Buchcover

Inger Gammelgaard Madsen

Der Reiniger

SAGA Egmont




1: Die Liste

Sie war an den Schultern ein bisschen zu groß und roch nach neuem Leder und Tabak. Sie war cognacfarben und knirschte leicht, als er den Arm beugte, um die anderen mit dem zu grüßen, was sie ihren Bandengruß nannten. Zuerst ein Schlag auf den Brustkorb mit geballter Faust und danach Zeige- und Mittelfinger an die rechte Schläfe, zum Schluss ein Knöchel-gegen-Knöchel-Gruß mit jedem. Bjarke hatte sich das ausgedacht. Er war verrückt nach Ritualen. Überhaupt nach Zwangshandlungen. Das hatte ihm eine Diagnose eingebracht, sodass er nun von der Arbeit freigestellt war. Er war der Älteste von ihnen und hätte eigentlich im Herbst als Zimmermannslehrling anfangen sollen, doch dann zerrte seine Mutter ihn wegen seines besonderen Drangs alles zu zählen und Bewegungen immer wieder zu wiederholen zum Psychologen. Der Psychologe bezeichnete das als OCD, hatte Bjarke beinahe stolz referiert. Er hatte etwas bekommen, was die anderen nicht hatten. Bertram wünschte, er könnte auch eine Diagnose kriegen. Er hatte Arbeit gesucht, seit er von der Volksschule abgegangen war, aber es war schwer, etwas zu finden. Dann hatte er Bjarke und die anderen getroffen. Die Raben nannten sie sich. Ein Gegenstück zu den Nachtraben, die nachts in den Straßen patrouillierten um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Raben waren kluge und geschickte Vögel, die andere Tiere täuschen konnten und außerdem hatten sie den Drang, blanke, glänzende Dinge wie zum Beispiel Schmuck zu stehlen. Nachtraben waren bloß Personen, die nachts länger wach waren.


„Yo, coooole Jacke, Alter!“, rief Felix beeindruckt und nahm ausnahmsweise die Augen mal ganz vom leuchtenden Bildschirm seines Tablets, das seinem Gesicht eine noch kränklichere Farbe verlieh.

„Wo zum Teufel hast du die her?“ Bjarke ließ Zigarettenrauch aus einem Mundwinkel entweichen und starrte Bertram skeptisch an.

„Ja, verdammt, wo hast du die denn mitgehen lassen?“, fragte Kasper und traf voll ins Schwarze.

„Im Restaurant“, gab Bertram zu, steckte die Hände in die Jackentaschen und versuchte lässig auszusehen. „Das ist 'ne teure Marke. Schott Made in USA.“

„Ich wusste gar nicht, dass Sexy-Eva so feine Kunden bedient“, meinte Bjarke mit einem schiefen Lächeln, während er die Zigarette immer wieder zwischen den Fingern auf und ab wippen ließ, sodass die Asche herunterrieselte.

Es störte Bertram jedes Mal, wenn Bjarke so über Eva Maja sprach. Er nannte sie nie Mama, das klang so kindlich, fand er. Er mochte auch nicht, wie Bjarke sie ansah, als wäre er ein erwachsener Mann mit Frauenerfahrung. Er hatte nur eine einzige Freundin gehabt und es hatte nur eine Woche gehalten, dann hatte sie keinen Bock mehr auf ihn gehabt. Bertram würde ihm am liebsten eins auf die Fresse geben, aber er wusste auch, dass es keine gute Idee war, sich mit Bjarke anzulegen. Seine Manie, Bewegungen zu wiederholen, war lebensgefährlich, wenn er seine Fäuste benutzte. Außerdem ging er zum Boxtraining. Als Therapie, behauptete er. Wie immer schluckte Bertram seine Wut herunter.

„Aber glaubst du, der Hehler nimmt die?“, wollte Kasper wissen, der daran schuld war, dass sie den Hehler die ganze Zeit im Nacken hatten. Es war zwar toll, dass er die Dinge verhökern konnte, die sie klauten, aber dieser halbglatzköpfige, dicke, alte Trottel ging Bertram allmählich ebenfalls auf die Nerven. Er mischte sich in alles zu viel ein, beschattete sie fast schon. Warum machte er seine Einbrüche nicht gleich selbst? Bertram vertraute ihm ebenso wenig, wie er ihnen. Am Anfang war es lustiger gewesen, als sie allein gewesen waren und es mehr ein Sport war, die umliegenden Läden zu überfallen. Natürlich verdienten sie jetzt an den Einbrüchen, aber das hatte auch seinen Preis.


„Der Hehler soll nichts davon wissen.“

„Willst du die denn einfach selbst behalten?“ Kasper staunte.

Bertram setzte sich neben Bjarke auf die Terrassenbretter am Fluss. Die Sonne segnete den Apriltag mit etwas, das ein wenig an Frühling erinnern ließ. Trotzdem war er froh über die Jacke. Der Wind war immer noch kalt. Er schaute hoch zu Aros’ Regenbogen, wo die Besucher nur kleine, dunkle Silhouetten hinter dem bunten Glas waren. Es sah wie ein Ufo aus, das auf dem Dach des viereckigen Gebäudes des großen Museums gelandet war, wo Aliens nun darauf warteten, das Glas zu durchbrechen und die Stadt zu besetzen. Nachts, wenn er nicht schlafen konnte, weil er normalerweise bis Mittag schlief, setzte er sich an den Computer und schrieb so etwas. Über Zombies, Vampire und böse Geister. Blut und Tod. Er bekäme ganz sicher auch eine Diagnose, wenn der Psychiater das läse. Er spuckte in das grünbraune Wasser des Flusses und nickte.

„Der Hehler flippt aus, wenn er das rausfindet. Ein bisschen könnte er sicher dafür kriegen, und wir …“

„Jetzt halt die Fresse, Felix! Wir haben doch besprochen, dass wir auch was selbst behalten dürfen. Der Hehler muss nicht alles wissen“, knurrte Bjarke und Felix richtete den Blick auf den Computerbildschirm und verschwand wieder in sich selbst.

„Hast du die Brieftasche geleert? Du könntest echt teilen“, fuhr Bjarke mürrisch fort. Er schnippte die Zigarettenkippe ins Wasser. Sie landete direkt neben Bertrams Spuckflatschen.

„In den Taschen war nichts.“

„Dann hast du also keine Ahnung, wem sie gehört? Was, wenn die zum Beispiel einem Bullen ist? Vielleicht sogar dem, der dich gestern Abend erwischt hat.“

Sie wären beinahe geschnappt worden, als ein Verkäufer in einem Elektrofachgeschäft sie entdeckt hatte. Es musste Zufall gewesen sein, dass gerade ein Streifenwagen in der Nähe war, denn so schnell kamen die normalerweise nicht. Einer der Beamten war aus dem Auto gesprungen und hatte Bertram am Kragen gepackt, aber es war ihm gelungen sich loszuwinden und abzuhauen. Aber der Beamte hatte sein Gesicht gesehen und würde ihn problemlos wiedererkennen dank des braunen Muttermals von der Größe einer Zehn-Kronen-Münze an seinem rechten Ohr. Der Beamte hatte es angestarrt.

Bertram zuckte die Schultern. „Und wie sollte er beweisen, dass es seine ist?“

„Anhand des Flecks hinten an deiner Schulter. Ist das ein Brandfleck?“

Bertram hatte den schwarzen Fleck nicht gesehen, der tatsächlich von näherem Kontakt mit einer glühenden Zigarette stammen konnte.

„Verdammt“, fluchte er.

Bjarke lächelte wieder sein schiefes Lächeln, das, so hatte er erzählt, von einer Hasenscharte herrührte, die operiert worden war, als er klein gewesen war. Andere meinten, sie sei das Resultat der einzigen Schlägerei, die er verloren hatte, bei der der Gegner seine Oberlippe gespalten hatte und dass er seitdem zum Boxen ging. Dann richtete er den stumpfen Blick auf etwas hinter Bertram.

„Fuck! Apropros Hehler, guckt mal, wer da kommt!“

Bertram wandte den Kopf und sah den kleinen, dicken Mann über das Gras watscheln, wo weitere junge Studenten unter den Bäumen lasen. Obwohl es noch nicht Frühling war, war der Møllepark gut besucht.

Der Hehler blieb atemlos vor ihnen stehen. Unter seinen Hemdsärmeln zeichneten sich große, dunkle Flecken ab.

„Dacht’ ich’s mir doch, dass ihr hier abhängt. Ich habe für heute Abend einen Auftrag für euch.“

„Gibt’s was dafür?“, fragte Bjarke und klang desinteressiert.

„Ja, Mann. Natürlich. Ihr kriegt den üblichen Anteil.“ Der Hehler wischte mit dem Handrücken unter der Nase entlang. „Aber ich kann nur zwei von euch gebrauchen. Das soll ein bisschen diskret sein. Du bist einer davon, Bjarke.“

„Wieso gerade ich?“, protestierte Bjarke.

„Du bist der Einzige von euch, der schon achtzehn ist und einen Führerschein hat. Ich habe das Auto besorgt. Kasper, du kommst mit. Du bist sicher der Stärkste.“

Der Hehler sah alle vier abschätzend an, als hätte er ihren Körperbau bis jetzt noch nicht bemerkt. Anscheinend registrierte er den anklagenden Blick von Bjarke nicht, der sich selbstverständlich für den Stärksten hielt. Dass er der Aggressivste war, war etwas ganz anderes.

Kasper stand bereitwillig auf und bürstete Dreck von der Hose. Wie immer, wenn der Hehler in der Nähe war, wirkte er nervös. Bertram wusste nicht, woher sie sich kannten, hatte aber keinerlei Zweifel, dass Kasper eine Heidenangst vor dem Mann hatte.

„Was machen wir dann?“, fragte er und deutete mit dem Daumen auf Felix.

Der Hehler sah ihn lange mit zusammengekniffenen, blutunterlaufenen Augen an. Gerüchten zufolge versoff er das Geld, das er bei ihren Einbrüchen verdiente. Aber so lange sie ihren Anteil bekamen, konnte er von Bertram aus damit machen, was zum Teufel er wollte.

„Ihr könnt später helfen, wenn die Ware an den Käufer geliefert wird. Wir haben eine Bestellung von ein paar Designermöbeln, die in einer Lagerhalle in Hasselager stehen.“

Der Hehler reichte Bjarke einen Zettel mit einer Adresse und dem Bild eines schwarzen Sessels. So einen hatten sie schon mal gestohlen. Der Hehler nannte ihn Das Ei. Bertram konnte an diesem Möbelstück nichts Besonderes erkennen und fasste es nicht, dass es um die 70.000 Kronen wert sein sollte. Der Hehler hatte den Blick nicht von ihm genommen.

„Das ist echt 'ne schicke Jacke, die du dir da zugelegt hast, Junior. Zu Geld gekommen?“, fragte er.

Ein kühler Wind stob wie ein verabredetes Spiel durch den Park und wirbelte welke Blätter auf. Bertram schauderte.

„Ich … hmm, hab’ jedes Mal, wenn du uns bezahlt hast, ein bisschen was zur Seite gelegt“, murmelte er.

Der Hehler nickte mehrfach mit hochgezogenen Augenbrauen, als glaubte er ihm nicht.

„Dann kriegst du echt zu viel Lohn bei mir! Die sieht teuer aus.“

„Eva Maja hat mir auch ein bisschen Taschengeld gegeben“, log er.

„Eva Maja? Deine Mutter?! Was kann die mit kellnern in dieser düsteren Spelunke verdienen?“

„Das ist keine Spelunke. Das ist ein feines Restaurant.“

„Fein!“ Der Hehler schnaubte. „Da ist gar nichts fein, weder das, noch deine Mutter.“

Er klopfte eine Zigarette aus der Schachtel und versuchte sie mit der Hand als Abschirmung gegen den Wind anzuzünden. Kasper eilte ihm sofort zur Hilfe.

Der Hehler schaute immer noch Bertram an und pustete den Rauch aus beiden Nasenlöchern wie ein wütender Drache.

„Ich soll dich übrigens von deinem Alten grüßen. Er vermisst dich.“

Bertram konnte kein Wort sagen und schluckte ein paar Mal. Der Puls beschleunigte sich.

„Du solltest dich echt schämen, Junge. Als ich eingesessen habe, hätte ich nicht überlebt, wenn meine Frau und meine Kinder mich nicht besucht hätten. Deine Mutter kommt ja auch nicht.“

Bertram antwortete immer noch nicht und der Hehler schüttelte aufgebend den Kopf. Bjarke und Kasper folgten ihm, als er ging. Er wollte sie instruieren, wie sie in die Lagerhalle kämen. Bertram kannte die Routine.

Felix hatte die Augen kaum vom Bildschirm abgewandt, obwohl der Hehler gekommen war. Er war ganz in seiner eigenen Welt. Plötzlich klatschte er eine Hand auf den Oberschenkel und fing laut zu lachen an.

„Bäm! Ich hab’s echt geschafft! Niemand im Cyberspace kann sich vor Felix verstecken!“

„Was hast du geschafft?“, fragte Bertram und lächelte über Felix’ Lachen. Es war selten, dass er seine Emotionen so offen zeigte.

Felix drehte den Bildschirm zu ihm, aber Bertram verstand nichts von all den Zahlen und Codes, die er sah.

„Was ist das?“

Irritiert zog Felix sein Tablet zurück. Er tippte etwas ein und zeigte ihm den Bildschirm erneut.

„Okay, verstehst du das hier besser?“

„Äh, die Homepage eines Gymnasiums, was …“

„Kapierst du denn gar nichts, Mann? Ich hab’ mich ins IT-System des Gymnasiums meines Bruders gehackt. Ich habe gerade seine Fehlstunden auf Null geändert.“

Felix grinste wieder und Bertram schüttelte den Kopf.

„Das finden die doch sicher schnell heraus? Du weißt schon, dass du dafür viele Jahre ins Gefängnis kommen kannst?“

„Das findet niemand heraus. Nicht so, wie ich das gemacht habe. Ist ja auch nur zum Spaß.“

„Ich mein’s ernst, Felix. Die sind bei der Polizei mittlerweile echt gut in so etwas. Wenn die rauskriegen, dass du das warst, dann …“

„Dann was? Besuchst du mich dann auch nicht im Knast? Ich habe ja niemanden getötet wie dein Vater, oder …“, konterte Felix, bereute es jedoch sofort. „Nein, sorry, Mann. Ich versteh’ total, dass du deinen Vater nicht sehen willst, wenn er … und auch, dass deine Mutter es nicht will …“

„Sprich verdammt nochmal nicht mehr über meinen Vater“, knurrte Bertram. „Oder über Eva Maja!“

„Sorry.“

Felix starrte auf das Wasser des Flusses, das träge vorbeiglitt. Seine Wangen brannten bis hoch zu der sonst blassen Stirn, die heute sichtbar war, weil er die schulterlangen blonden Haare in einem kleinen Knoten mitten auf dem Kopf gesammelt hatte. Bertram betrachtete sein Profil. Er sah aus wie ein Mädchen. Er war immer schon ein bisschen nerdig gewesen. Sie waren völlig gegensätzlich, aber komischerweise hatte er sich als erstes mit Felix zusammengetan, als er mit Eva Maja in den Wohnblock gezogen war, wo auch Kasper und Bjarke wohnten. Er und Felix gingen in die gleiche Klasse und waren fast zusammen aufgewachsen – mit gemeinsamem Grillen im Hinterhof im Sommer, wo es mehr nach Hasch als nach Grill-Qualm roch und die Männer in der Regel zu viel tranken und sich prügelten. Nicht selten kam ein Streifenwagen vorbei, wenn einige der anderen Bewohner genug von dem Lärm und den Unruhen hatten. Aber das Leben war damals trotzdem besser geworden, als er mit Eva Maja allein war.

„Ich meine ja nur, Felix … Pass auf, dass der Hehler deine Fähigkeiten nicht entdeckt. Das wird er ganz sicher zu seinem Vorteil ausnutzen. Dann ist das nicht mehr nur zum Spaß.“

„Was heißt hier Fähigkeiten, ich üb’ ja bloß“, murmelte Felix.

Eine Ente schnappte etwas, das auf der Wasseroberfläche lag, und schwamm weiter. Die Sonne brannte auf den Rücken der Lederjacke. Bertram streifte sie ab.

Sie schwiegen eine Weile. Felix warf einen Bierdeckel nach einer Ente, die ihn gleich schlucken wollte. Sie lachten beide.

„Bist du dir ganz sicher, dass nichts in den Taschen ist?“, fragte Felix dann und schielte auf die Jacke. „Wenn in einer davon ein Handy liegt, kann es zu dir zurückverfolgt werden. Hast du die Innentaschen gecheckt? So eine Jacke kann viele haben.“

Bertram nickte, suchte aber trotzdem nochmal. Eigentlich hatte er nur die Außentaschen kontrolliert, als er vom Restaurant weggelaufen war. Die Jacke hatte über einer Stuhllehne gehangen, als er Eva Maja bei der Arbeit aufgesucht hatte, um ein bisschen Geld fürs Abendessen zu kriegen, das sie ihn gebeten hatte einzukaufen. Er sollte auch etwas dafür tun, zu Hause zu wohnen, sagte sie die ganze Zeit. Es war niemand an dem Tisch gewesen, auf dem lauter leere Tassen und Gläser herumstanden, als ob die Gäste ihn einfach verlassen hätten und irgendjemand in der Eile seine Jacke vergessen hätte. Eva Maja nahm an einem anderen Tisch weiter hinten im Restaurant Bestellungen auf und die Versuchung war zu groß gewesen. Keiner sah, dass er sich die Jacke schnappte und zügig verschwand.

Seine Finger stießen auf irgendetwas, das unter dem Futter in einer kleinen Tasche mit Reißverschluss versteckt war. Er machte sie auf und fand etwas.

„Ein Schlüssel?“, stellte er überrascht fest und zeigte ihn Felix.

„Das ist kein Schlüssel.“

„Ist es wohl.“

Felix nahm ihn ihm aus der Hand. „Ja, aber ein USB-Schlüssel, ein Memory Stick in Form eines richtigen Schlüssels.“

Felix steckte ihn in den USB-Port seines Tablets. Auf dem Bildschirm erschien ein Link.

„Das ist bestimmt eine Homepage“, murmelte Felix. Er klickte ihn an und eine schwarze Seite mit einem Kästchen ging auf.

„Shit, für die Seite braucht man einen Zugangscode und ein Passwort“, stöhnte Felix.

„Wo die wohl hinführt?“

„Ich weiß es nicht, aber es ist etwas Suspektes. Sieht nach einem geheimen Netzwerk aus.“

„Kannst du herausfinden, wie wir da reinkommen?“

„Vielleicht, aber das wird dauern - und traust du dich? Vielleicht sind das Pornos.“

„Genau“, antwortete Bertram und grinste.


Das Wesen war so groß wie eine große Katze und sah aus wie eine Mischung aus Mensch und Ratte. Es waren auch Rattenzähne, die sich in seinem schäumenden Maul zeigten, als das Wesen es öffnete und sich zum Angriff bereit machte. Seine Haut war klamm und glänzte vor Schweiß. Er benutzte die Löschtaste und änderte in Schleim. Rango, das Chamäleon, saß völlig unbeweglich im Terrarium und folgte ihm alienmäßig mit seinen Kugelaugen. Er hatte ihn bei Ebay-Kleinanzeigen für nur 250 Kronen gekauft. Eva Maja hasste ihn wie die Pest.

Genervt ging Bertram ans Telefon, als es neben ihm auf dem Tisch brummte. Er hatte jeden Augenblick erwartet, der Hehler würde anrufen, dass er ausrücken und helfen sollte. Merkwürdig, dass er es noch nicht getan hatte. Es war nach Mitternacht. Aber zu seiner Erleichterung war es Felix.

„Ich bin reingekommen! Alter, ich bin so gut! Ich bin echt reingekommen.“

Zuerst verstand Bertram nicht, was Felix da faselte. Seine Gedanken waren noch beim Einbruch in die Lagerhalle, den Kasper und Bjarke jetzt erledigt haben müssten, wenn nichts schief gelaufen war, doch dann ging ihm auf, dass Felix den Code geknackt hatte und in das geheime Netzwerk gekommen war.

„Geil! Und, was ist es? Pornos?“

„Nee, nicht wirklich. Ist wohl doch nichts Besonderes. Nur ein Foto von irgend so einem hässlichen Typen. Ich schick’ dir gerade mal den Link und den Code, dann kannst du selbst gucken.“

Das E-Mail-Programm gab einen tiefen Glockenton von sich, als die Mail einging. Bertram klickte den Link an und kam auf die Seite mit schwarzem Hintergrund. Er gab den Code ein. Dort standen drei Namen untereinander. Neben dem ersten war ein Foto. Sonst nichts.

„Das ist also das geheime Netzwerk. Sieht ja nicht besonders geheim aus.“

„Nein, ich weiß nicht, wer dieser Typ ist, aber er hat einen total dämlichen Namen. Vielleicht ist das eine Liste von Leuten mit schrägen Namen. Kann man echt Julius Habekost heißen?“

Sie lachten.

„Die beiden anderen Namen sind nicht so abgefahren. Vivian Elsted und Karl Dallerup sind ja ziemlich normal, aber von denen gibt es keine Fotos.“

„Dann ist es vielleicht eine Liste mit hässlichen Menschen. Dieser Habekost ist ja nicht gerade schön. Gibt’s nicht auch ein Schwein namens Julius?“, lachte Felix weiter.

„Hieß das nicht Antonius?“

„Kann sein. Aber wenn dem die Jacke gehört, musst du dir jedenfalls keine Sorgen machen, dass er dich findet. Mit dem kannst du es problemlos aufnehmen.“

Bertram hatte gerade das Gespräch mit Felix beendet, als Kasper anrief. Er war kurz davor, nicht dranzugehen, aber dann kam ihm der Gedanke, dass Kasper vielleicht auch angerufen hatte, als besetzt war, während er mit Felix telefoniert hatte, und deswegen wusste, dass Bertram nicht schlief.

„Der Hehler sagt, wir sollen kommen und dabei helfen, die Sessel zu schleppen. Der Käufer soll sie in einer Stunde haben.“

„Ich kann echt nicht, Kasper …“

„Wieso nicht?“

„Reicht ein Helfer nicht? Kannst du nicht stattdessen Felix anrufen?“

„Hab’ ich versucht, war aber besetzt. Warum kannst du nicht?“

„Ähm, Eva Maja arbeitet heute Abend nicht. Sie … sie ist krank, deswegen muss ich zu Hause bleiben.“

„Okay. Aber der Hehler wird sauer, wenn er rauskriegt, dass du lügst - und wenn er das mit der Jacke herausfindet. Du solltest also aufpassen, Bertram …“

„Ich scheiß’ auf den Hehler. Siehst du nicht, dass er uns bloß ausnutzt? Warum hast du so 'ne Scheißangst vor ihm?“

„Hab’ ich gar nicht!“, protestierte Kasper entrüstet. „Aber wir kriegen ja Geld von ihm. Das müssen wir uns natürlich erstmal verdienen. Was würdest du ohne das machen? Du könntest deiner Mutter nicht mehr vorlügen, du hättest einen Job, wenn das Geld nicht wäre.“

„Vielleicht könnte ich einfach einen Job finden, dann müsste ich nicht lügen.“

„Dann mal viel Spaß!“, erwiderte Kasper sauer und unterbrach die Verbindung.

Es stimmte nicht, dass seine Mutter nicht arbeitete. Er schaute auf die Uhr. Es wunderte ihn, dass sie noch nicht zu Hause war. Das Restaurant machte um 23:00 Uhr zu. Vielleicht wollten einige Gäste nicht gehen. Das passierte gelegentlich. Oder vielleicht war sie noch mit ihren Kollegen ausgegangen. Er hoffte, der Hehler lief ihr in der Stadt nicht über den Weg.

Bertram schaute wieder auf den Bildschirm seines Laptops. Wie geheim konnte so eine Liste sein und warum gab es nur von diesem Julius Habekost ein Foto?

Er beeilte sich, das geheime Netzwerk zu schließen und öffnete das Until Dawn- Computerspiel, als er Eva Maja im Flur lärmen hörte. Sie hatte wohl gesehen, dass in seinem Zimmer Licht brannte, sonst schlich sie immer, wenn sie spät nach Hause kam. Kurz darauf klopfte es vorsichtig an der Tür. Das tat sie seit einem Abend, an dem sie hereingeplatzt war, als er zu einem Pornofilm im Internet onanierte. Sie war so verlegen gewesen, dass sie hinausgeeilt war. Sie hatten nie darüber gesprochen und es hatte sich seitdem nicht wiederholt. Dass sie hereinplatzte jedenfalls nicht. Jetzt klopfte sie immer und wartete schön, bis er ihr die Erlaubnis gab, bevor sie die Tür öffnete. Vielleicht war ihr aufgegangen, dass ihr Sohn erwachsen geworden war und ein bisschen Privatsphäre brauchte.

„Hallo, Schatz.“

Sie trat von hinten an ihn heran und legte die Arme um ihn. Sie roch nach einem billigen Parfüm und aus dem Mund nach Zigaretten und Alkohol. Sie legte ihre Wange an seine und verfolgte das Geschehen auf dem Bildschirm mit. „Was für eklige Monster! Warum musst du immer so unheimliche Spiele spielen?“

„Warum kommst du so spät?“

Sie küsste ihn hinters Ohr. „Ich musste länger arbeiten. Sonja ist krank geworden und musste heim. Und anschließend war ich noch auf einen Drink mit Nelly. Wir mussten ein bisschen abschalten, heute war die Hölle los.“

Sie stützte sich mit einer Hand auf seiner Stuhllehne ab, während sie mit der anderen ihre hochhackigen Schuhe auszog und sie mit einem Seufzer tiefer Erleichterung auf den Boden warf.

„Warum rennst du auch mit diesen Stilettos rum?“

„Das müssen wir ja. Wir sollen hübsch aussehen für die Kunden. Ich gewöhne mich auch langsam daran, aber …“ Sie ließ sich auf sein Bett fallen und rieb sich die Füße. „Was hast du heute gemacht? Außer Monster zu töten?“

„Nichts.“

„Nichts? Warst du nicht arbeiten?“

Er nickte bloß und überlebte das Level nicht, da er es nicht schaffte den Kopf zu bewegen und getötet wurde.

„Hast du eingekauft?“

„Ja, aber was zum Teufel bringt das, wenn du nicht heimkommst und Essen machst.“

„Jetzt sei nicht sauer, Schatz.“ Sie beugte sich vor und machte einen Schmollmund.

„Du hättest anrufen können.“

„Ja. Entschuldigung! Morgen komme ich wohl früh nach Hause, dann können wir es uns richtig gemütlich machen.“

Er zog den Kopf weg, als sie seine Wange streichelte und versuchte, ihn auf den Mund zu küssen. Er hasste es, wenn sie zu viel getrunken hatte und so wurde.

„Ich habe heute einen Gruß von Papa bekommen“, sagte er, um das Ganze zu zerstören. Es klappte. Sofort stand sie auf und die Hand schnellte an ihren Hals, als wollte sie einen Schrei unterdrücken.

„Von wem?“

„Bloß einer, den Kasper kennt.“

„Hat … hat er ihn besucht? Er ist doch wohl nicht draußen und …“

Sie klang so erschrocken, dass Bertram bereute, es gesagt zu haben.

„Nein, er ist nicht draußen, das weißt du doch. Erst in sechs Jahren, sagtest du.“

„Ja, aber manchmal werden sie auf Bewährung entlassen, daher … Was hat er sonst noch gesagt? Dieser Freund von Kasper?“

„Nur, dass Papa uns vermisst.“

Sie schnaubte und nahm eine Zigarette aus der Schachtel auf seinem Tisch. Ihre Hände zitterten, als sie die Zigarette mit einem Einwegfeuerzeug, das er ihr reichte, anzündete.

„Er vermisst wohl einfach jemanden, auf den er losgehen kann. Was anderes ist das sicher nicht!“, schnaubte sie, blies wütend den Rauch an die Decke und verschränkte wie zum Schutz die Arme vor der Brust.

Bertram zuckte die Schultern. Er erinnerte sich nicht besonders gut an seinen Vater, er war erst sieben gewesen, als er im Knast gelandet war. Seine Mutter sagte, das sei wohl, weil er sich nicht erinnern wolle, hatte es aber nicht näher vertieft. Er wusste nur, dass sein Vater irgendwen ermordet hatte und dass Eva Maja ihn hasste. Mehr brauchte er auch nicht zu wissen.

Er bemerkte, dass sie die Lederjacke entdeckt hatte und anstarrte. Innerlich fluchte er, sie nicht in den Schrank gehängt zu haben. Auf der anderen Seite kaufte er sich seine Klamotten selbst, also ging sie das ja nichts an. Aber sie lief zu dem Sessel, auf dem die Jacke lag, und hielt sie mit dem Zeigefinger am Aufhänger hoch. Ob sie sie wohl wiedererkannte? Kannte sie den Kunden, dem er sie gestohlen hatte? Vielleicht wusste sie auch, wozu die Liste in dem geheimem Netzwerk gebraucht wurde.

„Wessen Jacke ist das?“, fragte sie spitz und sah ihn mit schmalen Augen an, die vor Misstrauen schwelten. Sie hatte ihn schon einmal beim Stehlen erwischt, aber das war viele Jahre her.

„Meine natürlich, wenn sie in meinem Zimmer ist, glaubst du nicht?“

„Nicht so vorlaut! Die sieht teuer aus. Woher hast du das Geld dafür?“ Ihre Augen waren hart und forschend und er schaute weg. Tat, als spielte er immer noch, obwohl er zum dritten Mal gestorben war.

„Die hab ich gekauft … von meinem Gehalt.“

„Verdient man so viel mit Werbung verteilen?“

„Ja, wenn man spart.“

„Du belügst mich doch nicht, oder?“

„Nein, mach’ ich nicht! Warum glaubst du mir nie?“

„Tu ich doch. Entschuldige, Schatz. Hast du was gegessen?“, fragte sie und strich ihm wieder über die Wange. Zum Glück lächelte sie. Erleichtert.

Er zog wieder den Kopf von ihrer Hand weg.

„Ich hab’ keinen Hunger.“

Er starb wieder und gab auf. Konnte sich nicht konzentrieren.

„Okay. Dann geh ins Bett, ja. Du solltest nicht die ganze Nacht vor diesem unheimlichen Spiel sitzen. Man kriegt ja Hirnschäden davon!“

Sie ging und er wusste, er hatte es geschafft, ihre gute Laune zu verderben, indem er seinen Vater erwähnt hatte, aber das war ihm egal.

Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, loggte er sich wieder in das geheime Netzwerk ein. Welchem Zweck diente es? Da standen nur diese Namen und dann …

Die Seite war aktualisiert worden. Nun gab es einen Videoclip neben dem Bild dieses Typen. Zögernd drückte Bertram auf den weißen Pfeil in der Mitte; der Film startete. Ein Mann stand an einem offenen Fenster und schaute sich mit Entsetzen in den Augen um. Dann verschwand er. Ob er selbst sprang oder ob er geschubst wurde, konnte er nicht erkennen. Die Kamera verfolgte ihn, als ob Bertram selbst es tat, und er zuckte automatisch zurück, als er sah, wie tief es herunterging. Im Licht einer Straßenlaterne erahnte er die Silhouette einer Gestalt, die in einer unnatürlich verrenkten Stellung auf dem Bürgersteig lag. Das Bild verschwand für einen Moment, wo nur Dunkelheit war, dann kam es zurück. Jetzt wurde das Gesicht des Mannes aus der Nähe gefilmt. Die Kamera schwenkte darüber. Er war nicht ganz tot. Die Knochen auf der einen Seite des Gesichts waren nach der Begegnung mit dem Bürgersteig eingedrückt. Blut strömte hinaus und breitete sich schnell auf den Pflastersteinen aus. Die blutigen Lippen teilten sich, als versuchte er, etwas zu sagen, aber die Aufnahme war ohne Ton. Das eine Auge, vor Schmerzen und Angst leuchtend, starrte hoch in die Kameralinse. Da war auch noch ein anderer Ausdruck. Bertram rückte näher, um deutlicher zu sehen. Verblüffung. Als verstünde er nicht, was passierte. So war es wohl zu sterben. Plötzlich zuckte das Gesicht und ein lautloser Seufzer, gefolgt von noch mehr Blut, entwich seinem Mund. Dann wurde das Auge steif und der Ausdruck ließ Bertram sofort den Laptop ein bisschen zu fest zuklappen. Lange hielt er den Deckel des Laptops mit beiden Händen umklammert und blickte durch das Fenster hinaus in die Dunkelheit. Das war er. Julius Habekost. Und jetzt war er tot. Er versuchte, Felix anzurufen, aber er ging nicht dran.


Bertram lag auf dem Rücken im Bett und starrte in die Luft. Es war Vollmond, das ufomäßige Licht fiel durch einen Spalt im Vorhang, zeichnete einen mystischen Streifen an die Wand hinter dem Tisch direkt über seinem Laptop und erhellte das Leder der Jacke. Wem gehörte sie? Bertram hatte nicht übel Lust aufzustehen und sie aus dem Fenster zu schleudern. Er beschloss, doch den Hehler zu fragen, ob der sie nicht haben und versuchen wollte, sie zu verkaufen.

Er hatte vorher noch nie einen toten Mann in Wirklichkeit gesehen. Das Auge, aus dem plötzlich das Leben wich, starrte ihn weiter an, wenn er seine Augen schloss. Wieso hatte er nicht den Mut seines Vaters geerbt? Der