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Regina Schleheck

Mörderisches Leverkusen und Umgebung

11 Krimis und 125 Freizeittipps

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Zum Buch

Mord und Totschlag Von der Straße betrachtet könnte man meinen, Leverkusen bestehe nur aus Autobahnen. Doch wer sich in die Stadt hineinwagt, wird überrascht sein, wie grün sie tatsächlich ist. Folgen Sie Regina Schleheck in 11 Kurzgeschichten auf kriminelle Entdeckungstour durch ihre Wahlheimat Leverkusen und deren Umgebung, geprägt durch idyllische Natur, wirtschaftlich-kulturelle Blüte, sportliche Höchstleistungen – und entsprechende Risiken. Ein Kletterwettbewerb moderner »Kreuz-Ritter« endet tödlich. Abgründe der durch wechselnde Machtverhältnisse zusammengeschweißten Gegend offenbaren sich beim Ein- und Ausbuddeln von Leichen. Selbst Wanderausflüge im Bergischen bergen ungeahnte Abenteuer. Gleich mehrere Schlaglichter gelten Sonnen- und Schattenseiten der Chemieindustrie, die seit 150 Jahren die Region prägt. Leverkusen ist anders als andere Städte in der Umgebung – und hochspannend. Ergänzt werden die Geschichten durch 125 Freizeittipps zu Orten, die man erlebt haben muss. Also machen Sie sich am besten gleich auf den Weg.

Regina Schleheck hat sich im Krimi und in der Phantastik einen Namen gemacht. Mit dem Friedrich-Glauser-Preis der Krimiautoren und dem Deutschen Phantastikpreis wurden ihr die begehrtesten Auszeichnungen beider Genres zugesprochen – neben vielen anderen. Die Oberstudienrätin, freiberufliche Referentin, Herausgeberin, Lektorin und fünffache Mutter veröffentlicht seit 2002 ihre Werke. Unter ihrem Namen sind Hunderte Kurzgeschichten erschienen, zudem Hörspiele, Lyrik, Theaterstücke und Drehbücher. Sie ist Mitglied im Phantastik-Netzwerk PAN, in den Kriminetzwerken »Syndikat« und »Mörderische Schwestern« sowie im PEN. Mit »Mörderisches Leverkusen und Umgebung“ wendete sie sich ihrer Wahlheimat Leverkusen schriftstellerisch zu.

www.regina-schleheck.de

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Der Kirmesmörder – Jürgen Bartsch (2016)

Wer mordet schon in Köln? (2016)

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Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2019

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Jeppe Hein, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jeppe_Hein,_Water_Island,_2010.jpg

ISBN 978-3-8392-5818-7

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kreuz-Ritter

Wir waren noch mitten in dem Alter, in dem man auf Mittelalter steht, Ritter und so. Beziehungsweise die moderne Variante: Jedi-Ritter. »Wir« hieß Finn und ich. Weil man modernen Rittern nix vom Pferd erzählen kann, waren wir mit Skates und Mountainbikes unterwegs. Im Neuland-Park  1 , im Wiesdorfer Skatepark  2  unter der Stelzenbrücke und auf der Leichlinger Sandberge-Crosspiste  3  von »Forest Jump«. Als Padawane – so was wie Knappen oder Azubi-Ritter – wussten wir, dass es neben flexiblen Fortbewegungsmitteln auf totale Körperbeherrschung ankam. Also lagen wir unseren Eltern in den Ohren, dass wir was mit Klettern machen wollten. Im Aktionsklettergarten Alkenrath  4 , im A-Werk   und im Leichlinger Steinbruch  6 . Wir wollten fit sein für den nächsten Krieg der Sterne.

Bis uns George und Lucas in die Quere kamen.

Finn kannte ich schon seit dem katholischen Kindergarten Kreuzhof bei St. Antonius  . Die Kommunion, das Café Mittenmang  , diverse Zeltlager und die Zeit am Lise   hatten uns zusammengeschweißt. Unsere Freundschaft überlebte, als wir in die Pubertät kamen, Lisa und Maite und sogar Günni, der sich, wenn wir uns mit einigen aus der Klasse abends zum Lagerfeuer zwischen den Wiesdorfer Buhnen  10  unterhalb des Kanuclubs  11  und der »Wacht am Rhein«  12  trafen, vergeblich bemühte, uns ans andere Ufer zu locken, bis er schließlich dem dicken Dorian auf die Nerven ging, der bei den Mädels eh nix zu melden hatte.

Finn stand Schmiere, als ich am Regenrohr zu Lisas Fenster hochkletterte, um einen Maibaum auf dem Sims zu befestigen. Zwei Monate später zündete ich auf demselben Fensterbrett eine Stinkbombe in Form einer mit Milch, Cola, Apfelschorle und Deo gefüllten Plastikflasche, in der eine Wunderkerze steckte, nachdem ich Lisa nach ein paarmal knutschen und kurz nach dem öffentlichen Bekenntnis, dass wir miteinander gingen, mit einem anderen Jungen erwischt hatte.

Bei Maite war weder das eine noch das andere erforderlich, weil sie erst ab Juni mit Finn gegangen und in den Sommerferien überraschend weggezogen war. Ihr Vater wurde vom Bayer nach Brunsbüttel geschickt, wie sie Finn per SMS mitteilte.

Das war’s dann erst mal mit der Minne. In den Sommerferien konzentrierten wir uns wieder auf unsere Kernkompetenzen als Ritter und trainierten Urban Climbing auf den Dächern unserer Elternhäuser. Als die Nachbarn Alarm schlugen, mussten wir etwas Neues auftun. Also suchten wir am Wochenende Baustellen heim und fuhren unter der Woche durch die Gegend, um Gelegenheiten zu checken. Unsere Eltern waren einigermaßen gechillt und fragten nicht, wo wir uns rumtrieben, während sie in der Firma waren. Auch nicht, als die Schule wieder anfing. Hauptsache, es gab keine Klagen und wir brachten gute Noten heim. Wo es später hingehen sollte, war eh klar: Unsere Eltern und Großeltern waren beim größten Arbeitgeber vor Ort, auch wenn der inzwischen lauter andere Namen hatte. Irgendwie blieb trotzdem alles in der Familie. Opa hatte noch Elektriker gelernt, Papa war Industriemechaniker. Ich hatte in beiden Abteilungen ein Praktikum gemacht, aber als wir in der siebten Klasse Chemie bekamen, wusste ich, dass ich wie meine Mutter Chemikant werden wollte.

In der Schule kamen wir klar. Die meisten Lehrer waren cool drauf und verstanden Spaß. Einmal packte Herr Sauer, unser Chemielehrer, Finn, der mitten im Unterricht laut und anhaltend rülpste, unter den Armen, hob ihn hoch und hängte ihn mit den Worten: »Frische Luft gefällig?«, aus dem Fenster unseres Klassenzimmers im ersten Stock. Herr Sauer hatte Schwarzenegger-Format und hielt Pädagogik für Bullshit, wie er sagte. Alle Mädchen waren in ihn verknallt. Noch in der gleichen Nacht schmissen wir ihm eine Rauchbombe durch das gekippte Klofenster seines Einfamilienhäuschens in der Waldsiedlung  13 . Da er uns das Rezept dazu – mit Kaliumnitrat, braunem Zucker und Backpulver gefüllte Tischtennisbälle – im Chemieunterricht persönlich diktiert hatte, konnte er sich denken, von wem der Gruß kam. Als er am nächsten Tag den Klassenraum betrat, steuerte er mit erhobenem Arm unseren Tisch an, knurrte: »Finn und Oliver! Wie ich sehe, habt ihr in meinem Unterricht tatsächlich etwas gelernt!«, holte mit der geöffneten Handfläche aus, als wollte er uns eine scheuern, stoppte mitten in der Bewegung, zwinkerte, sagte: »Gimme five!«, und wir klatschten uns ab.

Chemie war neben Sport unser Lieblingsfach. Schon großartig, was man mit ein bisschen Pulver oder Säure anstellen konnte. Als Ritter sowieso. Wobei wir weniger über Sprengstoffanschläge, Raketen oder Bomben nachdachten als über Nebelmaschinen und Blendfeuerwerk, alles also, was den Gegner verwirrte, aber nicht umbrachte. Wir waren Jedis, keine Schlächter.

Am Kiosk im Stadtpark  14  trafen wir die Realos, die inzwischen an der Ecke Rathenaustraße/Am Stadtpark untergebracht waren. Bis vor Kurzem hatte unser Gymnasium das Gebäude des ehemaligen Carl-Duisberg-Gymnasiums  15  gemeinsam mit der Realschule genutzt. Da hatte es auf dem Schulhof dauernd Zoff gegeben. Außerhalb des Schulgeländes flogen erst recht die Fetzen. Gelegentlich, wenn die eine oder andere Gruppe in der Unterzahl war, landeten Turnbeutel in der Dhünn. Oder deren Besitzer. Was nix machte, weil die Dhünn viel zu niedrig war, als dass man hätte ertrinken können. Aber auch nasse Schuhe und Klamotten sorgten für Ärger, es gab Elternabende, Konferenzen, Bannmeilen.

Am Kiosk kamen natürlich trotzdem alle zusammen. Da lernten wir George und Lucas kennen. Die genauso dicke Freunde waren wie wir. Nur eben nicht unsere. Realos halt. Wir waren die Gümmis. So was wie natürliche Feinde. Wie Sith-Lords die Feinde der Jedis sind. Wichtigster Unterschied: Jedi-Ritter kämpfen für das Gute. Sie beherrschen ihre Gefühle und stehen einander bei. Die Sith bedienen sich der dunklen Seite der Macht. Von ihnen gibt es im Star-Wars-Imperium immer nur zwei, einen Lehrer und einen Schüler, der seinem Meister so lange unterlegen ist, bis er ihn tötet und selbst zum Meister wird. Für die beiden Realos passte das wie die Faust aufs Auge. Der eine war gut einen Kopf größer und doppelt so breit. Eindeutig der Bestimmer.

Einmal nickte der Kleinere uns zu, als wir am Kiosk rumstanden. »Hallo.«

»Fresse, Lucas!«, knurrte sein Kumpel.

Der zog den Kopf zwischen die Schultern. »Ist ja gut, George!«

Das Muskelpaket machte nicht den Eindruck, als wäre es Lucas an Intelligenz überlegen. Wieso ließ der sich das gefallen? Was in ihm steckte, war schwer einzuschätzen, weil er tatsächlich meist die Fresse hielt. So oder so: Es musste Gründe geben, wieso beide es nicht aufs Lise geschafft hatten.

»Wie heißt du? George?«, vergewisserte Finn sich. »Bist du Engländer?«

»Geht dich das was an?«, pampte der zurück. Vermutlich hatte er die Frage nicht zum ersten Mal gehört.

»Komm, Finn.« Ich zog meinen Kumpel am Ärmel.

»Finn?«, höhnte George. »Bist du Finnländer?«

»Wenn schon, dann Finne«, gab Finn zurück.

George zog geräuschvoll Rotz hoch und spuckte uns vor die Füße. Damit waren die Fronten geklärt.

Sportlich waren sie. Was George Lucas an Kraft vo­­raushatte, machte der mit Gewandtheit wett. Im Luna-Park rund um die Doktorsburg  16  standen reichlich Bäume, die Finn und ich zum Klettern nutzten. Das war halt unser Ding. Bis wir eines Tages George und Lucas beobachteten, die in den Platanen an der Dhünnallee herumkraxelten. Unser Ehrgeiz war geweckt. Wir nahmen uns vor, sämtliche Bäume im Stadtpark bis an das CaLevornia  17  zu schaffen.

George und Lucas sahen es – und machten es nach.

Wir fingen an, Zeichen in die Baumstämme zu kratzen, die zeigten, dass wir dagewesen waren. Ein »F« und »O« für »Finn« und »Oliver«. Dazwischen ritzten wir eine Schlangenlinie, von der ich gar nicht mehr sagen kann, wie sie zustande gekommen war. Vielleicht hatten wir den Bindestrich beim ersten Mal nicht sauber hingekriegt, später verband ich damit die geschlängelten Wege, die man halt beim Biken, Skaten und Klettern zurücklegt.

Dann registrierten wir, dass unsere Zeichen entfernt wurden. Die Rinde war mehr oder weniger sauber abgeschält, und unmittelbar daneben hatte jemand ein »G« und »L« angebracht. Damit wären wir ja noch irgendwie klargekommen. Aber die Schlängellinie zwischen den beiden Buchstaben war geklaut. Das konnten wir nicht auf uns sitzen lassen.

Wir hinterließen am Kiosk Botschaften. Zettel, die wir mit Kreppband befestigten. Zeichnungen vom Park, auf denen wir Bäume mit Kreuzchen versahen, die wir markiert hatten. Reine Provokation. Klar hätten wir das auch bei Instagram oder so hochladen können. Aber der Kick war ja gerade das Nichtvirtuelle. Die physische Herausforderung.

»Wat soll der Quatsch?«, fragte Eddy, der den Kiosk betrieb.

Wir erklärten es ihm.

»Immer noch besser, wie wenn ihr euch die Fresse poliert.« Er hatte einschlägige Erfahrung, im wahrsten Sinne des Wortes, und keinen Bock auf geschäftsschädigende Auseinandersetzungen. Die Zettel ließ er hängen.

Der Battle zog Kreise, als wir nach den Bäumen im Park auf alle möglichen und unmöglichen Objekte stiegen und mithilfe von Zetteln an Eddys Büdchen die jeweiligen Gegenden und Gebäude kommunizierten.

Das Hitdorfer Kran-Café  18 . Eigentlich Pipikram. Wir waren mit den Bikes am Rhein entlanggefahren. Es dämmerte, keine Passanten in der Nähe, die Fähre  19  war gerade auf der anderen Seite angekommen. Wir über das Geländer auf das Dach und dann den Kran-Ausleger-Arm rauf bis zur Spitze. Ganz oben malten wir unser Logo mit Edding auf den Stahlträger. In dem Moment kam der Betreiber des Cafés raus, vielleicht hatte er was gehört, und schrie uns zu, wir sollten runterkommen. Im Yachthafen wurde es lebendig. Auf einmal waren da allerhand Leute, zückten Handys, fotografierten, was uns zu allerhand Posen und Stunts anspornte. Bis schließlich eine Polizeisirene aufheulte. Da waren wir im Nullkommanix unten, schafften es, uns vom Dach zu hangeln und Haken schlagend zu entkommen. Trotzdem gab es am nächsten Tag einen Bericht mit Bild in der »Rheinischen Post«. Am selben Nachmittag stand ein Beamter in Zivil bei unseren Eltern auf der Matte.

»Olli«, sagte meine Mutter, als er weg war. »Ich finde es schon toll, was ihr gemacht habt. Aber erstens will ich dich nicht im Krankenhaus besuchen müssen. Schon gar nicht im Leichenschauhaus. Zweitens fände ich es auch nicht okay, wenn jemand Wildfremdes einfach auf unserem Dach rumklettert. Drittens: Wenn man schon Blödsinn macht, sollte man sich nicht erwischen lassen.«

Mein Vater stand hinter ihr, die Arme um sie gelegt. Als hätten sie sich gegen mich verbündet. Trotzdem irgendwie total lieb. Er guckte ernst, aber so, dass man es nicht wirklich ernst nehmen konnte. »Du musst jetzt ganz stark sein, Olli«, sagte er. »Deine Mutter hat eine Vergangenheit, von der du bisher nichts geahnt hast. Sie war einmal der Stern des Tanzcorps der KG Wiesdorfer Rheinkadetten  20  und hat sich erst durch mich Karnevalsmuffel von einer Karriere als international gefeiertes Hebe-Mariechen abbringen lassen.«

Mutter drehte sich um und boxte ihm in den Bauch. Vater tat, als bräche er zusammen und müsste nach Luft ringen, fasste meine Mutter um die Taille, revanchierte sich mit einer Kitzelattacke, ließ aber gleich wieder von ihr ab, als sie quietschte, und wurde ernst. »Dass deine Mutter eure akrobatischen Darbietungen bewundert, nachdem sie ihre eigenen Träume von einer Luftnummer begraben hat, kann man vielleicht nachvollziehen. Trotzdem habt ihr schlicht Scheiße gebaut. Ist das klar?«

»Klar«, sagte ich.

Im Rausgehen drehte er sich um. »Mach das nicht noch mal!«

Mein »Versprochen!« war absolut ehrlich gemeint. Wozu sollten wir noch mal auf den Kran steigen? Kindergarten.

Finns Eltern reagierten ähnlich. Seine Mutter entpuppte sich zwar nicht als ehemaliges Funkemariechen, aber sie nahmen es auch locker.

In der Schule waren wir die Helden.

Ein paar Tage später klebte eine Nachricht mit Bild am Kiosk. »G~L« stand da auf dem Stahlträger neben unserem mit Edding übermalten Logo, eine nächtliche Blitzlichtaufnahme vom Hitdorfer Kran.

Wir rissen das Blatt ab und hielten ein Feuerzeug dran.

Eine Woche darauf hängten wir ein Foto des Kesselhauses  21  in der Neuen Bahnstadt Opladen  22  auf, eine Aufnahme von der Seite, auf der das Rohr bis zu den Schornsteinen auf dem Dach führte. Und eins mit unseren Initialen an einem der Kaminrohre. Eine Nachtaufnahme, klar.

Ein paar Tage später kam die Revanche.

Das einzig Schöne an diesem Hase-und-Igel-Spiel war: Wir waren immer die Ersten. Die anderen zogen zwar nach und löschten unsere Spuren aus. Aber sie waren die ewigen Zweiten. Loser halt.

Wir begannen die Stadt mit anderen Augen zu sehen. Der Blick ging nach oben. Wo ließen sich Aufstiegsmöglichkeiten finden? Es war wie ein Fieber. Die Herausforderung war nicht nur rein sportlicher Natur. Neben der Frage »Würden wir das überhaupt schaffen?« beschäftigten uns andere: Welche Wege konnten wir nehmen? Welche Hilfsmittel benötigten wir? Seile, Haken, Gurte, Karabiner?

Zuallererst aber musste geklärt werden, wie wir uns dem Objekt unserer Begierde überhaupt nähern konnten. Gab es Mauern, Bauzäune, Sicherheitspersonal, Kameras, Alarmanlagen? Wir begannen uns für Herausforderungen zu interessieren, die bisher außerhalb unserer Reichweite gelegen hatten. Für eine, mit der wir endgültig unter Beweis stellen konnten, dass wir die Guten. Die Besten. Die Jedis waren.

Die. Größte. Challenge. Überhaupt.

The. One. And. Only.

Das. Symbol. Der. Macht.

Ich vermute, George und Lucas waren irgendwann davon ausgegangen, dass wir aufgegeben hatten. Dabei hatten wir kaum noch etwas anderes im Kopf. Wir schmiedeten Pläne, beratschlagten das Vorgehen, spionierten die Möglichkeiten aus und nahmen schließlich mehrere Probebegehungen des Geländes vor. Erst als wir uns unserer Sache ganz sicher waren, fertigten wir einen Lageplan für George und Lucas, den wir mit Datum, Uhrzeit und einem Treffpunkt versahen. Eine Herausforderung zu einer Challenge, in der wir unmittelbar gegeneinander antreten würden. Wir klebten den Zettel in der ersten großen Pause an den Kiosk. In der zweiten war er verschwunden.

Als ich am nächsten Abend wie verabredet an der Musikschule  23  ankam, lehnte Finn neben seinem Bike an der Backsteinmauer und wirkte grün im Gesicht. Vielleicht lag es am Licht der Außenlampe. Ich fragte lieber nicht. Schweigend radelten wir zum vereinbarten Ort.

War ich erleichtert, als ich die massige Gestalt neben der schmalen Silhouette erblickte?

»Hallo«, raunte Lucas.

»Fresse!«, zischte George.

Wir ketteten die Fahrräder fest. Finn ging voran, ich bildete die Nachhut.

Es ist merkwürdig mit der Verachtung. Solange man den anderen nicht sieht, kann man ihn ohne Probleme verachten. Wenn man dem anderen aber in die Augen guckt, funktioniert es nicht mehr richtig. Erst recht nicht, wenn man einen gemeinsamen Job ausführt. Dies war kein gemeinsamer Job. Und irgendwie doch. Wir traten gegeneinander an. Zu einem gemeinsamen Abenteuer. Ich fühlte tatsächlich so etwas wie Achtung, als ich hinter den beiden herschlich. Sie hatten sich der Herausforderung gestellt. Waren gekommen. Nun mussten wir erst einmal an den Punkt gelangen, von dem es losging. Dazu hatten wir ihnen Firmenausweise in die Hand gedrückt, die wir zu Hause ausgeliehen hatten. Wir mischten uns unter die Belegschaft, die zum Schichtwechsel antrat, und gelangten ohne Probleme durch die Drehtür. Auf dem Gelände nahmen wir unterschiedliche Wege. Trafen uns schließlich im Obergeschoss des Gebäudes, auf das es ankam. Auf meinen Schlüssel war ich superstolz. Ich hatte ihn selbst nach einem Modell gefertigt, das ich mir bei meinem Großvater geborgt hatte. Wozu ein Industrie-Praktikum gut sein kann! Leider hatte ich das Ergebnis weder meinem Opa noch meinem Vater zeigen können. Aber ich bin sicher, sie wären stolz gewesen.

Wir hatten mit Klebeband, Klorollen, Alufolie und Wunderkerzen Pyrofackeln gebaut, die wir verteilten, bevor es losging. Wer oben als Erster ankam, würde sie zünden.

Finns Gesichtsfarbe sah wieder besser aus, soweit ich das in der Dämmerung erkennen konnte. Bis hierhin hatten wir es geschafft. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Dieser Gedanke sorgte für einen Adrenalinschub, den wir bitter benötigten.

Lucas hatte die ganze Zeit über kein Wort von sich gegeben. Jetzt legte er den Kopf in den Nacken und kicherte. Es klang ein wenig irre. Dass George ausholte und ihm mit der flachen Hand eins auf den Hinterkopf gab, nervte mich trotzdem.

»Hey, lass das!«, sagte ich. »Wir bleiben fair. Auch im Team!«

George glotzte mich an, dass ich einen Moment dachte, jetzt knallt er mir eine. Das Schlimme ist, dass er es in dem Moment vermutlich gar nicht einmal richtig böse gemeint hatte. Es war einfach eine Gewohnheit, dieses Runtermachen von seinem Kumpel. Er war der Boss und duldete keinen Widerspruch. Wie so eine Art Ritus. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Ich denke, er war kein wirklich schlechter Mensch. Ein super Sportler und durchaus fair. Aber eben nicht zu seinem Freund. Wenn ich die beiden so sah, dachte ich manchmal, wie sich das für Lucas wohl anfühlen mochte. Er duckte sich halt immer weg. Wie jetzt auch wieder. Wer wollte sich in dieser Situation schon streiten?

Mit meinem Opa war ich einmal im Förderkorb gefahren. Er hatte im Spätsommer 2009 die Leuchtdioden in die »Leverkusener Sonne« eingesetzt, sie hatten damit für eine Stromersparnis von 80 Prozent gesorgt, worauf er total stolz war, vor allem nachdem das Wahrzeichen zwei Jahre zuvor noch hatte abgerissen werden sollen.

Wir kletterten los. In Sichtweite, aber mit ausreichendem Abstand, sodass wir uns nicht in die Quere kamen. Wir konnten nur den Mittelweg nehmen. Den über den vertikalen Schriftzug. Eine andere Aufstiegsmöglichkeit gab es nicht. Natürlich führte das dazu, dass das Licht von der einen oder anderen Seite kurz verdeckt wurde. Außerdem geriet die Anlage ins Schwanken, klar. Wir mussten uns beeilen, um nicht entdeckt zu werden. Auf der anderen Seite: Die Drahtseile schwankten immer. Bei starkem Wind oft so sehr, dass man den Förderkorb nicht ausfahren konnte. Entsprechend war es normal, dass das Licht blinkte. Einzelne Dioden fielen auch mal aus. Und: Wir hatten Neumond. Vor dem dunklen Nachthimmel würde man uns nicht gut ausmachen können. Die Beleuchtung auf dem Gelände war auf die Wege der Belegschaft beschränkt. Weit nach oben reichte sie nicht. Wer guckte auch schon auf dem Weg von und zur Arbeit in den Himmel?

Während des Aufstiegs vergisst du sowieso darüber nachzudenken, was du da machst. Du bist tausendprozentig auf das Klettern konzentriert. Immer nur auf den nächsten Griff. Und auf deinen Partner. Man entwickelt einen Rhythmus, die Bewegung wird fließend. Der Blick geht immer nach oben oder zur Seite. Never ever nach unten. Noch nicht einmal beim Abstieg. Die Hände sind das Wichtigste. Jeder Griff muss sitzen. Die Füße tasten sich ihren Weg, suchen Halt. Wenn du nach unten guckst, wird es schwierig. Dann kommt der Schwindel.

Auf den Partner musst du dich total verlassen können. Wir sicherten uns mit Gurten und Karabinerhaken und halfen uns gegenseitig beim Befestigen und Lösen. Mit Finn lief das großartig, wir waren ein eingespieltes Team.

Unsere Gegner nahmen wir nur schemenhaft wahr. Hörten ihr Keuchen. Spürten das Schwanken, das sie erzeugten. Es hatte eine gewisse Unwucht, logisch. Aber war auch durchaus rhythmisch. Man konnte sich drauf einstellen. Sie waren nicht schlecht, keine Frage. Auch wenn wir ihnen ein kleines Stückchen voraus waren. Wir erreichten den einzigen Engpass auf der Strecke, den Fuß des Ypsilons, als Erste. An der Stelle kam nur einer nach dem anderen weiter. Finn kletterte voraus, ich folgte. An der Gabelung angekommen, riskierte ich einen kurzen Blick zurück. Ich schwöre, es muss ein Sekundenbruchteil gewesen sein, bevor George aufschrie. Vielleicht war da eine Ahnung, eine ungute Schwingung, ich kann es nicht erklären. Ich gucke sonst nie nach unten. Ich sah den Moment gestochen scharf. Wie in Zeitlupe. Den Moment, als George, der sich eben hochziehen wollte, ins Schwanken geriet, das Gleichgewicht verlor und stürzte. Er war in dem Augenblick nur durch einen Gurt gesichert. Der mit einem kleinen krachenden Geräusch riss.

Ich schwöre: Lucas hat ihn nicht berührt! Er stand stocksteif auf der oberen Leiste des E und klammerte sich mit beiden Händen fest. Sein Gesichtsausdruck war so verzerrt, dass er mich an sein irres Kichern vor dem Aufstieg erinnerte. Vollkommen panisch, wie es schien. Er musste den Moment genauso deutlich gespürt haben wie ich. Georges Aufschrei. Nur kurz. Ich sah ihn noch zappeln. Stumm. Im Fallen. Über mir kreischte Finn. Dann der Aufprall. Gut 30 Meter unter uns.

Im Nachhinein weiß ich, dass viel Zeit verstrichen, viel passiert sein muss. Der Alarm. Der Werksdienst. Feuerwehr. Notarzt. Abtransport. Der Förderkorb, mit dem man uns aus dem Kreuz pflückte. Die Polizisten. Unsere Eltern.

Wir müssen unter Schock gestanden haben. Ich erinnere nichts mehr von alledem.

Das Einzige, was mir seitdem nicht aus dem Kopf geht: ein abgerissener Schnürsenkel. In dem Moment, als ich nach unten sah, hatte ich ihn mikroskopisch scharf vor Augen. Das eine Ende verschwand unter Lucas’ Fuß. Einem Fuß, der seine Position auf dem Draht nicht verändert hatte. Das andere Ende des Schnürsenkels baumelte aufgefasert in der Luft. Das Ende, an dem eben noch George gehangen hatte. George, der ins Schwanken geraten war, weil etwas ihn abrupt gebremst haben musste, als Lucas’ Fuß den Senkel erwischt und nicht mehr losgelassen hatte.

Der Sekundenbruchteil, der dem vorausgegangen sein musste, verfolgt mich in meinen Albträumen. Nacht für Nacht versuche ich seitdem, das Bayer-Kreuz  24  zu bezwingen. Immer kommt der Moment, wenn ich gerade auf halber Höhe bin. In dem irgendeine Macht mich bremst. Wenn ich mich gerade mit Schwung hochziehen will. An meinem Fuß reißt, sodass ich die Balance verliere. Weil jemand auf meinem Schnürsenkel steht.

Der endlose Sturz in die Schwärze.

Bis ich schreiend aufwache.