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Frauke Schuster

Der Watzmann und der Tod

Kriminalroman

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Zum Buch

Finsteres Begehren In einer abgebrannten Scheune macht die Polizei eine schreckliche Entdeckung. Handelt es sich um eine aus den Fugen geratene Zündelei oder steckt mehr dahinter? Der Journalist Paul Leonberger vermutet Letzteres und beginnt zu ermitteln. Könnte der ruppige Künstler Barth etwas damit zu tun haben? Oder der aggressive Jungbauer Rainer? Und was hat es mit dem Rumänen auf sich, der sich in einem Zelt am Waldrand vor den Menschen verbirgt? Bald beschleicht Paul das unheimliche Gefühl, dass jeder seiner Schritte beobachtet wird, und schließlich entgeht er nur knapp einem Anschlag auf sein Leben. Unerwartete Unterstützung findet Paul allerdings bei der wortkargen Rangerin Tessa, die mit einem halbzahmen Adler auf einer abgelegenen Alm lebt.

Frauke Schuster, Jahrgang 1958, verbrachte einen Großteil ihrer Kindheit in Ägypten, wo sie eine deutsch-arabische Begegnungsschule besuchte. Zurück in Deutschland studierte sie Chemie an der Universität Regensburg und arbeitete anschließend mehrere Jahre für eine Chemie-Fachzeitschrift. Neben der Liebe zum Orient und den Naturwissenschaften spielt die Schriftstellerei eine Hauptrolle in ihrem Leben. Frauke Schuster schreibt Kriminalromane sowie Kurzgeschichten auf Deutsch und Englisch. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und einer Unzahl Bücherregale in einem kleinen Ort in Südbayern. In ihrer Freizeit liebt sie es zu reisen und wandert u.a. gern im Berchtesgadener Land.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Watzmanns Erben (2017)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Kanusommer/Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5768-5

Widmung

Für meine Familie, insbesondere für meinen Mann, der bei Recherchetouren selbst die verborgensten Pfade für mich aufspürt.

Prolog

Er kauerte hinter den Büschen und ließ das Haus nicht aus den Augen. Heute war er ein Detektiv. Oder doch vielleicht ein Spion? Als ein Mann mit einem Abfallkübel aus dem Haus trat und zum Komposthaufen ging, wagte sich der Junge nicht zu rühren. Sollte der Mann ihn entdecken, wäre das Spiel ruiniert. So aber konnte er sich ausmalen, der andere sei ein Verbrecher, den er stellen wollte.

Doch nachdem der Mann wieder im Haus verschwunden war, wurde dem Jungen in seinem Versteck ein bisschen langweilig. Ob der Mann allein wohnte? Oder gab es Kinder, mit denen man spielen könnte? Neugierig spähte der Junge zu den Fenstern hinüber. Ein anderer Junge, etwa in seinem Alter, wäre ihm am liebsten. Aber vielleicht hatte der Mann nur Töchter? Solche, die ihre Puppen in rosa Glitzerkleider stopften? Oder dauernd über Ponys und Pferde reden wollten? Allerdings hatte er auch schon Mädchen getroffen, die begeistert auf Bäume kletterten oder Fußball spielten.

Als sich weiterhin nichts rührte und er keine Kinder hören konnte, stand der Junge auf. Wenn der Mann allein lebte, lag hier bestimmt nirgendwo Spielzeug herum, mit dem man sich beschäftigen könnte. Oder das sich einstecken ließ. Als der Junge fast schon am Gehen war, fiel ihm auf, dass das Garagentor einen Spalt breit offen stand. Vorsichtig drückte er es weiter auf, und es knarrte kaum.

Besaß der Hausbesitzer ein Motorrad, auf das man sich mal setzen könnte? Der Junge schob sich in den halbdunklen Raum. Kein Motorrad, kein schnittiger Porsche oder so. Wie langweilig. Doch als er auf dem Fensterbrett ein Smartphone sah, das der Eigentümer wohl dort vergessen hatte, leuchteten seine Augen auf.

»Was machst denn da, Saufratz?«

Man durfte ihm nichts tun, wusste der Junge. Weil er zu klein war. Kinder durfte man nicht einsperren. Nicht mal die Polizei durfte das. Wenn er überhaupt jemals bei seinen Diebereien erwischt wurde, war der Junge höchstens angeschrien und weggejagt worden. Ab und an drohte mal jemand mit dem Jugendamt, aber mehr geschah selten.

»Stehlen hast wollen, stimmt’s?«

Der Junge zuckte die Schultern.

»Und deine Eltern? Wo sind die?« Der Mann trat einen Schritt näher. »Wo wohnst du?«

Das Kind schwieg. Stumm starrten sie einander an. Wahrscheinlich überlegt er, ob er die Polizei rufen soll, dachte der Junge. Er beschloss, zerknirscht zu tun, und senkte den Blick.

»Dass Stehlen unrecht ist, weißt schon?«, fragte der Mann nach einer Weile streng. In gespielter Reue nickte der Junge. Er merkte, dass der Mann sich noch nicht entscheiden konnte, wie er weiter reagieren sollte.

Doch plötzlich veränderte sich etwas im Gesicht des Mannes; er lächelte beinahe. Dann packte er den Jungen am Handgelenk, zog ihn zum Garagentor. Dort sah er sich nach allen Seiten um, obwohl sich niemand draußen befand.

»Jetzt kommst erst mal mit ins Haus. Und kein Theater, verstanden?«

Verblüfft zögerte der Junge. Er hatte mit Wut gerechnet, schlimmstenfalls mit einer Ohrfeige, aber nicht damit. Es wäre ihm lieber, der Mann würde ihn loslassen. Aber der behielt sein Handgelenk in festem Griff, während er den Jungen zur Haustür zerrte und sie mit der freien Hand öffnete.

»Und jetzt«, sagte der Mann, als sie im Flur standen, »zeig ich dir den Musikraum.« Sein Atem ging schwer, fast keuchend.

»Musikraum?«, fragte der Junge verwirrt. Das veränderte Wesen des Mannes beunruhigte ihn.

»Früher hat hier mal jemand Schlagzeug gespielt«, erklärte der Mann.

Befand sich das Instrument noch im Haus? Wollte der Mann es ihn ausprobieren lassen? Der Junge schwankte zwischen Hoffnung und Furcht.

»Weißt du, was das bedeutet, dass hier mal jemand ein Schlagzeug besessen hat?« Der Griff des Mannes wurde fester, sodass der Arm des Jungen schmerzte. Stumm schüttelte das Kind den Kopf.

»Es bedeutet«, sagte der Mann, »dass der Musikraum schallisoliert ist.« Er sah auf den kleinen Jungen hinab, und seine Augen glänzten, als habe ihm jemand mitten im Frühjahr ein Weihnachtsgeschenk gemacht. »Und das heißt im Klartext, dass dich dort niemand hört, wennst schreist.«

Kapitel 1

Als sich sein Handy meldete, stand Paul Leonberger auf dem riesigen Parkplatz beim Königssee und hatte gerade die hintere Tür seines Wagens geöffnet, um nach dem dort liegenden Rucksack zu greifen. Er zog das Telefon heraus, starrte auf das Display, den angezeigten Namen. Die Gewohnheit des Journalisten, einen Anruf stets anzunehmen, und sein Wunsch nach einem Tag ohne Komplikationen stritten für den Bruchteil einer Sekunde miteinander. Dann schob er das Handy in die Tasche zurück.

Ohne es komplett auszuschalten. Wer allein in die Berge ging, sollte sein Handy anlassen. Um in einem Notfall mittels des Signals geortet werden zu können. Was die Bergwacht bei ihrem gut gemeinten Ratschlag nicht erwähnte, war, dass man so auch für andere erreichbar blieb. Leider.

Ein Touristenpaar, das sich zwei Meter weiter ebenfalls für eine Wandertour rüstete, blickte zu ihm herüber. Paul zuckte die Achseln. Der Mann, der seine Bergstiefel schnürte, grinste. »Not important?«

»Don’t know«, sagte Paul. Die Frau starrte ihn an, und er vermutete, dass sie ihn zurechtweisen wollte. Rasch drehte er ihr den Rücken zu, lud sich den Rucksack auf und schloss den Wagen ab, um loszumarschieren.

Der zweite Anruf, drei Minuten später, kam von seinem Vater. Wieder weigerte sich Paul ihn anzunehmen. Er schaltete das Handy auf stumm und erwog, es nun doch ganz auszumachen. Die Tour über die Archenkanzel nach St. Bartholomä war im ersten Teil, bis zum hoch über dem See gelegenen Aussichtspunkt, nicht schwierig. Und somit die Gefahr, dass die Bergwacht nach ihm suchen müsste, gering. Doch die Routine des Journalisten blieb, wie meist, Sieger über die Emotionen. Und das Handy auf Vibrationsalarm.

Kurz darauf, als Paul umkehrte, weil er seinen geliebten Fotoapparat im Wagen vergessen hatte, lief eine Textnachricht ein. Von Kira, natürlich. ›Es geht um Jannis. Melde dich, du Arsch!!!‹ In Pauls Magen breitete sich ein unangenehmes Kribbeln aus. Er konnte den Namen ›Jannis‹ nicht mehr hören. Wollte ihn nicht auf dem Display sehen. Am liebsten hätte er einen Schluck aus der Miniweinflasche genommen, die normalerweise nicht zu seiner Standardausrüstung gehörte. Die er an diesem Tag jedoch eingepackt hatte, um sich zu belohnen, sobald er St. Bartholomä erreichte. Dort, bei der berühmten Kirche, würde er auf das Boot warten müssen, das ihn zur Anlegestelle Königssee und damit in die Nähe des Parkplatzes zurückbringen sollte.

Als er den Evoque aufschloss, dachte er an den Streit vom Vorabend. Seit drei Monaten lebten Kira und er eine lose und dennoch intensive Beziehung. Zu der auch die eine oder andere Auseinandersetzung gehörte. Wenngleich die vom Vortag schon unüblich heftig gewesen war. Paul biss sich auf die Lippen. Nachtragend zu sein galt nicht als positiver Charakterzug. War es Zeit, das Kriegsbeil zu begraben? Er dachte an einen wunderbaren Versöhnungsabend, mit Wein und Candle-Light-Dinner. Und heißem Sex zum Dessert. Falls … ja, falls Kiras Mutter noch einmal den Jungen nehmen konnte.

Aber zuerst wollte er sich einen entspannten Tag in seinen geliebten Bergen gönnen. Mit einem gemütlichen Zwischenstopp auf der Kührointalm, wo er sich für den späteren Steilabstieg zum See über den Rinnkendl-Steig wappnen konnte. Paul war schon lange nicht mehr zur Archenkanzel aufgestiegen und freute sich auf die herrliche Aussicht über den fjordartigen Königssee mit seinem je nach Lichteinfall tiefblauen und smaragdgrünen Wasser.

Paul kannte, von gutem Sex abgesehen, keine bessere Möglichkeit zum Stressabbau als eine lange Wanderung oder Radtour. Und abgesehen davon, dass er hoffte, die Reste seines Ärgers durch einen flotten Aufstieg zu besiegen, würde es Kira nicht schaden, ein bisschen schmoren zu müssen. Schließlich hatte sie den Streit angefangen, nicht er. Glaubte er zumindest.

Falls er erwartet hatte, Kira durch sein Schweigen eine Lektion in Geduld zu erteilen, verfehlte sie ihre Wirkung.

›Melde dich jetzt oder nie wieder!‹, lief als nächste Nachricht ein. Paul hasste es, wenn Leute alltägliche Dinge dramatisierten. Allmählich fragte er sich, ob er nicht ohne feste Beziehung besser dran wäre. Er war immer ein Einzelgänger gewesen, jemand, der viel Wert auf seine Freiheit legte.

Dennoch. Das Bauchgefühl des erfahrenen Journalisten erkannte die Verzweiflung hinter dem kurzen Text. Vielleicht steckte mehr dahinter als ein Machtkampf?

Eine Krähe flog hinter Paul auf und erschreckte ihn mit ihrem misstönenden Krächzen. Paul atmete tief durch und drückte Kiras Nummer.

Mailbox. Warum das so plötzlich? Hatte sie Paul bereits abgeschrieben? Oder behinderten die Berge den Handyempfang? Aber Paul hatte gerade erst die Königsseer Ache überquert, befand sich auf einem ruhigen Wiesenweg mit Blick zum Grünstein. Er sandte eine Nachricht: ›Hab versucht, dich anzurufen. Bis bald.‹

Was nun? Sollte er die Tour durchziehen, auf die Gefahr hin, gleich wieder umkehren zu müssen?

»Ich hasse Beziehungskisten«, sagte Paul laut. Und marschierte schneller als vorhin weiter bergauf. Was immer Kiras Problem sein mochte, es ließ sich vermutlich telefonisch erledigen. Oder die Lösung per Handy zumindest einleiten oder aufschieben.

Er konnte höchstens eine Viertelstunde lang gegangen sein, als sein Handy vibrierte. Paul fühlte sich mittlerweile entspannter und nahm den Anruf an, ohne auf den angezeigten Namen zu sehen.

»Solltest du als Schreiberling nicht ständig erreichbar sein? Ich hab mindestens dreimal angerufen!«, schimpfte die Stimme seines Vaters.

»Hast du nicht«, korrigierte Paul.

»Egal.« Der Vater war geschickt darin, sich aus seinen Lügennetzen herauszuwinden. Schnelle Richtungswechsel, wenn er bei einem Thema ins Schlittern kam, waren seine Spezialität. »Dein Mädel versucht seit Stunden, dich zu erreichen.«

»Du hast mit Kira gesprochen?« Pauls Magen krampfte sich zusammen. Seit Jahrzehnten achtete er sorgfältig darauf, sein Privatleben vor dem Vater abzuschotten. Kira wusste das. Wenn sie trotzdem mit Pauls Vater Kontakt aufgenommen hatte, musste tatsächlich etwas Außergewöhnliches passiert sein. Hatte Jannis einen Unfall gehabt? In Sekundenschnelle schossen Szenarien durch Pauls Kopf: Ein Auto hatte das Rad des Jungen gerammt, Jannis lag mit Schädelbruch im Krankenhaus, und zwischen den piepsenden Geräten der Intensivstation versuchte Kira ihren in den Bergen herumstreunenden Freund zu erreichen … Oder: Jannis hatte sich ein Brot abschneiden wollen, sich dabei das Messer versehentlich in den Bauch gerammt, und zwischen den piepsenden Geräten …

»Was treibst denn, dass d’ nicht ans Telefon gehen kannst?« Kilian Leonbergers Neugier brachte das Kopfkino seines Sohnes zum Stoppen.

»Ich bin auf einer Wanderung. In den Bergen gibt’s nicht überall Handyempfang.« Paul hatte wenig Skrupel, dem Vater gegenüber die Wahrheit kreativ zu verschleiern. Zwar stimmte es, dass in den Bergen Funklöcher existierten, aber immerhin hatte er vorhin Kiras Nachrichten bekommen.

»Immer die Berge. Immer abhauen. Warum kannst net mal deinen alten Vater besuchen anstatt durch langweilige Wälder zu latschen? Bei meinen Herzproblemen. Wer weiß, wie langst noch einen Vater hast?«

»Du wirst hundert«, sagte Paul ohne Mitgefühl. »Schon, um mir kontinuierlich auf den Nerven herumzutrampeln, wirst du mindestens hundert.« Er atmete tief durch. »Hat Kira erwähnt, worum’s geht?« Er ärgerte sich nun, ihren Anruf ignoriert zu haben. Dann wäre sein Vater jetzt nicht in der Position mehr zu wissen als Paul.

»Nix hat’s gesagt. Alle sind s’ gleich, die Weiber. Dauernd reden, aber nichts sagen.«

»Irgendetwas muss sie gesagt haben«, beharrte Paul.

»Geheult hat sie«, antwortete der Vater.

Dass er zu schnell dran war, merkte Paul erst, als ihn am Ortsausgang von Bischofswiesen ein Lichtblitz traf. »Scheiße, verdammte Scheiße!«, schrie er gegen Milows ›Against the Tide‹ im Radio an, während er automatisch abbremste. Und kurz darauf auf einen Parkplatz gewunken wurde.

»Ihre Papiere?« Der junge Polizist verhielt sich professionell höflich, was Paul erst recht aufbrachte. Statt seinen Ausweis zu zeigen, griff er zum Handy und probierte Kiras Nummer. Mailbox.

»Wen rufen S’ denn an? Ihren Anwalt?«, fragte der zweite Polizist, ein älterer Mann mit rundem, gutmütig wirkenden Gesicht. »So weit ist’s noch net. Außer Sie haben Drogen im Wagen? Oder Waffen?«

Paul gab keine Antwort, streckte stattdessen endlich Ausweis und Führerschein durchs Fenster.

»Würden S’ bitte aussteigen?«

»Ich hab’s eilig«, knurrte Paul. »Meiner Freundin … geht’s nicht gut.«

»Kriegt s’ ein Kind?«, fragte der ältere Polizist.

Paul schüttelte den Kopf, und der jüngere Mann sagte streng: »Dann werden Sie sich Zeit für uns nehmen müssen. Sind Sie mit einem Alkotest einverstanden?«

»Ich fühl mich wie im falschen Film. Um die Uhrzeit hab ich doch nichts getrunken. Wissen Sie, wie spät es ist? Beziehungsweise wie früh?«

»Ja oder nein?« Die Stimme des Beamten klang gelangweilt, und Paul pustete widerwillig in den kleinen Apparat. Jetzt war er froh, die Weinflasche im Rucksack nicht angebrochen zu haben.

»Sagen Sie mir, was ich zahlen muss, und lassen Sie mich weiterfahren!«

»Zeigen S’ uns bittschön Warndreieck und Verbandskasten!«, mischte sich nun der ältere Mann wieder ein. Paul war mit drei langen Schritten beim Kofferraum, riss ihn auf und holte die verlangten Gegenstände heraus. ›Falls Sie auch meine Socken sehen wollen, sagen Sie’s gleich! Damit wir nicht noch mehr Zeit verlieren‹, wäre ihm beinahe herausgerutscht, doch er hielt die Worte in letzter Sekunde zurück. Die beiden Beamten konnten nichts dafür, dass er Stress mit Kira hatte.

Er kam mit ein paar Euro, ohne Punkte, davon. Und musste sich zusammennehmen, um nicht mit aufheulendem Motor zu starten und sofort die nächste Strafe zu kassieren.

In Anbetracht des eben Erlebten achtete Paul darauf, den Wagen nicht im Halteverbot abzustellen, und stürmte wenig später die Treppe zu Kiras Wohnung hinauf. Die Tür war angelehnt; er stieß sie weit auf und prallte fast gegen Kiras Mutter Helga. Paul machte sich nicht die Mühe zu grüßen.

»Kira?«, schrie er in die Wohnung hinein. »Kira, was ist los? Warum hast du meinen Vater angerufen?«

Nun tauchte Kira hinter ihrer Mutter auf. Eine verheulte Kira mit verquollenem Gesicht und einem zu großen Sweatshirt in Nebelgrau, dessen überlange Ärmel ihre Hände verdeckten. Pauls Sweatshirt, das er mal bei ihr vergessen hatte. Doch sie fiel Paul nicht in den Arm, wie sie es noch vor zwei Tagen getan hätte.

»Jannis.« Ihrer Stimme war anzuhören, wie viel sie geweint hatte. »Jannis ist …« Und Tränen strömten über ihre Wangen, ehe sie den Satz vollenden konnte.

»Warum hast du dein Handy ausgeschaltet?« Eigentlich hatte Paul etwas anderes sagen wollen, doch die Frage hatte sich selbstständig gemacht. In Kiras Augen trat neues Entsetzen.

»Das Handy? Mein Gott!« Sie rannte ins Wohnzimmer, gefolgt von Paul, wo sie hektisch zu suchen begann, ehe sie das Telefon auf einem Regalbrett fand.

»Ich … Der Akku ist leer, und ich hab’s nicht gemerkt!« Ohne von Paul Notiz zu nehmen, steckte sie das Handy am Ladegerät an und checkte ihre Nachrichten. Um das Telefon schließlich enttäuscht wegzulegen.

»Kira, bitte! Sag endlich, was geschehen ist!« Paul konnte hören, wie Helga in der Küche einen Kaffee bereitete; das laute Mahlwerk des Automaten zerschnitt die zwischen Kira und ihm eingetretene Stille.

»Er ist … weg.« Kira sank auf das Sofa und schlug die Hände vors Gesicht. Ihre Mutter trug ein Haferl Kaffee herein, drückte es Paul in die Hand. Er dankte mit einem Nicken und setzte sich neben Kira.

»Weg? Was meinst du damit?« Paul nahm Kiras Hand in seine. Was eine neue Tränenflut auslöste. Doch nun lehnte sich Kira an ihn.

»Weggelaufen«, sagte sie mit dieser zerbrechlichen Stimme, die so gar nicht zu ihr passen wollte.

Eine Viertelstunde und viele Tränen später hatte Paul ein klareres Bild von den Ereignissen. Kira zeigte ihm den Zettel, den Jannis mit einem Magnetsaurier an den Kühlschrank gepinnt hatte. Dahin, wo der Junge und seine Mutter immer dringende Nachrichten füreinander hängten. ›Du wilst mich nicht mer, du hast disen Mann lieber als mich.‹ Der Satz musste Kira ins Herz getroffen haben. Und Paul überkam ein Anflug von schlechtem Gewissen, weil mit dem ›Mann‹ er gemeint war.

»Wo hat er den Quatsch her? So was fällt einem Kind nicht von alleine ein«, sagte er barsch, um seine Emotionen zu überspielen. Kira wischte sich mit einem Papiertaschentuch über die Augen. Ihr Blick wanderte wie von ungefähr zur Küche, und Paul verstand. Offenbar war Kiras Mutter, die er bisher nur selten getroffen hatte, ähnlich intrigant wie sein eigener Vater. Und fand nichts dabei, einen Sechsjährigen gegen den Freund seiner Mutter, wenn nicht sogar gegen die Mutter selbst, aufzuhetzen. Doch es brachte nichts, jetzt darüber nachzugrübeln, wie sich dies abstellen ließe. Im Moment galt es, sich auf Dringenderes zu konzentrieren.

Paul holte tief Luft. »Okay. Und du hast diesen Zettel wann entdeckt?«

»Als ich aufgestanden bin, so gegen acht.« Kira hatte sich einen Kaffee bereiten wollen, die Nachricht gesehen und war sofort in Jannis’ Zimmer gelaufen. Wo sie nur das ungemachte Bett ihres Sohnes vorfand.

»Und was habt ihr bisher versucht?«

»Die nähere Umgebung abgesucht … Seine Freunde angerufen, beziehungsweise deren Eltern.«

»Niemand hat ihn gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf. Mit Erleichterung stellte Paul fest, dass sie zu weinen aufhörte. »Niemand. Aber seit Kurzem ist er dicke mit einem Karel. Und von dem hab ich keine Kontaktdaten.«

»Ruf Jannis’ Lehrerin an. Die kann dir zumindest den Nachnamen sagen. Auch wenn sie die Telefonnummer vielleicht nicht rausrücken wird.« Aber entweder die oder die Adresse des Jungen würde sich dann über das Internet finden lassen, hoffte Paul. Doch Kira sah ihn entsetzt an.

»Das kann ich nicht.«

»Dann sag mir, wie die Lehrerin heißt, und ich mache den Anruf.«

»Nein!« Kira schrie es fast, und Paul starrte sie an.

»Was hast du? Warum nicht?«

»Die hetzt mir das Jugendamt auf den Hals.« Kira sah auf das zerknüllte Tuch in ihrer Hand. »Jannis ist schon mal weggelaufen. Vor einem Jahr. Damals hab ich sofort die Polizei verständigt und …«

»Und die haben das Jugendamt eingeschaltet?« Kiras Schweigen war Antwort genug.

»Dann googeln wir eben den Jungen«, sagte Paul. »Oder vielleicht wüsste einer von Jannis’ anderen Kumpeln, wie Karel vollständig heißt?« Er merkte an Kiras Reaktion, dass sie wenig Lust hatte, einen neuen Rundruf zu starten, und setzte sich an ihr Notebook.

»Wie willst du im Netz einen Sechsjährigen finden?«, fragte Kira. »Für Facebook, Instagram und Co. ist der zu jung.«

Doch Paul entdeckte den Jungen tatsächlich: Karel hatte bei einer Kindergartenaufführung von ›Hänsel und Gretel‹ eine der Hauptrollen gespielt, und unter dem Bühnenfoto stand sein voller Name. Im Telefonbuch gab es zu seinem Nachnamen zwar eine Rufnummer, aber dort meldete sich niemand.

»Hier stehen auch Straße und Hausnummer. Fahr einfach hin«, schlug Paul vor. Bei dem sonnigen Wetter hockte Karels Familie vielleicht im Garten und hörte das Telefon nicht.

»Und du?«, fragte Kira. »Was tust du?«

»Gibt’s noch eine andere Möglichkeit, die du bisher nicht abgecheckt hast?«

»Barth«, sagte Kiras Mutter von der Tür her.

»Der Holzbildhauer?« Paul kannte den Namen von den Ausstellungen des Mannes, über die die Zeitung ab und an berichtete. »Was hat Jannis mit dem zu schaffen?«

»Der Mann flämmt die fertigen Figuren mit einer Lötlampe«, erklärte Kiras Mutter. »Jannis findet das faszinierend. Manchmal radelt er zu dem Anwesen, auf dem Barth hauptsächlich arbeitet, und schaut ihm heimlich zu. Zum Künstlerhof ist’s von meiner Wohnung aus nicht weit. Wir haben versucht, dort anzurufen, aber niemanden erreicht.«

»Wieso sieht Jannis dem Mann nur heimlich zu?«

»Dieser Barth ist ein Eigenbrötler. Sobald er Jannis bemerkt, jagt er ihn weg.«

Was die Wahrscheinlichkeit, den Jungen dort zu finden, nicht erhöhte. Doch Paul sprach es nicht aus, sondern fasste stattdessen die Aufgaben für alle zusammen. Kira würde zu Karels Eltern radeln; mit dem Auto wollte Paul sie nicht fahren lassen, und außerdem konnte ihr die frische Luft nur guttun. Ihre Mutter Helga würde in der Wohnung bleiben, falls Jannis zurückkommen sollte. Paul selbst wollte den Holzbildhauer aufsuchen.

»Die meisten kleinen Ausreißer kehren von allein zurück. Oder werden binnen zwei Tagen aufgegriffen«, beruhigte Paul die anderen, ehe sie sich trennten. Dass er schon über Fälle hatte berichten müssen, die wesentlich schlechter ausgegangen waren, behielt er lieber für sich.

Der Künstler, der sich selbst Barth nannte, arbeitete auf einem aufgelassenen Bauernhof in Richtung Weißbach. Schon im Vorgarten begrüßten riesige Holzskulpturen die Besucher. Paul erinnerte sich gelesen zu haben, dass es sich hauptsächlich um Neuinterpretationen mythologischer Figuren handelte. Die unteren Teile, manchmal aber auch Köpfe und Arme, waren von Flammen dunkel gefärbt, was die Skulpturen archaisch wirken ließ.

Paul blieb zunächst im Auto sitzen und sah sich um. Der Feldweg, den Jannis von Helgas Wohnung im Ortsteil Froschham entlangradeln musste, um hierher zu gelangen, schlängelte sich zwischen dem kleinen Anwesen und einem größeren Bauernhof hindurch. Paul hatte sich bei seinen Zeitungskollegen per Anruf darüber informiert, dass der Künstlerhof seit dem Tod des früheren Besitzers der Stadt gehörte, die in den Nebengebäuden Dinge lagerte, für die der Bauhof woanders keinen Platz fand. Barth durfte einen Teil des Anwesens für eine geringe Miete mitbenützen. Für die Stadt bot dies den Vorteil, dass der alte Hof einen bewohnten Eindruck erweckte, wodurch sich die Gefahr für Vandalismus verringerte. Paul fragte sich, welche der Scheunen oder Schuppen hinter dem heruntergekommenen Wohnhaus, das kaum mehr als vier Zimmer beherbergen konnte, das Atelier des Künstlers darstellen mochte.

Als Paul ausstieg, erklangen von irgendwoher Hammerschläge. Der Bildhauer arbeitete also. War er allein? Langsam ging Paul um das Haus herum. Auf dem großen Platz zwischen den diversen Nebengebäuden war der Künstler dabei, mit Hammer und Meißel einen mindestens zwei Meter hohen, aufrecht stehenden Holzquader zu bearbeiten. Der mit Splittern und Spänen übersäte Boden verriet, dass der Mann an diesem Projekt nicht erst seit Kurzem zugange war. Barth war groß, breiter als Paul und trug sein grau werdendes Haar in einem Pferdeschwanz. Ein aus einem roten Tuch improvisiertes Stirnband verhinderte, dass ihm der Schweiß in die Augen rann. Paul schätzte den Künstler auf um die 50.

»Hallo«, sagte Paul, als der Mann ihm nur einen kurzen Blick gönnte und gleich weiterarbeitete. »Mein Name ist Paul Leonberger. Ich suche einen kleinen Jungen. Er ist von zu Hause ausgerissen, und seine Großmutter sagt, er komme manchmal hierher. Er ist blond, sechs Jahre, klein für sein Alter, aber stämmig.«

Ohne seine Arbeitsgeräte fortzulegen, sah Barth zu Paul hinüber.

»Tut mir leid, Sie zu stören.« Paul hätte den Künstler gern gepackt, um eine Reaktion aus ihm herauszuschütteln. »Der vermisste Junge heißt Jannis und ist der Sohn meiner Freundin.« Er hoffte, damit seine Berechtigung für die Frage zu legitimieren.

»War heut net da. Zum Glück«, brummte Barth.

»Wieso ›zum Glück‹?«

Der Künstler wandte sich wieder seinem Holz zu, bearbeitete es mit einem scharfen Eisen und einem schweren Hammer. Im oberen Teil ließen sich bereits die Konturen eines Männerkopfes erahnen.

»Weil ich keine Schraazn hier rumlungern haben mag«, knurrte er. »Net mit all den Werkzeugen.«

Paul seufzte. Wenn er daran dachte, wie sehr ihm Kiras Sohn manchmal auf die Nerven ging, konnte er den Mann verstehen.

»Falls Jannis sich zeigen sollte: Hier meine Karte.« Er hielt sie Barth hin, der keine Anstalten machte, sie zu nehmen. Paul legte die Visitenkarte auf eine verwitterte Bank vor der großen Scheune. »Wir machen uns riesige Sorgen. Bitte geben Sie uns Bescheid, falls der Junge bei Ihnen auftaucht.«

Wieder im Auto rief er Kira an, doch auch sie hatte keinen Erfolg zu vermelden. Jannis’ Freund Karel hatte keine Ahnung, wo sein Kumpel stecken könnte. Und sie weinte wieder.