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Harald Schwarzjirg

Die Stadt

Eine Reise in die Welt

© 2018 Harald Schwarzjirg

Verlag: myMorawa von Morawa Lesezirkel

ISBN: 978-3-99070-700-5 (Paperback)
978-3-99070-701-2 (Hardcover)
978-3-99070-702-9 (E-book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Gliederung

Über dieses Buch

(Vorwort)

1.Teil

Unsere Stadt

(Einführung)

2. Teil

Das Rufbuch

(Besinnung)

3.Teil

Tag und Nacht

(Erster Hauptteil)

4.Teil

Der Spaziergang

(Zweiter Hauptteil)

Über dieses Buch

(Vorwort)

Wer will nicht etwas in seiner Nähe wissen, auf das er zurückgreifen kann, wenn er eine Stütze braucht und nach einem klaren Blick heischt. Nur allzu schnell geschieht es, sich in Wirrnis verstrickt wiederzufinden und frostigen Stürmen ausgesetzt zu sein. Wie soll jemand sich von da wieder herauswinden können, ohne einen Ort aufsuchen zu können, an dem er zur Ruhe kommen kann, wo er immer willkommen ist und ihm Labung zuteilwird. Ein Hausbuch ist eben dieser Ort. Das hier vorliegende Buch sieht sich als ein solches Hausbuch, weiß es doch selbst dann noch mit einem erhellenden Lichtschein zur Stelle zu sein, wenn einen tiefschwarze Finsternis umgibt. Wird die Bedrängnis zu groß, dann eröffnet es einem jenen Weg, der sich als Rückkehr zu sich herausstellt. Kann es auch nicht als ständiger Begleiter mit sich geführt werden, winkt es doch als ein stets offen stehender Ort der Einkehr zu sich heran, in dem man sich zurückziehen kann und dann verweilt, um sich Mut und Zuversicht zu verschaffen. Es findet sich immer eine ansprechende Wendung, die einen aufmerken lässt und aufzurichten vermag. Hat man schließlich neue Kraft geschöpft und fühlt sich stark genug, wagt man sich wieder hinaus, um selbst den Kampf gegen Dämonen zu bestehen.

Nun ist es aber nicht so, dass nur Zuflucht zu einem Buch gesucht wird. Ohne niederdrückende Belastung wird mit einem anderen Sinn an ein Buch herangegangen. Wie steht es dann unter diesen Verhältnissen mit diesem Buch, kann es auch jetzt seinen Beitrag leisten? Kann es auch über eine Zuflucht hinaus Interesse wecken? Die Frage steht deshalb im Raum, weil es sich im täglichen Leben völlig anderem zuzuwenden gilt. Fortwährend ist man dazu gefordert, sich mit Naheliegendem zu beschäftigen, mit dem, was seine Aufmerksamkeit erfordert oder mit jenem, dem die Aufmerksamkeit einfach nur so gewidmet wird. Als Ausgleich wird dann nach etwas gegriffen, das einem die Welt in einer bequem fassbaren Perspektive vermittelt. Dazu werden Bücher bevorzugt, die sich als bekömmliche Kost eines nach dem anderen verschlingen lassen. Sie müssen ohne Mühe von selbst hinunter rinnen und dürfen nicht belasten. Am liebsten wird zu jenen gegriffen, die mit ihrer Helligkeit die Welt um einen herum verblassen lassen, zu jenen, die einen in einem gewaltigen Strudel unvermerkt in den Mittelpunkt schlüpfen lassen, oder aber zu jenen, die einen wohligen Schauer bereithalten, von dem sich jeder gerne gefangen nehmen lässt. Wer will sich schon mit einem schweren Mahl den Magen verrenken und eine überlange Zeit daran zu verdauen haben. Die Zeit verfliegt wie im Flug, indem sie mit dem Nächstliegenden zugebracht wird, ohne dass es einem gleich gewahr wird. Um nicht aus der Zeit zu fallen, besteht das Bedürfnis nach Büchern, die einen in seinem Flug nicht ablenken, sondern vielmehr die eigene Auffassung unterstützen oder die damit dienen, auf angenehme Weise zu zerstreuen. Dafür sollten genügend Bücher bereitstehen, auf die anderen kann leicht verzichtet werden. Wohin nun dieses Buch gehört, will ich nicht entscheiden. Es gibt so viele Bahnen, die eingeschlagen werden, wer weiß, vielleicht gibt es welche, auf denen dieses Buch aufgegriffen wird und seinen Dienst leisten kann.

Es ist der Klang eines Buches, der offenbart, mit was jemand es zu tun hat und ob es wert ist, sich weiter mit ihm zu beschäftigen. Der Klang dieses Buches hier, das muss gleich eingangs gesagt werden, fügt sich nicht so ohne Weiteres in die Klänge anderer Bücher ein. Der Klang hängt stets davon ab, was zum Schreiben drängt. Oft sind es Selbstgefälligkeit, Eitelkeit, Geschäftigkeit, Wichtigtuerei und Selbstinszenierung, die dahinterstecken, aber ebenso oft ist es der bloße Gelderwerb. Diesem Buch liegt das Ringen um Klarheit zugrunde, und dabei sind all jene Verursacher hinderlich. Sie waren auch nicht nötig, gab es doch einen im Hintergrund, der dafür sorgte, dass das Schreiben möglich wurde. Er trieb sich in der Welt herum und schuf die Voraussetzungen, um dieses Buch zu schaffen. Ob es ihn hart ankam? Nun wir waren aneinander gebunden und kamen ohne einander nicht aus. Ging es ihm schlecht, war mir nicht wohl zumute, war ich schlimm daran, schuf es ihm Probleme. War er tief beschäftigt, wusste ich nicht weiter, war er in anderen Angelegenheiten verwickelt, musste ich beiseitetreten. Zudem riet er mir des Öfteren, mit dem Schreiben aufzuhören. Es gab schon so viele Bücher, und viele mehr traten fortwährend in das Licht der Öffentlichkeit. Sie zogen alles Interesse auf sich, wer also sollte an dem vorliegenden Buch Interesse zeigen, oder wie er zu sagen pflegte, kein Mensch brauchte dieses Buch. Die Gründe hatten etwas für sich, allein die Unruhe und der Druck waren zu groß, es formte sich trotz allem irgendwie heraus. Warum sollte sich nicht einer auch dafür interessieren, wie die Welt spielte, warum sollte sich nicht einer auch umsehen, worin er sich bewegte und hinter die Türen schauen, die ihn umgaben.

Aber selbst wenn kein Mensch dieses Buch brauchte, alleine um die Gedanken, die immerfort entstanden, zurechtzulegen, schrieb ich sie nieder, einfach damit etwas feststünde. Freilich war nichts so klar, dass es so blieb, wie es einmal festgeschrieben war. So wurde wieder und wieder zurechtgerückt und neu bestimmt. Was an bereits Geschriebenem wurde derart zuschanden. Entweder es verschwand, tauchte vielleicht völlig gewandelt irgendwie woanders wieder auf, oder es wurde mehrmals neu geschrieben. Daraus mochten dann Bilder erwachsen, die ausdrucksstark waren. Daraus konnte etwas entstehen, worauf sich weiter aufbauen ließ. Mit der Zeit klärte sich so manches auf diese Weise, doch neue Fragen tauchten auf. Es war ein langsames Weiterkommen und Vorwärtstasten. Das Schreiben war nur ein Mittel, um den Fluss des Weiterkommens anzutreiben und aufrechtzuerhalten. Dazu war es gut, zu sonst nichts. Warum also sollte es für sonst jemanden von Interesse sein, warum sollte es jemanden kümmern, wie ich mich weiter bewegte? Es war also nicht verwunderlich, wenn der Klang, den das Geschriebene hervorrief, jemandem fremd blieb. Wenn es zudem auch nichts zu seinem Zeitvertreib beitrug, war es für ihn fürwahr wertlos. Darüber hinaus hatte das Geschriebene auch seine Tücken. Denn wie oft glaubte man etwas zu wissen, ja man war fest überzeugt davon. Doch ehe man es sich versah, zerrann es, und das, worauf man glaubte sich verlassen zu können, schwand dahin. Natürlich konnte man weiter daran festhalten und mit gewaltiger Gebärde so tun, als ob man ein Wissen von etwas hatte, von dem man eigentlich selbst nicht mehr wusste, was es denn nun wirklich war. Man konnte sogar den Zuchtmeister geben und auf jeden fest dreinschlagen, der daran Zweifel hegte. Aber was half es, außer, dass man sich selbst etwas vormachte. Das, was sich darauf gründete, war nur mehr eine Schimäre, an der man zwar festhalten, sich aber daran nicht mehr festhalten konnte.

Freilich war die Frage erlaubt, was nun besser war, den Zweifel beiseite zu lassen und munter fortzufahren, ohne weiter zu überlegen, um was es denn eigentlich ging, immer unbekümmert darauf loszuziehen, und alles, was einem einmal als richtig erschienen war, so zu belassen, wie es gewesen war. Oder aber sobald Zweifel auftauchten, und der Grund, auf dem man zu stehen hoffte, zu wanken begann, sich von hier wegzubewegen und auf solche Weise immer weiter getrieben, durch Dick und Dünn zu hetzen. Jeder musste selbst wählen, wofür er sich entschied. Ich wagte es nicht, mich auf etwas zu verlassen, ich brachte nicht jene selbstgefällige Ruhe auf, einfach stehenzubleiben und an etwas festzuhalten, das es gar nicht mehr gab. Vieles glitt einem durch die Hand, das Meiste davon gleich bleibenlassend. Das Wenige, das man behielt, half immer nur ein Stückchen weiter, ehe man vielleicht auch davon ablassen musste. Wenn man etwas erreicht hatte oder wo angelangt war, nie konnte man sich sicher sein, dass es das war, was es zu sein schien, denn nur zu bald zeigte es sich ganz anders. Da half kein Prüfen, mit der Zeit zeigte sich von selbst, was von ihm zu halten war. Nichts blieb so, wie es war, schließlich unterlief man auch selbst Änderungen. Das Schreiben war nur ein Abbild davon, und wenn man zurück las, hätte man wieder und immer wieder ändern müssen. Bis man es einmal einfach stehen ließ, weil man selbst nicht mehr wusste, wie es geändert hätte werden sollen. All das spiegelt sich im Klang dieses Buches wieder. Ob der Klang es weitertragen wird, vermag ich nicht zu sagen, bloß, dass die Instrumente, die diesen Klang hervorgebracht haben, immer wieder neu gestimmt wurden und mit Bedacht ins Spiel gebracht wurden.

Das, was in diesem Buch zusammengefasst niedergeschrieben ist, und all die Gedanken, die dahinter stehen, dienen mir gleichsam als Mantel und Schuhwerk gegen Wind und Wetter und sonst noch gegen allerlei Unbill, der mir auf meiner Wanderung widerfährt. Freilich sowohl Mantel als auch Schuhwerk passen zu mir, und so wie sie mir vom Nutzen sind, so nutzlos mögen sie für jeden sonst sein. Viele brauchen aber weder Mantel noch Schuhwerk, sie schützen sich hinter einem Verschlag. Sich in einen Verschlag zu verkriechen scheint ihnen sicherer zu sein und verspricht ihnen mehr Geborgenheit. Die Geborgenheit bewirkt schließlich sogar, dass sie sich überlegen fühlen. Weil sie in ihrem Verschlag stecken und nichts anderes sehen, denken sie, sie wüssten alles. Jeden Fleck, jede Ritze, jede Besonderheit in dem Gehäuse kennen sie gründlich, nach draußen sehen sie nur durch die überall vorhanden Löcher. Sie fühlen sich in ihrem Verschlag sicher, wozu sollten sie sich nach draußen wagen? Alles, was an ihrem Schutz anbrandet und dabei abprallt, wird mit grimmiger Verachtung oder voller Hohn abgetan. Wenn aber ein Unwetter an ihrem Verschlag rüttelt und ihm zusetzt, versuchen sie, aus ihrer Geborgenheit aufgescheucht, ihn zusammenzuhalten. Mit Klauen und Zähnen kämpfen sie gegen jeden, der ihrem Verschlag zu nahe tritt oder ihn gar gefährdet. Ist der Sturm vorüber, widmen sie sich von Neuem, die Flecken, Ritzen und Besonderheiten in ihrem Verschlag zu betrachten, um ihr Wissen abzusichern. Freilich, so wie für jene Mantel und Schuhwerk sinnlos sind, wo sie doch nie sich auch nur einen Schritt hinausbegeben, so wenig fange ich mit ihren Verschlägen an, denn die wiederum sind auf meiner Wanderung vollkommen nutzlos. Jene haben ihren festen Stand, ihren festen Ort und dort fühlen sie sich hinter ihrem Verschlag sicher und ziehen sich in ihm als Schutz zurück. Ich dagegen ziehe umher, und in der Bewegung sind mir Mantel und Schuhwerk als Schutz hilfreicher als jeder Verschlag. Genauso ist das, was jeder zu sehen bekommt, völlig verschieden. Die einen sehen ihren Verschlag mit allen seinen Eigenheiten, und der wird zugleich zu ihrem Wissen. Sie mögen sich wundern, warum es andere gibt, die dieses Wissen nicht mit ihnen teilen wollen. Doch was sollte ich damit anfangen, ich stehe nicht hinter diesem oder jenem Verschlag, der bei Betrachtung immer auf ein und dasselbe Bild führt, sondern ich ziehe umher und bekomme ständig ganz anderes zu sehen. Es ist so viel, und zudem ändert sich das auch noch laufend, nämlich genauso schnell, wie ich laufe. Doch für ein festes Wissen, auf das ich zurückgreifen kann, ergibt sich daraus vorerst noch wenig. Denn in all dem Umtreiben lässt sich zwar einiges fassen, das sich auch darstellen lässt, doch was das alles zusammen ergibt, weiß ich vorerst nicht. Ich kann es allerdings dazu heranziehen, meinen Mantel und das Schuhwerk danach richtend so auszulegen und instandzuhalten, dass sie mir auch weiterhin auf meinem Weg nützen können. Mit dieser Art des Wissens bin ich schon recht weit herumgekommen, habe vieles gesehen und überstanden. Wenn die Hitze zu groß und es mir im Mantel zu heiß wird, dann ziehe ich ihn einfach aus und hänge ihn um meinen Arm. So kann ich mich stets den Umständen angepasst fortbewegen. Mir sind der Mantel und das Schuhwerk gerade recht, ich wüsste nicht, wie ich sonst meine Streifzüge unternehmen könnte. Einen Verschlag vermag ich nicht zur Verfügung zu stellen, nur Mantel und Schuhwerk kann ich anbieten, ob sie aber passen werden? Wenn sie, weil mit ihnen nichts anzufangen gewusst wird, womöglich achtlos behandelt und als wertlos einfach irgendwo abgelegt werden, wären sie dazu freilich zu schade, und es täte mir leid, sie dafür hergegeben zu haben.

Was nun aber stellt dieses Buch vor? Es ist ein Buch über die Stadt. Also gut die Stadt, aber welche? Als ob es so viele gäbe, die sich nicht in dieser einen wiederfinden lassen. Sie ist gleichsam das Brennglas, das die ganze Welt in einem Punkt zusammenfasst. Welchen Namen dieses Brennglas trägt? Was kann ein Name dem Brennglas zu seinem Wirken verhelfen? Es braucht keinen, und trotzdem entfaltet es seine volle Wirkung. Daher lassen wir ihn weg. Genauso wenig helfen Beschreibungen des Aussehens der Stadt und einer Unzahl von Äußerlichkeiten, die alles umspannen und überziehen. Sie sind es zwar, die in den Vordergrund drängen und jeden sofort ins Auge springen, deshalb finden sie auch Eingang in all die vielen Bücher und krönen sie mit ihrem Schmuck. Sie mögen zwar beeindrucken und der Stadt einen Reiz überstülpen, der alle Blicke auf sich zieht, aber umso mehr verstellen sie den Blick auf das, was die Sache ausmacht. Deshalb finden sich in diesem Buch kaum Beschreibungen von Äußerlichkeiten, mögen sie auch ein noch so begehrter Gegenstand in den vielen umlaufenden Darstellungen sein. Was aber bleibt dann noch übrig, wenn all die vertrauten Anblicke abhandenkommen? Oh, das ist gewaltig. Wird einmal die Decke an Äußerlichkeiten mit ihren in allen Farben schillernden Mustern weggezogen, quillt von überall her die Welt mit all ihren verborgenen Winkeln hervor. Freilich das zu beschreiben erweist sich als schwieriger, als die Decke in ihrer Farbenpracht darzustellen. Die Welt, die uns hier entgegentritt, ist von anderer Natur. Sie zu beschreiben bedarf es anderer Mittel und Wege. In diesem Buch wird keine große Geschichte erzählt, weder von Helden noch von Antihelden, weder von denen, die das Heft in der Hand führen, noch von jenen, die es geschehen lassen und über sich ergehen lassen müssen. Es fehlt an denen, die bewundert werden sollen, genauso wie an jenen, die zu bedauern sind. Es gibt keinen, dem schweißgebadet mit zittriger Hand die Daumen gehalten werden, ebenso wenig wie den, der aus Wut und Empörung zur Hölle gewünscht wird. Es gibt keine, die als Vorbild dienen können und denen sich deshalb in Ehrfurcht zu nähern ist, genauso wenig wie jene Niederträchtigen, auf die jeder, der zwischen Gut und Böse zu unterscheiden weiß, nur zu gerne losschlägt. Dieses Fehlen hat freilich zur Folge, dass sich dieses Buch nicht nacherzählen lässt. Es ist mit ihm wie mit dem Leben. Auch ein Leben lässt sich nicht erzählen. Gewiss gibt es Episoden in ihm, die sich farbenreich schildern lassen, das ergibt viele Anekdoten, aber das Leben durchgängig zu erzählen, das geht nicht. Zu viel schiebt sich während seines Verlaufs ein, zu viel läuft in die Quere, von unten brodelt es herauf, von oben schießt es herab, von überall her bläst es herzu, und alles das passt nicht zusammen. Das Bild, das sich da zusammenbraut, ist ein heilloses Durcheinander, das zu entwirren dem Leben seine Eigenheit nimmt. Wer es zu erzählen versuchte, müsste zu viel glätten, zu viel weglassen und begradigen. Wie viele Brüche müssten darüber hinaus mit fragwürdigen Mitteln gekittet oder gleich übergangen werden, was alles würde ausgeblendet werden, was alles bekäme einen neuen Rahmen verpasst. Das wäre dann nicht mehr das Leben. Die Welt indes ist fortwährend in Bewegung, verändert sich, ständig schleicht sich etwas davon, um an andere Stelle wiederzukommen. Wie sollen diese vielen verqueren Bewegungen und Strömungen erfasst und dargestellt werden? Das lässt sich nicht festhalten, festschreiben. Man muss mitgehen, lauern um zu sehen wo und wie es weitergeht. So wie eine Katze eine Maus belauert und danach trachtet, wie und wo sie diese zu fassen kriegen kann. Sie muss gewandt sein, um dann dort zu sein, wo die Maus für einen kurzen Augenblick erscheint. So muss auch die Darstellung erfolgen, sie muss mitgehen, dorthin springen, wo sie zupacken kann und ebenso schnell wieder da zur Stelle sein, von wo es neuerlich nachzufassen gilt. Ob uns in diesem beständigen Hin und Her von Bewegung und Anhalten nicht schwindlig werden wird? Wird uns das auf und ab Laufen nicht zu sehr zusetzen? Wir sollten uns an der Katze ein Beispiel nehmen, seht doch, wie sie unbeschadet ihr Spiel vollführt.

Der Weg, der in diesem Buch eingeschlagen wird, geht auf verschiedene Art an die Sache heran. Das zeigt sich schon auf den ersten Blick daran, dass dieses Buch in mehrere Teile zerfällt. Oberflächlich betrachtet wird das kaum jemand überraschen, erst beim genaueren Hinsehen mag verwunderlich erscheinen, dass seine Teile weder ein Mehr vom Gleichen sind, noch eine Reihe von zusammenhängenden Fortsetzungen darstellen. Vielmehr steht jeder Teil vorerst einmal für sich, jeder Teil hat seine ihm zukommende Eigentümlichkeit, sowohl was seine Form betrifft, als auch wie er daherkommt. Das ist gewiss ungewöhnlich, aber auch nur in Bezug darauf, dass offenbar nur Einheitsformen erwartet werden. Wie anders zeigt sich da die Musik, wo mehrsätzige Formen, in denen jeder Satz seine Eigenart hat, gang und gäbe sind. Es scheint dem Hören eher zuträglich zu sein, sich in einem Werk mit unterschiedlichen Formen und deren Erscheinungen auseinanderzusetzen, als dem Lesen. Doch sei dem wie auch immer, dieses Buch wartet nun einmal mit seinen Teilen auf und hält sich trotzdem für ein zusammengehöriges Werk, das dem Lesen nicht nur nicht entgegensteht, sondern ihm vielmehr einen größeren Reichtum an Blicken und Einsichten gewährt. Im Mittelpunkt stehen zwei Hauptteile, die den Kern des Buches ausmachen. Den zwei Hauptteilen sind eine Einführung und ein Zwischenstück vorangestellt, da sie ob ihrer Vielschichtigkeit einen Zugang erfordern. Der erste Teil dient in Form einer Einführung gleichsam als Brücke, um die beiden Hauptteile erreichbar zu machen. Über sie wird der Zugang zu der Welt der Hauptteile hergestellt und an sie herangeführt. Er will darauf vorbereiten, was die Hauptteile bringen werden, und bietet dazu einen Einblick in die Stadt. Der zweite Teil stellt darüber hinaus den Vorhof dar, in dem alles versammelt ist, um zu sehen, was sich hier herumtummelt. Er dient gleichsam zur Heerschau, um einen Überblick zu bekommen, mit was man es zu tun hat und was alles sich zum großen Spiel bereitmacht. Die Rufe, die allseits erschallen, sind ein Gewirr aus dem wechselvollen Bestreben herbeizuwünschen, zu verscheuchen und weiterzudrängen. Der Vorhof bietet keine Bleibe, alles giert nach dem großen Spiel. Hier ist es zu eng, daher muss das Spiel woanders stattfinden.

Die beiden Hauptteile stellen, um im Bild zu bleiben, das Gebäude dar. Der dritte Teil ist gleichsam die Herzkammer. Denn so wie das Herz mit gewaltigem Schlagen das Blut durch den Körper pumpt und den Kreislauf aufrecht erhält, so versorgt auch dieser Teil das Ganze mit dem Puls, der es am Leben erhält. Die anderen Teile beziehen ihre Kraft aus ihm, sie dringt bis in die letzten Spitzen der Glieder, welche von den anderen Teilen dargestellt werden, vor und haucht ihnen das Leben ein. Auch wenn dieser Teil dunkel ist, werkt er doch im Verborgenen, so stellt er doch jene treibende Kraft dar, die über ihre Wirkung ins Helle tritt. Dieses nach außen an den Tag Treten geschieht über die anderen Teile, weshalb sie die Anblicke des hellen Tages bieten. Sie mögen deshalb vertrauter sein, und doch ist allen das Herzstück zu Eigen. Seine Färbung schlägt durch, was auch am hellsten Tag die dunklen Tiefen gewahr werden lässt.

Der vierte Teil ist das Gegenstück zum dritten Teil. Er zeigt über all den Tiefen das Gebäude in seiner vollen Größe. Es strahlt im Licht, es öffnet seine Räume, damit Licht und Luft sie durchfluten mögen. Doch enthält es unter seinen vielen Räumen auch solche, in die es nicht leicht ist, Licht hineinzubringen. Überall herrscht reges Leben, seltsame Spiele treibend und seine Spuren hinterlassend. Das Gebäude ist wie ein Labyrinth, wer es einmal betreten hat, dem fällt es schwer, es wieder zu verlassen.

Alle Teile drehen sich um ein und dasselbe, ergänzen sich gerade durch ihre Eigenartigkeit und bilden dadurch erst das Ganze. So verschieden die einzelnen Teile auch sind, sie bilden mit ihren unzähligen feinen Häkchen, die ineinandergreifen, eine fest verwobene Einheit. Daraus ergeben sich Muster und Linien, die sich über die einzelnen Teile hinaus erstrecken. Das Licht wird von den verschiedensten Seiten auf alles geworfen, was kreucht und fleucht, was sich zeigt und was sich versteckt, was sich wichtig gibt und was sich verschämt zurückzieht, sowie die Schatten nachgezeichnet werden, die, von nichts ablassend, flatterhaft allem hinterher huschen. In jedem der Teile gibt es neben Läufen Gegenläufe, Brechungen, Faltungen und dergleichen mehr. Es ist ein fortwährendes Ansetzen, Aufsetzen und Gegenübersetzen. Beständig wird in die Hand genommen, abgewogen, denn wie anders soll sich etwas finden, das man behalten will. Was alles wird aufgescheucht, was alles kommt zum Vorschein, immer wieder wird Neues sichtbar, ständig bekommt die Stadt ein neues Aussehen. Sie spielt ihr Spiel, und wir sind in ihm mitgefangen. Das ist eben die Stadt, und die vollzieht ungerührt ihre Volten. Wem bleibt es erspart, sich darin zurechtzufinden? Wie in einem Strudel wird er hin und her geworfen und muss trachten, die Oberhand zu behalten. Wer das fürchtet, sollte sich vielleicht doch um einen Verschlag umschauen, hinter dem er sich verstecken kann. Jene aber, die sich gerne neugierig aufmachen um Neues oder auch bereits Bekanntes in ungewohnter Gestalt zu erkunden und sich nicht scheuen, sich auch Unbequemem zu stellen, werden hier angesprochen, in die Stadt zu treten und sich in ihr umzusehen.

Wenn nun die Frage auftaucht, was dieses Buch denn sei, wenn es kein Roman, keine Erzählung und auch sonst nichts ist, das mit einem Wort bezeichnet werden kann, dann muss ich gestehen, ich weiß es nicht. Weil aber alles in Worte gefasst sein will, muss dafür eines gefunden werden. Nun gut, wenn es sein muss, dann nennen wir es einen Brocken. Aber wieso gerade dieses Wort, welche Erklärung gibt es dafür? Nicht doch, noch sind wir nicht soweit, wir stehen erst am Anfang. Der trägt vieles in sich, was er in schillernden Vorspiegelungen auf und ab tanzen lässt. Denen folgt jeder gern und läuft ihnen freudig nach, so wie es Kinder tun. Da sind Erklärungen noch nicht gefragt.

Doch genug von all dem, wir haben schon zu lange herumgetrödelt. Offenbar ergeht es auch uns nicht besser als all jenen, die zusammenkommen, um dann gemeinsam etwas zu unternehmen. Stets zeigen sie das jedem nur zu vertraute Bild, haben sie sich doch noch dieses und jenes zu sagen, an allerlei Sachen herum zu nesteln und, ach ehe sie es vergessen, haben sie noch rasch Wichtiges zu erledigen. Jetzt aber ist es wirklich höchst an der Zeit, wir sollten uns zum Aufbruch machen. Schnell noch nach dem Bündel gegriffen - öffnet die Tür! Lasst uns hinaustreten und den Luftzug um die Nase spüren. Auch wenn wir von der Stadt nicht erwartet werden, wir machen uns auf, sie zu durchstreifen und ihre Winkel aufzustöbern. Sie mag uns kommen, mit was sie will. Auf denn, wir sind bereit.

1. Teil

Unsere Stadt

(Einführung)

 

1. Im Park

Jetzt hatte es mich also tatsächlich in die Stadt verschlagen. All mein Sträuben hatte nichts genützt, denn schließlich war ich trotzdem da. Was es freilich hieß, hier in der Stadt zu sein, davon hatte ich keine Ahnung, auch davon nicht, was auf mich zukommen würde. Mich völlig unvorbereitet plötzlich in einer fremden Umgebung wiederfindend und unsicher in eine ungewisse Zukunft tretend, möchte ich aber durchaus nicht verhehlen, wie eintönig es auf dem Land gewesen war. Ein Tag verlief dort wie der andere. Es boten sich keinerlei Möglichkeiten. Man bewegte sich immerfort in denselben Kreisen und war ständig Boden und Wetter ausgeliefert. Getan wurde das, was zu tun war. Einzig ein Unwetter konnte diese Einförmigkeit stören, dabei zugleich aber all das, was man geschaffen hatte, mit einem Schlag zunichtemachen. Man fristete hart, und das alleine fürs bloße Überleben. Zu etwas anderem fehlte es einfach an allem. Allerdings war auf dem Land alles offen zugänglich, alles auf einen Blick zu sehen, man wusste alles, denn selbst die Wechselfälle waren keine Überraschung, sie waren doch bekannt.

Nun aber war ich in der Stadt, und die war fürwahr eine andere Welt. Ich konnte mir das Leben hier nicht vorstellen. Nirgends bot sich ein Überblick, alles blieb undurchschaubar. Wie sollte ich mich hier zurechtfinden können?

Überall traf ich auf Menschen. Das war neu für mich. Sie hasteten ihre Wege entlang und hatten immer viel zu schaffen. Aber was sie wirklich taten, wusste ich nicht. Auch wusste ich nicht, was ich hätte tun sollen. Unschlüssig sah ich dem Treiben zu, und zögernd machte ich ein paar Schritte. Ich hätte mit den anderen mitlaufen müssen, aber ich stand da und schaute mich auch noch um. So stand ich nur im Weg. Schon nach kurzer Zeit war ich deshalb zur Seite gestoßen worden. Es war klar, dass ich endlich irgendetwas angehen musste.

Immer wieder hatte ich von einem Park gehört, den es in der Stadt gab. Über ihn waren die wunderlichsten Geschichten im Umlauf. Ich wusste allerdings nichts mit diesen Gerüchten anzufangen, denn was hätte ich in einem Park tun sollen, ich, der ich doch vom Land her kam. Irgendeinmal raffte ich mich dann doch dazu auf, in den Park zu gehen. Und welch eine Überraschung erwartete mich dort, denn was für ein Unterschied bestand zwischen dem Hörensagen und dem, was ich in Wirklichkeit vorfand. Der Park übertraf all das, was ich über ihn gehört hatte.

Ich trat in eine mir völlig fremde Welt ein. All dem, was mich hier empfing, konnte ich nur mein Staunen entgegensetzen. Ohne weitere Vorstellung war ich hier herein geraten, und nun stand ich unvermittelt mitten in einer Vielfalt an Pflanzen, die für mich undenkbar gewesen war. Ich brauchte einige Zeit, um das fassen zu können, was ich sah. Alles hier um mich wuchs in einer nie gekannten Üppigkeit, und doch war alles wohl durchdacht angeordnet. Welche Gesichtspunkte mochten dabei wohl eingeflossen sein? Jede einzelne Gruppe entfaltete ihre ganze Pracht, und alle zusammen ergaben, jede anders als die anderen, eine abwechslungsreiche Anlage. Die unzähligen Perspektiven, die sich boten, verwirrten den Beschauer und ließen ihn tief beeindruckt immer wieder stehen bleiben, um sich ein besonders bemerkenswertes Bild einzuprägen.

Ich mochte laufen, soviel ich wollte, mit jedem Blick eröffnete sich mir eine neue Welt. Anfangs irrte ich, vom Staunen überwältigt, ziellos kreuz und quer. Ich war zu überrascht und von dem Gesehenen zu sehr in den Bann geschlagen, als dass ich mir einen Überblick hätte verschaffen können. Ich bog einfach nach Laune irgendwo in einen anderen Weg ab und verlor mich im Anblick dessen, was sich mir gerade zeigte. Immer wieder blieb ich stehen, um mir Einzelheiten genauer anzusehen. Dann wieder schaute ich über alles hinweg, so weit mein Auge reichte. Ich atmete tief durch. Es war eine herrliche Luft, die ich einzog. Klar und deutlich erschien mir alles. Welch ein Gefühl war das, alles vor sich ausgebreitet zu wissen und genau sehen zu können.

In welch ein Farbenspiel war diese Welt getaucht! Da leuchteten Blüten in den sattesten Farben, als wollten sie einen Grund für etwas festlegen. Sich gleichsam darüber hinwegsetzend, zeigten zart getönte an, dass es sich auf die leichte Art gewiss nicht schlechter auskommen ließ. Glitt der Blick aber immer weiter in die Ferne, dann wechselten die Schattierungen und die sich daraus ergebenden Lichteffekte gerade so schnell, als man fähig war, sie trotz der Verwirrung, in die man dabei geriet, wahrzunehmen. Bei all dem Staunen und dem Aufnehmen von immer Neuem wurde ich von dem Gefühl überwältigt, dass alles in dieser Schönheit, in der es sich darstellte, so selbstverständlich wirkte, als könne es anders gar nicht sein.

Die Klarheit, in der sich alles um mich herum zeigte, und das Licht, in dem alles leuchtete, ließen die Vielfalt und den Reichtum der Anlage deutlich zur Geltung kommen. Alles, was ich hier zu sehen bekam, gedieh prächtig, jede einzelne Pflanze war schön gewachsen. Es gab keine falschen Triebe, und keine hässlichen Schmarotzer verunstalteten die Gewächse. Nirgends beeinträchtigten abgestorbene Äste oder verwelkte Blüten das vollkommene Bild. Alles stand frisch und vor Leben strotzend da. Von überall strömte eine wohltuende Kraft aus, ohne jene lästigen Begleiterscheinungen wie Verfall und Verwilderung, überwucherndem Unkraut und Ungeziefer, also all jenen Misslichkeiten, die ich vom Land her kannte, mitsamt der Vergeblichkeit, dagegen aufzukommen.

Während des langen Laufens überwand meine Neugierde mehr und mehr den tiefen Eindruck, den der Park auf mich machte. Ich begann, zuerst noch zaghaft, bald jedoch schon bestimmter, planmäßig vorzugehen und mir meinen Weg gezielt zu wählen. Ich wollte die Grenzen des Parks ermessen, seine Weite bestimmen und dabei doch sehen, was er alles barg. Das war freilich leichter gedacht als getan. Denn ich mochte laufen, soviel ich konnte, nie wieder kam ich an einem Punkt noch ein weiteres Mal an. Ich musste mir vieles merken, und stets kam noch Neues hinzu. Meine Begeisterung ließ mich jedoch immer wieder die Kraft dafür aufbringen. Jegliches Zeitgefühl war mir abhandengekommen, und so hätte ich nicht zu sagen gewusst, wie lange ich schon umhergegangen war. Meine Neugier trieb mich einfach immer weiter.

Irgendeinmal überkam mich dann doch die Müdigkeit. Ich verlangsamte mein Laufen, und schließlich schlenderte ich nur mehr dahin. Währenddessen verfiel ich mehr und mehr ins Grübeln. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich bisher im Park noch keinen Menschen gesehen hatte. War ich denn alleine hier? Das war nicht möglich, der Park war doch allgemein so gelobt worden, dass außer mir noch jemand hier sein musste. Oder war er so groß, dass sich die Menschen darin verloren? Dann hätte ich zumindest eine Spur, die ihr Hiersein anzeigte, finden müssen. Aber ich konnte keine bemerken davon abgesehen, wie überaus gepflegt der Park war und mit welch erstaunlichem Geschick er erhalten wurde, sodass es, wie ich immer wieder aufs Neue beeindruckt feststellte, nicht den geringsten Schmutz, keinerlei Unkraut, nirgends etwas Verwahrlostes oder Heruntergekommenes gab, und um das zu erreichen, bedurfte es viel Arbeit. Ich wusste doch, wie viel Anstrengung es kostete, ein Stück Land nicht verkommen zu lassen. Lange genug war ich auf dem Land gewesen! Dieser Park hier aber konnte nicht im Geringsten mit jenem verglichen werden, so ungleich vollkommener war er. Wo steckten denn die Gärtner, die zur Errichtung und Pflege eines solchen Parks notwendig waren? Wo waren die Hütten und Schuppen für die Gerätschaften, wo standen die Glashäuser, um die Gewächse zu jener Schönheit großzuziehen. Nirgends war etwas davon zu sehen. Es gab nicht das geringste Anzeichen auf Mühe und Arbeit. Das war mir rätselhaft. Wer erschuf solch eine Pracht und für wen?

Es herrschte eine wunderbare Stille um mich. Nichts störte. Ich konnte meinen Gedanken freien Lauf lassen. Hier, in diesem Park, wollte ich einfach für ewig bleiben! Ich überlegte mir ernsthaft, gar nicht mehr wegzugehen. Außerdem hatte ich, wie ich erst jetzt bemerkte, noch keinen Ausgang gesehen. Wo konnte ich überhaupt einen finden? Ich musste also hierbleiben. Dieser Gedanke war angenehm, und zufrieden träumte ich davon, in diesem Park völlig aufzugehen.

Ganz in solchen Betrachtungen versunken, schlenderte ich dahin, wobei ich kaum noch auf eine Richtung achtete, sondern mich einfach von den Wegen leiten ließ. Mehr und mehr den Eindrücken und den sich daraus entspinnenden Gedanken nachhängend, riss mich unvermittelt ein grobschlächtiger Kerl, den Weg breitbeinig verstellend, aus meiner Verfassung. Entgeistert starrte ich in das brutale Gesicht des Grobians. Ich wollte weiter, aber konnte nicht an ihm vorbei. Ich blickte mich verlegen um. Wie war es möglich, doch noch an diesem Menschen vorbeizugehen, ohne ihn zu reizen? Er stand da, gleich einem Koloss, und ich hätte mich zu sehr in das angrenzende Gebüsch drücken müssen. Diese Vorstellung bereitete mir ziemliches Unbehagen, insbesondere in der Nähe dieses Menschen. Es kam mir deshalb sogar in den Sinn, umzukehren und wieder zurückzugehen, um mir dann bei einer der unzähligen Kreuzungen einen anderen Weg zu suchen. Dieses Umkehren war mir jedoch zutiefst zuwider, und der Gedanke daran stachelte mich zum Widerstand gegen diesen Kerl samt seinem ungehörigen Verhalten auf. Also trat ich entschlossen einen Schritt nach vorne, so, als wollte ich an ihm vorbeigehen, freilich nicht ohne ihn dabei auch anzurempeln. Er aber, ohne seine Stellung im Geringsten aufzugeben und mein Manöver schon im Ansatz kläglich scheitern lassend, deutete nur mit dem Kopf, ich sollte vom Weg abgehen. Wie! Ich sollte, nur weil er es wollte und er auf seine herausfordernde Art stehen blieb, durch das Gebüsch schlüpfen! Die Wut kam in mir hoch, doch die Verhältnisse erforderten es, dass ich mich fügte.

An der mir angewiesenen Stelle im Gebüsch sah ich zum ersten Mal abgerissene Äste. Ich musste ein paar Zweige wegbiegen und stieß dann auf einen Pfad, der überhaupt nicht zu dem passte, was sich mir bisher gezeigt hatte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als auf ihm durch das Gebüsch zu kriechen. Immer wieder blieb ich in dem Dickicht hängen, stolperte über offene Wurzeln und Äste schlugen mir ins Gesicht. Wohin war ich geraten? Ich wünschte, so schnell als möglich wieder einen richtigen Weg zu erreichen. Schließlich kam ich bei einer Gruppe von Hütten wieder ins Freie. Sie waren hässlich und zudem heruntergekommen. Ich hätte nicht einmal sagen können, aus welchem Material sie gebaut waren.

Je näher ich kam, desto mehr bestätigte sich mein erster Eindruck. Es waren wirklich elende Gebilde. Aus ihnen schlug mir Lärm entgegen. Dort also waren die Menschen! Es war unmöglich, diesen Gebäuden auszuweichen, ich musste, sosehr ich mich auch zierte, eintreten. Drinnen herrschte ein dichtes Gedränge, und es fiel mir daher schwer, mich zu bewegen. Die Menschen sprachen alle gleichzeitig, und trotz der Beengtheit fuchtelten sie immerfort mit ihren Armen herum. Ihre Gesichter verrieten die Anstrengung, die es sie kostete, den Lärm zu überschreien. Ihre Erregung, hervorgerufen von dem Drang, sich Gehör zu verschaffen, ließ alle gleich, ja sogar maskenhaft erscheinen. Solcherart war keiner vom anderen zu unterscheiden. Das war kein Leben, was sich hier darbot, sondern ein eigentümlicher, exaltierter Zustand. Dieses wirre Treiben samt seinem entnervenden Lärm, der wider-liche Gestank, der hier herrschte, und die entsetzlich stickige Luft bewirkten, dass mir übel wurde. Ich wollte wieder hinaus ins Freie. Meine einzige Sehnsucht war, wieder tief durchatmen zu können. Aber ich wurde von der Masse tiefer und tiefer hineingezogen. Da half kein Widerstand dagegen, noch mein wohl ungebührliches Verhalten, nämlich still zu sein. Im Gegenteil, sofort drängten einige Leute auf mich ein und schwätzten irgendwelches Zeug daher. Sie zeigten dahin und dorthin, dabei pausenlos auf mich einredend. Dieses ewige Geplapper – ich konnte gar nichts sehen, auch waren zu viele Menschen um mich herum – mein Kopf schmerzte und mir schwindelte. Doch je stiller ich war, desto heftiger sprachen sie auf mich ein. Sie forderten mich auf, ebenfalls etwas zu sagen. Es sei völlig gleichgültig was, bloß sprechen müsste ich, das sei wichtig. Mir war so schlecht, und ich glaube, ich begann sogar zu wanken. In den Knien wurde mir ganz weich, wo konnte ich mich festhalten? Die Wand, zur Wand! Vielleicht war es mir dort möglich, mich irgendwie anzulehnen. Doch ich war nicht alleine, und alle schienen gerade von mir etwas zu wollen. Einer packte mich gar am Kopf und drehte ihn gewaltsam irgendwohin. „Dort, siehst du diese Pracht?“ Das war nicht auszuhalten! Die Sinne drohten mir zu schwinden. Irgendwelche Menschen schnatterten weiter auf mich ein, ich hörte nichts mehr davon. Oben auf der Decke sah ich einen blauen Himmel mit gelben Sternchen aufgemalt. Das Ganze war ein Machwerk der billigsten Sorte. Mir wurde schwarz vor den Augen. Immer wieder brachten sie Neues vor. Sie wollten bloß, dass es Beachtung fand. Denn gleichgültig, was das auch war, niemand durfte sich dem entziehen. Es gab sonst nichts, was sie herzuzeigen hatten. Deshalb das fortwährende Reden, und das noch dazu von der ganzen Menschenmenge, denn nur so war es möglich, an dem allgemeinen Leben teilzuhaben. Sich nicht daran zu beteiligen oder gar eine Nichtachtung hatte zur Folge, in der Masse spurlos unterzugehen.

Ich musste wohl einige Zeit lang völlig benommen gewesen sein, denn ich hatte nichts mehr wahrgenommen. Doch plötzlich waren all die Menschen wieder da und sprachen mit der schon bekannten Heftigkeit. Sie erklärten etwas, sie nannten es Wesentliches. Sie zeigten mit reicher Gestik auf Bilder, die es überall hier gab. Alle Wände waren voll von ihnen. Dem Reden nach war alles wichtig, ich aber hielt es hier nicht aus. Ich bekam keine Luft, soviel ich auch danach rang, mein Kopf, mein armer Kopf - ! Dieses Reden, dieses ewige, gleiche Reden – weg, weg von hier! Ich riss mich zusammen, und mit letzter Kraft stürzte ich zur nächsten Wand hin. Die Masse an Menschen wirkte jetzt noch bedrohlicher. Ich achtete auf nichts mehr. Es konnte schon sein, dass ich jemanden anstieß, aber es blieb mir nichts anderes übrig. So anstrengend es auch war, ich schob mich vorwärts, der Wand entgegen, durch die Menge hindurch. Da standen nun die Bilder, die sie mir so eindringlich hatten nahebringen wollen, unmittelbar vor mir. Platte Bildchen, Abbilder der Welt hatten sie das genannt, stümperhafter, billiger Ramsch war das. Aber zugleich hieß das, dass ich endlich die Wand erreicht hatte. Diese grauenhafte Pinselei zeigte mir an, dass ich es geschafft hatte. Das Material, aus dem das Gebäude war, überraschte mich vollends, denn es war Pappe, ganz gewöhnliche, billige Pappe. Sie musste zudem sehr dünn sein, denn die Wand flatterte.

Eine Menschenmenge stürzte auf mich zu. Angst und die zusammenbrechenden Kräfte veranlassten mich, einfach durch diese Wand hindurch zu springen. Das ging ganz leicht. Hinter mir erhoben sich Getöse und Geschrei. Ich landete in einer Wiese und Lachen brach aus mir heraus.

Ein Mensch trat auf mich zu und sah mich scharf an. „Aus Pappe, aus ganz gewöhnlicher Pappe sind diese Verdecke“, rief ich ihm mich kaum beherrschend zu. „Deshalb müssen sie also immerfort reden, nur um diese Gebilde aufzublasen, so, wie einen Luftballon. Derart machen sie sich aber nur selbst etwas vor. Sie schaffen sich eine Welt, um sie dann zu bewundern. Als ich nun durch die Wand sprang, entstand in ihrem Gebäude ein Riss. Der ließ den Überdruck entweichen. Sie müssen also, soll ihnen nicht alles auf den Kopf fallen, ihre Anstrengungen erhöhen, sie müssen schreien.“ „Was machst du da für Sachen? Warum willst du dich hier nicht so aufführen, wie alle anderen auch?“ „Ich war zuvor im Park drinnen.“ „Ja und? Hier, diese Gebäude sind das Leben, das wir schätzen, also zerreiße sie nicht!“

Mir schwirrte der Kopf. Was sollte ich machen? Hierbleiben war gefährlich, doch auf das Land zurück, jetzt, wo ich diesen Park gesehen hatte, wollte ich auch nicht, dazu ich war zu neugierig. Also blieb ich.

 

2. Am Bahnhof

Es herrscht das jedem nur zu bekannte Bild der sich am Bahnsteig drängenden Menschen, das selbst durch noch so viele abfahrende Züge nicht im Geringsten verändert werden kann. Fortwährend stoßen neue Scharen hinzu, die all jene ersetzen, die gerade fortgekommen sind. Der Sturm reißt nicht ab.

Der ganze Bahnhof ist ein Durchhaus. Es gibt keinen Winkel, in dem es nicht zieht. Nirgendwo findet sich ein Platz, wo man nicht im Weg steht, und so wirbelt es die Menschen immerfort weiter. Sie werden alle von der gleichen Kraft getrieben, jeder kommt hier an und will sofort weg von hier. Und weil das alle wollen, aber ihrer Erwartung zum Trotz nicht geht, müssen alle warten. Das ergibt dann jenes vertraute Bild, das aber erst dann störend auffällt, wenn es einen selbst trifft. Natürlich ist dieses Warten lästig, und, wenn die Zeit dazu genützt wird darüber nachzudenken, auch sinnlos. Aber es gehört zum Reisen eben unvermeidlich dazu.

Es gelingt nicht jedem, gleich auf Anhieb mit einem der nächsten abfahrenden Züge mitzukommen. Zu viele sind da, und auch sind die ankommenden Züge bereits so voll, dass nur noch wenige zusteigen können. Das verlängert das Warten. Die Zustände am Bahnhof zermürben so manchen. Dann schlägt sich der abseits, um so dem entnervenden Warten zu entkommen. Irgendwo kauernd oder ziellos umherstreifend verbringt er die Zeit. Freilich werden diese Menschen nicht wahrgenommen, denn die, welche am Bahnsteig warten, haben den Kopf voller Pläne, und die gar, welche hart an der Bahnsteigkante stehen, haben nichts als ihr rasches Weiterkommen im Sinn.

Die Züge kommen in kurzen Abständen an. Sie sind schon voll besetzt, da die Zustände in allen Bahnhöfen die gleichen sind. Jeder will mitkommen, und so wird um die wenigen Plätze erbittert gekämpft. Der Drang, so schnell als möglich weiterzukommen, ist so selbstverständlich, dass Rücksichten gar nicht erst aufkommen. Im Gegenteil, jeder sucht nach Mitteln und Wegen, sich einen Vorteil zu verschaffen.

Hat jeder auch nur vage Ahnungen davon, wie es ihm ergehen wird und wohin es ihn verschlagen wird, so beginnt er erst einmal damit, Ansprüche zu stellen, denn das zumindest weiß jeder, was ihm zusteht. Für weniger hat er nur Verachtung übrig. Doch die Ansprüche alleine genügen nicht, um vor Enttäuschungen bewahrt zu werden. Daher wird gelernt auf jene Vielfalt an Möglichkeiten zurückzugreifen, die das Leben bietet und die ihrerseits wiederum das Leben ausmacht. Schnell werden Freundschaften geschlossen, um sich gemeinsam einen Weg zu bahnen. Freilich darf es nicht überraschen, wenn, trotz aller Herzlichkeit, Hinterlist und sogar Verrat, im rechten Augenblick begangen, das Ziel näherbringen. Es kann einem Liebenswürdigkeit und Humor ebenso weiterhelfen, wie lauernde Schlauheit und scharfe Beobachtung. Natürlich geht nichts ohne Gewalt, roher Zudringlichkeit oder Frechheit, es mangelt nicht an Täuschung und offenem Betrug. Auch an Drohungen, Streit und Rempelei gilt es sich zu gewöhnen. Es gibt fürwahr eine Fülle an trefflichen Eigenschaften, die entwickelt werden und derer sich ausgiebig bedient wird. Weil es sich schließlich um so etwas Wesentliches, wie das eigene Weiterkommen handelt, ist keiner zimperlich, sich auch kräftig ins Zeug zu legen. Für empfindsame Gemüter ist das hier kein geeigneter Platz, sie sollten ihn meiden.

Es kommt immer wieder vor, dass einem am Bahnsteig Wartenden von jemandem, der sich bereits in einem der vorhergehenden Bahnhöfe einen Platz im Zug erkämpft hat, geholfen wird, in den Wagen zu kommen. Sie kennen sich und nützen die Gelegenheit, sich behilflich zu sein. Solcherart wird so mancher durch das Fenster in das Wageninnere gezogen. Diese Hilfsdienste schüren allerdings die Wut der Zurückbleibenden und erhöhen die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit derer, die schon öfters am Zusteigen gescheitert sind.

Dabei wird ohnehin, nur um mitzukommen, jedes erdenkliche Plätzchen auf dem Zug genutzt. Selbst die windigsten Lagen werden eingenommen. So vielfältig die Wege sind, in einen Zug zu gelangen, so vielfältig sind auch die Arten an Plätzen. Es ist schwer zu entscheiden, ob die Art und Weise, wie ein Mensch in den Zug hineinkommt und welchen Platz er dort einnimmt, durch seine Persönlichkeit bestimmt wird, oder etwa umgekehrt, die Persönlichkeit gerade davon geprägt wird. Dagegen steht fest, dass im Gegensatz zu den Ansprüchen, die Wahl der Mittel durchaus nicht den hohen Anforderungen standhalten muss. Das Einzige, was gilt, ist mitzukommen.

„Habt ihr von dem Unglück gehört, das dem letzten Zug zugestoßen ist? Es soll viele Tote gegeben haben.“

„Das war doch nicht das erste Mal, dass so etwas geschehen ist. Viele Züge verunglücken.“

„Viele? Das sollte wohl heißen alle. Denn bis jetzt hatte noch jeder Zug einen Unfall. Die Toten der Unglücksfälle lassen sich nicht mehr zählen.“

„Aber das ist doch ein Wahnsinn! Warum unternimmt die Eisenbahnverwaltung nichts dagegen?“

„Was sollte sie denn tun, angesichts dieser Menschenmassen? Ihr seht doch das Gedränge hier.“

„Dann müssten eben mehr Züge verkehren, und die Züge müssten größer sein als diese da. Wenn nur genügend Wagen fahren, dann könnten alle ohne Probleme mitkommen.“

„Glaubst du das wirklich? Sieh doch, wenn mehr Wagen fahren, dann kommen noch mehr Menschen, die mitfahren wollen.“

„Was würde das ausmachen? Die Eisenbahnverwaltung weiß doch, was notwendig ist, und sie muss sich eben rechtzeitig darauf einrichten und durch neue Mittel und Wege den Erfordernissen gerecht werden. Dazu ist sie da.“

„Ja, das ist das Mindeste, was man verlangen kann!“

„Was ist nun aber, wenn es eine Eisenbahnverwaltung gar nicht gibt?“

„Was soll diese dumme Bemerkung? Wir wollen weg von hier, und dabei nicht verrecken! Verstehst du mich? Versteht ihr! Weg von hier, das will ich!“

„Bleib ruhig, sich aufregen nützt nichts.“

„Wir sind Menschen, und wir haben ein Recht darauf, menschenwürdig behandelt zu werden!“

„Ein Recht hast du? So nimm es doch, pack es, und halte es fest, damit es dir nicht davonläuft!“

„Niemand schert sich einen Dreck um uns, und wie wir weiterkommen. Das ist ein Skandal!“

„Ich habe Angst.“

„Wir sollten uns – „

Der nächste Zug fährt ein. Es entbrennt sofort der schon bekannte Kampf. Wieder zeigen sich unverhohlene Härte, nackte Verzweiflung, berechnende Überlegung, panische Angst, freche Rohheit, rüde Rempelei, verbissene Anstrengung – so aufwühlend sich der Anblick gibt, so ermüdend sind seine sich ewig gleichbleibenden Wiederholungen. Wer unter solchen Umständen Bedenken hat, sich rücksichtslos durchzusetzen, und es etwa unternimmt, behutsam und vielleicht sogar unter Beachtung der anderen zu seinem Ziel zu gelangen, der ist schon verloren. Nur zu oft ist es dann bloß ein kleiner Schritt bis zum Wegtreten und sich Zurückziehen. Denn diese Sorte von Menschen wird zwar manchmal von ihrer Umgebung als gutmütig und liebenswert zur Kenntnis genommen, aber zu solch einem Zeitpunkt und unter solchen Umständen bleibt für derartige Überlegungen keine Zeit. Im Gegenteil, je mehr Härte in dem Gewühl aufgebracht wird, desto schwächlicher und unterlegener wirken jene, über die später, wenn der ärgste Sturm vorbei sein wird, hin und wieder gesagt werden wird, sie seien eben für das Leben zu gut. Sie selbst haben in dem Getümmel nichts verloren, die anderen kommen allerdings umso eher zu einem Platz. Mehr noch, diese Gutmütigkeit weniger wird von vielen zu einer Forderung an alle erhoben. Es wird also versucht den Nutzen, der aus den wenigen gezogen werden kann, dadurch zu erhöhen, indem deren Verhalten der Allgemeinheit aufgezwungen wird. Doch so laut und nachdrücklich diese Forderung von denen, die sich daraus ihren Vorteil erhoffen, auch gestellt wird, so gering ist schließlich ihr Erfolg, weil jeder darauf drängt mitzukommen. Daher will sich niemand diesen Forderungen unterwerfen, sondern alle richten ihre Anstrengungen darauf, einen Platz in einem Zug zu bekommen.