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Julian B. Simon

Die Kreuzler von Kadmos

Scifi-Abenteuerroman

Copyright: © 2018: Julian B. Simon

www.julian-b-simon.de

Lektorat: Marketa Görgen

Umschlag & Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net

Verlag und Druck:

tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

Personen und Handlung sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen sowie Warenzeichen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Buch

In und um das Eifelstädtchen Schleiden verschwinden plötzlich Menschen, spurlos und ohne den geringsten Hinweis auf ihr Schicksal. Kriminalrat Heitermann steht vor einem stetig größer werdenden Rätsel. Einem Rätsel, dessen Ungeheuerlichkeit erst die beiden vierzehnjährigen Freunde Maximilian und Frank auf die Spur zu kommen scheinen.

In einer ihnen bis dahin unbekannten Höhle stoßen sie auf die sterblichen Überreste eines Mannes, der vor über einhundert Jahren in dieser Höhle ein gewaltsames Ende fand. Außerdem finden sie sein leider nur fragmentarisch erhaltenes Tagebuch – in dem ebenfalls von verschwundenen Menschen berichtet wird. Die Ausführungen legen den Schluss nahe, dass diese Menschen an einen Ort gebracht wurden, der sich nicht auf der Erde befindet.

Weil ihnen niemand glauben will, machen sich die Jungs auf eigene Faust auf die Suche nach weiteren Beweisen und werden bald selbst zu Gejagten …

Der Autor

Julian B. Simon war viele Jahre Teil des

Autorenteams einer sehr bekannten und bereits Jahrzehnte laufenden Kriminalromanreihe. Er ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt mit seiner Frau und zwei Hunden in einem kleinen Voreifeldorf.

Das ist deine Welt! Das heißt eine Welt!

(Goethe, Faust)

Für Sabrina und Thalia

Prolog

Ein Familiengeheimnis

Sie kam aus der Großstadt, aus Köln. Ein mitfühlender Trucker hatte sie und ihren schmierigen Seesack mitgenommen und sie einige Kilometer vor Schleiden aussteigen lassen.

»Weißt du, Mädchen, du solltest dringend ein Bad nehmen«, hatte der Mann ihr noch mitgegeben und anstelle eines Dankes für seine Gefälligkeit einen wortlos erhobenen Mittelfinger geerntet.

Hätte sie jemand gefragt, warum sie zurückgekommen war, hätte sie ihn vermutlich bloß stumpfsinnig angestarrt und den Kopf geschüttelt. Sie wusste es selbst nicht genau, noch immer nicht. Obschon – ein Teil von ihr war sich sehr wohl im Klaren darüber. Eine andere Angelika, eine Angelika aus früherer Zeit, die tief verborgen war in ihrem jetzigen Ich, das die Wahrheit nicht sehen wollte. Von dieser Angelika stammte die dumpfe Verzweiflung, die ihr vor ihrem Aufbruch wie ein greller, schmerzhafter Lichtblitz in das grau verhangene Bewusstsein geschossen war.

Was mache ich hier eigentlich?

Die erstaunte Frage wehte ihren Schleier aus gleichgültiger Benommenheit ein wenig zur Seite. Sie hatte den Fahrstuhl zum Jenseits bestiegen und den Knopf des dritten Untergeschosses gedrückt. Doch der Selbsterhaltungstrieb hatte den alten, vergrabenen Teil ihrer Persönlichkeit geweckt, die »Mimi«. Die hatte nicht krepieren, nicht eines Nachts oder Morgens wie ein Stück Dreck in der Gosse oder in einer versifften Toilette gefunden werden wollen.

Und jetzt?

Jetzt war sie hier. Am Wald. In der alten Heimat. Nur noch wenige Minuten von zu Hause entfernt.

Zu Hause! …

Mit diesem Begriff verband sie bloß Bitterkeit und Hass. Eigentlich.

Trotzdem erhoffte sich die leiser werdende Stimme genau von dort – von zu Hause – die ersehnte Rettung.

Hatte sie denn den Verstand verloren, noch einmal hierher zurückzukommen?

Diese Frage war von ihrem noch oben schwimmenden Angie-Ego gekommen. Dem widerspenstigen, abgefuckten Ego, das umso widerspenstiger wurde, je abgefuckter es war.

Doch Mimi schaffte es, Angie so weit zu neutralisieren, dass sich bald eine wohltuende Ruhe in ihr einstellte. Eine abwartende Ruhe. Aber auch eine schmerzhafte, da sie einen seltenen Moment ehrlicher Selbstreflexion zuließ.

Es hatte sich nicht viel verändert, seit sie das letzte Mal an diesem Ort gewesen war. Genau genommen gar nichts. Außer sie selbst. Damals war sie sechzehn gewesen. Heute sah sie mindestens doppelt so alt aus, obwohl kaum vier Jahre vergangen waren. Vier Jahre in der Drogenhölle, die ihr in diesem Augenblick wie eine kleine Ewigkeit vorkamen. Vier Jahre, die einen Menschen auf links drehen und ein körperliches sowie seelisches Wrack aus ihm machen konnten. Bei Angelika Frenzen waren die Jahre in dieser Hinsicht sehr erfolgreich gewesen.

Da war die alte Bank am Wegrand. Früher hatte sie oft und gern auf ihr gesessen und ihren Gedanken nachgehangen. Sie nahm den Seesack von ihrer knochigen Schulter, warf ihn achtlos vor der Bank auf den Boden, nahm Platz und ließ ihren Blick von der Kuppe der Anhöhe hinab auf Schleiden schweifen. Ein so vertrauter und doch auf surreale Weise fremder Anblick – wie ein Diorama aus einer längst untergegangenen Epoche, die trotzdem real und gegenwärtig war. Sie sah die Schlosskirche, das abseits aus dem Wald schimmernde Grau des Alter Mann genannten großen Felsens, den Marktplatz … und einen Teil vom Dach ihres Elternhauses. Von hier oben wirkte es wie ein Spielzeuggebäude der kleinen Modelleisenbahn ihres Bruders – das sie mit der Hand hätte zu Staub zermalmen können, als hätte es nie existiert.

Was, um Himmels willen, tue ich eigentlich hier?

Sie verengte die schmalen, blassen Lippen zu einem Strich und senkte das Gesicht. Morgen würde sie umkehren. Zurück nach Köln.

Angie hatte die Oberhand zurückgewonnen. Jedenfalls im Augenblick.

Es würde eine Nacht werden, die gut im Freien zu verbringen war, im weichen Gras einer Lichtung. Nicht weit entfernt war eine. Es wäre ein weit weniger schlimmer Übernachtungsort als viele andere, die sie schon in Anspruch genommen hatte. Zahlreiche Nächte des vergangenen Winters hatte sie in U-Bahn-Stationen und über Abluftschächten verbracht. Eine idyllische, saubere Waldlichtung bildete dagegen das reinste Himmelbett.

Ihr Selbstwertgefühl war so weit gesunken, dass sie das Jämmerliche an ihrer Situation kaum noch berührte. Sie begann zu leben, sobald sie den Lebenssaft in ihren Adern spürte, er sie hinweghob in die Heimeligkeit des Rausches, mit all seiner Euphorie. Dazwischen vegetierte Angie vor sich hin, war lediglich auf den nächsten Schuss ausgerichtet, auf die Frage, wo sie ihn herbekommen sollte – den Lebenssaft, die nächste Dosis des sie zugrunde richtenden süßen Gifts.

Ihr Blick fiel auf ihre Füße. Sie steckten in ausgetretenen, an den Seiten aufgeplatzten Stiefeletten. Als sie neu gewesen waren, war es ihr noch besser gegangen. Oder auch nicht. Je nachdem, wie man es nahm. Alles so lange her …

Der Rest ihrer Kleidung bestand aus einer löchrigen, vor Schmutz starrenden Jeans, einer speckigen Jeansjacke mit Teddyfutter, die viel zu warm für die Witterung war, und einem T-Shirt, das einst rot gewesen, nun aber eine undefinierbare Farbe zwischen grau und rosa angenommen hatte und darüber hinaus unter der linken Brust eingerissen war.

Sie hob wieder den Blick auf das pittoresk eingebettete Eifelstädtchen.

Morgen fahre ich zurück. Morgen, dachte sie und ließ sich die winzige Option zweier Ziele.

Aber, das wusste sie nur allzu gut – wenigstens die in ihr versteckte Angelika, die Ur-Angelika, die Mimi – in Wirklichkeit gab es für sie keine Wahl mehr. Nur noch die zwischen Leben und Tod. Und – das wurde ihr mit beinahe physischer Pein bewusst – sie wollte leben! Deshalb war sie gekommen!

Das atemlose Schluchzen kam aus der tiefsten Tiefe ihrer verzweifelten Seele. »Ich brauche Hilfe, Mama!« Sie biss die Zähne zusammen, um das bebende Kinn unter Kontrolle zu bekommen.

So saß sie eine Weile da, die Arme um die Knie geschlungen, mit leicht wiegendem Oberkörper und mahlenden Kiefern. Bis sie plötzlich anfing vor Kälte zu zittern, obwohl die Luft sicher noch deutlich über zwanzig Grad warm war. Fröstelnd schlang sie die Arme noch etwas fester um sich. Zornige Gereiztheit, deren Ursprung ihr selbst rätselhaft war, stieg in ihr auf. Ihr Magen krampfte. Der Entzug streckte seine eisigen Finger nach ihr aus.

Ihre Zähne begannen, unkontrolliert aufeinanderzuschlagen. Sie beugte sich ganz nach vorn, bis ihre Nasenspitze fast die Knie berührte. Sie stöhnte, brauchte sofort etwas, irgendetwas. Sonst würde sie den Abend und erst recht die Nacht nicht überstehen.

Daran, was der folgende Tag bringen würde, verschwendete sie keinen Gedanken mehr.

Sie sprang auf, öffnete mit fahrigen Fingern den Seesack und begann ihn zu durchwühlen. Sie hatte doch noch … Nein! Sie erstarrte. Sie hatte nichts mehr. Nicht mal was zu rauchen. Sie war seit Tagen pleite, hatte sich nichts Neues mehr besorgen können.

Von einer neuen Verzweiflung gepackt, die die Bestürzung zu blanker Panik schürte, schluchzte sie abermals auf. Was sollte sie jetzt tun?

Die Pillen! Sie hatte doch noch die Pillen in der Hosentasche.

Hektisch drängte sich ihre rechte Hand in den engen Ausschnitt der Jeans. Die Fingerspitzen berührten scharfkantiges Plastik.

Gott sei Dank!

Als sie den Blister ins einsetzende Dämmerlicht zerrte, fiel er ihr beinahe aus der zitternden Hand. Vier Tabletten waren übrig. Mandrax stand auf der Silberfolie. Ein starkes Schmerzmittel, unter Junkies als Happen für zwischendurch sehr beliebt – auf Kosten der Leber. Doch Nebenwirkungen und Risiken interessierten niemanden. Hauptsache, das Zeug verlieh den erforderlichen Kick, der das tobende Zentralnervensystem zu besänftigen vermochte.

Hastig drückte Angelika die ersten beiden Tabletten aus der Verpackung und wollte sie einwerfen, hielt aber jäh in der Bewegung inne.

Sie war nicht mehr allein.

Kaum fünfzig Meter entfernt kam ein Mann den Weg entlang. Eigentlich hätte sie ihn viel früher wahrnehmen müssen, da der Schotterweg für sie auf einer mindestens sechsfachen Länge zu überblicken war.

Entweder war der Typ aus dem Wald gekommen, der dort drüben ziemlich dicht und undurchdringlich aussah, oder er war plötzlich aus der Luft gefallen.

Was und wie auch immer … Rasch steckte sie die Tabletten in den Mund und würgte sie herunter.

Wahrscheinlich nur ein abendlicher Spaziergänger. Ohnehin war es erstaunlich, dass sie bisher keiner Menschenseele begegnet war. Bei diesem Wetter hatte der Weg im Waldschatten immer auch abends noch viele Spaziergänger angelockt. Jedenfalls glaubte sie das so in Erinnerung zu haben.

Doch was hat dieser komische Heini für eine Kutte an? Wo haben sie den denn laufen lassen?

Der Kerl sah aus wie aus einem durchgeknallten Magazin für durchgeknallte Strickfetischisten. Er trug ausschließlich Zeug aus grobem Strick. Der weite Pullover mit Rollkragen ging ihm fast bis zu den Knien. Seine Füße steckten in seltsam klobigen schwarzen Lederstiefeln mit dicken Sohlen, die kleine dünne Staubfahnen aus dem trockenen Schotter wirbelten. Das Einzige, was ihr einigermaßen normal an dem Freak vorkam, war seine Glatze oder besser gesagt: seine fast zur Vollglatze geschorenen Haare, die gleichwohl lang genug belassen – oder nachgewachsen – waren, dass sie seinen Schädel mit einem scharf konturierten Schatten versahen.

Doch weit merkwürdiger als die anachronistischen Klamotten kam ihr die Art vor, wie er sie jetzt in den Blick nahm: großäugig starrend, als wäre ihre Montur mindestens so bescheuert wie seine. Scheinbar konnte er sich gar nicht an ihr sattsehen.

Was glotzt du Idiot so?

Als sich ihre Augen begegneten, erschauerte sie. Seine schienen kalt, leblos, wie Reptilienaugen. Auch das blasse, glatt rasierte Gesicht zeigte keinerlei Regung. Es strahlte eine seltsame Künstlichkeit aus, als wäre es aus Stein gemeißelt und intensiv poliert worden. Trotz der eher grobschlächtigen Züge erinnerte es sie an Michelangelos David-Statue, von der sie einst ein kleines Replikat besessen hatte.

Ohne die Type, die nicht übereilt, aber stetig näher kam, aus den Augen zu lassen, steckte Angelika auch die letzten beiden Mandrax in den Mund. Doch schienen sich die Tabletten in Trockeneis verwandelt zu haben. Sie fror noch mehr. Paradoxerweise wurde sie zugleich von einer heißen Wallung ergriffen, die ihr bis in den Haaransatz schäumte, die Ohren zum Glühen brachte und die Schweißporen öffnete.

Es war verrückt. Sie fror und schwitzte zugleich. Und weil ihr Mund von einer Sekunde auf die andere wie ausgedörrt war, wollte es ihr nicht gelingen, die Pillen zu schlucken. Sie klebten ihr auf der Zunge und am Gaumen. Schon nahmen ihre Geschmacksnerven den widerlich bitteren Arzneigeschmack auf.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Sie hatte Angst, stellte sie verdutzt fest. Eine Heidenangst sogar. Der Kerl – besonders dessen kalte Augen – jagten ihr außerdem Schauer über den Rücken.

Sie fiel in eine Art Schockstarre und benötigte einige Sekunden, um sie abzuschütteln. Der Freak hatte es in der Tat auf sie abgesehen. Er blieb vor ihr stehen. Vor ihr und der Bank.

Zunächst stand er einfach nur da, mit hängenden Armen, sie unverwandt anstarrend, in einer gleichsam mechanischen Gelassenheit. Nichtsdestotrotz meinte sie die Bedrohung zu spüren, die er aus jeder Pore zu atmen schien.

Sie raffte ihren gesamten Mut zusammen.

»Hab ich was von dir an, Blödmann?«, giftete sie leicht lallend, weil sie die Mandrax noch immer nicht hatte herabwürgen können.

Keine Reaktion.

Groß und breit, geradezu unüberwindlich ragte er auf dem Weg auf. Sie hingegen war schwach und ausgemergelt. Nie hatte sich eine Selbsterkenntnis schmerzlicher in ihren Sinn gepresst als in diesem Augenblick.

Andererseits: Selbst in Bestform hätte sie gegen diesen Hünen keine Chance gehabt.

Obwohl – wie ein Vergewaltiger oder dergleichen kam er Angelika nicht unbedingt vor. Aus seinen Augen schlug alles andere als obsessive Lüsternheit. Genau genommen schlug gar nichts aus seinen Augen. Eher glich er jemandem, der aus anatomischen Gründen zu einer solchen Gefühlsregung nicht mehr in der Lage war – ein Kastrat, ein Neutrum, das sie aus seinen unbeteiligten Roboterlinsen musterte. Warum auch immer.

Oder ein Triebgestörter? Ein Psychopath, der sich anderweitig Befriedigung verschaffte? Gut möglich, so wie der guckte und ausstaffiert war …

Dies alles spukte ihr innerhalb von Sekunden durch den Kopf. Das Fazit aus diesem mentalen Tumult war, dass sie wohl besser bei dem blieb, was sie gut beherrschte: die Toughe geben und ihm klarmachen, dass sie so leicht nicht unterzukriegen war, dass er in ihr kein leichtes Opfer gefunden hatte. Es blieb ihr auch gar nichts anderes übrig. Nach wie vor war weit und breit niemand zu sehen, der ihr hätte beistehen können.

Also raffte sie abermals ihren Mut und ihre Chuzpe zusammen und blaffte:

»He, du Arsch! Du stehst mir in der Sonne! Verpiss dich, Mann!«

Währenddessen hielt sie aus den Augenwinkeln unauffällig Ausschau nach etwas, das notfalls zur Verteidigung taugte – und entdeckte auch etwas. Zwei Armlängen von ihrem rechten Fuß entfernt lag ein ordentlich dicker Buchenast im hohen Sommergras. Genau das Richtige. Sofern sie schnell genug war …

Wie aufgeschreckt streckte sie den Finger auf eine Stelle im Rücken des Psychos aus.

»Pass auf, da, hinter dir!«

Der Spaten schaute sich tatsächlich um. Gleichzeitig schnellte sie gebückt zur Seite, packte den trockenen Knüppel und kam mit ihm und ein wenig mehr Zuversicht wieder hoch.

»So, du Perverser!« Sie hielt den Ast wie ein Baseballschlagmann und wackelte sogar mit den Hüften dazu.

Nun hatte sie an und für sich beabsichtigt, eine geharnischte Drohung folgen zu lassen. Etwas in der Art wie: Komm nur näher, wenn du Lust auf eine eingeschlagene Birne hast!

Bloß … das leichte Schwingen war schon zu viel gewesen. Der morsche Ast knickte mir nichts, dir nichts in der Mitte durch. Nur ein schmaler Fetzen Borke hielt die traurig herabbaumelnde vordere Hälfte noch an der hinteren.

Angelika blies fatalistisch die Luft aus. »Das läuft ja mal wieder richtig toll.«

Der sonderbare Fremde hatte sich in der Zwischenzeit nicht von der Stelle gerührt, auch an seinem roboterhaften Gesichtsausdruck hatte sich nichts geändert. Indes glaubte sie nun in der tiefen Kälte seines Blickes eine Sternschnuppe aus Erheiterung verglühen zu sehen.

»Und du kranker Bastard findest das witzig.«

Im selben Augenblick drang ein verdächtiges Rascheln an ihre Ohren, das seinen Ursprung nicht weit von ihrem Rücken entfernt haben musste. Alarmiert warf sie einen Blick hinter sich – und sah sich dem nächsten Schrecken gegenüber: Kaum zwei Meter von ihr entfernt hatte sich ein Zwilling des Typs zwischen zwei jungen Fichten durchgeschoben.

Schlagartig wurde ihr klar, dass sie in der Falle saß. Gleichzeitig sah sie eine von dem zweiten Mann ausgehende Bewegung wie einen verwischten Schatten und kam noch dazu, ihm ihr Knüppelfragment entgegenzuschleudern. Dann traf sie auch schon etwas Eisenhartes seitlich am Kopf und knipste ihr brutal das Licht aus. Im Fallen schlug sie heftig mit der Stirn gegen die Bank; sie spürte es nicht mehr. Die weichen Reste der Mandrax fielen aus ihrem geöffneten Mund. Ein Blutspritzer aus der Platzwunde über ihrem rechten Auge traf die weißen Pillenfragmente und färbte sie rot.

1.

Ein Terrier und ein Hemd

»Das Wetter«, schallte die launige Moderatorenstimme aus den Lautsprechern der alten Hi-Fi-Anlage. Eine Schulmappe segelte schwungvoll an einem von ihnen vorbei und riss bei der Landung in der Ecke des Zimmers eine Drei-Liter-Cognacflasche zu Boden, deren ursprünglicher Inhalt durch Rotgeld ersetzt worden war. Metallisch plätscherten die Münzen aus der Flasche auf den grauen Teppichboden. »Auch in den nächsten Tagen wird uns das Hoch Peter einen blauen, weitgehend wolkenfreien Himmel und sommerliche Temperaturen bescheren. Ein Tipp von hier: Verlegen Sie Ihr Büro an den Swimmingpool.«

»Erst mal einen Swimmingpool haben.« Maximilian stieß sich mit dem Schreibtischstuhl ab und rollte zum Radio neben dem Bett.

»Hier noch die Bauernregel des Tages«, quatschte der Moderator munter weiter. »Ist der Juli warm und trocken, werden Mädchenbeine locken. Haha.«

»Ist die Birne weich und roh, wirst du Sprecher im Radio«, brummte Maximilian und betätigte eine der Stationstasten.

Aus den Boxen kreischte der harte Sound einer verzerrten elektrischen Gitarre, begleitet von wummernden Bässen und hämmerndem Schlagzeug: Queens »Now I’m here«. Maximilian ließ sich mitreißen, drehte die Lautstärke bis zum Anschlag auf. »Down in the city just Hoople ’n’ me!« Er sprang breitbeinig auf die Füße, spielte Luftgitarre und imitierte einen headbangenden Brian May. Auf einem Bein tanzte er zur Tür, dann wieder zurück zum Bett. Mit dem anderen wedelte er den Takt dazu. Wuchtige Schläge donnerten auf die nicht vorhandenen Gitarrensaiten. Die überforderten Lautsprecher schepperten. Der Junge gab alles. Im Duell mit Roger Taylor an den Drums sprang er aufs Bett.

Von der Zwischendecke zu seinen Füßen mischte sich ernüchternd ein verzweifeltes Wummern in den wüsten Auftritt. Seine Mutter, die Spaßbremse, hatte mal wieder den Schrubber als Erziehungskeule gegen die „viel zu laute“ Musik in Aktion gebracht. Maximilian verdrehte die Augen. Mit steif durchgedrückten Knien sprang er auf den Boden, was die Gläser mit den Wappen der Bundesligaklubs im Regal aneinanderstoßen ließ. Freilich vermochte es dieses leise Klirren nicht, sich gegen den phonetischen Orkan aus den Boxen durchzusetzen.

Der Junge regelte die Lautstärke auf ein erträgliches Maß zurück. »Banausen«, murmelte er vorwurfsvoll.

Durch die Tür drang das anklagende Bellen eines Hundes.

»Du auch?«, seufzte Maximilian betrübt in Richtung Ausgang. »Du solltest dich daran erinnern, wer heute Nachmittag mit dir Gassi gehen will.«

Aus dem unteren Flur hörte er die gedämpfte, befehlende Stimme von Maximilians Mutter: »Sei still, Jerry! Es genügt, wenn mir einer den Verstand raubt!«

Maximilian zuckte machtlos die Schultern. Er stellte den Receiver ganz ab, verließ sein Zimmer und begab sich ins angrenzende Bad, wo er sein Äußeres einer kritischen Kontrolle unterzog. Das blonde Haar war in Ordnung. Am Morgen erst gewaschen. Die Klamotten waren auch okay: Jeans, Sportschuhe und ein bunt bedrucktes Kurzarmhemd, das ihm viel zu weit war und fast bis zu den Knien reichte. Aber die Pickel … Die machten ihn wahnsinnig.

Maximilian war vierzehn Jahre alt und diese lästigen Pubertätsstigmen auf seinen Wangen und im Bereich der Kinnpartie überdeckten in letzter Zeit in zunehmendem Maße die feminine Anmutung, die seinen Gesichtszügen innewohnte. Obwohl er das selbst niemals so gesehen hätte – von wegen feminin.

Er griff in den Spiegelschrank, entnahm ihm eine blau-weiße Tube und gab etwas Creme auf eine besonders dicke, rot glänzende Pustel genau auf der Kinnspitze. Danach drehte er sich zur Seite. Das Profil ging. Nur von vorn fand er sein Aussehen völlig indiskutabel. Er sah aus wie ein Streuselkuchen. Verdrossen blies er mit geblähten Wangen die Luft aus und bleckte die Zähne. Dann stieß er die Zunge in die Unterlippe und machte das Affenmaul, kratzte sich mit der rechten Hand unter seiner rechten Achsel, grunzte gutturale Schimpansenlaute und verließ das Bad im breitbeinig hopsenden Primatengang. In gleicher Weise sprang er polternd die Stufen hinab ins Erdgeschoss. Im unteren Abschnitt des offenen Treppenhauses brannte Licht. Offensichtlich hielt seine Mutter sich mittlerweile im Keller auf.

»Kannst du eigentlich nicht wie ein normaler Mensch die Treppe benutzen, ohne dass man Angst hat, das Haus könnte jeden Moment zusammenbrechen?«, rief Lydia Müller aus der Waschküche. Trotz aller empörten Strenge schwang in ihrer Stimme eine gehörige Portion elterliche Resignation mit.

»Uh! Uh! Uh!«, machte Maximilian, kratzte seine Achsel, den Bauch, den Kopf. Wie ein Gorilla trommelte er sich mit den Fäusten gegen die Brust.

Jerry, der kleine Drahthaarterrier, lag ausgestreckt auf den Bodenkacheln und blinzelte verständnislos zu ihm auf.

»Uh!«, machte der Junge in seine Richtung, formte aus seiner Hand eine Pistole und betätigte den imaginären Abzug. »Peng!«

Der Hund rollte sich auf den Rücken und streckte die Beine von sich.

»Fein, du dumme Töle«, sagte Maximilian lobend. Er suchte die Hundeleine.

»Was hast du gesagt?«, rief seine Mutter.

»Nichts! Ich gehe jetzt mit Jerry raus.«

»Vergiss nicht, dass du versprochen hast, den Rasen zu mähen.«

»Mach ich morgen.« Er hatte die Leine auf der rustikalen Dielentruhe gefunden und befestigte sie an Jerrys Halsband. »Thomas könnte den Rasen auch mal mähen. Der tut nie was.« Sofort im Anschluss an diese Worte nickte Maximilian einmal ausholend und erklärte Jerry leise: »Thomas steht kurz vor den Klausuren. Er hat keine Zeit.«

»Thomas steht kurz vor den Klausuren!«, rief seine Mutter. »Er hat keine Zeit!«

»Ja, und Genitalherpes im Hirn und ein Kotzkannenfressbrett hat der Niveaulimbo auch.« Dies jedoch nuschelte Maximilian so leise, dass wohl seine Stimme, aber nicht das Gesagte bis in den

Keller vordringen konnte.

»Du willst dich nur wieder drücken!«

Er lächelte wölfisch und flüsterte: »Was denkst du denn?« Dann ergänzte er laut: »Ich mähe den beschissenen Rasen morgen!«

»Du sollst dich nicht immer so ausdrücken!«

Maximilian hatte die Haustür schon offen. Zwischen den Pfosten stoppte er noch einmal. »Ich mähe den verfickten Rasen morgen!« Nun erst schlüpfte er vollends hinaus und schloss rasch die Tür.

Trotzdem bekam er den entsetzten Ausruf seiner Mutter noch schwach mit: »Maximilian!«

Draußen allerdings verging ihm das Grinsen. Ein in die Jahre gekommener roter VW Golf war in die Einfahrt eingebogen. Aus dessen offenen Seitenfenstern schwappte Aufmerksamkeit heischend laute Rockmusik.

»O-oh!«, seufzte Maximilian unheilschwanger zwischen zusammengebissenen Zähnen. Der Mann im Wagen war sein älterer Bruder Thomas.

Was macht der schon wieder so früh zu Hause? Thomas drehte den Zündschlüssel. Sowohl Motor als auch Musik erstarben. Er stieg aus.

Maximilian beeilte sich, mit Jerry schleunigst an der Beifahrerseite vorbeizukommen. Er hatte einen guten Grund dafür.

»Hallo, Pickelarsch«, sagte Thomas grinsend. »Heute schon in Clearasil gebadet?«

»Hallo, Gesichtsältester«, gab Maxi ohne sich umzusehen zurück. »Noch immer keinen Professor gefunden, der greiser aussieht als du und dementer ist?«

Das war nun doch arg übertrieben. Zwar entsprach es der Wahrheit, dass Thomas nicht zu den eifrigsten Studenten zählte, was er (noch) vor seinen gutgläubigen Eltern verbergen konnte. Dennoch war er mit seinen zweiundzwanzig Jahren lange nicht der Älteste seines Semesters. Und grenzdebil war er auch nicht. Sonst hätte er sein Abitur nicht mit einer glatten Eins abgelegt. Aber er war etwas kindisch und rechthaberisch. Ja, und obendrein bildete er sich einiges darauf ein, der Erstgeborene zu sein. Kaum eine Gelegenheit ließ er aus, darauf zu verweisen, dass Maximilian ein »unbeabsichtigter Nachkömmling, ein Unfall« war, bei dem »die vererbten Gene schon nicht mehr so richtig sortiert und in Ordnung« waren. Doch hielt ihn das nicht davon ab, sich stets mit Wonne in jedes Scharmützel mit Maximilian zu stürzen. Dies offenbarte eine gewisse infantile Ader, die dafür nicht unbedingt notwendig war, aber hilfreich und animierend.

Vielleicht lag es am großen Altersunterschied, vielleicht daran, dass Thomas acht Jahre als Einzelkind aufgewachsen war, vielleicht auch an dessen »serienmäßigem Dachschaden«, den Maximilian ihm attestierte, dass das Verhältnis zwischen den Brüdern nicht das beste und von einer Art Hassliebe geprägt war, bei dem der Hass meistenteils überwog. Aber wie auch immer es war, sie blieben einander selten etwas schuldig.

»Ich komme dir gleich hinterher, Rattenköttel!«, rief Thomas erbost. Und während er seinem Bruder hinterherschaute, fiel ihm scheinbar auf, dass irgendetwas an ihm nicht stimmte. Etwas Wesentliches. Doch benötigte er eine lange Sekunde, um zu realisieren, worum genau es sich handelte. »He! Warte mal! Du hast ja schon wieder eins meiner Hemden an, du schleimige Mistkröte!«

Maximilian streckte die Faust in die Luft, spreizte den Mittelfinger ab und begann zu laufen. Jerry, der das für ein tolles Spiel hielt, sprang neben ihm her. Der Junge setzte auf Thomas’ natürliche Trägheit, die ihm übermäßige Bewegung – zumal schweißtreibende – tunlichst untersagte, und lag auch diesmal damit nicht falsch. Thomas beließ es bei einer wüsten Verwünschung und ging zum Haus.

Maximilian wurde langsamer. Er hielt es für unpassend, so kindlich rennend gesehen zu werden. Besonders wenn dieser Jemand Melissa Dohmen wäre. Sie könnte ihn für unreif halten. Darüber hinaus war er unter der heiß vom Himmel brennenden Sommersonne sowieso schon ins Schwitzen geraten. Wahrscheinlich war es mal wieder so, dass jetzt, eine Woche vor den Ferien, schönstes Wetter herrschte und mit dem letzten Schultag ein Tiefdruckgebiet das andere ablöste.

Plötzlich wurde sein cooles Dahinschlendern von einem schrillen Pfiff aus der nächsten Nebenstraße unterbrochen. Er stammte von Frank Frenzen, seinem besten Freund. Wie Maximilian mit einem neidvollen, aber auch missbilligenden Blick feststellte, trug Frank Shorts zu seinem gelben T-Shirt. Neidvoll, weil er selbst nichts gegen luftigere Beinkleider einzuwenden gehabt hätte. Missbilligend, weil er der Auffassung war, dass sie Shorts inzwischen entwachsen waren. Kinder trugen Shorts. Und auch Thomas manchmal. Aber der zählte nicht. Was würde Melissa denken, sähe sie ihn in so kindlichen Shorts? Er fürchtete, dass Franks unerwartete Gesellschaft sein erwachsenes Erscheinungsbild zunichtemachen würde. Aber Frank scherte sich weder um Konventionen noch interessierte er sich sonderlich für das weibliche Geschlecht.

»Ich dachte, du müsstest Rasen mähen!«, rief er schon aus einiger Entfernung.

»Jetzt fängt der auch noch an«, brummte Maximilian.

Die Begegnung kam ihm, nun ja, ein wenig ungelegen. Er hatte gehofft, dass Melissa ihm über den Weg laufen würde und er die Gelegenheit nutzen konnte, sie zu einem Spaziergang einzuladen. Ein lässiger, junger Mann, der die Verantwortung für seinen quirligen, putzigen Hund wahrnahm und mit ihm hinauszog …

»Ich wollte dir helfen«, sagte Frank, als er ihn erreicht hatte, und kraulte Jerry zur Begrüßung hinterm Ohr, was der dankbar entgegennahm. »Na, du Flohmutterschiff?«

Frank war etwas kleiner als sein Freund, wirkte aber kräftiger. Das braune Haar stand ihm wirr vom Kopf ab. Er sah eigentlich immer aus, als würde er mit den Fingern in der Steckdose schlafen.

»Keine Lust«, antwortete Maximilian lahm. »Ich wollte eine Runde mit Jerry drehen. – Kommst du mit?«, fügte er nach kurzem Zögern an.

»Von mir aus.« Frank richtete sich wieder auf. Er schien im Augenblick nicht auf den Empfang von subtilen Signalen geeicht zu sein, was er im Übrigen meistens nicht war. Aber auch sonst wäre ihm Maximilians Intention eh reichlich gleichgültig gewesen. Außerdem ließ seine ungewöhnlich ernste Miene darauf schließen, dass ihn etwas anderes, Schwerwiegenderes beschäftigte. Als hätte ihn nicht bloß die Langeweile oder der Rasen zu seinem Freund getrieben – was ihn jedoch nicht daran hinderte, mit einem leicht spöttischen Lächeln auf dessen Äußeres einzugehen: »Hast du schon wieder eins von Thomas’ Hemden an?«

»Joah«, gestand Maximilian notgedrungen ein. »Der Depp hätte mich beinahe erwischt. Ist früher nach Hause gekommen.«

»Wieso vergreifst du dich auch neuerdings an seinen Klamotten?«

»Nur so«, lavierte Maximilian um die Wahrheit herum. »Manche Teile von ihm finde ich halt cool.«

»Cool? Du siehst aus wie ein hawaiianischer Boxer im Superfedergewicht.«

»Das ist schick.«

»Wenn das schick ist, ist auch ein Clown schick.«

Damit jedoch erlosch Franks Grinsen wieder und Bedrückung machte sich in seiner Miene breit.

Maximilian konnte sich schon denken, was der Grund dafür war. Für den Augenblick vergaß er sämtliche Melissas dieser Welt.

»Was ist los? Das Übliche?«

Frank ließ verdrossen den Kopf hängen. »Mein alter Herr ist heute Nachmittag ebenfalls vor der Zeit aufgetaucht. Er hat damit angefangen, dass es besser wäre, wenn ich mir nach der neunten Klasse eine Lehrstelle suchen würde. Ich habe vorgezogen zu verschwinden.«

»Will er dich jetzt nicht einmal mehr die Fachoberschulreife machen lassen?«

Frank hob eine Schulter. »Ich glaube, am liebsten wäre ihm, er könnte mich schon heute vor die Tür setzen, damit ich kein Geld mehr koste.«

»Nix für ungut. Aber weißt du, ich glaube, dein Alter ist wirklich bescheuert. Zuerst macht er ein Riesentheater, als du ihm sagst, dass wir nach der Realschule aufs Gymnasium wechseln wollen. Und jetzt will er dich nicht einmal mehr die Mittlere Reife machen lassen. Was sollst du denn tun? Steine kloppen?«

»Wem sagst du das? Aber es sieht wirklich so aus, als ob sich unsere Wege bald trennen würden.« Frank schlug unglücklich den Blick nieder.

»Unsinn«, widersprach Maximilian energisch. Normalerweise ließ sich Frank selten von etwas die Stimmung verderben. Wenn, dann konnte man zuverlässig darauf wetten, dass es an seinem Vater lag.

»Es ist ja noch Zeit. Zuerst kommen die Ferien, dann die neunte Klasse und dann sieht die Welt wieder ganz anders aus. Wir werden eine Lösung finden und wenn wir deinen Vater in die Wüste schicken müssen. Oder wir hetzen ihm einen Trupp russischer Schläger auf den Hals. Oder wir legen ihm ein Paar von Thomas’ getragenen Socken unter das Kopfkissen. Dann fällt er ins Koma.«

Schon verflogen Sorgen und Angst aus Franks Miene. Er lachte. »Bei dem, was mein Vater an Schnaps schluckt, ist sein Atem antiseptisch und sterilisiert die Socken.«

»Aber nicht Thomas’ Socken. Die würden selbst im Feuer nicht verbrennen.« Maximilian hielt Frank die offene Handfläche hin.

Frank schlug ein. »Komm, lass uns ein paar Schritte gehen.«

***

Die Straße mit Maxis Elternhaus wurde ein Stück weiter zur Chaussee, die nach einem Rechtsbogen dem großen Kreisverkehr im Ortszentrum entgegenlief. Schleidens Fundamente reichten bis ins Mittelalter zurück, hauptsächlich aber war das Städtchen einst durch die frühe Eisenindustrie geprägt gewesen, von Fabrikschloten aus gebrannten Ziegelsteinen, Rauch und harter Arbeit. Von alldem war heutzutage nur noch wenig zu sehen. Heute bestimmte eine grüne Dörflichkeit den Charakter des Ortes. Umgeben von den hohen Hügeln der Nordeifel, teils dicht bewaldet, teils von weitflächigen Weiden bedeckt, schmiegte er sich ins Tal des Flüsschens Olef und begnügte sich weitgehend mit der Rolle eines Tourismuszentrums und Verwaltungssitzes für die umliegenden, eingemeindeten Ortschaften.

Die Jungen erreichten das Ortsausgangsschild, das noch vor der Kurve stand, und wandten sich nach links auf einen unbefestigten Waldweg. Jerry hechelte an seiner Leine unbeherrscht voran. Wie zuvor an jedem Laternenmast und Pfahl, blieb er nun an jedem erreichbaren Baum oder größeren Grasbüschel stehen und hob das Bein, um anschließend umso heftiger vorwärtszuzerren.

»Himmel, Jerry!«, schimpfte Maximilian zum wiederholten Male. »Zieh nicht so!«

»Weißt du, Maxi?«, wurde Frank wieder nachdenklich und kickte einen Stein über den Weg, dem der Terrier unverzüglich hinterherhetzen wollte.

So völlig losgelöst von seinem Kummer schien Frank denn doch nicht, obschon er sich erst vor einer Minute aufs Neue darüber lustig gemacht hatte, dass nicht einmal der Hund Maximilian gehorchte.

»Eben hätte ich den ganzen Bettel am liebsten geschmissen, als mein Vater wieder davon angefangen hat. Es kotzt mich so an. Ich halte das nicht mehr lange aus, dann geh ich tatsächlich nach der Neun ab und in irgendeine Fabrik in Aachen oder so. Das ist mein Ernst.«

»Du hast sie doch nicht mehr alle!« Maximilian war entsetzt. »Was soll ich denn machen, wenn du nicht mehr bei mir bist und mich durch die Schule schleppst? Ich will das Abi machen. Dazu brauche ich dich, Gosch.«

Gosch war Franks Spitzname. Falls er nicht gerade mit seinem Vater und seinem Schicksal haderte, fiel es ihm üblicherweise schwer, sein loses Mundwerk zu zügeln. Gosch war die Abkürzung von Gosche. Ein Lehrer hatte einmal zu ihm gesagt: »Verflixt noch mal! Was hast du doch für eine Gosche!« Von da an hieß er so.

»Er hatte einen im Kahn«, fuhr er fort. »Der Bauherr, an dessen Haus er arbeitet, hat vermutlich einen Kasten Bier spendiert. Dieser Idiot kippt auch noch Benzin ins Feuer. Wahrscheinlich will der seine Hütte gar nicht mehr fertig kriegen. Aber egal, in letzter Zeit ist mein alter Herr ja sowieso fast immer blau. Dann kommt er in mein Zimmer, weist darauf hin, dass er das Haus, in dem ich lebe, mit seiner Hände Arbeit gebaut hat, und behauptet, ich sei ein Feigling und ein Drückeberger, der sich auf seine Kosten durchfüttern lassen und ein bequemes Leben machen will.«

Maximilian konnte sich nur vage vorstellen, wie es in seinem Freund aussehen mochte. Er für seinen Teil kannte solche Situationen nicht. Da Frank so beharrlich auf seine Nöte zurückkam, musste es schlimm um ihn stehen.

»Warum sagst du ihm nicht einfach, dass er dich in Ruhe lassen soll?«

»Meinst du, ich bin scharf auf falsche Zähne?« Maximilian schüttelte ratlos den blonden Schopf. »Wenn ich in der Schule so gut wäre wie du, würden meine Eltern aus Dankbarkeit jede Woche eine Messe lesen lassen. Ach was. Jeden Tag. Ich glaube, dann könnte ich alles von denen bekommen, was ich wollte, wenn es Thomas nicht gäbe … Jerry!«

Ein Kaninchen war quer über den Weg gehuscht und rechts ins Gebüsch geschlüpft. Der Hund hatte sofort nachgesetzt und Maximilian, der nicht darauf gefasst gewesen war, die Leine aus der Hand gerissen. Jaulend schoss der Terrier hinter dem Nager ins Dickicht.

»Verflixter Köter!«, fluchte Maximilian und ließ machtlos die Arme fallen. Dann nahm er die Verfolgung auf.

Gosch blieb ihm auf den Fersen, durch Gestrüpp und Unterholz. Doch alle Mühen und Schrammen waren vergebens. Sie kamen nicht näher an den Terrier heran. Im Gegenteil. Nicht einmal ein Fitzelchen von ihm war noch zu sehen. Lediglich ein fernes Winseln, mal etwas lauter, mal leiser, zeigte an, dass er sich noch nicht völlig aus dem Staub gemacht hatte. Aber schließlich verklang auch das.

Erschwerend kam hinzu, dass in diesem Bereich des Waldes die nicht ausgeholzten, sich (noch) selbst überlassenen Abschnitte überwogen. Droben schirmte die vielfältige Vegetation den Himmel nahezu komplett ab und drunten, im tiefen Schatten, hätte es zuweilen schon einer Machete bedurft, um sich einen Weg oder ein bisschen Sicht zu verschaffen. Man musste entweder ein Kaninchen oder ein kleiner Terrier sein, um davon nicht eminent aufgehalten zu werden. Irgendwann verstellte eine umgestürzte mächtige Lärche Maxi und Gosch den Weg. Halb sprangen sie, halb kletterten sie über den Stamm, anschließend wühlten sie sich durch eine ansteigende Lichtung, auf der wild gesprossene, dicht an dicht stehende junge Fichten und Kiefern grimmig um Licht und Platz rangen, und kämpften sich einen Hang mit Gestrüpp aus Buchenschösslingen, stacheligem Ilex und dornigen Blaubeersträuchern hinab, was Gosch einige weitere rote Striemen auf den ungeschützten Beinen einbrachte. Sie schwitzten – Maxi in seiner Jeans wesentlich mehr als Frank.

Dann wurde das Gelände noch einmal ebener und lichter. Besonders Letzteres rührte wohl daher, dass sie dem Weg wieder nahegekommen waren. Sie hatten nichts anderes als einen weiten Bogen zurückgelegt.

Mit dieser sowohl überraschenden als auch zermürbenden Erkenntnis glaubte Maxi wieder etwas von Jerry zu vernehmen. Ein Winseln, so leise und verweht, dass es auch der Wind mithilfe einer Baumritze produziert haben könnte. Aber er war sich sicher, dass es von seinem vierbeinigen Hausgenossen stammte, und folgte ihm. Die Fährte führte im rechten Winkel erneut weg von der Schneise bis zu einer heckenartigen hohen Wand aus Holunder und Hasel, die ihrerseits weit von einem sich dunkel abhebenden Massiv überragt wurde, dem Alten Mann. So wurde in der Gegend ein riesiger grauer, von Moos bewachsener Felsen genannt, der – einem gewaltigen Findling gleich und beinahe einer Kirche ähnlich mit einem gewölbten, wenn auch leicht zerklüfteten Schiff und einem steil aufsteigenden, abgerundeten „Turm“ – das umliegende Nadeldach überthronte.

„Hier?“, fragte Gosch zweifelnd und auch etwas entnervt, weil sie sich, sollte Maximilians Verdacht richtig sein, gar nicht so weit durch die Wildnis hätten mühen müssen.

Maxi hob nur ratlos die Schultern und suchte und fand einen Weg an der Hecke vorbei. Hielt sich der Hund in der Nähe des Alten Mannes auf, müsste er nicht allzu schwer aufzustöbern sein. Hier ging es nämlich verhältnismäßig übersichtlich zu, mal von der Heckenwand abgesehen.

Bis in unmittelbare Gesteinsnähe war der Boden von zartem, hohem Waldgras bedeckt, was diesem Ort – besonders jetzt, da das bereits sinkende Sonnenlicht aus dem Westen die hohen Fichtenwipfel streifte und für nuancierte Lichteffekte sorgte – eine verwunschene Anmutung verlieh. Mit ein wenig Fantasie hätte man annehmen können, bei der Lichtung handle es sich um ein gewaltiges Nest, in dem ein prähistorischer gigantischer Saurier ein nicht minder gigantisches Ei hinterlassen hatte. In dieser Art jedenfalls hatte Maximilian das einst gesehen. Als einen Ort, der ein tieferes, nie gelüftetes Geheimnis barg. Erst als er auf Jules Vernes Spuren bei der Suche nach einem versteckten mystischen Zugang ins Erdinnere beim Erklimmen der steil aufragenden glatten Felswand abgestürzt war und sich böse den Steiß geprellt hatte, war ihm alles Geheimnisvolle am Alten Mann ziemlich gleichgültig geworden. Über Tage hatte er weder richtig sitzen noch liegen können. Wenn er es recht bedachte, war er seit jener schmerzhaften Niederlage vor drei oder vier Jahren nicht mehr hier gewesen.

Blöd nur, dass Jerry sich offenkundig ebenfalls nicht hierhergezogen gefühlt hatte. Es gab nicht die geringste Spur von ihm, obwohl Maxi sich noch immer ziemlich sicher war, dass jener Winsellaut von diesem Ort gekommen war.

»Vielleicht«, schnaufte Frank, »kommt er irgendwann freiwillig nach Hause, das Kaninchen erwischt der sowieso nie.«

»Nicht Jerry«, jammerte Maxi, »der verirrt sich doch sogar in unserem Wohnzimmer.«

In diesem Augenblick ertönte in seinem Rücken ein leises, eingeschüchtertes Winseln. Aber dort war nur Stein.

»Hast du das auch gehört?«

»Was?«

»Das Winseln.«

»Nö.«

Da wurde es wieder lauter. Sein Ursprung schien in einem goldgelb blühenden Ginsterbusch zu liegen, der unmittelbar vor dem Alten Mann aus der Waldwiese spross.

»Jetzt habe ich es auch gehört«, sagte Frank. »Ich will verdammt sein! Dein Hund hat sich in einen Ginster verwandelt. Lang möge er blühen!«

»Du hast sie wirklich nicht alle.«

Maxi ging vor dem Strauch in die Knie und schob die Zweige zur Seite. Zwischen ihnen entdeckte er ein paar Zentimeter vor dem Felsen ein Loch im Boden, das wie der Eingang eines Kaninchenbaus aussah. Und aus diesem Loch drang jetzt ein klägliches, verzagtes Bellen, begleitet von einem sonderbaren Nachhall, als ob sich dahinter ein größerer Raum auftäte.

Vollkommen rätselhaft, wie der Hund dort hineingelangt war. Vermutlich saß er irgendwo fest.

»Jerry? Ich bin hier, Jerry! Komm raus! Komm schon, sei ein guter Junge!«

Ratloses Jaulen war die Antwort. Dessen zu- und abnehmende Lautstärke verriet, dass Jerry durchaus über eine gewisse Bewegungsfreiheit verfügen musste. Aber irgendwie fand er den Rückweg nicht.

Darüber hinaus erschien es Maximilian verwunderlich, dass Karnickel neuerdings so große Höhlen schufen, dass sich ein Terrier in ihnen verlaufen konnte. Selbst wenn es sich um ein leicht beschränktes Exemplar seiner Rasse handelte, musste es ihm doch möglich sein, aus einer Kaninchenröhre herauszufinden, in die er kurz zuvor hineingefunden hatte.

»Yo. Das sieht nicht gut aus, Mann«, stellte Frank mit Kennermiene fest.

»Bin ich froh, dass du bei mir bist. Darauf wäre ich jetzt von allein nicht gekommen. Kommt von dir auch mal was Produktives? Vielleicht irgendwelche Vorschläge – außer buddeln oder etwas in der Art?«

»Aufsprengen?«

»Gosch!«

»Fass doch mal rein. Eventuell kriegst du ihn ja zu packen und kannst ihn rausziehen.«

»Auch für diese Erleuchtung hätte ich dich nicht gebraucht.« Maxi seufzte schwer. »Aber ich fürchte, wie es aussieht, wird mir kaum was anderes übrig bleiben.«

»Apropos fürchten. Sei bloß vorsichtig«, mahnte Frank mit unheilschwangerer Stimme. »Du weißt nie, was sich auf der anderen Seite befindet. Es könnte ein großes scharfzahniges Maul sein, dass Jerry nur imitiert und auf Frischfleisch lauert.«

»Sehr witzig«, brummte Maxi.

Er hatte sich inzwischen niedergekniet. Doch als er sich nun mit der linken Hand gegen den Felsen stützte und mit der rechten in das Loch fasste, war ihm nicht ganz wohl in seiner Haut. Das lag nicht an Goschs unkenden Worten – undurchdringliche Finsternis konnte immer eine unerfreuliche Überraschung bereithalten, zumindest für einen Horrorfilm-Liebhaber. Und handelte es sich auch nicht um Vampirfänge, in die man fasste, so konnte es doch Karnickelkacke sein.

Langsam – jederzeit bereit, sie zurückzureißen – schob er die Hand in die Tiefe. Als er bis zum Ellenbogen im Loch steckte, stieß er auf einen Widerstand. Zu seiner Erleichterung war es nicht die Kaninchenlatrine, sondern nur Erde. Hier schien bereits Ende zu sein.

»Was ist?«, fragte Frank. »Geht’s nicht mehr weiter?«

»Ich weiß nicht. Aber das kann doch gar nicht sein.« Maximilian tastete nach rechts, nach links, nach unten und zuletzt in die unwahrscheinlichste Richtung: nach oben. Doch welche Überraschung: Dort ging es weiter. In einem scharfen Knick führte die Röhre schräg aufwärts unter den Felsen. Maxi lag inzwischen förmlich auf dem Ginster und steckte nahezu bis zur Schulter im Boden – ohne ein Tunnelende erreicht zu haben oder auch nur ein Härchen von Jerry zu ertasten. Dafür winselte der Terrier wieder, was jetzt wegen dem Arm im Gang seltsam erstickt klang.

»Ich komm nicht ran«, ächzte Maxi erstickt. »Mein Arm ist zu kurz.« Trotzdem versuchte er noch einmal, tiefer hineinzufassen, sah aber schließlich die Sinnlosigkeit seines Unterfangens ein. »Näh. Das hat keinen Zweck.«

»Echt jetzt?«, kam es verblüfft von Gosch. »Das kann doch nicht so tief sein.«

»Tief ist es auch nicht. Aber kompliziert.« Maxi ließ ihn seinen Befund wissen, nämlich dass die Erdröhre beinahe wie ein Siphon verlief, zunächst steil abwärts, dann ebenso steil aufwärts.

Frank runzelte die Stirn. »Sozusagen in den Alten Mann rein?«

»Hm.«

»Wie das?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Und du meinst, er steckt da unter dem Felsen?«

»Ja, Mann. Du hast doch mitbekommen, wie er beim Anblick des Kaninchens den totalen Aussetzer hatte. Er ist ihm wie hypnotisiert hinterher und blindlings in dieses Loch. Und erst dort, wo er jetzt steckt, hat der Depp gemerkt, was ihm passiert ist.«

Sie suchten zwei abgefallene stärkere Äste, mit deren Hilfe sie zuerst mühselig den Boden um den Ginster lockerten. Sodann beförderten sie den Strauch mit vereinten Kräften samt Wurzeln aus dem Erdreich. Hernach vergrößerten sie mithilfe der Stöcke, aber überwiegend mit bloßen Händen die Kaninchenröhre zu einem kleinen Schacht.

Jerrys vereinzelt abgegebene Klagelaute wurden zusehends deutlicher und lauter.

»Scheint, als wäre der Alte Mann zu einem Teil hohl«, bemerkte Frank. Er arbeitete von der Seite und schob den Dreck, den Maximilian hervorschaufelte, weiter nach hinten.

»Hm«, brachte Maxi, der bereits bis zu den Schultern unter den Felsen vorgedrungen war, mühsam heraus.

Dem Kaninchengang weiter folgend, hatte er begonnen, sich aufwärtszuwühlen. Und unvermittelt, doch nicht ganz unerwartet, griffen seine buddelnden Hände unbeeinträchtigt von Gestein ins Leere. Er hatte die Oberfläche durchstoßen. Unmittelbar darauf tatschte er auf etwas Feuchtes, Kaltes, das von drahtigen Haaren umgeben war – Jerrys Nase. Direkt anschließend spürte er etwas Warmes, noch Feuchteres: die Zunge des Terriers, der glücklich seine Finger abschleckte.

»Lass das, du Jeck!«

Er erweiterte die geschaffene Öffnung so weit, dass der Hund hindurchpasste, und zog sich ein wenig zurück. Auch Gosch war rückwärts gekrabbelt und dann aufgestanden.

Unter dem Felsen erschienen eine schwarze Knopfnase und eine dreckverschmierte Schnauze, denen Jerrys misstrauische Augen folgten. Er zögerte, schien dem Braten nicht zu trauen.

»Nun komm schon raus, dumme Töle!«, zürnte Maximilian.

Als hätte es erst dieser Aufforderung bedurft, schlüpfte Jerry hastig ans Tageslicht und schüttelte sich ausgiebig.

Um das nächste Ausbüxen zu vereiteln, schnappte sich Maxi hastig die Leine. »Ich sollte dir wirklich den Arsch versohlen!«

Jerry hechelte auf verzärtelt treuherzige Weise, als wollte er entschuldigend lächeln, und wedelte ihn an. Er wusste genau, was er angestellt hatte.

Maximilian erwiderte seinen Blick zunächst voller Strenge. Doch nach zwei Sekunden trat Nachdenklichkeit in seine Augen. Er sah von dem Hund in die Grube, von dort zu Frank und wieder zurück in die Grube – mit einem immer nachdenklicher sowie interessierter werdenden Ausdruck.

»Was?«, fragte Gosch trocken. »Kann es sein, dass du vorhast, was ich glaube, dass du vorhast?«

Maxi zuckte mit einer Schulter, senkte den Blick auf das völlig verdreckte und ramponierte Hemd seines Bruders, zuckte noch einmal die Schulter und murmelte:

»Jetzt kommt es auch nicht mehr darauf an.«

Kurz entschlossen drückte er Frank die Lederleine in die Hand und ließ sich, nach wie vor auf den Knien, zurück nach vorn in die Grube plumpsen.

Gosch seufzte: »Er hat das vor, was ich dachte, dass er vorhat.«

Maximilian buddelte in Handarbeit. Er vergrößerte den Durchschlupf, bis auch er hindurchpasste. Mit einem tiefen Durchschnaufen schob er sich sodann zuerst nur bis zu den Schultern hinein. Das genügte schon, um es vor seinen Augen stockfinster werden zu lassen.

»Ganz schön unheimlich hier.«

Seine Stimme hatte einen seltsamen Nachhall – wie in einem großen, leeren Saal.

»Denk an das grässliche Riesenmaul«, vernahm er gedämpft Goschs Mahnung.

Das gibt’s doch nicht!