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Ni Jica

Scar - Killing Obsessions

The next forbidden Chapter





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Impressum

Scar - Killing Obsessions

The next forbidden Chapter

Copyrigt Text © Ni Jica 2018

 

Kontakt: nijica@gmx.de

 

Covergestaltung: Ni Jica 

Bildmaterial: © Claudia Busch/123rf.com

 

Korrektur und Lektorat: Iris Biehl-Drucks

 


Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und andere Verwendung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Vervielfältigungen und Veröffentlichungen sind nicht gestattet.

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden und entspringen meiner Fantasie. Ähnlichkeiten jeglicher Art wären demnach rein zufällig.

Bei diesem Buch handelt es sich um einen homoerotischen Roman und wendet sich an Leser, die an sexuellen Handlungen zwischen zwei Männern keinen Anstoß nehmen.

Und jetzt die letzte Anmerkung: Denkt im wahren Leben bitte immer an Safer Sex!

Prolog


Es war im Kindergarten, als Lance Richmond und ich uns zum ersten Mal begegneten. Uns reichte nur ein Blick aufeinander und schon war uns klar, wir konnten uns auf den Tod nicht ausstehen. Es begann eine ziemlich hässliche Zeit, in der wir uns andauernd um die Spielzeuge stritten, uns die Schaufeln um die Ohren hauten und uns gegenseitig dazu zwangen, am Tag mindestens ein Kilo Sand zu essen. Nicht selten kamen wir mit etlichen blauen Flecken nach Hause, weil wir uns mal wieder durch die Flure gerauft hatten.

Zuhause ging der ganze Terror dann weiter, da unsere Eltern tatsächlich für uns beschlossen hatten, wir müssten ganz dicke Freunde werden. Für uns unverständlich und absolut nicht akzeptabel. Aber brachte es etwas, dagegen zu rebellieren? Nein! Man hörte uns einfach nicht zu und so war ich bald der einzige Fünfjährige, der schon kahle Stellen auf dem Kopf hatte, da Lance sie mir nur zu gerne büschelweise ausriss.

Trotzdem überlebten wir den Kindergarten irgendwie und wir wurden zusammen eingeschult. Natürlich kamen wir in dieselbe Klasse und selbstverständlich setzte uns die Lehrerin auch prompt nebeneinander. Das Schicksal hatte eindeutig etwas gegen uns. So ging der ganze Alltagsärger weiter. Obwohl wir uns die ganze Zeit nur piesackten und gegenseitig vermöbelten, nannte man uns schon bald nur noch die unzertrennlichen Zwillinge. Das war recht witzig. Zum einen, weil wir uns tatsächlich ähnlich sahen und zum anderen, weil ich bereits einen echten Zwilling besaß. Genauer gesagt, handelte es sich hierbei um eine Zwillingsschwester, aber sie lebte bei unserer leiblichen Mutter in den Staaten, während ich bei meinem Dad und seiner neuen Frau in Northampton mein Zuhause fand. In bestimmten gesellschaftlichen Kreisen tat man wirklich alles dafür, keinen Skandal heraufzubeschwören, und so waren selbst wir Kinder im Alter von drei Jahren gütlich unter unseren Eltern aufgeteilt worden. Traurig? Vielleicht. Damals war ich jedoch zu jung, um mir über derlei Dinge Gedanken zu machen und als ich dann auf Lance traf, hatte ich eh keine Zeit mehr dafür.

Ich hatte einen neuen Bruder bekommen. Meinen neuen Zwilling. Lance und ich klebten wie Kaugummi aneinander. Das lag simpel ausgedrückt daran, dass wir, obwohl wir uns so verachteten, einfach nicht ohne den anderen sein konnten. Es war stinkend langweilig, wenn Lance nicht in meiner Nähe war. Die Mädchen zu ärgern machte keinen Spaß, da sie sofort wie am Spieß schrien und die anderen Jungs waren auch eher zartbesaitet und verpetzten einen gleich, wenn man sie nur mal kurz schubste. Das war mit Lance anders, er war trotz seiner provozierenden Art immer cool drauf und heulte auch nicht gleich. Lance schien das genauso zu sehen und so wurden wir die besten Raufkumpel, die es gab.

Zum Glück für unsere Knochen wurden wir aber älter und auch ruhiger. Schon in der zweiten Klasse beschränkten wir unsere Prügeleien auf einmal wöchentlich und als wir es lebend in die vierte Klasse geschafft hatten, hörten diese sogar ganz auf. Na ja, nicht ganz. Unsere Eltern hatten da nämlich die grandiose Idee gehabt, wir könnten doch unsere überschüssigen Energien in einem Kinder-Boxverein ausleben. Das fanden wir beide ganz toll und so durften wir von da an ganz offiziell gegeneinader kämpfen. Es folgten weitere Kampfsportvereine und sogar das Schießen brachte man uns bei. Dumm und naiv wie ich war, hinterfragte ich damals nichts und genoss die Privilegien, die ich Dank meiner reichen Familie hatte. Ich hatte keine Ahnung, dass man uns bereits in so jungen Jahren auf ein ganz bestimmtes Ziel hin trainierte. Eigentlich will ich es sogar heute noch nicht wahrhaben.

Ich war gerade mal zwölf Jahre alt, als mein Vater mich zu einem ersten 'Männergespräch' beiseite nahm. Er sagte mir, wie stolz es ihn machte, dass ich mich so vorbildlich mit Lance verstand und wie wichtig es doch für die Zukunft der gesamten Familie sei, dass das genau so blieb. Mein Vater arbeitete für Lance' Dad, das hatte ich so weit schon begriffen, doch es war mir schleierhaft, wie ich ihm durch meine Freundschaft zu Lance helfen konnte. Er erklärte es mir ... oft und sehr eindringlich. Ich sollte immer hart trainieren, um Lance später mit meinem Leben beschützen zu können. Mit anderen Worten ausgedrückt, hatten unsere Väter für uns beide bereits unsere weitere Zukunft geplant. Lance sollte einmal zusammen mit seinem älteren Bruder Calvin die wichtigen Geschäfte seines Dads weiterführen und ich sollte meinen Freund dabei unterstützen, indem ich ihm immer den Rücken freihielt. Das klang in meinen Ohren nach einem ganz ausgezeichneten Plan, denn ich hatte sowieso nichts anderes vorgehabt und wenn ich dadurch sogar meinen Vater stolz machen würde, so würde ich alles geben.

Das tat ich auch. Ich lernte fleißiger als jeder andere den Umgang mit jedmöglicher Waffe und wie ich mit meinem Körper ohne viel Mühe jeden Feind ausschalten konnte. Ich lebte für meine vorherbestimmte Aufgabe, doch es schien für meinen Dad nie genug zu sein. Unsere Familien auf diese Weise miteinander zu verbinden wurde für ihn eine Art Obsession und der Druck auf mich wuchs. Leider galt das nicht für meine Größe. Ich wuchs meinem Vater nicht schnell genug, war ihm zu schmächtig und in meinem Benehmen viel zu sanft. Damit war meine Kindheit vorbei, bevor sie richtig beginnen konnte. Wie man Druck und Gewalt auf andere einsetzte, stand schon bald auf meinem täglichen Tagesplan, doch ich versagte kläglich darin. Es war etwas anderes, in einem Training mit jemandem zu kämpfen oder sich spielerisch mit Lance zu raufen, als vorsätzlich und gezielt Menschen zu verletzen. Meine Verweigerungen brachten mir einiges an Prügel ein und etliche weitere Vorhaltungen meines Vaters. Ich kapitulierte und versuchte mich anzupassen, auch wenn dadurch etwas in meinem Inneren zerbrach.

Ich war erst vierzehn, als ich bereits die ganze Wahrheit über die Geschäfte meines Dads mit der Familie Richmond kannte. Lance‘ Dad, Steven Richmond, war ein Waffenhändler und mein Vater einer seiner Unterhändler. Mein Training ergab nun mehr Sinn. Lance würde jede Unterstützung gebrauchen können, wenn er in dieser kriminellen und gewaltgeprägten Welt bestehen wollte. Nur wegen ihm akzeptierte ich mein Schicksal und spielte gute Miene zum bösen Spiel. Er brauchte mich und ich brauchte ihn, denn er wurde schon bald zum Einzigen, was mir auf dieser Welt noch etwas bedeutete.

Wir sprachen uns gegenseitig Mut zu und trösteten uns, wenn der Druck unserer Familien wieder einmal zu viel für uns wurde. Mit ihm an meiner Seite schaffte ich es nach außen hin eine andere Person zu werden; kaltherzig, selbstbewusst und ignorant gegenüber Gefühlen anderer. Doch wenn wir zusammen waren, durfte ich sein, wie ich wirklich war. Ich konnte gar nicht mehr zählen, wie oft ich weinend in seinen Armen zusammengebrochen war. Jedoch hatte er mich dafür nie verurteilt, im Gegenteil. Er sagte, es würde ihn nur stärker machen, ganz einfach, weil er es für mich werden musste, damit wir uns später gegenseitig schützen konnten. Er versprach mir eine Welt ohne Kämpfe und Gewalt für mich und ich glaubte ihm. Ich wollte ihm glauben.

Tatsächlich ließ die Schlinge um meinen Hals etwas nach, denn Lance ließ mich bald kaum mehr aus den Augen und schützte mich so auch vor der Strenge und den Schlägen meines Vaters. Er hatte auch mit Steven geredet. Er verriet mir nie, was er zu seinem Dad sagte, aber daraufhin lockerte sich mein Trainingsplan und ich durfte mich hauptsächlich mit der Verteidigung und nicht mit dem Angriff befassen. Ich fühlte mich wieder freier, doch der Schein trog, denn ich verließ mich zu sehr auf meinen besten Freund. Ohne es auch nur zu ahnen, legte ich mit meinem Vertrauen mein gesamtes Leben in seine Hände. Aber selbst, wenn ich ein bisschen weitergedacht hätte, hätte es mir wohl nichts ausgemacht, denn unsere Freundschaft war und blieb für mich alles.

Je älter wir wurden, umso dicker wurde das Band zwischen uns. Wir hatten keine Geheimnisse und waren immer schonungslos ehrlich zueinander. Das glaubte ich zumindest, denn wie hätten wir auch etwas verheimlichen sollen? Verbrachten wir doch fast jede Minute zusammen. Wir ergänzten uns perfekt, wussten wie der andere tickte und beendeten sogar manchmal die Sätze des anderen. Ich wäre jederzeit für ihn durchs Feuer gegangen und mit Sicherheit hätte ich jedem Zweifelnden geschworen, dass das, was uns verband einzigartig und unzerstörbar sei.

Ich dachte, diese Freundschaft würde ein Leben lang halten. Ich dachte es wirklich, doch dann kam alles anders. Auch dieser letzte Halt wurde zerstört und ich musste auf ziemlich harte Art lernen, dass selbst das tiefste Band reißen konnte. Meine Narben, die sichtbaren, wie auch die verborgenen lehrten mich, dass man nur sich selbst trauen konnte. Die Dunkelheit in den Menschen war zu zerstörerisch. Habgier, Hass und Intrigen, das wären wohl die großen Stichpunkte, wenn ich mein Leben in drei Worten umschreiben müsste. Wie ich so verbittert werden konnte? Nun, das ist eine lange Geschichte ...

Erster Teil

 

 

Wer wir waren

 

 

Die Rückblenden des Lebens sind es,

die uns aufzeigen, wie es einst war,

was uns prägte,

und wie es niemals hätte sein dürfen ...

 

 

- Ian Davenport -

1. Kapitel


Mit großen Augen sah ich an dem riesigen und mit reichlich Lichtern versehenen Gebäude vor mir hinauf. Wummernde Bässe waren bis auf die Straße zu hören und eine schier endlose Schlange an Menschen reihte sich in Zweierpärchen vom Eingang bis zu den Parkplätzen. Kein Wunder, denn das High Five war gerade der angesagteste Club ganz Londons. Und ich sollte da jetzt rein?

Etwas eingeschüchtert griff ich nach dem Arm meines besten Freundes Lance und hielt ihn zurück, als er wie selbstverständlich an der Menschenmasse vorbei auf den Eingang zugehen wollte. Fragend sah er mich an.

»Du, Lance ... ich hab zwar gesagt, dass ich gerne tanzen gehen würde, aber bist du sicher, dass das der richtige Ort dafür ist?«

Ich schämte mich für meine Unsicherheit, aber bei so einem Auflauf an Menschen, konnte ich zumeist nichts dagegen tun. Ich hatte das Gefühl, alle würden mich anstarren. Bestimmt machten sie sich auch darüber lustig, dass ein so schmächtiger kleiner Zwerg wie ich versuchte in so einen Club reinzukommen. Und was würden erst die Türsteher sagen, wenn sie einen Blick auf mich warfen? Nein, das wollte ich mir nicht antun.

»Ibi, jetzt mach dich mal locker.« Lance schmunzelte, wie er es immer tat, wenn ich die erlernte Maske des Selbstbewusstseins nicht aufrechterhalten konnte. Wenn mich mein Vater jetzt so sehen könnte, gäbe es eine Strafpredigt vom Feinsten.

Lance legte mir eine Hand auf die Schulter und beugte sich etwas zu mir hinab. Na, dadurch fühlte ich mich auch nicht gerade größer. »Ibi, es ist dein sechzehnter Geburtstag und ich habe dir die beste Nacht deines Lebens versprochen, also vertrau mir doch einfach und komm mit, ja?«

Genau das war der Knackpunkt. Ich war gerade mal sechzehn Jahre alt geworden und sah zudem leider noch aus wie zwölf. Ich war nur knapp unter einen Meter und siebzig groß und hatte immer noch meinen Babyspeck im Gesicht. Man würde mich auslachen, ganz sicher! Aber das interessierte den ach so tollen Lance Richmond ja nicht. Er hatte ja auch nicht solche Probleme, denn obwohl wir nur drei Monate im Alter auseinanderlagen, sah er bereits aus wie ein Student. Wie ein Elite-Student um genauer zu sein, denn er sah einfach nur heiß aus in seinem teuren Sportsakko und dieser schwarzen Jeans, die jedem bewies, dass er zu der sportlichen Sorte gehörte. Kein Gramm Fett, dafür aber jede Menge sehniger Muskeln. Manchmal hasste ich ihn dafür, immerhin trainierten wir meistens zusammen, aber an mir sah man nichts außer Haut und Knochen.

»Nenn mich nicht immer Ibi«, zischte ich ihm zu, denn es half auch nicht gerade, dass er mich gerade jetzt mit meinem Spitznamen aus Kindergartenzeiten bedachte. Das tat er doch nur, weil er wusste, wie mich das in der Öffentlichkeit ärgerte.

»Okay, heute ist dein Tag. Also dann, Ian. Bereit?«, beschwichtigte er mich zu meiner Verwunderung sofort und legte mir dabei einen Arm um die Schultern. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Mein Dad kennt den Clubbesitzer. Wir stehen auf der Liste und werden es heute mal so richtig krachen lassen.«

Ich wollte noch etwas einwenden, doch da zuckte plötzlich sein Kopf nach links und ein breites Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Oh hey, sieh mal«, rief er erfreut aus. »Da sind ja auch schon Carla, Danny und Ben.«

Damit war jegliche Diskussion vorbei, den vor anderen als vor Lance meine Unsicherheit zu zeigen war ein No-Go. Das galt selbst für unseren engsten Freundeskreis. Wie auf Knopfdruck änderte sich sofort meine Haltung. Die Unsicherheit aus meinen Augen verschwand, der Rücken drückte sich durch und ein Lächeln erschien auf meinem Gesicht, während ich mit Lance in Richtung unserer Clique ging.

Unsere Freunde standen alle in ihren teuersten Designerklamotten etwas abseits des Eingangs und warteten auf uns. Wir waren alle ungefähr im gleichen Alter und natürlich gehörten wir auch alle zu demselben gesellschaftlichen Kreis. Jeder unserer Familien hatte auf irgendeine Art geschäftlich mit den Richmonds zu tun und das bedeutete, dass wir alle unseren späteren Platz in der Welt bereits kannten. Carla Miller zum Beispiel war schon seit ihrer frühesten Kindheit mit Danny Hopson verlobt. Natürlich nicht aus Liebe, sondern einfach aus Eigennutz ihrer Eltern. Da Carlas Eltern nämlich 'nur' Neureiche waren und daher ziemlich weit unten im Rang unseres ganz eigenen Kreises standen, hatten sie beschlossen, ihre einzige Tochter an den Meistbietenden zu verschachern.

Dannys Vater war offiziell der Besitzer der größten Druckerei Englands und inoffiziell Steven Richmonds rechte Hand. Nach der Hochzeit würden die Millers ihren Status also ziemlich aufpolieren und mehr Einfluss gewinnen. Dannys Familie dagegen gewann eine Frau, die schon bald neue Erben hervorbringen, sie nie verraten und alles stillschweigend hinnehmen würde. Klang wie im Mittelalter, oder? Tja, aber so lief das nun mal bei uns.

Die Hierarchie und Rollenverteilung war klar strukturiert. Steven Richmond war der König und seine Söhne die Prinzen. Neben Lance gab es noch Calvin, den Erstgeborenen. Calvin war zwei Jahre älter als wir und bereits so abgebrüht, dass er sogar schon in den Geschäften seines Vaters mitmischen durfte. Ich bekam insgeheim immer eine Gänsehaut, wenn ich dem großen, dunkelhaarigen Jungen begegnete und er seine stahlblauen Augen auf mich richtete. Er war recht still, aber auch clever. In seinem Blick lag immer etwas Gerissenes, das mich in seiner Gegenwart vorsichtig werden ließ. Mir war jetzt schon klar, dass dieser Mann einmal noch hinterhältiger und mächtiger als sein Vater werden würde.

Im krassen Gegensatz zu ihm gab es zuletzt noch den jüngsten Richmond, den kleinen Nick. Der blonde Wirbelwind war gerade elf Jahre alt geworden und ein richtiger Sonnenschein. Ich mochte ihn sehr gerne und das nicht nur, weil er Lance zum Verwechseln ähnlich sah. Nein, ich mochte ihn vor allem, weil er so ein Freigeist war. Er war rebellisch und frech, dachte gar nicht daran, sich Zwänge auferlegen zu lassen und kostete somit seinen Vater den letzten Nerv.

Es war jüngst beschlossen worden, dass der Kleine der Organisation nicht beitreten würde und so durfte niemand von uns in seiner Gegenwart darüber sprechen. Warum das so war, wusste keiner so genau, aber es gab das Gerücht, dass Calvin dies von seinem Vater gefordert hatte und das als Gegenleistung dafür, dass er härter trainieren und lernen würde als jeder andere, um einmal das richmondsche Imperium führen zu können. Er musste seinen jüngsten Bruder wirklich vergöttern, wenn er so für ihn kämpfte und ich beneidete Nick darum, denn was würde ich für ein Leben in Unwissenheit geben. Aber ich schweife ab.

Die weitere Rangfolge sah wie folgt aus: Neben Steven Richmond hatte seine rechte Hand Graham Hopson den meisten Einfluss. Danach kamen noch einige Berater, der oberste Leibwächter und zum Schluss der ganze andere närrische Hofstaat. Sie alle hatten eines gemeinsam: Sie buhlten um Stevens Vertrauen, damit auch sie ein Stück vom großen richmondschen Waffenimperium abbekamen. Da bekannt war, dass Steven seinen Kindern kaum einen Wunsch abschlagen konnte, war klar, dass sie sich auch bei den Jungs einschleimten um Pluspunkte zu sammeln. Das ging am besten, wenn man die eigenen Kinder einsetzte, und so kamen wir auch schon zurück auf das Thema unserer Clique.

Der letzte in unserem Bunde, Ben, war mit neunzehn Jahren der älteste unserer Freunde. Sein Vater war Stevens oberster Leibwächter und Ben tat alles dafür, damit er einmal in seine Fußstapfen treten konnte. Er sah schon jetzt aus wie ein Bär, mit breiten Schultern und Muskelbergen, von denen ich nur träumen konnte. Seine ein Meter und neunzig große Erscheinung, mit passend dazugehörigem grimmigen Blick, lehrte schon jetzt jeden das Fürchten und ich war immer wieder froh, dass wir auf der gleichen Seite standen. Ich mochte ihn sehr gerne, aber ich hielt meistens lieber Abstand, denn wenn ich neben ihm stand, sah das einfach nur lächerlich aus und ich hatte schon genug Komplexe. Da blieb ich doch lieber an Lance' Seite. Mein bester Freund war zwar auch nicht gerade klein, aber mit einem Kopf Größenunterschied konnte ich leben. Na ja, musste ich, traf es besser.

»Ian, du siehst ja heute so süß aus!«

Carla kam mit einem lockeren Hüftschwung auf mich zu und breitete die Arme aus, um mich zu umarmen. Widerwillig ließ ich es über mich ergehen. Es war zwar nicht so, dass ich sie nicht mochte, aber ihre Art ging mir einfach manchmal gehörig gegen den Strich. Oder besser gesagt, es gefiel mir nicht, wie sie sich immer an Lance ranschmiß. Irgendwie schien sie noch immer zu hoffen, dass sie Lance' Aufmerksamkeit auf sich ziehen und somit einen noch besseren Fang für sich und ihre Familie einfahren könnte. Danny sah ihre offensichtlichen Flirtereien gelassen. Mir fiel das aus irgendeinem Grund deutlich schwerer.

Ich verdrängte mein Unwohlsein und ließ sie ihren knochigen Körper gegen meinen pressen. Ihr aufdringliches Parfüm stieg mir unangenehm in die Nase, doch ich ließ mir nichts anmerken und bedankte mich freundlich, als sie mir ihre Glückwünsche aussprach.

Ihr schwarzer Lockenkopf verschwand und als Nächstes kam Danny an die Reihe. Er war der Beste in unserem Schießclub und ansonsten eher introvertiert. Ich hatte ihn gern, weil er ähnliche Komplexe wie ich zu haben schien. Er war auch nicht viel größer als ich, dafür aber deutlich breiter gebaut. Man kam gut klar mit ihm, solange man ihn nie auf seine roten Haare ansprach. Bezeichnungen wie Rotfuchs oder dergleichen sagte man zu ihm nur einmal, denn danach besaß die betreffende Person nicht mehr genug Zähne dazu. Er klopfte mir jetzt nur auf die Schulter und nickte mir grinsend zu.

Das war weitaus angenehmer als Bens Begrüßung. Der Riese erlaubte sich den Scherz und hob mich einen halben Meter vom Boden hoch, bevor er mir fast die Rippen brach.

»Glückwunsch, Ian, jetzt bist du endlich ein Mann. Na ja, ein halber zumindest«, rief er lachend und alle erfreuten sich an meinem wütenden Gequietsche.

Ein wenig genervt machte ich mich von ihm los und ging eilig auf Abstand. »Dafür schick ich dich morgen auf die Bretter«, prophezeite ich ihm grummelnd, doch er winkte nur amüsiert ab.

»Glaub ich kaum. Heute wird bis zum Morgengrauen abgefeiert. Training fällt morgen flach.«

Alle stimmten ihm zu und schon wurde ich von Lance gepackt und eilig in Richtung Eingang gezogen. Nun war es zu spät. Ich hatte keine Chance mehr zu entkommen und ergab mich innerlich seufzend meinem Schicksal.


Drei Stunden später befand sich meine Laune auf dem tiefsten Tiefpunkt meines bisherigen Lebens. Als Teenager erlebte ich natürlich häufiger solche Momente, aber heute war es wirklich der schlimmste.

Das High Five hatte sich als nichts Besonderes rausgestellt, zumindest für mich. Es gab eine riesige Tanzfläche, die drumherum mit etlichen ovalen Bars verziert war und einige Tische und Sitzbänke, die man mutwillig am Rande dieses riesigen Rechtecks verteilt hatte. Über unseren Köpfen blinkte es in allen möglichen Farben und die Musik aus den dicken Boxen bestand ausnahmslos aus Techno. Ich hatte bereits nach zehn Minuten Kopfschmerzen gehabt und hätte nichts lieber getan, als wieder zu verschwinden. Anscheinend war ich nicht der Partygänger. Für mich konnte ich das ganz gut akzeptieren, doch meine Freunde hätten das ganz sicher nicht und so machte ich die ganze Zeit gute Miene zum bösen Spiel. War ich ja sowieso schon Profi drin.

Der Clubmanager hatte uns persönlich am Eingang abgefangen und dann zielstrebig in den VIP-Bereich gelotst. Dieser lag auf einer Empore, die man über eine Treppe im hinteren Eingangsbereich erreichen konnte. Heute war sie abgesperrt gewesen und als wir oben ankamen, wusste ich auch warum. Oben warteten bereits jede Menge Jungs und Mädchen aus meiner Schule und schrien mir das obligatorische »Überraschung!« entgegen.

Überrascht war ich wirklich, denn ich kannte nicht einmal die Hälfte von ihnen mit Namen und ich fragte mich auch unwillkürlich, was wohl passieren würde, wenn jetzt eine Razzia in diesem Club stattfinden würde. Ich schüttelte den Gedanken schnell ab. Steven Richmond hatte bestimmt an alles gedacht und die nötigen Leute geschmiert, damit wir Minderjährigen uns alle mal so richtig schön die Hucke volllaufen lassen konnten. Das war nicht wirklich ungewöhnlich. Der sechzehnte Geburtstag war bei uns immer etwas Besonderes. Man verlor damit inoffiziell den Status eines Kindes und wurde fortan nur noch als Erwachsener behandelt ... und natürlich auch bestraft. Das ergab auf brutale Art Sinn, denn in unserem Geschäft musste man schneller erwachsen werden, wenn man denn überleben wollte.

Es wunderte mich also nicht wirklich, dass Steven das alles für mich organisiert hatte. Ich kam ihm zwar nie wirklich nahe, aber er schien mich zu mögen und dass er meinen Vater als einen engen Vertrauten ansah, bescherte mir natürlich weitere Pluspunkte. Lance hatte bestimmt nicht lange bitten müssen.

Apropos Lance, dieser hatte sich sofort freudig ins Getümmel gestürzt und sich an alles, was einen Rock trug herangemacht. So lief das immer, wenn wir irgendwo hingingen. Die Hormone ließen grüßen. Für mich war das allerdings nichts. Mädchen interessierten mich noch nicht wirklich und so verbrachte ich die nächsten Stunden damit, mich mit irgendwelchen Leuten über Belangloses zu unterhalten oder mir von der Balustrade aus die Tänzer unter uns anzuschauen. Diese Menschen schienen wenigstens wirklich Spaß zu haben.

Das hätte ich lieber nicht denken sollen, denn plötzlich beschlossen alle um mich herum, dass man sich auf der Tanzfläche doch unter die Leute mischen sollte. Das war der Tiefpunkt.

Ich konnte nicht tanzen.

Ich wollte nicht tanzen.

Doch was ich wollte, zählte wie immer nicht und die breite Masse schleifte mich einfach mit. Verloren und stocksteif stand ich nur wenig später im dichten Getümmel sich verbiegender Leiber und wollte sterben. Ehrlich, so sah für mich die Hölle aus. Ich sah überall nur irgendwelche Gliedmaßen umherschwirren, hatte den Geruch von Schweiß in der Nase und wurde zudem auch laufend angerempelt und geschubst.

Das waren mir eindeutig zu viele Leute und so zwängte ich mich so gut es ging zwischen diese Körper und suchte nach einem Ausweg. Es dauerte ewig, bis ich mich herausgedrängt hatte, aber ich schaffte es, indem ich nach einer der Bars Ausschau hielt und mich bis zu dieser voran kämpfte. Als ich an meinem Ziel ankam, hätte ich am liebsten einen Jubelschrei ausgestoßen, aber ich verkniff es mir und bestellte mir lieber sofort ein Glas Eiswasser für meinen überhitzten Körper.

»Ganz schön was los heute, oder?«, wurde ich plötzlich von der Seite angesprochen und als ich mich dieser Person zuwandte, wäre mir doch glatt mein Glas fast aus der Hand gerutscht.

Es war ein Mann, schätzungsweise Anfang zwanzig, sportliche Figur, modisch geschnittene hellbraune Haare und so blaue Augen, dass sie mich sofort unruhig werden ließen. Er grinste, was ziemlich niedliche Grübchen an seinen Mundwinkeln hervorzauberte und mich seltsam zittrig werden ließ. Wow, sah der gut aus und anscheinend wusste er das auch.

»Na, gefällt dir was du siehst, Kleiner? Du bist mir jedenfalls sofort aufgefallen.« Der Kerl streckte seine Hand aus und berührte mich an der Schulter, zog dort mit dem Daumen sanfte Kreise entlang. »Mir ist langweilig. Ich will spielen. Interessiert?«

Ich zuckte zusammen, als hätte er mir eine Ohrfeige verpasst. »Nein!«, stieß ich hervor und wandte mich eilig ab.

Scheiße, war das etwa ein Homo? Ich wusste ja, dass es Männer gab, die andere Männer anmachten, aber dass mir das mal passieren würde, damit hätte ich nicht gerechnet. Oh Mist, wenn Lance das mitbekam, würde es Ärger geben. Er konnte solche Leute nicht ausstehen. Es hatte mal einen Jungen an unserer Schule gegeben, der hatte sich öffentlich geoutet. Lance und Danny hatten ihn krankenhausreif geschlagen und das nur, weil er die beiden angeblich seltsam angestarrt hatte.

Ich sah mich unauffällig um, ob Lance oder einer der anderen in der Nähe war, doch die schienen immer noch im Getümmel der Tanzfläche verschollen. Gut, denn eine Schlägerei wäre jetzt echt der krönende Abschluss dieses beschissenen Abends, auf den ich gut und gerne verzichten konnte.

»Bist du sicher?« Der Mann bemerkte meinen suchenden Blick und sah sich auch um, bevor er sich vor mich stellte und mich erneut breit angrinste. »Oder hast du nur Angst, deine Freunde könnten etwas merken. Nicht geoutet, richtig?«

Ich war verwirrt. Warum sollte ich mich outen? »Nein, ich ...«, fing ich an, doch weiter kam ich nicht, weil der Kerl meine Hand schnappte und mich hinter sich herzog.

Es wäre für mich ein Leichtes gewesen, mich aus seinem Griff zu befreien, aber ich tat es nicht, weil ich keine Szene riskieren wollte. Außerdem war ich neugierig. Was hatte der Kerl mit seiner Aussage gemeint? Sah ich etwa schwul aus? Ich wollte wissen, was er vorhatte. Zur Not könnte ich ihn jederzeit zur Strecke bringen.

Er zog mich bis zum hinteren Bereich des Clubs und blieb erst stehen, als wir eine Tür mit der Aufschrift 'Privat' erreichten. Fragend sah ich ihn an, während er grinsend einen Schlüssel aus seiner Hosentasche zog.

»Es hat doch immer wieder Vorteile, der Bruder des Chefs zu sein.«

Damit schloss er auf und forderte mich mit einer galanten Handbewegung dazu auf, voranzugehen. Mit einem seltsamen Kribbeln im Bauch tat ich es und stand im nächsten Moment in so einer Art Abstellkammer.

Ich musste lachen. »Du hast wirklich sehr exklusive Vorteile. Warum bringst du mich hierher? Wolltest du mir euren neuen Wischmopp zeigen?«

Plötzlich packte er mich an der Schulter und wirbelte mich zu sich herum. »Nein, nur meinen«, hauchte er an meinen Lippen, während sich seine Hände auf meine Hüften legten und er mich fest gegen seinen Körper presste. Ich spürte, wie ich sofort knallrot anlief, denn da drückte sich etwas eindeutig sehr Hartes in meinen Bauch und das war bestimmt nicht sein Schlüssel. »Der Arme steht schon seit einer Stunde wegen dir stramm.«

Kaum waren diese Worte bis in mein Hirn vorgedrungen, da legten sich seine Lippen auch schon auf meine und ich bekam meinen ersten Kuss. Oh, und was für ein Kuss das war. Mir kam überhaupt nicht in den Sinn mich zu wehren, weil mich die sanften Berührungen seiner Lippen derart aus dem Konzept brachten. Sie waren so weich und feucht und sie schmeckten auch irre gut. Ich schloss verträumt die Augen. Diese Lippen verursachten ein wohlig warmes Gefühl in meiner Magengegend und das Gefühl intensivierte sich sogar noch, als er seine Zunge eifrig in meinen Mund fahren ließ. Es traf mich wie ein Blitz und dieser Blitz fuhr mir geradewegs in den Unterleib und brachte mich damit sogar zum Stöhnen.

Erschrocken über meinen eigenen Laut riss ich die Augen wieder auf und legte die Hände an seine Brust, um ihn von mir zu schieben. Es war nur ein halbherziger Versuch und genau deshalb blieb ich auch, wo ich war und wurde nur noch fester gepackt.

Ich unterdrückte ein Keuchen, als sich ein Oberschenkel des Mannes zwischen meine Beine schob und damit über Regionen rieb, die gerade zur vollen Blüte erwachten. Scheiße, das machte mich doch tatsächlich an! Der Kerl machte mich an! Wie konnte das sein?

»Alles okay, Süßer? Du zitterst.«

Ich starrte hinauf in die irrsinnig verstörenden Augen dieses Mannes und bekam kaum noch Luft. »Ich bin nicht schwul«, stammelte ich und befreite mich nun wirklich aus seinem Griff.

Erleichtert und doch auch irgendwie enttäuscht ging ich auf Abstand, während der Kerl über mich den Kopf schüttelte und leise lachte. »Oh nein, sag bloß, du gehörst zu der Sorte, die es sich nicht eingestehen können. Da hab ich ja mal wieder einen Glücksgriff gelandet.«

»Nein, du verstehst nicht. Ich bin wirklich nicht schwul«, verteidigte ich mich sofort, doch mein Gegenüber hob nur skeptisch eine Augenbraue.

»Aha, und deswegen bist du nur durch den Kuss eines Mannes hart geworden? Süßer, lass dir gesagt sein, mein Gayradar funktioniert ausgezeichnet. Außerdem habe ich dich schon eine ganze Zeitlang beobachtet. Du hast nicht einem einzigen Rock hinterher geguckt, dazu warst du viel zu abgelenkt von den Männern auf der Tanzfläche.«

Ich schüttelte meinen Kopf. Er sah das alles ganz falsch. Es bedeutete nichts, dass ich noch nicht an Frauen interessiert war, ich war eben ein Spätzünder. Außerdem hatte ich auf der Tanzfläche die Allgemeinheit beobachtet. Ich konnte nichts dafür, dass die besseren Tänzer eben Männer gewesen waren und ich nur aus diesem Grund länger auf sie gesehen hatte. Und der Kuss ... meine Güte der Kuss ...

»Ich habe keine Ahnung, warum ich auf diesen Kuss so reagiert habe, aber ich bin bestimmt nicht schwul«, gab ich leise und eher an mich selbst gewandt von mir.

Der Mann vor mir seufzte. »Wie heißt du, Kleiner?«

»Ian.«

»Gut, Ian und wie alt bist du?«

Ich traute mich kaum den Blick zu heben. Sollte ich die Wahrheit sagen? Ich entschied, dass das nun auch nichts mehr ausmachte und gestand: »Heute ist mein sechzehnter Geburtstag.«

Der Kerl pfiff leise durch die Zähne und schlug sich dann lachend eine Hand vor die Stirn. »Ach du Scheiße, da hätte ich ja fast eine Straftat begangen. Wie bist du denn überhaupt hier reingekommen? Na ja, ist nun ja auch schon egal.«

Er seufzte einmal leise und zeigte mir dann wieder sein Grübchen-Lächeln. »Okay, also Ian, pass auf. Ich hätte es wahrscheinlich gleich merken müssen, dass du viel zu jung für mich bist, aber dass du so jung bist, dass du noch nicht mal selbst weißt, was du willst, damit konnte ich ja nun auch nicht rechnen. Du hast mir gefallen und ich dachte, ich starte einfach mal einen Versuch.«

Er zog eine Visitenkarte aus seinem Portemonnaie und reichte sie mir. »Ich muss gestehen, ich war einmal ähnlich bekloppt wie du und falls du mal reden willst oder dir endlich ein Licht aufgeht, dann ruf doch einfach mal an, okay?«

Ich sah auf die Karte in meiner Hand. Mike Bower, Webdesigner, stand oben und unten seine Mobil- und Festnetznummer. »Danke Mike«, konnte ich nur sagen, denn etwas Besseres fiel mir gerade nicht ein. Ich war verwirrt und fühlte mich ziemlich aufgewühlt.

»Na komm, ich bring dich zurück zu deinen Freunden.« Mike legte mir eine Hand in den Rücken und schob mich langsam zur Tür. »Versprich mir aber noch, dass du das nächste Mal nicht einfach so mit einem Kerl mitgehst, der dich vorher ganz eindeutig angemacht hat, okay? Denn glaub mir, da draußen laufen haufenweise Wölfe herum, die nur auf einen Snack wie dich warten.«

Ich musste lächeln. Mike war nett. Und er hatte zudem keine Ahnung, dass ich in Wirklichkeit auch eher zu den Wölfen zählte. Ich kannte immerhin achtundzwanzig verschiedene Arten, wie ich ihn jetzt und hier sofort mit einem Schlag schachmatt setzen könnte, die tödlichen nicht mitgerechnet.

»Danke, aber ich kann schon auf mich aufpassen«, gab ich zurück, woraufhin er nur skeptisch die Brauen hob.

»Ich meine das ernst, Ian. Ich bin im Herzen ein Gentleman, aber gerade unter Schwulen wird gerne die härtere Gangart gefahren. Unter Männern ist man eben aggressiver und da kann so ein zartes Pflänzchen wie du schnell erdrückt werden.«

Jetzt musste ich richtig lachen. Es war befreiend und tat wirklich gut. »Hör auf, ich bin kein zartes Pflänzchen«, rief ich und boxte ihm spielerisch gegen den Arm. Ja, definitiv, ich mochte Mike sogar sehr.

Plötzlich wurde mir aber etwas klar und ich runzelte beunruhigt die Stirn. »Sag mal, sehe ich etwa wirklich so aus. Ich meine ... schwul?«

Mike wuschelte mir durch mein viel zu langes blondes Haar und grinste wieder. »Sei nicht albern. Niemand sieht schwul aus, es sei denn, er legt es wirklich darauf an. Es sind eher diese speziellen Blicke und Gesten, mit denen wir uns untereinander erkennen. Trotzdem hätte ich gut und gerne tausend Pfund darauf verwettet, dass du ein typischer Twink bist.«

»Twink?«

»Klein, schlank, zuckersüß. Liegt meist gerne unten.«

Mike zwinkerte mir zu und ich beschloss, dass ich doch nicht alles so genau wissen wollte. Das verwirrte mich nur noch mehr. »Okay, ich glaube, ich sollte jetzt wirklich zurück.

Mein neuer Freund nickte nur und ging dann vor. An der Tür spähte er zuerst hinaus und winkte mir dann zu. »Die Luft ist rein.«

Schneller als mir lieb war, umfingen mich wieder die wilden Bässe der Lautsprecher und Menschen zwängten sich an mir vorbei.

»Mach's gut, Ian. Und wie gesagt, meld dich einfach, wenn etwas ist oder du doch noch Lust auf neue Erfahrungen bekommst«, flüsterte mir Mike ein letztes Mal verschwörerisch ins Ohr, zwinkerte mir zu und verschwand dann im dichten Gedränge.

Ein bisschen wehmütig sah ich ihm hinterher, als ich plötzlich grob am Arm gepackt und herumgewirbelt wurde. »Ian, verdammt. Wo bist du gewesen? Ich suche dich schon die ganze Zeit.«

Lance zog mich hinter sich her in eine ruhigere Ecke und funkelte mich wütend an. »Nun?«

Ich verstand sein Gehabe nicht. Er hatte sich den ganzen Abend an Frauen rangemacht und mich kaum beachtet. Warum war er also plötzlich so wütend? Eines war aber klar, ich konnte Lance auf keinen Fall die Wahrheit sagen.

»Ich habe mich nur ein wenig umgesehen. Warum bist du plötzlich so schlecht drauf?«

Lance ignorierte meine Frage und stierte zu der Stelle, an der ich eben noch mit Mike gestanden hatte. »Wer war der Kerl?«

»Niemand.« Noch eine Lüge und ich fühlte mich immer schlechter. Ich hatte Lance noch nie anlügen müssen.

»Niemand? Dafür hat er sich aber sehr vertrauensvoll zu dir hinunter gebeugt. Verarsch mich nicht, Ian und sag mir, wo du dich die letzte halbe Stunde herumgetrieben hast!«

Ich blickte irritiert in Lance' grüne Augen, die mich zum ersten Mal in meinem Leben mit solch einem Zorn betrachteten, dass ich fast schon Angst bekam. Sein Temperament war durchaus bekannt, jedoch hatte es sich nie gegen mich gerichtet.

»Lance, er ist niemand. Ich habe ihn eben erst kennengelernt und wir haben uns nur kurz unterhalten. Er hat mir eben noch viel Spaß gewünscht und ist dann gegangen.«

»Ehrlich?«

Ich widerstand dem Drang, meine Augen abzuwenden und erwiderte seinen kritischen Blick mit gelassener Miene. »Ehrlich. Du weißt doch, tanzen ist nichts für mich und dann bin ich eben zufällig in ihn hineingerannt. Das war's. Ende der Geschichte.«

Einen kurzen Moment musterte Lance mich noch still, dann erstrahlte plötzlich wieder sein gewohnt breites Lächeln und er schlang einen Arm um meine Schultern. »Sorry, Ibi, aber ich mach mir eben immer Sorgen um dich. Ab jetzt lauf nicht wieder so weit weg. Du bist doch heute unsere Hauptperson.«

Davon hatte ich bisher zwar noch nichts bemerkt, aber ich ersparte mir lieber diese Antwort. Lance war eh noch nicht fertig. »Außerdem laufen hier viele Perverse rum. Der Typ von eben hat dich auch so schmierig angesehen.«

»Du spinnst ja«, rief ich lachend und schubste ihn spielerisch von mir. »Den einzigen Perversen, den ich heute gesehen habe, warst du. Red dich nicht raus, ich habe genau gesehen, wie du Claudia unter den Rock gefasst hast.«

Die Spannung um uns herum löste sich in Luft aus und Lance stimmte in mein Lachen mit ein, bevor er sich verschwörerisch zu meinem Ohr hinunter beugte. »Und soll ich dir was verraten?«

Ich schüttelte sofort meinen Kopf, doch Lance kannte natürlich keine Gnade. »Die Kleine trug noch nicht mal etwas drunter.«

Es schüttelte mich. Das wollte ich alles gar nicht wissen und mir noch weniger vorstellen. Lance missverstand das aber leider. Oder war das doch eher zu meinem Glück? Wenn er je herausfand, dass ich gerade einen Mann geküsst hatte und es mir auch noch gefallen hatte, dann ... ja, was dann? Würde er mich auch zusammenschlagen, wie den Jungen aus der Schule? Ich konnte es mir nicht vorstellen, doch natürlich war selbst mir klar, dass in Lance etwas Dunkles schlummerte, das man lieber nicht weckte. War ja auch egal. Ich würde dieses Geheimnis einfach mit ins Grab nehmen und nie wieder so etwas Dämliches tun. Kaum hatte ich das beschlossen, ging es mir auch schon wieder besser und ich ließ mich von Lance zu unseren Freunden zurückbringen.

Ich ahnte da noch nicht, dass mir dieser Vorsatz alles andere als leichtfallen würde.