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Dan Jones | Marina Amaral

Die Welt von gestern in Farbe

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Dan Jones Marina Amaral

Die Welt von gestern in Farbe

Eine neue Geschichte der Welt von 1850 bis 1960. Mit über 200 historischen Fotografien erstmals in Farbe

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

info@rivaverlag.de

2. Auflage 2019

© 2018 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die englische Originalausgabe erschien 2018 bei Head of Zeus Ltd unter dem Titel The Colour of Time: A New History of the World, 1850 to 1960. © 2018 by Marina Amaral und Dan Jones. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Angela Letmathe
Redaktion: Holger Hühn, Augsburg, für bookwise GmbH

Umschlaggestaltung: Laura Osswald, München

Umschlagabbildungen: Marina Amaral – unter Verwendung von The destruction of the Hindenburg, 6 May 1937, Getty Images (U1), The Terra Nova Expedition, Getty Images (U4, li.) und The Dowager Empress Cixi, Getty Images (U4, re.)

Abbildungen im Innenteil: Marina Amaral

Layout: Isambard Thomas

Satz: bookwise GmbH, München

Bildnachweis: Die Fotografien in diesem Buch wurden mit freundlicher Genehmigung von Getty Images reproduziert – mit Ausnahme von: S. 2, 14, 45, 50, 72f., 204f., 215 (Library of Congress); S. 16f., 106, 236 (Wikimedia Commons); S. 89 (Bibliothèque Nationale de France).

Auf Seite 2: John Fitzgerald Kennedy und Jacqueline Bouvier, fotografiert von Toni Frissell während ihres Hochzeitsempfangs, Hammersmith Farm, Newport, Rhode Island (12. September 1953).

Auf Seite 6: Der Archäologe Howard Carter untersucht den Sarg des ägyptischen Pharaos Tutanchamun (ca. 1332 bis 1323 v. Chr.), dessen Grab er nahezu unverändert 1922 im Tal der Könige entdeckte.

Druck: Firmengruppe APPL, aprinta Druck, Wemding

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-0775-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0370-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0380-3

Weitere Informationen finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.

Einleitung

1850er-Jahre Zeit der Weltreiche

1860er-Jahre Aufstand

1870er-Jahre Zeit der Unruhen

1880er-Jahre Zeit der Wunder

1890er-Jahre Ende eines Jahrhunderts

1900er-Jahre Licht und Dunkel

1910er-Jahre Krieg und Revolution

1920er-Jahre Die Goldenen Zwanziger

1930er-Jahre Der Weg in den Krieg

1940er-Jahre Vernichtung und Erlösung

1950er-Jahre Zeitenwende

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Einleitung

Im 16. Jh. notierte Leonardo da Vinci zum Thema Perspektive: »Wenn man den Abstand zu einem Objekt vergrößert, fallen drei Aspekte auf: Das Objekt wird kleiner, undeutlicher und verliert an Farbe.«

Da Vinci bezog sich auf die Malerei, aber Gleiches gilt auch für die Fotografie, im wörtlichen Sinn und für Geschichte im metaphorischen Sinn. Wir wissen, dass die Welt immer schon so lebendig, spontan, farbenfroh und »real« war, wie wir sie heute kennen. Die Vergangenheit können wir dennoch selten so lebendig und farbig betrachten. Die Fotografie wurde 1839 Bestandteil historischer Aufzeichnungen, war aber während ihres ersten Jahrhunderts ein Medium der Schwarz-Weiß-Darstellung. Der Blick in die Vergangenheit ist dadurch oft einseitig und verblasst.

Dieses Buch ist ein Versuch, der ausgeblichenen Vergangenheit farbliche Brillanz zurückzugeben. Geschichte in Farbe. Auf den folgenden Seiten finden Sie 200 Fotografien aus den Jahren zwischen 1850 und 1960. Alle waren ursprünglich monochrom, wurden aber digital koloriert, mit dem Effekt, dass – so hoffen wir – ein ganz neuer Eindruck von diesem dramatischen und prägenden Zeitalter menschlicher Geschichte entsteht.

Jedes der hier gezeigten Bilder ist für sich schon sehr interessant. Wir haben sie zu einer Kollektion zusammengestellt, mit informativen Texten versehen, die zu einer fortlaufenden Erzählung ineinanderfließen: Eine Erzählung, die uns vom Krimkrieg zum Kalten Krieg führt und von der Entwicklung der Dampfmaschine bis zur Raumfahrt. Wir beginnen in den Jahren der großen Kaiserreiche und enden in einer Zeit der Supermächte. Das Buch ist eine Bühne, auf der Titanen und Tyrannen gleichermaßen tanzen, ebenso Mörder, Märtyrer, Genies, Erfinder neuer und Zerstörer alter Welten.

Die Fotos entstammen unzähligen Quellen. Manche waren kostbare Originale, hergestellt mittels eines komplizierten Verfahrens, das lange Belichtungszeiten erforderte, Glasplatten, Kollodium, Eiweiß und Silbernitrat. Die Formate waren ganz unterschiedlich. Manche dienten privaten Zwecken, andere dem Verkauf als Postkarten oder der Veröffentlichung in Zeitschriften. Wieder andere wiesen erstaunliche Tiefenschärfe auf oder die unvermeidbare und unwiderstehliche Patina des Alters. Alle wurden letztendlich sorgfältig konserviert, digitalisiert und modernen Bildarchiven zugänglich gemacht, von denen sie nun in höchster Auflösung heruntergeladen werden können.

Bei der Kolorierung historischer Fotos muss man sehr gewissenhaft vorgehen und seine Hausaufgaben machen. Das Porträt eines Soldaten z. B. enthält Farben für Uniformen, Medaillen, Abzeichen, Fahrzeuge, Haut, Augen und Haare. Wenn möglich, sollte jedes Detail genau recherchiert werden. Die Originalfarben erkennt man nicht, indem man die Grautöne alter Fotos betrachtet. Der einzige Weg, Resultate zu finden, ist der Weg, den jeder Historiker unabhängig von der jeweiligen Disziplin geht: graben, graben, graben.*

Wenn alle Informationen gesammelt sind, beginnt das Kolorieren. Obwohl heute der Computerbildschirm die Leinwand ist, wird dennoch jedes Bildsegment von Hand koloriert. Der Prozess kennt keine Algorithmen. Die Werkzeuge sind digital, aber die grundlegenden künstlerischen Techniken haben sich seit Leonardo da Vinci nicht geändert: Vorsichtig beginnt man, Schicht für Schicht Farbe für Farbe einzufügen, man mischt sie durch Hunderte von Schichten und versucht, eine spezielle Atmosphäre einzufangen und wiederzugeben, die mit der des Fotos übereinstimmt. Ausleuchtung spielt eine Rolle. Ebenso Textur. Winzige Details haben oft enorme Bedeutung. Geduld ist eine nützliche Tugend! Die Kolorierung eines einzigen Fotos kann eine Stunde oder einen Monat dauern, und manchmal, nach all der vielen Arbeit, muss man akzeptieren, dass aus einer Vielzahl möglicher Gründe das Resultat unbefriedigend ist. Es sieht einfach falsch aus! Also zurück damit ins Archiv. Manche Dinge müssen wohl schwarz-weiß bleiben.

Dieses Buch ist das Ergebnis einer zweijährigen Zusammenarbeit. Bei der Auswahl der Fotos bemühten wir uns, möglichst viele Kontinente und Kulturen zu erfassen und sowohl berühmte als auch vergessene Menschen zu zeigen. Wir versuchten, die Toten zu würdigen und ihrer Zeit gerecht zu werden. Wir sichteten ungefähr 10.000 Fotos. Wir quälten uns mit Entscheidungen und änderten immer wieder unsere Meinung. Wir haben so viel wie möglich in dieses Buch gepackt in dem Bewusstsein, 9.800 Fotos leider nicht zeigen zu können.

Dieses Verhältnis macht schon deutlich, dass es sich um kein vollständiges Geschichtsbuch handelt. Wie könnte es auch? Wir mussten mehr ausschließen, als wir einbeziehen konnten. Dennoch hoffen wir, dass dieses Buch ein neuer Weg ist, einen Blick auf die Welt dieser Zeit monumentaler Veränderungen zu werfen. Es war ein Privileg und eine große Freude, es zu gestalten. Wir hoffen, Sie haben Freude beim Lesen.

Marina Amaral und Dan Jones
April 2018

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1850 er

Zeit der Weltreiche

»Die Kamera erstellt (für den Künstler) mit größtmöglicher Gewissenhaftigkeit ein Abbild der Natur, mit Details und Bedeutung in gleicher Perfektion, während sie das Urteilen, Träumen und Umsetzen ihm (dem Künstler) überlässt.«

Roger Fenton über die Fotografie, 1852

1850

[Apr] Papst Pius IX. wird von französischen Truppen zurück nach Rom gebracht. Er war seit 1848 im Exil.

[Mai] Flusspferd Obaysch trifft im Londoner Zoo ein. Es wurde in Ägypten gefangen und als Geschenk nach Großbritannien geschickt.

[Sep] Im Kompromiss von 1850 verabschiedet der US-Kongress Gesetze, die die Gegensätze zwischen den sklavenhaltenden Südstaaten und den sklavenfreien Nordstaaten regeln sollen.

1851

[Jan] Im Taiping-Auf-stand kommt es in China zur Konfrontation zwischen der Qing-Dynastie und der Taiping-Bewegung, die unter Hong Xiuquan das Himmlische Reich des Großen Friedens ausrufen will.

[Mai] Eröffnung der ersten »Weltausstellung« im »Kristallpalast« im Hyde Park, London

[Jul] Tod von Louis Daguerre, einem Pionier der Fotografie

1852

[Mrz] Charles Dickens’ Roman Bleak House erscheint in Fortsetzungen.

[Dez] Charles Louis Napoleon Bonaparte entmachtet das Parlament der Zweiten Republik in Frankreich und proklamiert sich selbst zum Kaiser Napoleon III.

1853

[Jun] Georges-Eugène Haussmann wird mit der Sanierung der Stadt Paris beauftragt.

[Jul] US-Kommodore Matthew C. Perry schüchtert Japan mit einem Geschwader von Kriegsschiffen ein, um so einen Handelsvertrag zwischen Japan und den USA zu erzwingen.

[Okt] Der Krimkrieg beginnt mit der Kriegserklärung des Osmanischen Reiches und später seiner Verbündeten Großbritannien und Frankreich an Russland.

1854

[Mai] Der Kansas- Nebraska Act erschafft die US-Territorien Kansas und Nebraska und ruft Kämpfe zwischen Befürwortern und Gegnern der Sklaverei hervor, bekannt als »Bleeding Kansas« (»Blutendes Kansas«).

[Sep] John Snow führt die Cholera-Epidemie in London auf eine einzige Wasserpumpe zurück und kann so beweisen, dass Cholera durch verseuchtes Trinkwasser verbreitet wird.

[Okt] Bei der Schlacht von Balaklawa kommt es während des Krimkrieges zur Attacke der leichten Brigade.

1855

[Mrz] Roger Fenton erreicht die Krim mit seinem mobilen Fotostudio, um den Konflikt zu dokumentieren.

[Mrz] Zar Nikolaus I. von Russland stirbt. Nachfolger wird sein ältester Sohn Alexander II.

[Sep] Sewastopol fällt aufgrund eines gemeinsamen Angriffs französischer und britischer Armeen.

1856

[Mrz] »Gipfel XV«, später Mount Everest genannt, wird vermessen als höchster Berg der Erde.

[Mrz] Der Krimkrieg endet mit dem Pariser Frieden.

[Okt] Der Zweite Opiumkrieg beginnt; britische und französische Kräfte kämpfen gegen die chinesische Qing-Dynastie.

1857

[Mai] Der Indische Aufstand beginnt mit der Rebellion der Sepoys der Ostindien-Kompanie in der Nähe von Delhi. Die Unruhen halten über ein Jahr lang an.

[Sep] Der Börsenkrach in New York zwingt Banken zu schließen; Eisenbahnunternehmen machen Bankrott.

[Dez] Königin Victoria wählt Ottawa als Hauptstadt der Provinz Kanada aus.

1858

[Jan] Felice Orsini versucht, Napoleon III. mit einer Bombe zu töten. Das Attentat scheitert, Orsini wird geköpft.

[Aug] Der »Government of India Act 1858« wird verabschiedet und wandelt das Gebiet der Ostindien-Kompanie in eine britische Kronkolonie um.

[Aug] US-Präsident James Buchanan tauscht transatlantische Telegrafennachrichten mit Königin Victoria aus – kurz darauf fällt die Telegrafenleitung für Jahre aus.

1859

[Apr] Die Arbeiten am Sueskanal beginnen.

[Sep] Die SS Great Eastern, entworfen von Isambard Kingdom Brunel, zum damaligen Zeitpunkt das größte Schiff der Welt, legt zur Jungfernfahrt ab.

[Nov] Charles Darwin veröffentlicht das Buch Die Entstehung der Arten, das die Theorie der Evolution durch natürliche Selektion entwirft.

Am 8. März 1855 erreichte der britische Jurist und Fotograf Roger Fenton die Halbinsel Krim im Schwarzen Meer, auf der zu dieser Zeit Krieg geführt wurde. Fenton und seine beiden Assistenten waren ausgestattet mit fünf Kameras, 700 Glasplatten, Kochgeschirr, Camping-Ausrüstung, drei Pferden und dem ehemaligen Kutschwagen eines Weinhändlers, den sie zu einer mobilen Dunkelkammer umfunktioniert hatten.

Fenton war als Fotograf ein wahrhafter Künstler, der sich allerdings von politischen Interessen instrumentalisieren ließ. Er war Gründungsmitglied der Photographic Society, die zur Förderung dieser neuen, sich schnell entwickelnden Kunstform diente. Finanziert wurde seine Reise von Galeristen, unterstützt vom britischen Königshaus.

Fenton wird heute zu Recht als erster Kriegsfotograf der Welt angesehen, wenngleich seine gestellten heroischen Porträts von der Krim, in denen die Schrecken des Kriegs ausgespart blieben, wohl eher Propaganda denn Dokumentation waren. Sie wurden gebraucht, um das Leid Tausender Briten zu rechtfertigen, die in einem verlustreichen, kräftezehrenden Krieg durch Gewalt und Krankheit ihr Leben verloren. Ein Krieg, in den die vier Weltmächte der 1850er- Jahre verwickelt waren: Großbritannien, Frankreich und das Osmanische Reich auf der einen Seite, Russland auf der anderen. Mit Fentons Fotos bemühte sich die britische Regierung, die schockierenden, in der Times veröffentlichten Zeitungsberichte von der Krim zu entschärfen.

Die Reise des Fotografen auf die Krim war jedenfalls ein Ereignis von historischer Bedeutung. Sie legte den Grundstein für die heutige, stets von Bilddokumenten begleitete Berichterstattung aus aller Welt. Damals wurde die Fotografie zu einer wichtigen Schnittstelle zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Was Pioniere wie Fenton für ihre Förderer taten, ist nichts im Vergleich zu dem, was sie für Generationen von späteren Historiker taten, für die beim Versuch, die Geschichte der Welt zu erklären, Bilder äußerst wichtige Zeitzeugen sind.

Wie also sah die Welt in den 1850er-Jahren aus, deren Pracht Fenton so deutlich und deren Elend er so wenig wie möglich ablichtete? Es war die Zeit der großen Imperien. Großbritannien dominierte, es beherrschte Kanada, Indien, Burma, Teile von Afrikas Süden, Australien und Neuseeland sowie weitere, abgelegene Territorien rund um die gigantischen Ozeane. Letztere wurden kontrolliert und erforscht von der Royal Navy, die viel zu Großbritanniens damaligem Status als Weltmacht beigetragen hat.

In Europa und dem Nahen Osten waren Franzosen, Osmanen und Russen Großbritanniens Rivalen um Macht und Einfluss, im Osten konkurrierten die chinesische Qing-Dynastie und die indischen Moguln mit England vor allem um den Zugang zu Rohstoffen. In Südamerika beherrschte Brasilien das Feld, während zwischen dem Golf von Mexiko und den Großen Seen Nordamerikas die noch jungen Vereinigten Staaten wuchsen. Die USA, nur 70 Jahre zuvor durch Revolution gegen die britische Herrschaft geboren, erwarben Territorien von Frankreich und schluckten die Überreste des einst mächtigen spanischen Kolonialreiches. Freie weiße Amerikaner sowie europäische und chinesische Siedler kolonialisierten nun die Weiten Nordamerikas. Je mehr die Vereinigten Staaten sich ausdehnten, umso mehr kam es zu bitteren Streitigkeiten zwischen ihren einzelnen Staaten, deren furchtbare Konsequenzen sich in den 1860er-Jahren im amerikanischen Bürgerkrieg zwischen den nördlichen Unionsstaaten und den südlichen Konföderierten zeigen sollten.

Weitere treibende Kräfte dieser imperialen Dekade bildeten die technologische Entwicklung und viele neue Entdeckungen. Schnelle Industrialisierung und große Erfindungen veränderten in nie gekannter Geschwindigkeit das ganze Leben. Die Art, wie die Menschen wohnten, arbeiteten, reisten, kommunizierten, dachten und träumten. Von den Telegrafenkabeln tief unten im Meer bis zu den gewaltigen Ozeanriesen auf dessen Oberfläche; von den ambitionierten Plänen, ehrwürdige, alte, im Krieg zerstörte Städte wieder aufzubauen, bis zu Kriegen mit Kanonen, die jedes antike Bauwerk binnen Minuten zerstörten; von der Erforschung exotischer, weit entfernter Länder und wissenschaftlichen Studien zum Ursprung des Lebens bis zur Vernichtung uralter Völker durch Krankheit, erzwungener Umsiedlung und brutaler Gewalt: Die 1850er-Jahre waren eine Zeit außergewöhnlicher, nie dagewesener Veränderungen, welche die Menschen gleichermaßen in Verwirrung stürzten oder begeisterten und die nicht zuletzt auch zu einer tödlichen Gefahr werden konnten.

Sosehr sich die Welt aber auch veränderte, die Vergangenheit wurde seit der Erfindung der Fotografie bewahrt durch Künstler und Enthusiasten wie Fenton. Er fing das Leben mit seiner Kamera ein und sorgte so dafür, dass wir auch Jahrhunderte später noch in diese Zeit zurückgehen und sie – gestellt oder echt – schwarz auf weiß erleben können. Oder eben auch tatsächlich in Farbe wie in diesem Buch.

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Napoleon III., Kaiser von Frankreich

Charles Louis Napoleon Bonaparte war Neffe und Erbfolger von Napoleon I., der 1799 durch einen Staatsstreich die Macht in Frankreich übernommen und Europa beherrscht hatte.

Die Herrschaft des ersten Napoleon endete mit der schmählichen Schlacht bei Waterloo, er starb 1821 im Exil auf St. Helena. Sein Nachfolger verbrachte ebenfalls viele Jahre seines Lebens im Exil und plante, die Krone zurückzuerobern und Frankreich wieder zu einem Weltreich zu machen. Seine Chance kam 1848. Nach der Februarrevolution wurde die Zweite Republik ausgerufen. Louis Napoleon kehrte zurück und wurde zum Staatspräsidenten gewählt.

Louis Napoleons Mission, Frankreich zu neuer Blüte zu verhelfen, beinhaltete ein dynamisches Modernisierungsprogramm mit einer Bankenreform, Stadtsanierungen, Eisenbahn- und Schiffskonstruktionen und landwirtschaftlichen Verbesserungen. Doch all das zielte nur auf eine erneute Alleinherrschaft ab. In einem Staatsstreich stürzte der Präsident 1852 die Republik und krönte sich selbst zum Kaiser. Er nahm den Namen Napoleon III. an. Legitimer Nachfolger Napoleons I. war ursprünglich dessen Sohn Napoleon II., titularischer Kaiser für einige Tage im Sommer 1815. Napoleon III. erklärte bei seiner Krönung: »Manche Leute sagen, das Imperium bedeutet Krieg. Ich sage, das Imperium bedeutet Frieden.«

Diese hübschen Worte sollten sich als wertlos herausstellen. Für den Rest der Dekade wurden Dissidenten verbannt oder inhaftiert. Frankreich beteiligte sich am Krimkrieg (1853–1856) und marschierte in Italien ein (1859). Während der 1860er-Jahre (als dieses Foto entstand) wurde die Unterdrückung etwas gelockert, aber letztendlich erwies sich Napoleon III. durch und durch als Bonaparte. Als Folge der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg wurde er 1870 abgesetzt und unter Arrest gestellt. Er starb drei Jahre später im Exil in England.

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Das neue Paris

Eine der bemerkenswertesten Leistungen von Napoleon III. war die umfangreiche Sanierung der französischen Hauptstadt Paris. 1850 lebte ein Drittel der rasant anwachsenden Pariser Bevölkerung zusammengepfercht auf einem winzigen Areal und gequält von Krankheiten wie Cholera und Typhus.

Napoleon hatte 1840 im Exil erklärt, er würde Paris zu einer prachtvollen Stadt aus Marmor ausbauen – im Stil des ersten römischen Kaisers Augustus. In den 1850er-Jahren beauftragte er Georges- Eugène Haussmann, den dynamischen Präfekten des Départements Seine, mit dieser Aufgabe. 12.000 Gebäude wurde abgerissen, viele in den Elendsvierteln im Zentrum der Stadt. Neue Abwasserkanäle und Leitungssysteme verbesserten die Wasserversorgung, während breite baumbestandene Boulevards die Parkanlagen und öffentlichen Plätze verbanden.

Haussmanns Arbeit kostete 2,5 Milliarden Franc (heute etwa 5 Milliarden Euro), und die Meinungen darüber gingen weit auseinander. Die Schriftsteller Victor Hugo und Charles Baudelaire waren der Ansicht, der mittelalterliche Charme der Stadt sei zerstört worden, während andere vermuteten, die breiten Straßen seien schon Vorboten für eine schnellere Truppenmobilisierung im Falle einer künftigen Revolution. Der Schriftsteller Émile Zola nannte Haussmanns Paris »eine enorme Heuchelei, die Falschheit eines kolossalen Jesuitismus«.

Charles Marville, seinerzeit der offizielle Stadtfotograf von Paris, dokumentierte den Wandel mit seiner Kamera. Wir sehen hier Arbeiten in der Rue de Constantine vor ihrer Verbreiterung, im Hintergrund der Justizpalast (Palais de Justice).

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»Wer in seinem Privatleben so glücklich und gesegnet ist wie ich, für den wird die Politik (vorausgesetzt das Land ist nicht gefährdet) immer an zweiter Stelle stehen.«

Königin Victoria, Tagebuch, 1846

Königin Victoria

Während Napoleon III. Frankreich veränderte, prägte jenseits des Ärmelkanals Königin Victoria Großbritannien. 1854 war sie 35 Jahre alt und trug die Krone schon fast ihr halbes Leben, seit sie 1837 ihrem Onkel William IV. auf den Thron gefolgt war.

Die von einem Biografen als »aufrichtig, streitsüchtig und eigensinnig« beschriebene Victoria war sich der schwierigen verfassungsrechtlichen Position der britischen Monarchie bewusst, und während ihrer mehr als sechs Jahrzehnte dauernden Regentschaft, dem »Viktorianischen Zeitalter«, prägte sie das Britische Empire und machte es zum größten Kolonialreich der Geschichte. Angespornt von der industriellen und technologischen Revolution und dem damit verbundenen enormen nationalen Selbstbewusstsein, wurde Großbritannien von der Welt gleichermaßen beneidet und gefürchtet.

Das hier gezeigte Foto von Victoria machte Roger Fenton am 30. Juni 1854 im Rahmen einer Porträtreihe, die Victorias Ehemann und große Liebe Prinz Albert in Auftrag gegeben hatte. Das Paar hatte neun Kinder, das jüngste, Prinzessin Beatrice, wurde 1857 geboren. Alberts Tod 1861, vermutlich war Typhus die Ursache, stürzte Victoria in die größte persönliche Krise ihres Lebens.

Dieses Foto kommentierte Victoria in ihrem Tagebuch als »sehr gelungen, aber nur mit großem Zeitaufwand«. Ihr schwermütiger, der Kamera abgewandter Blick war eine typische Komposition. Das relativ zwanglose Hauskleid, das Buch auf ihrem Schoß und das teilweise unbedeckte Haar verhindern nicht den Eindruck absoluter Unnahbarkeit.

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»Herr Brunel hätte es sich nie erlaubt, irgendein fortschrittliches Detail zu übersehen, was stets ein Qualitätsversprechen für seine Arbeit war.«

The Engineer, Traueranzeige, 1859

SS Great Eastern

Isambard Kingdom Brunel stand schon mit einem Bein im Grab, als das größte Schiff, das die Welt je gesehen hatte, fertiggestellt wurde. Neben George Stephenson und Joseph Bazalgette war Brunel einer der herausragenden Ingenieure Englands zu Zeiten von Königin Victoria. Seine Markenzeichen bildeten Zylinder und Zigarre, doch bemerkenswerter waren seine Bauwerke: die Clifton Suspension Bridge in Bristol, die Paddington Station in London und die Eisenbahngesellschaft Great Western Railway. Brunels Werke versinnbildlichten den Glauben an den Fortschritt, der im 19. Jh. Großbritanniens imperialen Ehrgeiz beflügelte.

Die hier abgebildete SS Great Eastern, ein Segeldampfer, war Brunels drittes Schiff und sein letztes Großprojekt. Es wurde in den Jahren 1854 bis 1858 in Millwall, London, von John Scott Russell, einem britischen Ingenieur und Schiffbauer im ganz großen Stil gebaut (Wasserverdrängung 32.000 Tonnen). Brunel wollte erreichen, dass das 211 m lange Schiff die weite Reise von Europa zu den britischen Handelsstationen in Indien oder sogar bis zu den Kolonien in Australien ohne Zwischenstopp zum Auffüllen der Kohlenbunker bewältigen konnte.

Brunel, den Nierenprobleme quälten, erlitt kurz vor der Jungfernfahrt im Herbst 1859 an Deck einen Schlaganfall und starb am 15. September. Die wichtigste Aufgabe der SS Great Eastern in jenen Jahren war die Verlegung des ersten dauerhaften Telegrafenkabels über den Atlantik – aber Größe und Kosten des Schiffes erwiesen sich als unrentabel. 1889 wurde es verschrottet. Ein Fenster in der Westminster Abbey zeigt Brunel als Titan der viktorianischen Epoche.

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»Alle stürmen nach Regent’s Park, um für eine halbe Stunde den Hippopotamus zu sehen. Das Tier selbst hat für diesen Rummel um seine Person allerdings nur ein müdes Gähnen übrig.«

Punch Magazin, »Hip, Hip, Hip dem Hippopotamus«, Dezember 1850

Hippomanie

Die Fortschritte in der Technologie der Verkehrstechnik ließen die Welt im 19. Jh. immer kleiner werden, und das viktorianische Großbritannien, selbst bereits hoch industrialisiert und mit zahlreichen Verbindungen zu fernen Ländern, entwickelte schnell eine Vorliebe für alles Exotische.

Daher war kaum etwas so spannend wie ein in Afrika gefangenes Flusspferdkalb (Hippopotamus), das der Großfürst von Ägypten 1850 per Raddampfer nach England hatte schicken lassen. Das Tier hieß Obaysch, nach seiner Heimatinsel im Nil, und löste im Londoner Zoo als erstes Flusspferd auf britischem Boden Begeisterung aus. Tausende Menschen in »Hippomanie« besuchten täglich den Zoo, um Obaysch, aber auch andere exotische Tiere, wie das inzwischen ausgestorbene Quagga, eine Zebraform, und eine Gruppe arabischer Schlangenbeschwörer zu bewundern. Das Interesse der Bevölkerung an Naturgeschichte stieg enorm, und für den Zoo, der 1847 auf Spendenbasis der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war, waren die Menschenmassen ein Segen.

Das vom spanischen Aristokraten Juan Graf von Montizón 1852 gefertigte Foto wurde wohl innerhalb von Obayschs Käfig aufgenommen. Das war sehr riskant, denn Obaysch war sehr auf seinen ägyptischen Pfleger fixiert und ansonsten äußerst wild. Deutlich vermitteln Bildkomposition und Motiv des Fotos das Gefühl von Einsamkeit. Aber zwei Jahre später bekam Obaysch mit Adhela eine Gefährtin, die ihn zum Vater einiger Kälber machte, darunter das am 5. November 1872 geborene Kalb »Guy Fawkes«.

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»Die natürliche Auslese sorgt dafür, dass immer die Stärksten oder die am besten Angepassten überleben.«

Charles Darwin, On the Origin of Species (Die Entstehung der Arten), 1859

Die Entstehung der Arten

Während das Interesse an Zoologie in den 1850er-Jahren beständig zunahm, wandelten sich die naturgeschichtlichen Sichtweisen. Der Engländer Charles Darwin veröffentlichte 1859 sein Buch On the Origin of Species (Die Entstehung der Arten). Darin stellte er seine Theorie vor, der zufolge sich alle Lebewesen im Lauf der Zeit dadurch weiterentwickeln, dass sie sich ihren Lebensbedingungen durch Selektion der stärksten und tüchtigsten Exemplare anpassen.

Das Buch war die Frucht Darwins langer Reisen, insbesondere einer gewaltigen, fünfjährigen Forschungsreise auf der HMS Beagle während der 1830er-Jahre. Er studierte die Natur in Südamerika, Australien, Neuseeland, Südafrika und auf den Galapagosinseln und analysierte Vögel und Säugetiere.

Während seiner Jugend hatte sein Vater versucht, ihn zu einer kirchlichen Ausbildung zu motivieren, aber Die Entstehung der Arten ließ Darwin an vielen christlichen Lehren zweifeln, besonders an der Schöpfungsgeschichte. Darwin schrieb, dass sein Buch »die Geistlichen gegen ihn aufbrachte und ihn ihrer Willkür aussetzte« und dass »das Schreiben war, als hätte er ein Verbrechen begangen«.

Dennoch fand Darwins wissenschaftliche Arbeit enorme Beachtung. Sein Buch wurde vielfach veröffentlicht, und 1871 verfasste er mit The Descent of Man (Die Abstammung des Menschen) ein weiteres, ähnlich kontrovers aufgenommenes Werk.

Er starb 1882 nach langer Krankheit. Das Foto entstand gegen Ende seines Lebens im damals berühmten Fotostudio Elliot & Fry und betont Darwins »ehrwürdigen Bart«, den er zu der Zeit bereits seit 20 Jahren trug.

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»Ein fantastischer Ort – gewaltig, außergewöhnlich, neu und unbeschreiblich … Diese Vielfalt und Fülle aus aller Herren Länder hat etwas Magisches.«

Schriftstellerin Charlotte Brontë schwärmt von einem Besuch der Weltausstellung 1851.

Die erste »Weltausstellung«

Das neue Industriezeitalter war eine Zeit der Wunder, oft aber auch der Plünderung. Die europäischen Mächte machten sich breit in der Welt, zelebrierten zu Hause Begeisterung für alles Neue, neue Technologien, neue Waren, und präsentierten außergewöhnliche Artefakte, die sie aus den Herkunftsländern verschleppten.

In Frankreich existierte schon seit dem Ende des 18. Jh. die Tradition industrieller Ausstellungen. Großbritannien kopierte die Idee und veranstaltete 1851 die erste »Weltausstellung«.

Mehr als 100.000 Objekte aus aller Welt wurden im »Kristallpalast« ausgestellt, einer im Hyde Park installierten, gigantischen Konstruktion aus Glas und Stahl. Etwa sechs Millionen Besucher reisten nach London, um die teilweise riesigen Objekte zu bestaunen, darunter Lokomotiven, Wandteppiche, kostbares Porzellan und Seidenstoffe, Juwelen wie z. B. den riesigen Koh-i-Noor-Diamant, einen 50 kg schweren Goldklumpen, einen Dampfhammer, eine Druckerpresse, ein kanadisches Löschfahrzeug, ein faltbares Klavier und verschiedene Rüstungen der Kosaken aus Russland.

Nach Ende der Ausstellung wurde der Kristallpalast ab- und 1854 südlich der Themse in Sydenham wiederaufgebaut, mit neuen Exponaten. Hier wurden unter anderem zwei Kolosse aus Alabastergips gezeigt, die man der Tempelanlage Abu Simbel in Ägypten entnommen hatte.

Der Kristallpalast brannte 1936 aus, aber da hatte er längst seinen Zweck erfüllt, die globale Begeisterung für Weltausstellungen oder ähnliche Darbietungen exotischer Schätze zu fördern.

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»Wir sind füreinander geschaffen und ich sehe dich vor mir, im Bett, ohne Schlüpfer…«

Brief von Alexander II. an Jekaterina Dolgorukaja

Ein skandalträchtiger Zar

Alexander Nikolajewitsch erhielt am 2. März 1855 am Sterbebett seines Vaters noch ein paar letzte Ratschläge. »Diene Russland!«, sagte der Sterbende und fügte mit geballter Faust hinzu: »Lass alles, wie es ist.« Der 36-jährige Alexander II. folgte Nikolaus I. in jener Nacht auf den Thron als russischer Zar aus dem Hause Romanow-Holstein-Gottorp.

Trotz der enormen räumlichen Größe des Landes und seiner Bevölkerungszahl hinkte Russland in der industriellen, politischen und kulturellen Entwicklung hinter Großbritannien und Frankreich her. Alexanders Regierungsantritt fiel in die Zeit eines erbitterten Krieges mit diesen beiden Mächten, der die Unterlegenheit Russlands offensichtlich machte. Modernisierung und Reformen waren – entgegen des Rates des Vaters – unerlässlich, wenn das kaiserliche Russland überleben wollte. Allerdings schwächte Alexander natürlich seine Autokratie, sobald er Veränderungen unterstützte, und erzürnte diejenigen, die die »Verwestlichung« Russlands als Verrat nationaler Traditionen empfanden.

Alexanders bemerkenswertester Reformerfolg war die Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft 1861. Er lockerte aber auch die Beschränkungen der Presse, strukturierte Verwaltung und Militär neu und erweiterte das russische Schienennetz. Als ein nach der sinnenfreudigen Tradition der Romanows erzogener Mann pflegte er eine leidenschaftliche Affäre mit der Fürstin Jekaterina Dolgorukaja, die er als Elfjährige kennengelernt hatte. Wenige Jahre nachdem dieses Foto des Zaren in London entstand, wurde die Fürstin 1880 Alexanders zweite Frau. Er selbst fiel 1881 einem Bombenattentat von Sozialisten zum Opfer.

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»Wenn Russland die Absicht hat, in das Osmanische Reich einzufallen und es aufzuteilen … [würde England] glauben, auf eine Intervention verzichten zu können? … Würde England nicht … die eigenen Interessen schützen und den Frieden in der Welt bewahren wollen?«

Die Londoner Times sagt den Krieg zwischen den Großmächten voraus, 26. März 1853

»Der kranke Mann am Bosporus«

Das Osmanische Reich, einer der Gegner Russlands, wurde von Zar Nikolaus I. einmal bezeichnet als »ein Mann in einem heruntergekommenen Zustand«. Über die Jahre wurde der Ausspruch verfälscht wiedergegeben als »der kranke Mann am Bosporus«, was aber letztendlich der Aussage nach dasselbe ist.

In den 1850er-Jahren begann sich das einst mächtige islamische Weltreich, das während des 14. Jh. in Kleinasien seinen Anfang nahm und sich über das gesamte Territorium vom heutigen Irak bis Österreich ausdehnte, aufzulösen. Obwohl Sultan Abdülmecid I. seit 1839 umfangreiche Reformprogramme veranlasst hatte, war 1850 die Blütezeit des Reiches längst vorbei. Als es zerfiel, waren die westlichen Mächte vor die Orientalische Frage gestellt, wie mit den Umbrüchen während des kontinuierlichen Verfalls des Osmanischen Reiches umzugehen war.

Konstantinopel, das heutige Istanbul, hier um 1855 von dem britischen Kriegsfotografen James Robertson abgelichtet, war schon seit dem Sieg der Osmanen über Byzanz 1453 die Hauptstadt des Reiches. Die Stadt mit ihrer uralten Geschichte war ein kultureller Schmelztiegel und durch ihre exponierte Lage am Schnittpunkt zwischen Asien und Europa ein privilegierter Handelsplatz. An der Meerenge Bosporus gelegen, bildete sie den idealen Kontrollpunkt für den Übergang vom Mittelmeer zum Schwarzen Meer und war damit speziell für Russland, aber auch für die strategischen Interessen Großbritanniens und Frankreichs von enormer Bedeutung.

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»Selbst inmitten dieses entsetzlichen Grauens (wir stehen bis zum Hals im Blut) gibt es noch Bemerkenswertes … Bei meinen nächtlichen Rundgängen zu den neuen Verletzten in dieser ersten Nacht war kein Murren, kein Stöhnen zu hören – es herrschte strikte Disziplin, absolute Stille und Ruhe … Diese armen Kameraden ertragen Schmerzen und Verstümmelung mit ungebrochenem Heldenmut …«

Die berühmte britische Krankenschwester Florence Nightingale beschreibt die Verletzten in einem türkischen Krankenhaus nach der Schlacht bei Inkerman am 5. November 1854.

Der Krimkrieg

Der Niedergang des Osmanischen Reiches war keine abstrakte Sorge von Diplomaten. 1852 wurde eine unbedeutende Auseinandersetzung zwischen orthodoxen und katholischen Mönchen in Jerusalem zum ausschlaggebenden Kriegsgrund. Das lächerliche Spektakel war verantwortlich für einen Krieg, der letztendlich 1.400 km entfernt ausgetragen werden sollte, der alle europäischen Großmächte involvierte und etwa 600.000 Gefallene zurückließ.

Nach den Ausschreitungen in Jerusalem forderten Napoleon III. von Frankreich und Nikolaus I. von Russland die osmanischen Herrscher auf, ihrer Rolle als Beschützer der heiligen Stätten der Stadt nachzukommen. Der Disput eskalierte, als Russland osmanisches Territorium im heutigen Rumänien angriff. Besorgt, Russland könnte Gebiete von britischem Interesse angreifen, intervenierte Großbritannien und erklärte den Krieg. Im September 1854 attackierten die verbündeten Kräfte Großbritanniens, Frankreichs und des Osmanischen Reiches das Herz der russischen Militärmacht in Sewastopol auf der Halbinsel Krim im Schwarzen Meer.

Die Bedingungen im Krieg waren auf allen Seiten miserabel. Nachrichten, die von der Front an die Londoner Tageszeitung Times telegrafiert wurden, schilderten detailliert Elend und Not der Soldaten. Der hier von Roger Fenton fotografierte Hauptmann Thomas Longworth Dames der königlichen Artillerie steht dagegen für ein inszeniertes, unblutiges Bild vom Krieg. Die Realität sah der Kriegsberichterstatter William Howard Russell: »Die Bettler in London«, schrieb er, »leben wie die Könige im Vergleich zu den britischen Soldaten, die hier für ihr Land kämpfen.«

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»Vorwärts; sie fragen und zagen nicht, Vorwärts; sie wanken und schwanken nicht, Vorwärts, gehorchen ist einzige Pflicht, Ins Todestal, In voller Zahl, Reiten die Sechshundert«

Theodor Fontane (Balaklawa), frei nach Alfred Tennyson, 1854

Die Attacke der leichten Brigade

Roger Fentons Foto vom Schlachtfeld bei Balaklawa vom 25. Oktober 1854 zeigt eine friedliche Landschaft, übersät mit Kanonenkugeln (noch immer ist unklar, ob Fenton die Kugeln selbst arrangierte). Die Nachrichten von der Krim, die nach der Schlacht durch Europa gingen, erzählen eine finstere Geschichte. William Howard Russell schrieb: »Nie musste jemand ein grausigeres Schauspiel ertragen als diejenigen, die ohne Hilfe zu Hilfe kamen und ihre heldenhaften Landsleute in die Arme des schnellen Todes rennen sahen. Die Ebene war übersät mit den Leichen und den Kadavern der Pferde.«

Die Attacke der leichten Brigade, sie wurde als Gedicht von Alfred Tennyson und auf Leinwand von Richard Caton Woodville für immer festgehalten, war nur eine Aktion von vielen in diesem Feldzug, doch sie wurde zu einem Symbol für die halbherzigen Entscheidungen der britischen Regierung im Krimkrieg und die daraus resultierende Katastrophe für Mensch und Tier.

Die 673 Mann starke Kavalleriebrigade, schlecht informiert über die Stellungen russischer Kanonen, wurde von unerfahrenen Offizieren auf einen Todesritt geschickt. 110 Soldaten starben. Angesichts der grundsätzlichen Widrigkeiten des Krieges – eine Cholera-Epidemie, die Tausende tötete, unzureichende Winterbekleidung, magere Rationen – ein unverzeihliches Desaster. Es führte Ende Januar 1855 in London zum Rücktritt der Regierung von Lord Aberdeen.

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»Mit dem niedlichen Hut … kokett an der Seite des Kopfes sitzend, der Uniformrock, der die Taille betonte … war sie schon ein erstaunlicher Anblick.«

Beschreibung einer cantinière in Reynold’s News, Dezember 1854

Frauen im Krieg

Die Kriege Mitte des 19. Jh. wurden an den Fronten überwiegend von Männern ausgefochten, doch vielfach wurden auch Frauen zu Kriegseinsätzen herangezogen. Sie unterstützten die Truppen, indem sie die Verletzten versorgten, und hatten oft ebenso viel auszuhalten wie die Männer. Dieses Foto von Roger Fenton zeigt auf der Krim eine dieser Frauen, eine sog. cantinière, eine Marketenderin.

Sie begleiteten die französischen Armeen seit dem späten 18. Jh. in den Krieg. Als Frauen dienender Soldaten trugen sie die gleichen Uniformen wie ihre Männer und verkauften aus Zelten oder Karren Wein, Lebensmittel, Tabak und sonstigen Proviant an die Soldaten.

Napoleon III. lobte die cantinières und stellte sicher, dass viele von ihnen seine Armeen, die in Mexiko, dem Fernen Osten, Belgien, Italien, Russland oder anderswo kämpften, begleiteten. Bis ins frühe 20. Jh. waren sie fester Bestandteil des französischen Militärs. Der Erfolg dieses Systems veranlasste andere Nationen, es zu übernehmen, auch im amerikanischen Bürgerkrieg in den 1860er-Jahren wurden die Armeen beider Seiten von Frauen versorgt.

Das Leben einer cantinière war schwierig und gefährlich. Dennoch bot es eine gewisse Freiheit, besonders für französische Frauen, deren Grundrechte im »Code Napoléon« sehr genau festgelegt waren. Vielleicht wurde das stark idealisierte Bild von der koketten cantinière gerade deshalb in jenen Tagen ein Fantasiebild für die Soldaten anderer Länder.

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»Aber in dem Augenblick, in dem eine Meuterei droht, die nicht bloße Meuterei sein soll, sondern Ausdruck eines allgemeinen Nationalgefühls, in diesem Augenblick ist alle Hoffnung, sind alle Wünsche, unser Reich zu erhalten, zu Ende.«

Rückblick des viktorianischen Historikers Sir John Seeley auf den Aufstand von 1857–1858

Der Indische Aufstand

Während die Großmächte in Europa Krieg führten, wurde Tausende Kilometer weiter östlich ebenfalls gekämpft. In Indien herrschte seit Beginn des 17. Jh. die britische Ostindien-Kompanie, die mittels eines königlichen Freibriefs von Elizabeth I., politischer Durchtriebenheit und der Macht grausamer Armeen bis zur Mitte des 19. Jh. ihren Einflussbereich auf mehr als die Hälfte des indischen Subkontinents, vom Himalaya bis Madras (heute Chennai) und von der Grenze Afghanistans bis Burma (heute Myanmar) ausgedehnt hatte.

Die Ostindien-Kompanie wurde immer wieder beschuldigt, sich in soziale und religiöse Traditionen einzumischen, die Bevölkerung ökonomisch auszubeuten und keine Rechtsicherheit zu gewährleisten. Anfang 1857 wurden religiöse Spannungen zwischen Hindus, Moslems und Christen durch ein Gerücht geschürt, dem zufolge neue Schwarzpulverpatronen, mit denen die Soldaten exerzierten, mit Rindertalg und Schweineschmalz gefettet wurden – sowohl für gläubige Hindus als auch für Moslems ein ungeheurer Affront.

Am 10. Mai 1857 kam es in der Garnisonsstadt Merath nach anfänglicher Meuterei zu einem offenen Aufstand der indischen Soldaten (Sepoys), der sich rasch bis Delhi und Lucknow, Hauptstadt der Region Awadh (bzw. Oudh), ausbreitete. Das Foto zeigt die Moschee von Lucknow kurz nach der Revolte. Weitere Städte in der Region schlossen sich an, Lucknow wurde zweimal für insgesamt 140 Tage belagert. Ende 1858 lagen Lucknow und Delhi in Schutt und Asche, die Unruhen in Nordindien hatten 18 Monate gedauert. Die Rebellion war gescheitert, hatte das Land aber für immer verändert.

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»Wir halten uns an die Eingeborenen unserer indischen Gebiete durch die gleichen Pflichten gebunden, die uns an alle unsere anderen Untertanen binden.«

Der »Government of India Act 1858« wandelte die Gebiete der Ostindien-Kompanie in eine britische Kronkolonie um.

Der Beginn der britischen Herrschaft in Indien

Die Unruhen in Nordindien von 1857–1858 hatten 800.000 Menschen das Leben gekostet. Beide Seiten hatten furchtbare Grausamkeiten verübt, auch an der Zivilbevölkerung, und auf beiden Seiten kämpften Einheimische, deren Loyalität durch ihren Siedlungsbereich vorgegeben war.

Im Pandschab (Punjab) kämpften Soldaten der Religionsgemeinschaft der Sikhs gemeinsam mit britischen Einheiten, wie diese beiden Mitglieder der Kavallerie auf einem Foto des italienischen Fotografen Felice Beato von 1858.

Die Briten übten schreckliche Vergeltung für den Aufstand, was sich in Form gnadenloser Hinrichtungen manifestierte, die in der britischen Presse auch noch glorifiziert wurden. Charles Dickens etwa schrieb: »Ich wünschte, ich wäre Oberbefehlshaber in Indien. Ich würde mein Möglichstes tun, um das ganze Pack auszurotten.«

Mit der königlichen Proklamation »Government of India Act 1858« beendete Königin Victoria die Herrschaft der Ostindien-Kompanie und erklärte das Land zum Bestandteil des Britischen Empire: Die britische Herrschaft in Indien hatte begonnen.

In der Folgezeit nahm Großbritannien mehr Rücksicht auf die indische Kultur und ihre Hierarchien und investierte in seine Kronkolonie. Das Schienennetz der Eisenbahn wurde ausgebaut, Kanäle angelegt und Schulen und Internate eingerichtet: die Grundstrukturen für ein modernes Indien. Natürlich handelte das Empire aus Eigeninteresse. Dennoch war, wie sich Jahrzehnte später zeigen sollte, der ultimative Effekt die Entstehung eines gesamtindischen Nationalbewusstseins, das dazu beitrug, die britische Herrschaft auch wieder abzuschütteln.

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»Noch nie habe ich von einem Krieg gehört oder gelesen, der schon in seinen Ursachen so ungerecht war und so sehr dazu angetan, Schande über dieses Land zu bringen.«

Premierminister W. E. Gladston über die Opiumkriege, 1877

Die Opiumkriege

Einer der für die Briten wichtigsten Rohstoffe Indiens war Opium. Der Schlafmohn wurde in Bengalen zu der Droge verarbeitet und dann weltweit exportiert, vornehmlich nach China. Hier fand sie reißenden Absatz, denn sie galt als potenzsteigernd. Opiumhöhlen, voll mit Drogensüchtigen, gab es in chinesischen Städten und Dörfern an jeder Ecke.

Der Kaiser von China sah die Zerstörung des Sozialsystems des Landes durch die Opiumabhängigkeit und versuchte, Opiumverkäufe der Briten zu verhindern. Der Erste Opiumkrieg wurde zwischen 1839 und 1842 ausgetragen; ein zweiter begann 1856. Die Kriege schwächten die Marine des Britischen Empire und ihrer französischen Alliierten gegenüber der Qing-Dynastie und beeinflussten mehrere weitere Streitpunkte zwischen den Mächten, z. B. das generelle Recht auf freien Handel mit China, die schlechte Behandlung ausländischer christlicher Missionare und den »Handel« mit Tagelöhnern, sog. Kulis, chinesischen Arbeitern, die in alle Welt exportiert und in Singapur, Australien, Peru, Chile, in der Karibik und den Vereinigten Staaten zur Arbeit gezwungen wurden.

Dieses Foto von Felice Beato zeigt das Innere eines der Taku-Forts, von wo aus der Angriff auf Peking verteidigt wurde, dem aber im August 1860 ein britisch-französischer Sieg folgte. (Das hier gezeigte Gemetzel war eine Abkehr von der »blutlosen« Kriegsfotografie, die noch im Krimkrieg üblich war.) Zwei Monate später plünderten die Briten Pekings »Alten Sommerpalast« Yuan Ming Yuan, die kaiserlichen Gärten. Der gedemütigte Kaiser Xianfeng floh, und ein Frieden wurde geschlossen, der Großbritannien und Frankreich sehr begünstigte.

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