Eifel-Roulette-Cover.

Eifel-Roulette

Krimi


Peter Splitt

 

 

Roulette-innen

 

 

 

 

©Peter Splitt 2018

Cover-Bildquelle: PIRO3D / pixabay

Rückseite: / www.shutterstock .com

Innen-Illustration: PIRO3D / pixabay

Machandel Verlag Charlotte Erpenbeck

Haselünne

2018

ISBN 978-3-95959-119-5

Über den Autor

 Autor

 

 

Peter Splitt wurde am 09. September 1961 in Remscheid geboren und verbrachte seine Kindheit und Jugendzeit im Bergischen Land. Nach einer technischen sowie kaufmännischen Berufsausbildung wechselte er in die alte Bundeshauptstadt Bonn und erlangte dort Sprachdiplome in Englisch, Spanisch und Portugiesisch. Neben Musik, Literatur und Antiquitäten wurden Reisen in ferne Länder zu seiner großen Leidenschaft. Besonders Lateinamerika mit seinen Menschen und Gebräuchen sowie den Jahrtausend alten Hochkulturen finden immer wieder seine Begeisterung. Seit mehr als zehn Jahren lebt er nun teilweise in Lateinamerika und in seiner Wahlheimat am Rhein. Unter dem Motto „Vom Rheinland und der Eifel in die weite Welt“ schreibt er Abenteuergeschichten, Thriller und spannende Krimis aus der Region.

 

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Eifel-Trick

Splitt-Eifel-Trick-Cover

 

www.machandel-verlag .de

 

Epilog

 

Das historische Restaurant Schlüffken war bereits gut gefüllt, als Siebert das Lokal betrat, ausnahmsweise mal in frische Klamotten gehüllt, und sich zu den beiden Herren an den Tisch setzte. Horst Aubach schob sich die Lesebrille zurecht und ließ seinen Blick über die Speisekarte gleiten.

„Ohne Brille geht es leider inzwischen nicht mehr“, sagte er ein wenig verlegen und tat so, als könnte er sich nicht richtig entscheiden. „Ach, wissen Sie was, suchen Sie sich doch zuerst etwas aus, ich weiß sowieso schon, was ich nehmen werde.“

Er reichte Siebert die Speisekarte und beobachtete ihn, wie er die Seiten überflog.

„Und? Haben Sie bereits etwas gefunden?“, fragte Aubach nach einer Weile.

Siebert zuckte mit den Schultern. „Ich denke, ich werde die Schnitzel nehmen“, sagte er, klappte die Karte zusammen und legte sie beiseite.

„Das ist eine gute Wahl“, bestätigte der Senior. „Ich nehme das Hüftsteak. Und wie ist es mit dir, mein Sohn? Hast du dir schon etwas ausgesucht?“

Rolf Aubach schaute seinen Vater an. „Also ich glaube, ich werde die Schweinshaxe nehmen, auch wenn mir beim letzten Mal, als ich eine gegessen habe, schlecht davon geworden ist.“

Jetzt mussten sie alle lachen. „Wenn dir davon schlecht wird, warum isst du sie dann immer wieder?“, wollte der alte Aubach wissen.

„Weil ich sie liebe und mich nur überfressen hatte.“ Er grinste seinen Vater an. „Weißt du, es gibt eben nichts Besseres als eine gebratene Schweinshaxe. Dazu einen Salat und einen guten Wein. Apropos Wein – wollen wir nicht erst einmal einen guten Tropfen bestellen?“

„Für mich einen Woddi bitte“, sagte Siebert.

Junior und Senior Aubach sahen sich fragend an. „Woddi?“

Siebert hob lässig die Schultern. „Sicher, Woddi, was denn sonst. Ich liebe Wodka.“

Die beiden Aubachs schüttelten ihre Köpfe.

„Also gut, für uns einen Wein und für Sie einen Wodka und ein Schnitzel.“

Jetzt war es Siebert, der die beiden mit staunenden Blicken ansah. „Wie, ein Schnitzel? Ich habe doch die Schnitzel gesagt. Ich vertilge mindestens fünf Stück von den Dingern. Darunter geht gar nichts.“

Die beiden Herren sahen ihr Gegenüber mit großen Augen an, kamen dann aber seinem Wunsch nach. Dann tranken und aßen sie. Das heißt alle, bis auf einen, der fraß regelrecht. Zwischendurch schob Aubach den mitgebrachten Umschlag seinem Gegenüber zu. Mehr brauchte er nicht zu tun. Der alte Aubach nickte zustimmend mit dem Kopf. Das Geschäft war soeben über die Bühne gegangen. Er hatte wieder etliche Kubikmeter Brennholz erworben. Zeit, sich dem wirklich hervorragenden Essen zu widmen.

 

Der Abend war schon weit vorangeschritten, als die Frau sich neben Kurt Laubach auf den Barhocker setzte. Sie trug einen hautengen, schwarzen Hosenanzug mit einem breiten Silbergürtel und schwarze Pumps mit Stilettoabsätzen.

Mit einem ihrer langen Fingernägel trommelte sie auf den Tresen. „Wodka Bitter Lemon“, sagte sie zu Günni, dem Barmann. Im Hintergrund tönte die rauchige Stimme von Joe Cocker aus der alten Musikbox. Die Frau sah Laubach an. An ihrem Glas nippend forderte sie ihn zum Tanzen auf. Laubach rutschte vom Barhocker und trat einen Schritt zurück. „Entschuldigung“, sagte er, „aber das wird meiner Frau ganz und gar nicht gefallen.“ Trotzdem ging er noch nicht. Er konnte einfach nicht anders. Wie gebannt stand er da, starrte die Frau an und fragte sich, wie sich ihre festen Brüste wohl in seiner Hand anfühlen würden. Ganz plötzlich zweifelte er, fragte sich etwas, was er seit Jahren verdrängt hatte. Würde Rosa ihm wirklich genügen? Nach alledem, was er durchgemacht hatte? Er wusste, wie verlockend es war, der Versuchung nachzugeben und spät in der Nacht Sex mit einer völlig fremden Frau zu haben. Aber würde es nicht nur einen kurzen Augenblick andauern, und dann kämen wieder die Vorwürfe und das schlechte Gewissen? Betroffen wandte er sich von der Frau im schwarzen Hosenanzug ab, bezahlte seine Getränke und verließ die Kneipe. Fast wie in Trance steuerte er seinen alten Mercedes nach Hinterweiler. Er musste das endlich klären, schließlich konnte er nicht ewig so weitermachen. Mit etwas Glück würde er Rosa vielleicht noch in wachem Zustand antreffen. Eigentlich hatte sie etwas Besseres verdient als ihn. Plötzlich spürte er ein heftiges, körperliches Verlangen nach ihr. Manchmal musste man halt alle Bedenken über Bord werfen und die Gelegenheit einfach beim Schopf packen. Jetzt wusste er, was er ihr vorschlagen würde: Eine Weltreise mit einem Kreuzfahrtschiff. Schon seit langem hatte er von so etwas geträumt. Sich einfach eine Auszeit nehmen und die Welt erkunden. Und würde mit Rosa eine solche Reise nicht gleich doppelt so schön sein?

Er grinste und fühlte sich unendlich wohl, als sein alter Mercedes durch die Einfahrt und hinunter zu dem großen Vorplatz des alten Fachwerkhauses rollte.

 

 

ENDE

Prolog

 

Ein röchelnd sägendes Geräusch drang lautstark aus dem Zimmer. Wäre dieses Geräusch nicht gewesen, man hätte den Mann, der lang auf dem Sofa ausgestreckt im Wohnzimmer lag, für tot halten können. Seine Haut zeigte, der letzten Nacht geschuldet, ein ungesundes Grau.

Markus Siebert hieß der Mann, auch Siebi genannt, ein klassischer Mitläufer ohne Ambitionen – ein Langweiler, an dem das Leben vorbeilief und der aus seiner eigenen, arg begrenzten Welt heraus seinem näheren Umfeld gewaltig auf den Senkel ging. Vom Aussehen nur Durchschnitt, Lieblingsbeschäftigungen trinken, essen und schlafen. Natürlich hatte er einen Beruf, auch wenn er kurz vor der Pensionierung stand. Irgendwovon musste man schließlich seinen Lebensunterhalt bezahlen. Er war Flusswärter, nicht mehr und nicht weniger.

Flusswärter war kein anerkannter Ausbildungsberuf. Siebi hatte sich dafür entschieden, weil die Anlernphase so herrlich kurz war. Man durchlief lediglich ein zehnmonatiges Praktikum und war danach zuständig für die Pflege von Gewässern in der Umgebung. Als einfacher Flusswärter beobachtete Siebi immer, wo andere ihren Dreck fallen ließen. Den hob er auf und brachte ihn weg. Nach ihm kamen dann die Kollegen und taten die übrige Arbeit. Das, was so richtig dreckig war. Davon allerdings bekam Siebi nur sehr wenig mit. Seine Arbeit beschränkte sich im Wesentlichen aufs Rasenmähen und dem Saubermachen von Rechen.

So eine Arbeit brachte natürlich nicht viel Geld ein. Es reichte aber für Siebi und seine Familie, die aus seiner Frau Desiree bestand, seiner Tochter Lena, die verheiratet war und jetzt Gerlach hieß, und einer Schwiegermutter, die er nicht wirklich mochte.

Zu Siebis Gewohnheiten zählte es, meistens kurz vor Sonnenaufgang aufzuwachen. Diese frühen Morgenstunden stellten einen sehr wichtigen Moment für ihn dar, war er doch gerade dann am besten in der Lage, seinen Alkoholpegel zu ordnen, dank seines besten Freundes, des Wodkas, den er fast liebevoll Woddi nannte.

Heute allerdings musste die Sonne ohne ihn aufgehen. Er hatte bis tief in die Nacht hinein in Begleitung Woddis ein spannendes Dartmatch im Fernsehen verfolgt. Nun schlief er das Resultat des gestrigen Alkoholexzesses auf dem bequemen Fernsehsofa aus. Sein Schnarchen drang hinauf bis in das obere Stockwerk und war selbst bis auf den kleinen Fußweg, der den Garten vor seinem Haus in Drees säumte, zu hören.

 

Seine Frau Desiree hatte nichts getrunken, aber ihr brummte trotzdem der Schädel von dem Geschnarche. Unmutig stieg sie die Stufen zum ersten Stockwerk hinab. Bad oder Wohnzimmer?, fragte sie sich.

Sie entschied sich dafür, zuerst ins Wohnzimmer zu gehen. Siebi lag wie ein zusammengefalteter Klumpen auf dem Sofa. Seine Hände hielten eine leere Wodkaflasche umschlungen.

Sie schüttelte den Kopf und ging jetzt doch lieber ins Bad. Das wechselnd heiße und kalte Wasser in der Dusche weckte ihre Lebensgeister. Rasch zog sie sich an und tapste nach unten, um die Morgenzeitung zu holen. Die Zeitung lag wie gewohnt auf der obersten Stufe vor der Haustür. Sie hob sie auf und schlenderte durch den Flur in Richtung Küche. Siebis Schnarchen drang immer noch zu ihr hinaus auf den Flur. Sie schauderte, ging weiter in die Küche, legte die Zeitung auf den Tisch, stellte die Espressomaschine an und beobachtete, wie die braune Brühe in die kleine Tasse floss. Als die Maschine ein einigermaßen trinkbares Gebräu fertiggestellt hatte, setzte sie sich an den Tisch und griff nach der Zeitung. Gerade als sie anfangen wollte zu lesen, fiel ihr Blick auf einen Zettel, den sie mit einem Magnet an die Kühlschranktür geheftet hatte. Die Telefonnummer ihrer Freundin Diana stand darauf. Mit der hatte sie auch schon lange nicht mehr geredet. Sie griff nach dem drahtlosen Telefon, wählte und fing an, freudig drauflos zu plaudern, bis sie bemerkte, dass die weibliche Stimme, die zu ihr sprach, von einem Band kam.

Hier spricht der automatische Anrufbeantworter von Diana P. Leider können Sie im Moment keine Nachricht hinterlassen. Das Band ist voll. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal.

Klick, das war es.

Hm, komisch!, rätselte Desiree. Wie kann denn das Band ihres Anrufbeantworters voll sein? Normalerweise hört Diana den AB regelmäßig ab und ruft dann auch prompt zurück. Sie wird doch nicht krank geworden sein? Also gut, dann versuche ich es eben später noch einmal …

Ein unangenehm rasselndes Geräusch drang in ihre Ohren. Siebi war aufgewacht und starrte durch die offene Tür zu ihr in die Küche.

„Ist der Kaffee schon fertig?“

Guten Morgen, mein Liebling, danke, mir geht es gut, mein Liebling, ja, ich hatte eine angenehme Nacht, mein Liebling … es gab tausend Möglichkeiten jemanden am frühen Morgen freundlich zu begrüßen. Siebi kannte nicht eine einzige davon. Er stand in der Tür und rieb sich die Augen. Sein Atem stank bis zu ihr hin nach Alkohol.

„Wie spät ist es überhaupt?“

Desiree schaute auf die Küchenuhr. „Gleich sieben!“

Jetzt kam Siebi langsam in Fahrt.

„Verdammte Scheiße, hättest du mich denn nicht früher wecken können?“

„Äh… nö.“

Siebi rannte in Richtung Badezimmer. Allerdings nicht, um sich umzuziehen. Den Blaumann aus der Arbeit trug er noch immer an seinem Leib. Er hatte darin geschlafen. Das gleiche galt für seine Unterwäsche und für die Socken. Für den Fall, dass er diese tatsächlich einmal auszog, hatte es sich seine Frau zur Gewohnheit gemacht, die stinkenden Dinger mit der Grillzange anzufassen und umgehend in den Wäschekorb zu befördern.

„Ich spring mal schnell in den Pool, danach bin ich wie neu geboren!“

Siebi versuchte es mit einem Scherz, dem Desiree jedoch keinerlei Bedeutung beimaß. Außer seine Notdurft zu verrichten und sich eine Schippe Wasser ins Gesicht zu werfen, war bei ihm nichts drin – Zähneputzen ausgeschlossen. Resigniert betätigte sie abermals den Startknopf der Espressomaschine. Diesmal hoffte sie ein Getränk zustande zu bringen, dass nach seinem masochistischen Kaffeegeschmack gebraut wurde. Als sie die kleine Tasse für Siebi auf den Tisch stellte und sich wieder setzen wollte, klingelte das Telefon. Sie sprang auf, ging abermals hinüber zum Kühlschrank, nahm das Gerät aus der Ladestation und hielt es an ihr Ohr.

„Ja, hallo?“

„Spreche ich mit Frau Siebert?“

Die Stimme war ihr völlig unbekannt.

„Ja, die bin ich.“

„Einen Moment bitte, ich verbinde Sie weiter.“

Hoffentlich ist das nicht schon wieder einer dieser Telefonfuzzies, die mir irgendeinen neuen Tarif andrehen wollen, dachte sie.

Am entgegengesetzten Ende der Leitung meldete sich wieder jemand.

„Hier spricht Manfred Aubach. Sind Sie die Frau vom Siebi?“

„Äh ja, die bin ich … leider! Er ist gerade …“

„Das ist nicht so wichtig. Ich wollte mich nur erkundigen, ob es bei unserem Treffen am späten Nachmittag bleibt?“

„Keine Ahnung, da müssen Sie schon mit ihm selbst …“

„Ich denke, das wird nicht nötig sein, Frau Siebert. Bitte richten Sie ihm aus, dass ich die doppelte Ladung benötige.“

Sie verstand kein Wort. „Die doppelte Ladung von was?“, fragte sie nach.

„Na, Brennholz, was denn sonst!“

„Gott sei Dank, ich dachte schon, Bananen.“

„Wie bitte?“

„Äh… nichts. Das ist nur so eine von Siebis Marotten. Also gut, ich sag's ihm.“

Sie legte auf und schüttelte abermals den Kopf. Siebi und seine Nebengeschäfte. Das war ein weiteres Reizthema. Genauso wie seine extravaganten Vorlieben. Die waren im Bereich Natur: Exotische Pflanzen, besonders Bananen und Palmen.

Im Bereich Tierwelt: Reptilien.

Im Bereich Freizeit: Brennholz machen, was ein zehnstündiges Zerkleinern mit der Motorsäge beinhaltete und regelmäßig zu hitzigen Diskussionen mit den Nachbarn führte.

Im Bereich Sport: Dart und Modellflieger.

Kurzum, Siebi war vielleicht doch ein vielseitiger Mann, der ungeahnte Qualitäten besaß. Die paar Überstunden, die er machte, brachten allerdings nicht viel ein, genauso wenig wie der Verkauf von Brennholz, den er klammheimlich angeleiert hatte. Er war auch nicht gerade ein Vorbild in Sachen Sparsamkeit. Das meiste Geld gab er für seine Hobbies aus oder für spontane Kurzreisen, die er mit seinen Kumpels nach Mallorca unternahm, um am Ballermann so richtig abzufeiern. Allerdings lief da meistens nicht viel, da er sich in der Regel bereits am ersten Tag so volllaufen ließ, dass die Ausflüge regelmäßig zu einem Fiasko wurden. Unrühmlicher Höhepunkt beim letzten Mal war ein Besuch am Ballermann gewesen, bei dem er volltrunken in ein leeres Schwimmbecken gesprungen war und sich dabei das Steißbein gebrochen hatte.

Was machte man mit so einem Typen? Desiree war ratlos.

 

Siebi stand in seinem Garten und goss eine seiner unzähligen Bananenstauden, die er im Winter außer in seinen Keller auch noch in einen selbstgebauten „Schrank“ steckte und mit einer Kabelheizung beheizte, als ein unbekannter Mann auf seinem Privatweg auftauchte und über den Zaun schielte. Von seiner Position bei den Bananengewächsen aus konnte Siebi ihn zunächst kaum erkennen. Der Mann wirkte wie ein Franzose, beziehungsweise wie das, was Siebi für einen typischen Franzosen hielt. Dunkler Typ, Schnauzbart, Baskenmütze. Vielleicht handelte es sich aber auch um einen Zigeuner oder um einen Asylanten. Beides schlimme Typen, wie Siebi fand. In jedem Fall war er sauer, dass es jemand wagte, ihm bei einer seiner Lieblingsbeschäftigungen zu stören. Er drehte den Wasserhahn zu und bewegte sich mit dem Schlauch in der Hand auf die Gartenpforte zu.

Der Mann, klein und hellhäutig, ohne Bart, dafür aber mit Hakennase und einem stechenden Blick, mochte vielleicht Mitte Fünfzig sein, trug einen verschlissenen Anzug und abgetragene Schuhe – Typ Hausierer.

„Entschuldigen Sie bitte, dürfte ich wohl mal bei Ihnen telefonieren?“, fragte er.

Siebi war wenig erfreut. Gleich lief Fußball im Fernsehen, danach kam Darts. Vorher wollte er unbedingt noch seine heißgeliebten Bananenstauden gießen. Der Fremde blinzelte ihn an.

„Ich hatte ´ne Panne, verstehen Sie?“

Siebi verkniff es sich, den Mann nach seinem Handy zu fragen. So, wie der aussah, hatte er bestimmt keins. Überhaupt war ihm der Mann nicht ganz geheuer. Trotzdem legte er den Schlauch beiseite und versuchte es mit einer höflichen Antwort.

„Brauchen Sie Benzin? Ich glaube, ich habe noch einen Reservekanister in der Garage. Muss hinter dem Touran stehen. Gehen Sie nur hin und nehmen Sie sich das Ding.“

Er wollte den Fremden so schnell wie möglich loswerden, doch der zuckte mit den Schultern.

„Kann ich mir nicht vorstellen. Ich habe heute früh erst getankt. Es muss etwas anderes sein.“

Siebi sah sich um. Außer seiner Ape stand kein weiteres Fahrzeug auf dem Privatweg.

„Wo haben Sie denn Ihre Karre stehen?“, fragte er.

„Oben an der Hauptstraße. In der Nähe der Straßengabelung.“

Siebi wurde noch misstrauischer. An der Gabelung war absolutes Halteverbot. Er wollte etwas sagen, als er sah, wie Desiree im Türrahmen auftauchte. Wie immer war sie hübsch zurechtgemacht und sah sehr weiblich aus. Zu weiblich für Siebi. Sie trug einen enganliegenden Rock und eine weiße Bluse. Beides ließ die Rundungen ihres wohlgeformten Körpers erahnen. Sie grüßte den Fremden freundlich, was Siebi mit einem Anflug von Eifersucht wahrnahm. Der Fremde grüßte zurück. Siebi stellte sich zwischen die beiden, sein Gesicht zu seiner Frau gewandt.

„Er möchte telefonieren. Hat angeblich eine Panne mit seiner Karre“, sagte er.

Sie hob die Achseln nach oben, was heißen sollte, dass es ihr egal war. Jetzt ergriff der Fremde das Wort.

„Bitte entschuldigen Sie, gnädige Frau. Ich wollte nicht stören, ich habe tatsächlich eine Panne. Mein Wagen steht oben …“

„Ist ja schon gut, hier nehmen Sie mein Handy. Damit können Sie telefonieren“, knurrte Siebi. Der Typ griff nach dem kleinen Apparat, wählte eine Nummer und redete, was das Zeug hielt. Desiree warf ihrem Göttergatten einen Blick zu und verschwand kurz ins Haus.

Als sie wiederkam, hatte sich ihr Gesichtsausdruck völlig verändert. Siebi war leicht verwirrt. Besonders, als er bemerkte, dass sie auf einen Punkt rechts von ihm starrte. Und genau dort stand immer noch der vermeintliche Franzose, wie Siebi mit prüfendem Blick feststellte. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass er jetzt statt des Handys eine Pistole in der Hand hielt und auf ihn zielte.

Siebi hatte das seltsame Gefühl, als sei er aus dem hellen Tageslicht plötzlich in eine Welt getreten, in der ewige Dämmerung herrschte. Und das ganz ohne seinen heiß geliebten „Woddy“.

Er streifte sich seine Arbeitshandschuhe ab und hob die Hände in die Höhe. Ordnung musste schließlich sein.

„Womit kann ich dienen, Chef?“, hörte er seine Stimme fragen, die ihm ungewöhnlich fremd vorkam. Der Unbekannte fuchtelte mit der Waffe vor seinen Augen hin und her.

„Schick deine Alte ins Haus. Sie soll den Autoschlüssel von eurem Wagen zu mir bringen“, befahl er und deutete auf den schwarzen Touran.

Siebi blickte hinüber zu Desiree. Sie sah für eine Hausfrau viel zu süß aus.

„Ist nicht Ihr Ernst“, hörte er sich sagen.

„Na wird’s bald, sonst nehme ich Ihre Frau gleich mit“, sagte der Mann. Um seine Lippen spielte ein fast ironisches Lächeln.

Siebi lächelte nervös zurück. „Ja, natürlich.“

Dafür erntete er eine prompte Missfallensbekundung vonseiten Desirees. Ihre Augen blitzten. Dann drehte sie sich um, trat in den großen Raum hinter den Glastüren, die direkt in den Garten führten, und entschwand seinem Blick.

Desiree ging direkt ins Schlafzimmer und holte den Schlüsselbund, der auf ihrer Nachtkonsole lag. Soll der Kerl die Karre ruhig an sich nehmen. Dann kann Siebi, der Feigling, nicht wieder gleich in die Stadt fahren, um neuen Wodka zu holen, dachte sie, ehe sie wieder hinausging und leise die Tür hinter sich zuzog.

Siebi unterhielt sich mit dem fremden Mann. Und das, obwohl dessen Waffe auf ihn zielte. Es war einfach nicht zu glauben. Sie ging auf den Unbekannten zu und gab ihm, wonach er verlangte.

„Kennen Sie Paul Einer?“, fragte sie wie beiläufig.

Der Mann nahm die Schlüssel an sich und schüttelte den Kopf. „Nein, wer soll das sein?“

„Ein berühmter Preisboxer und mein Bruder“, erwiderte sie bereitwillig. Das schien den Mann jedoch nicht wirklich zu beeindrucken. Er setzte sich gemächlich in den Touran, startete den Motor und verschwand.

Dass ihm beim Einsteigen etwas aus der Hosentasche gefallen war, bemerkte er nicht.

 

 

Erstes Kapitel

 

Der Mann hatte genau noch fünf Minuten zu leben. Was er nicht wusste, denn sonst hätte er wahrscheinlich nicht diese letzten Minuten damit verbracht, sich die verregneten Hügel der östlichen Eifel anzusehen, an denen sein Wagen auf dem Weg zur ehemaligen belgischen Grenze vorbeiraste. Das Wetter und die Monotonie der Landschaft schlugen ihm aufs Gemüt.

Ich sollte für ein wenig Musik sorgen, dachte er, machte mit seiner rechten Hand das Radio an und suchte einen passenden Sender, während seine linke das Lenkrad umfasste. Auf der Bundesstraße 258 war kein Verkehr. Er kramte in dem Fach herum.

Ah, da hinten kommt ja schon die Kreuzung. Welche Abbiegung muss ich noch mal nehmen, die rechte oder die linke?

Er entschied sich für die linke und gab richtig Gas.

Noch zehn Sekunden.

Plötzlich war er da, der kleine Sportwagen. Er hatte ihn überhaupt nicht kommen sehen.

Noch eine Sekunde.

Er riss das Lenkrad herum, versuchte zu bremsen, spürte, wie der Wagen hinten ausbrach.

Noch eine halbe Sekunde.

Sein Wagen schleuderte und raste auf den Abhang zu.

Noch eine zehntel Sekunde.

Der Wagen donnerte durch die Fahrbahnmarkierung den Abhang hinunter und überschlug sich.

Die Explosion katapultierte ihn aus dem Fahrersitz.

 

Die beiden Polizisten sahen sich die Bescherung erschrocken an. Darauf hatte die Unfallmeldung sie nicht vorbereitet. Auf der kleinen Lichtung unterhalb der steilen Böschung sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Das Unfallfahrzeug war völlig ausgebrannt. Der Fahrer, beziehungsweise das, was noch von ihm übrig war, lag einen guten Meter daneben. Sie konnten nichts mehr für ihn tun. Er musste sofort tot gewesen sein.

Also machten Sigismund und Wiese sich an die übliche Routine: Den Unfallort sichern, Indizien sammeln, Zeugen befragen. Da war zunächst das Pärchen, das in dem Sportwagen gesessen hatte. Die beiden jungen Leute standen unter Schock. Sie hockten auf dem Boden neben ihrem Fahrzeug und versuchten zu begreifen, was geschehen war. Die Frau weinte, schüttelte immer wieder den Kopf. Der Mann sagte kein Wort, blickte mit entsetzter Miene auf die Bremsspuren, die deutlich auf dem Asphalt zu erkennen waren. Er konnte unmöglich Schuld sein, er war doch nur ganz gemütlich mit seiner Frau durch die Gegend gegondelt. Und dann das. Er hatte den Unfall nicht mal kommen sehen. Der andere Wagen war viel zu schnell gefahren.

„Wir hatten Vorfahrt“, sagte er hilflos zu Sigismund, der ihn zu dem Unfallhergang zu befragen versuchte, während sein Kollege Wiese die Unfallstelle und den Toten näher in Augenschein nahm.

„Ich weiß auch nicht“, erklärte der junge Mann weiter. „Es ging alles so rasend schnell. Auf einmal war der schwarze Touran da. Der Fahrer muss uns zu spät bemerkt haben, ist dann voll in die Eisen gestiegen und hat das Lenkrad herumgerissen. Aber damit hat er den Wagen zum Schleudern gebracht, ist dann direkt auf den Abhang zu gefahren und …“

Der Rest war angesichts des Trümmerfeldes da unten auf der Lichtung leicht vorstellbar.

„Hey, Rainer!“, rief Wiese von der anderen Seite der durchbrochenen Leitplanke zu seinem Dauner Kollegen hinauf. „Ich glaube, ich habe seine Brieftasche gefunden. Da drin steckt ein Führerschein und ein Personalausweis. Lag mindestens fünfundzwanzig Meter weg von dem Auto. Die Explosion muss verdammt heftig gewesen sein.“

Sigismund schenkte dem Kollegen von der Polizeidirektion Mayen-Koblenz einen vielsagenden Blick, nahm seine Sonnenbrille ab und wischte mit dem Zipfel seines weißen Pilotenhemdes über die verspiegelten Gläser. Darin hatte er eine gewisse Übung entwickelt. „Na, glaub ich gerne, so wie das bei dir da unten aussieht! Ich denke, du kannst den anderen Kram getrost dort liegenlassen. Die Wühlmäuse von der KTU graben nachher sowieso noch einmal alles um. Bring die Brieftasche mit und komm nach oben. Ich bin mit den beiden Zeugen hier soweit durch. Der Notarzt und der Leichenwagen werden auch gleich da sein. Dann müssen wir nur noch die Personalien des Unfallopfers an Laubachs Sekretärin durchgeben, damit die Hübscher jemanden organisieren kann, um dessen Angehörige zu benachrichtigen. Gut, dass diese Aufgabe nicht an uns hängen bleibt. Ich hasse es, Todesnachrichten zu überbringen. Also los, Kollege, komm schon rauf.“

 

Den Papieren nach hieß der Tote Werner Metzger, war 56 Jahre alt und wohnte in Euskirchen. Als nächste Angehörige war seine Frau Christel gemeldet, die gerade dabei war, Frühstück zu machen, als sie durch das Klingeln an der Haustür unterbrochen wurde.

„Werner, magst du keinen Kaffee heute Morgen?“, rief sie durch das Fenster hinunter auf den Hof.

„Jetzt nicht, ich muss zuerst die Hühner füttern.“

„Hast du gehört, es klingelt an der Tür. Wer das wohl um diese Uhrzeit sein mag?“

„Na, das erfährst du am ehesten, wenn du mal nachsiehst!“ Werner fütterte kopfschüttelnd die Hühner weiter.

Christel ging zur Tür, öffnete und starrte in die trübseligen Gesichter zweier Männer in Uniform.

„Ja bitte?“

Einer der beiden Männer kratzte sich am Kinn. „Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Sind sie Frau Metzger?“

„Ja, die bin ich. Was kann ich für Sie tun?“

Der Mann schluckte. Man sah ihm an, dass er sich nicht besonders wohl in seiner Haut fühlte.

„Dürfen wir vielleicht für einen Augenblick zu Ihnen ins Haus kommen?“

Christel Metzger überlegte. Dann sagte sie: „Aber sicher. Treten Sie nur ein.“

Sie ging von der Tür ein Stückchen zurück in den Flur und lehnte sich an den Türrahmen.

„Ich bin Wachtmeister Liersen von der Verkehrspolizei Euskirchen. Ihr Mann hatte einen Autounfall, Frau Metzger.“

Sie schnappte nach Luft. „Was sagen Sie da, einen Autounfall, mein Mann?“

„Ja, gestern, am späten Abend. Es tut mir wirklich sehr leid, er ist … tot.“

Jetzt krallte Christel Metzger ihre Fingernägel in den Türrahmen. „Tot?“, fragte sie ungläubig.

„Ja leider, schlimme Sache. Meine Kollegen aus Daun haben ihn … ach was, mein herzliches Beileid, Frau Metzger!“

Der Beamte versuchte ein paar tröstende Worte zu finden, doch Christel Metzger reagierte völlig anders, als er es erwartet hatte. Plötzlich und unerwartet ließ sie den Türrahmen los, kam auf ihn zu und schimpfte erbost auf ihn ein.

„Sagen Sie mal, das soll wohl ein übler Scherz sein, was? Was fällt Ihnen überhaupt ein? Wie können Sie so etwas erzählen? Haben Sie noch alle Tassen im Schrank?“

Die beiden Polizisten sahen sich verwundert an. Solch eine krasse Reaktion hatten sie nicht erwartet. Doch bevor sie reagieren konnten, drehte Frau Metzger sich bereits um und rief: „Werner!“

„Ja?“

Die Stimme kam von irgendwo weiter unten.

„Werner, komm doch mal her!“

„Was ist denn? Ich bin noch bei den Hühnern!“

„Na, komm bloß mal her und hör dir das an!“

„Ja, warte, ich komm schon. Was ist denn los?“

Die beiden Polizisten blickten sich an. In ihren Augen zeigte sich Ratlosigkeit. Ein Mann erschien auf der Bildfläche.

„Verzeihung, Frau Metzger, wer ist der Herr?“, fragte einer der beiden Beamten.

„Na, das ist mein Mann!“

„Wie bitte?“

Der Mann blickte die beiden Beamten mit großen Augen an. „So, da bin ich. Was will denn die Polizei schon so früh von uns?“

Christel Metzger war in ihrem Element.

„Stell dir vor, sie behaupten, du hättest einen Unfall gehabt.“

„Was, ich? Das kann doch nur eine Verwechslung sein.“

Der Polizist, der gerade noch die Frage gestellt hatte, drängte sich dazwischen. „Entschuldigung, wie heißen Sie?“

„Werner Metzger!“

„Wann und wo sind sie geboren?“

„12. Oktober 1961, hier in Euskirchen.“

„Aber … Können Sie sich ausweisen?“

„Ja, selbstverständlich. Mein Ausweis liegt in der Nachtkonsole im Schlafzimmer. Einen Moment, ich werde ihn sofort holen.“

„Danke, ich warte.“

Der Mann ging in eines der hinteren Zimmer. Zwei Minuten später war er zurück. „Ist denn irgendetwas nicht in Ordnung?“, fragte er.“

„Nicht in Ordnung ist gut. Heute Morgen um 6:50 Uhr ist bei einem Verkehrsunfall auf der B 258 in der Nähe von Schleiden ein Werner Metzger tödlich verunglückt. Wir haben vorhin die Meldung hereinbekommen, die Personalien stimmen völlig mit den Ihren überein.“

Werner Metzger machte eine Miene, die erahnen ließ, dass er überhaupt nichts verstand.

„Was? Das gibt es doch gar nicht!“

„Anscheinend doch!“

„Jedenfalls bin ich der richtige Werner Metzger, oder wollen sie das bezweifeln?“

„Nun, ich denke, das kann Ihre Frau hinreichend bestätigen. Allerdings hatte der andere seinen Wohnsitz laut Ausweis ebenfalls unter dieser Adresse.“

Jetzt mischte Christel Metzger sich sichtlich erbost wieder ein. „Aber ich werde doch wohl noch meinen Mann kennen!“

Der Beamte versuchte sie zu beschwichtigen. „Ja, ja natürlich. Aber seltsam ist das Ganze schon. Nichts für ungut, gnä´Frau, wir tun ja nur unsere Pflicht. Sie werden noch von uns hören.“

„Na, ich weiß ja nicht …“, brummte Herr Metzger.

„Auf Wiedersehen.“

„Nur ungern.“

 

 

Zweites Kapitel

 

Einen Monat später

 

Kurz vor neun klingelte das Telefon. Lena Gerlach schreckte aus dem Schlaf hoch und drückte wie in Trance auf den Knopf des kleinen Radioweckers, der neben ihr auf dem Nachttisch stand. Aber das Klingeln wollte nicht aufhören. Als sie den Fehler bemerkte, suchte sie nach dem Telefon. Es stand auf dem Fußboden und klingelte noch immer. Sie griff danach, nahm langsam den Hörer ab, zog ihn zu sich hinauf auf das Kopfkissen und flüsterte gähnend in die Muschel: „Ja bitte?“

„Guten Morgen, Lena, ich bin`s, Ralph.“

Sie raffte sich auf, sammelte ihre Gedanken.

„Was gibt’s?“

„Bitte entschuldige, dass ich dich so früh aus dem Bett werfe, aber ich möchte nur wissen, ob du meinen Brief bekommen hast?“

Lena gähnte erneut. „Was denn für einen Brief?“

„Na den, den ich dir geschrieben habe.“

„Davon weiß ich nichts, aber ich glaube, die Post ist auch noch gar nicht durch.“

„Heute ist Sonntag, wenn ich dich erinnern darf, und eigentlich müsstest du den Brief schön längst bekommen haben.“

„Ehrlich gesagt, ich habe schon seit Tagen nicht mehr in meinen Briefkasten gesehen. Meistens bringt die Nachbarin meine Post mit nach oben.“

„Du bist ganz schön bequem geworden. Also bitte, lies ihn sofort, wenn du ihn vorliegen hast. Ich muss dringend mit dir sprechen.“

„Was soll das Ralph? Ich dachte, wir hätten soweit alles geklärt?“

„Nicht ganz. Aber bitte lies zuerst den Brief. Kann ich nachher noch bei dir vorbeikommen? Ich werde dich auch nicht lange aufhalten. Passt es dir in etwa zwei Stunden?“

„Also gut, wenn es unbedingt sein muss. Aber viel Zeit habe ich nicht.“

„Da ist kein Problem, Lena. Also bis nachher.“ Sie knallte den Hörer auf die Gabel.

„Verdammter Ralph!“

Sie überlegte eine Weile, manövrierte die Bettdecke mit einem Fuß an das Ende ihres Bettes und schlüpfte aus den Federn. „Durst …“, flüsterte sie vor sich hin. Morgens fühlte sie sich immer wie ausgetrocknet. Ein Glas mit stillem Wasser stand wie gewohnt neben dem Radiowecker. Sie griff danach und nahm hastig einen tiefen Schluck. Dann schnappte sie sich ihren hauchdünnen Morgenrock und stellte sich vor den Spiegel. Was sie sah, gefiel ihr nur wenig. Ihr Gesicht wirkte aufgedunsen, die Augen blass, die Wangen schlaff und fleischlos. Ihre Zunge fühlte sich pelzig an und ihre Hände zitterten.

„Mein Gott, bin ich das wirklich?“, fragte sie sich. „Irgendwie wird es von Tag zu Tag immer schlimmer.“ Nur ihre Figur war halbwegs akzeptabel. Vielleicht ein wenig übergewichtig, aber ihre Brüste waren voll und fest und solange sich die Männer nach ihr umdrehten …

„Also, was soll`s“, entschied sie. In der Tat kam sie bei den meisten Männern an. Bei manchen sogar zu gut. Der letzte, Rudolf Behrens, hatte sogar gewisse Ansprüche angemeldet. Das wollte sie auf keinen Fall. Niemand hatte das Recht, sie zu besitzen. Sie mochte jüngere Männer, auch wenn die ihr außer ihrer Jugend nur wenig bieten konnten, aber wenn die Beziehung dann kompliziert wurde, meldete sie sich einfach ab. So geschehen bei Rudolf und Jochen. Schließlich gab es immer genügend andere Männer. Und jetzt musste sie zusehen, dass Rudolf sie nicht so schnell wieder zu sehen bekam. Sie würde am kommenden Mittwoch zu ihrer Freundin Marita aufs Land fahren und gut war´s.

Sie raffte sich auf und ging zur Wohnungstür. Der Brief, von dem Ralph gesprochen hatte, lag tatsächlich auf der Fußmatte. Zusammen mit der Bild am Sonntag. Auf die Nachbarin war Verlass.

Lena bückte sich und griff nach Brief und Zeitung, danach schlurfte sie in die Küche und öffnete den Umschlag. Als sie Ralphs erste Worte las, musste sie grinsen.

„Dies ist jetzt mein letzter Versuch, mich gütig mit dir zu einigen”, stand da schwarz auf weiß geschrieben. Ganz offensichtlich befand sich der gute Ralph in einer Zwangslage. „Schadet ihm nichts!“ Ein sarkastisches Lächeln huschte um ihre Lippen. Von wegen letzter Versuch. Er würde es immer wieder versuchen. Was blieb ihm auch sonst anderes übrig. Und sie würde sich weiterhin weigern, in die Scheidung einzuwilligen. Der Gedanke an seinen bevorstehenden Besuch bereitete ihr ein teuflisches Vergnügen, auch wenn es mit einem Gefühl vager Unruhe unterlegt war. Die nächste halbe Stunde verbrachte sie im Bad, wo sie sich stylte und versuchte, ihre Nerven zu beruhigen. Sie begann mit einer gezielten Massage die Falten ihrer Haut zu glätten und diese unter Anwendung einer Lasur aus dick aufgetragenem Make-up zu verstecken. Jetzt noch ein knalliger Lippenstift und genügend Lidschatten für die Augen und schon würde sie für die meisten Männer wieder eine attraktive Frau sein. Von weitem gesehen wenigstens. Bevor sie sich vollständig anzog, versuchte sie noch schnell die Unordnung der vergangenen Tage in ihrer Wohnung zu beseitigen. Es gelang ihr nur zum Teil. Eigentlich mochte sie eine gewisse Unordnung. Unordnung in Maßen bedeutete Leben und Behaglichkeit. Im Wohnzimmer hob sie die Kissen vom Boden auf und legte sie auf ihr Sofa. Die herumstehenden Gläser stellte sie in die Geschirrspülmaschine, die bereits gut gefüllt war. Noch immer roch es in ihrer Wohnung nach Alkohol. Sie liebte diesen irgendwie mondän wirkenden Geruch. Außerdem weckte er in ihr das Verlangen nach einem ersten Drink. Schnell ging sie hinüber an die kleine Hausbar, mixte sich eine Cola mit Rum und prostete ihrem Spiegelbild zu. Der Tag konnte beginnen.

 

Ralph Gerlach stellte seinen Wagen auf dem Besucherparkplatz vor dem Haus mit den neuen Apartmentwohnungen in Mayen ab und näherte sich in zielbewusstem Tempo dem Hauseingang. Die Tür des Apartmenthauses war nur angelehnt, aber Ralph läutete, als würde er sich nicht auskennen. „Komm rauf“, erklang die Stimme seiner Frau aus der Sprechanlage und der Summer ertönte. Völlig unnötig, dachte er, drückte gegen die Tür und stand bereits im Flur. Der Aufzug brachte ihn nach oben in den zweiten Stock.

Lena erwartete ihn an der Wohnungstür. Ihr Anblick sorgte dafür, dass er erschrocken auf der Türschwelle stehenblieb. Es war einige Monate her, seit er sie zuletzt gesehen hatte, doch das Leben, das sie jetzt führte, schien seinen Tribut zu fordern. Auch wenn die Zuneigung zu ihr schon längst verschwunden war, so erinnerte er sich in diesem Moment doch mit Wehmut an die bildhübsche junge Frau, die er vor fünfzehn Jahren geheiratet hatte. Sie tat ihm jetzt beinahe nur noch leid.

„Nun komm endlich rein, wenn du mich lange genug angestarrt hast“, sagte sie und trat ein Stück zur Seite. Ihre fast durchsichtige Bluse überließ nicht allzu viel der Fantasie. Dazu trug sie eine weite Hose mit einem Gürtel und Pantoletten mit hohen Absätzen. Ihre Figur kann sich durchaus sehen lassen. Wenn nur das fette Gesicht nicht wäre, dachte er. Sie bat ihn ins Wohnzimmer. Das war einigermaßen aufgeräumt, roch aber nach einer Mischung aus aufdringlichem Parfüm, Alkohol und kaltem Zigarettenqualm. Nicht gerade erfrischend. Ralph hustete und setzte sich in einen der dunkelroten Sessel.

„Ich habe dich noch gar nicht gefragt, wie es dir geht“, sagte er verlegen.

„Als ob dich das wirklich interessieren würde“, keifte sie. „Magst du einen Drink?“

„Nein, danke.“

„Nicht einmal eine Cola?“

„Meinetwegen, also eine Cola.“

„Prima, und ich mixe mir eine Cola mit Rum. Danach bin ich ganz Ohr, Süßer.“

„Du trinkst bereits am frühen Nachmittag?“, fragte er betroffen.

„Na und? Was ist denn schon dabei? Anders ist dieses Scheißleben doch überhaupt nicht auszuhalten.“

„Du bist alt genug um zu wissen, was du tust, Lena.“

„Bist du nur hergekommen, um mir Vorwürfe zu machen?“

„Mitnichten. Ich bin gekommen, weil ich mich ernsthaft mit dir unterhalten möchte.“

„So wie bei den letzten Malen?“, konterte sie.

„Auf keinen Fall. Außerdem komme ich bestimmt nicht wieder.“

„Wenn du meinst. Nun sag schon, was hast du auf dem Herzen?“

„Na, das Übliche“, sagte er.

„Und was ist das Übliche?“

Er sah zu, wie sie einen hastigen Schluck aus dem Glas nahm. Cola mit Rum. Damit hatte sie angefangen, als sie damals in der Dominikanischen Republik waren. Verdammt, wie lange ist das jetzt her? Dürften gut und gerne 18 Jahre sein, dachte er.

„Hast du meinen Brief gelesen?“

„Sagen wir so, ich habe ihn beim Kaffeetrinken schnell überflogen.“

Ralph war baff. Er hatte es im Guten versucht. Hatte versucht ihr zu erklären, worum es ging. Dass er sich verliebt hatte und wieder heiraten wollte. Er hatte an ihre gemeinsamen Jahre appelliert und das einzige, was sie ihm anbot, war eine gespielte Teilnahmslosigkeit. Das schmerzte.

„Hast du verstanden, worum es mir geht, oder soll ich es dir alles noch einmal erklären?“, fragte er.