Schatten spendete, um alles mitzuhören. Da sagte sein Freund Meander gerade zu seinem Lehrer: „Dativ, Genitiv, Ablativ! Das ist mir alles völlig egal! Kapiert? Ich will es gar nicht wissen! Ich kann auch ohne dämliche Grammatik richtig sprechen.“

Besserwisskrates bekam einen roten Kopf vor Wut. „Meander! So sprichst du nicht mit mir! Du …“ Der Lehrer hob drohend die Hand.