Mami – 1928 – Drei sind nicht zuviel

Mami
– 1928–

Drei sind nicht zuviel

Für Kevin ergibt sich eine ganz neue Perspektive

Rosa Lindberg

Impressum:

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Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-061-5

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Genau genommen wußte Lilli auch nicht, warum Christine wieder heiraten sollte. Sie hatte keine finanziellen Sorgen, die Werbeagentur, die sie mit Jan-Peter Rüssmann betrieb, lief gut bis sehr gut, das Haus war, bis auf eine Mini-Hypothek, bezahlt und eine stille Reserve war auch da. Warum bloß schlug sie dieses ledige Thema immer wieder bei ihrer Tochter an?

Keine Ahnung!

Lilli sah Dominik mit Bingo durch den Garten kommen. Irgendwie sahen Herrchen und Hund sonderbar schuldbewußt aus. O nein, bitte, lieber Gott, laß sie nicht wieder etwas angestellt haben!

Als sie Dominik an der Küchentür vorbei zum Bad stiefeln sah, war ihr klar, warum sie wünschte, Christine würde wieder heiraten. Weil ein Junge wie Dominik – und einer wie sein Bruder Gerald und ein Mädchen wie seine Schwester Stine – einen Vater brauchten! Genau das war es!

Und dann gab es ja da auch noch die Liebe, die eine Frau in den besten Jahren brauchte! Sie waren so schnell vorbei, diese besten Jahre. Das wußte Lilli aus eigener leidvoller Erfahrung. Sie war auch früh Witwe geworden…

Sekundenlang starrte sie blicklos auf die Möhre in ihrer Hand. Gäbe es eine Möglichkeit, nur eine kleine, oh, sie hätte manche, manche Korrektur an ihrem Leben vorgenommen! Sie, sie hatte den Fehler begangen, dem Glauben nachzuhängen, Liebe gäbe es nur einmal im Leben. Nicht das allein, sie hatte auch geglaubt, der Kinder wegen auf ein neues Glück verzichten zu müssen. Wie falsch das gewesen war, wie falsch! Aber nun, sie blickte auf und seufzte, nun war nichts mehr zu ändern.

Bingo kam in die Küche und blieb an ein Tischbein gepreßt stehen. Es gab keinen Hund, der derart mit Liebe überschüttet wurde, und keinen, der so überzeugend bei Fremden den Eindruck erwecken konnte, von seinen Besitzern ständig geprügelt zu werden.

»Bingo«, sagte Lilli streng, »laß die Faxen! Du bist zu Hause!«

Es sah aus, als ob Bingo grinste.

Sie hatten ihn aus dem Tierheim. Lilli und Christine hatten an einen netten Dackel für die Kinder gedacht. Die erblickten jedoch Bingo, der auf dem Boden kauerte, erbärmlich zitterte und die Augen verdrehte, als erwarte er eine Tracht Prügel. Alle drei Conradis, mit dem butterweichen Herzen ihrer Mutter und der alles umfassenden Güte ihres verstorbenen Vaters gesegnet, wollten Bingo. Nur ihn. Nein, keinen anderen. Auch keinen noch so niedlichen! Lilli hatte Bingo tief in die demütigen Augen geblickt und erkannt, daß er ein Schauspieler war. Es war, als hätte Bingo sich durchschaut gefühlt, denn er kniff Lilli, die bereit war, das jederzeit zu beschwören, ein Auge zu! Wirklich und wahrhaftig! Er war ein Mischling, gemischter ging’s nicht, und seit dem Tage Familienmitglied im Hause Conradi. Es konnte keinen treueren und anhänglicheren Hund geben.

Lilli lauschte. Komisch! Es hörte sich an, als würde Dominik am hellichten Tag und freiwillig Zähneputzen und Gurgeln. Und so ausgiebig!

So war es. Dominik wollte Zeit gewinnen. Ihm war ein bißchen flau in der Magengrube, denn in der letzten Zeit hatten sich seine Unfälle gehäuft. Er hatte aber auch eine Pechsträhne! Es konnte alles nur noch besser werden! Die Frage jetzt war: Es erst Omi, oder erst Mami sagen?

»Erst Omi!« entschied er laut und ging in die Küche.

»Mami nicht da?«

»Sie ist drüben im Büro.«

Für die Agentur hatte Christine vor wenigen Jahren die erste Etage des hübschen Jugendstilhauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite anmieten können, was dem Familienleben der Conradis sehr guttat.

Als Dominik nichts mehr sagte, fragte Lilli:

»Warum?«

Dominik rutschte auf die Eckbank. Er und Bingo kreuzten einen langen, ergebenen Blick.

»Weil… weil… Da unten an der Ecke steht ein Porsche.«

Lilli ahnte Schlimmes.

»Und das wolltest du deiner Mutter sagen? Glaubst du, sie hätte noch nie einen Porsche gesehen?«

»Es ist ein Cabrio. Das Verdeck war runter.«

»Warum nicht? Es sieht nach Regen aus.«

»Hm. Ich hab’ ihn mir angeguckt. Schööönes Auto!«

»Das ist allgemein bekannt.«

Dominik ließ seine Blicke auf dem schmalen Nacken unter dem bleigrauen hochgesteckten Haar seiner Großmutter ruhen. Er hatte sie so lieb! Er hätte ihr auch gern was anderes gebeichtet. Aber das Leben ist nicht immer himmelblau. Selbst er wußte das schon.

»Ja, ne? – Ich wollte dann auch mal sehen, wie weit der Außenspiegel sich verstellen läßt.«

Lilli drehte sich um und reichte ihm ein Stück geschälter Möhre.

»Und wie weit ließ er sich verstellen?«

Dominik nahm die Möhre.

»Nicht so weit wie ich gedacht hatte.«

Bingo legte den Kopf zwischen die Pfoten und schloß die Augen. Großmutter und Enkel blickten sich an.

»Und wo ist er jetzt?«

Dominik biß in die Möhre und kaute.

»Wer?«

»Der Außenspiegel.«

»Ich habe ihn auf den Beifahrersitz gelegt.«

Wenn, überlegte Lilli, Dominik von niemanden gesehen wurde, könnte man diesen blöden Außenspiegel da liegen lassen und vergessen! Könnte man. Geht aber nicht. Schon aus erzieherischen Gründen! Was soll aus Kindern werden, denen man nicht beibringt, zu dem zu stehen, was sie getan haben? Was? Keinesfalls das, was sie für ihren Enkel erhoffte und wünschte!

Lilli sah an sich herab, nahm ihre Schürze ab und strich über ihre Frisur. Dann sah sie Dominik an.

»Wem gehört der Wagen denn?«

Dominik war blaß um die Nase herum und seine Augen glänzten verdächtig.

»Das weiß ich nicht.«

Einen langen Augenblick lang überlegte Lilli. Dann streckte sie Dominik ihre Hand entgegen.

»Komm. Dann laß uns die Sache regeln.«

*

In der Regel nahm Christine alles mit der sturmerprobten Gelassenheit hin, die sie als berufstätige Frau, Witwe, Mutter und Tochter erworben hatte. Das bot in der Regel dringend notwendigen Schutz. In den letzten Wochen jedoch funktionierte das nicht mehr so, wie es sollte.

»Ich bin urlaubsreif«, sagte sie zu ihrer Assistentin Petra, die nach Lilli der Mensch war, dem Christine am meisten vertraute.

»Und wie! Hätte ich hier das Sagen, ich würde dich noch in dieser Stunde in irgendeinen stillen Wald scheuchen!«

Zwar lachte Christine, dachte aber, daß Jan-Peter alles andere plante, als einen Urlaub in einem stillen Wald.

Überhaupt – Jan-Peter… Sie waren Geschäftspartner, schon bei Leonard, ihrem verstorbenen Mann, war er zunächst Mitarbeiter, dann Teilhaber geworden. Er hatte sich eine damalige Durststrecke Leonards zunutze gemacht, und war mit einem nicht unbeachtlichen Betrag in die Firma eingestiegen. Was er jetzt – kein bißchen diskret oder heimlich – anstrebte, war die private Partnerschaft, sprich: Ehe. Er behauptete, Christine zu lieben, würde jedoch niemals die Kinder in Kauf nehmen, für die er an eine Unterbringung in einem Internat gedacht hatte.

Christines Zuneigung für ihn hielt sich in Grenzen, was nicht bedeutete, daß sie ihn nicht mochte. Seit Leonards tödlichem Unfall hielt sich ihre Zuneigung zu jedem männlichen Wesen immer in sehr engen Grenzen.

»Ich glaube«, hatte sie einmal zu Petra gesagt, »ich kann mich gar nicht mehr verlieben!«

»Du kannst«, hatte die geantwortet, »wenn es der Richtige ist! Aber nur dann. So bist du eben verpackt. Und damit mußt du leben.«

Sie stand jetzt noch, einen Entwurf überfliegend, an Petras Schreibtisch, als Jan-Peter hereinkam. Ausgerechnet jetzt! Es mußte so etwas wie das Gesetz des richtigen Zeitpunkts geben, so wie es das Gesetz der Schwerkraft gibt, etwas, wodurch Menschen immer im verkehrten Augenblick kommen.

»Hallo…!« Er strahlte mit seinen makellosen Zähnen um die Wette. »Soviel Schönheit blendet ja geradezu!«

»Sonnenbrille aufsetzen hilft«, sagte Petra trocken.

Sie lachten gemeinsam, bis Jan-Peter Christine fragte, ob sie ein paar Minuten Zeit für ihn hätte.

»Eigentlich…«

»Wirklich nur ein paar Minuten! Ich möchte dir nur etwas zeigen! Bitte…«

Seine Blickte hatten den beschwörenden Charme wie bisweilen die Bingos, wenn er etwas partout erreichen wollte. Selbst stärkere Naturen als Christine konnten dem nur selten widerstehen.

»Also gut…«, sie legte den Entwurf zurück auf Petras Schreibtisch, sie würde ihn gleich weiterlesen, »dann zeig’s mir.«

Jan-Peter nahm ihren Arm. Er tat das seit einiger Zeit mit so selbstverständlicher Besitzergeste, die Christine nicht nur irritierte, sondern auch keineswegs gefiel. Sie bemerkte Petras Blick, in dem etwas lag, was sie nicht deuten konnte.

»Wir müßten schon ein paar Schritte gehen«, sagte Jan-Peter, während er sie zur Tür dirigierte. Mit einer beiläufigen Bewegung befreite Christine ihren Arm. Sie lächelte dabei, wollte ihn ja nicht kränken, sondern nur die unsichtbare Grenze eingehalten wissen, die zwischen ihnen sein und bleiben mußte. Wenn Jan-Peter die kleine Zurechtweisung bemerkt hatte, so ließ er sich doch nichts anmerken. Er lächelte ebenfalls.

Vor der Tür fragte Christine:

»Wie weit müssen wir denn gehen?«

»Wirklich…«, er begann zu gehen, Christine folgte ihm, »nur ein paar Schritte!«

Plötzlich blieb er stehen und lächelte nicht mehr so herzlich wie zuvor. Sein Blick lag auf einem in der Sonne herausfordernd glänzenden Sportwagen, an dem zwei Gestalten sich zu schaffen machten.

Christine wunderte sich, daß Omi und Dominik an dem Wagen waren, von dem sie ahnte, daß es die Überraschung war, die sie sich ansehen sollte.

Als Dominik und Lilli die beiden kommen sahen, erstarrten sie zu Salzsäulen. Mit allem hatte Dominik gerechnet, wirklich, aber nicht damit, daß der Wagen Jan-Peter Rüssmann gehörte! Wer konnte denn so was auch bloß ahnen! Bis vor ein paar Tagen hatte dieser Rüssmann doch noch so einen Englischen gefahren! Ausgerechnet der! Dominiks Abneigung Jan-Peter gegenüber war nicht unbegründet. Menschen, die keine Kinder mochten, keine Hunde, eigentlich überhaupt keine Tiere und immer so permanent lächelten, als wären sie aus Honigkuchen, konnte Dominik nicht leiden. Und Herr Rüssmann gehörte zu diesen Menschen. Außerdem scharwenzelte der immer um Mami herum, daß es schon manchmal peinlich war!

Jetzt standen sie voreinander, er neben Omi und Mami neben Jan-Peter Rüssmann. Dann veränderte sich etwas, was nicht nur mit dem Stellungswechsel, sondern auch mit der Wutstimmung, in der Rüssmann gelaufen gekommen war, zu tun hatte, denn Mami stand unvermittelt hinter ihm und hatte beide Hände auf seine Schultern gelegt. Und wohl zum hundertsten Mal erkannte Dominik Conradi, daß auf nichts in der Welt mehr Verlaß ist als auf Mütter. Niemand sagte etwas.

»Was ist hier los?« preßte Jan-Peter endlich in meisterhaft gespielter Gleichgültigkeit hervor. In seiner Stimme jedoch lag jede Menge Zorn, den er nicht kaschieren konnte.

»Also, ich – ich wollte es bestimmt nicht!« begann Dominik und fuhr tapfer weiter fort, weil er den leichten Druck spürte, den Mamis Hände auf seine Schultern ausübten. »Es – es ist so ein schönes Auto und ich wollte nur mal sehen…« Er wußte nicht mehr weiter, deshalb hob er die Hand, in der er den Außenspiegel hielt.

Jan-Peter sah darauf, dann kurz in Christines Gesicht. Es war, bis auf einen Hauch Erwartung, gänzlich ausdruckslos. Trotz seiner Wut erkannte Jan-Peter, daß für ihn eine Menge von seiner Reaktion abhängen konnte. Nach kurzem Zögern lächelte er, nahm Dominik den Spiegel ab und bewegte ihn in seiner Hand, als prüfe er das Gewicht.

»Du hast auch eine Schwäche für Autos, habe ich recht?«

»Ja«, gestand Dominik verwundert, er hatte mit einem Donnerwetter erster Güte gerechnet.

»Genau wie ich«, sagte Jan-Peter, und sein verstehender Blick wirkte ziemlich aufrichtig. Er schickte ein kleines, rasches Lächeln zu Christine.

Dominik wußte nicht, was er sagen sollte, bis ihm siedendheiß etwas einfiel.

»Ich – ich bezahle natürlich die Reparatur! Ich hab’ ganz schön was gespart!«

Als habe er das gar nicht gehört, ging Jan-Peter vor Dominik in die Hocke. Der Bengel hatte die gleichen Augen wie seine Mutter: scheu aber unerschrocken!

»Du wolltest vermutlich testen, wie weit sich das Ding hier drehen läßt, was?«

»Genau.«