Mowglis Brüder

Ruft Chil der Greif: Die Nacht ist reif!

Trägt Mang sie auf Fledermausflügeln.

Im Stall geborgen sind die Herden bis morgen,

doch uns vermag keiner zu zügeln.

Denn die Stunden der Nacht sind Stunden der Macht

für Reißzahn, Klaue und Pfote.

Glück auf nun zur Jagd, bis es dämmert und tagt!

Und achtet des Dschungels Gebote!

Nachtgesang im Dschungel

Am Abend war es auf den Hügeln von Seeonee noch sehr warm. Vater Wolf hatte tagsüber geschlafen. Um sieben Uhr wachte er auf, kratzte sich, gähnte und streckte die Läufe, einen nach dem anderen, um das dösige Gefühl in den Krallen loszuwerden. Mutter Wolf lag zwischen den vier zappeligen und quengelnden Jungen, die lange Schnauze mit der großen grauen Nase quer über sie. Von draußen schien der Mond in die Höhle.

»Grrr«, ächzte Vater Wolf. »Es wird wieder Zeit zum Jagen.«

Schon wollte er lostraben, da tauchte an der Schwelle zur Höhle ein kleiner Schatten mit buschigem Schweif auf, und eine Stimme näselte: »Das Glück sei dir hold, Herr der Wölfe, dir und deinen prächtigen Kindern! Mögen sie groß und stark werden, mit langen weißen Zähnen, und mögen sie stets an die Hungernden in dieser Welt denken!«

Das war Tabaqui, der Schakal, der Schüssellecker. Die Wölfe Indiens verachten ihn, weil er immer nur Unheil stiftet, für üble Nachrede sorgt und Lumpen und Lederfetzen frisst, die er von den Abfallhaufen der Dörfer holt. Die Wölfe fürchten ihn aber auch, weil Tabaqui jähzornig sein kann wie sonst keiner vom Dschungelvolk. Dann vergisst er, dass er eigentlich vor allen Geschöpfen Angst hat, rennt ziellos herum und fällt jeden an, der ihm in die Quere kommt. Wenn der kleine Tabaqui seinen Rappel bekommt, reißt sogar der Tiger vor ihm aus, denn blinde Wut gilt im Dschungel als größte Schande. Die Menschen behaupten, solche Anfälle kämen bloß von der Wasserscheu der Schakale, aber die Tiere sagen Dewanee dazu – das heißt: Tollwut – und laufen davon.

»Komm nur herein und schau dich um!«, sagte Vater Wolf steif. »Hier findest du nichts zu fressen.«

»Nichts für einen Wolf, mag sein«, widersprach Tabaqui. »Aber für ein so minderes Wesen wie mich ist bereits ein trockener Knochen ein Leckerbissen. Wer sind wir denn schon, wir Gidurlog, wir vom Volk der Schakale, dass wir große Ansprüche stellen dürften?« Er verzog sich ans Ende der Höhle, wo er einen Rehbockknochen mit etwas Fleisch daran entdeckte und schmatzend zerknackte.

»Besten Dank für das festliche Mahl!«, sagte er schließlich und leckte sich die Schnauze. »Wie schön doch eure prächtigen Kinderchen sind! Was für große Augen! Dabei sind sie noch so jung. Ach ja, freilich, ich habe nicht bedacht, dass die Kinder der Könige schon als Männer zur Welt kommen.«

Tabaqui wusste natürlich so gut wie jeder andere, dass es sich nicht gehört, Kinder in deren Gegenwart zu loben, und er genoss es, wie betreten Mutter und Vater Wolf jetzt dreinschauten. Eine Weile kostete er die Wirkung seiner Worte aus, dann sagte er hinterhältig: »Der große Shir Khan verlegt sein Jagdrevier. Er hat mir selbst gesagt, dass er sich im nächsten Mond hier in den Bergen aufhalten will.«

Shir Khan, das war der Tiger, der zwanzig Meilen weiter am Fluss Waingunga hauste.

»Dazu hat er kein Recht!«, rief Vater Wolf zornig. »Das Gesetz des Dschungels verbietet ihm, ohne entsprechende Ankündigung das Revier zu wechseln. Er vertreibt uns ja das ganze Wild auf zehn Meilen im Umkreis – ausgerechnet jetzt, wo ich für zwei jagen muss.«

»Seine Mutter hat ihn nicht umsonst Lungri, den Hinkefuß, genannt«, gab Mutter Wolf leise zu bedenken. »Er lahmt seit seiner Geburt auf einem Bein. Deshalb tötet er nur wehrloses Herdenvieh. Nun hat man ihm in den Dörfern am Waingunga den Kampf angesagt, und wenn er hierherkommt, sagt man ihm hier den Kampf an. Er wird längst wieder fort sein, und immer noch werden ihm die Menschen nachstellen und das Gras anzünden – und wir und unsere Kinder müssen auf und davon. Das haben wir dann Shir Khan zu verdanken.«

»Soll ich ihm euren Dank bestellen?«, fragte Tabaqui.

»Verschwinde!«, fuhr Vater Wolf ihn an. »Verschwinde und jage gefälligst mit deinem Herrn und Meister! Du hast für heute Nacht schon genug Unheil gestiftet.«

»Gut, ich gehe«, sagte Tabaqui gemessen. »Hört ihr es? Shir Khan streicht bereits dort unten im Dickicht herum. Ich hätte mir die Botschaft also sparen können.«

Vater Wolf spitzte die Ohren. Aus dem Tal, durch das sich ein Flüsschen zog, klang das zornige, schnarrende Gewinsel eines Tigers herauf, der ohne Beute geblieben ist und sich nicht darum schert, dass alle im Dschungel das erfahren.

»So ein Narr!«, sagte Vater Wolf. »Die Nacht mit solchem Lärm anzufangen! Glaubt er denn, unsere Böcke seien so blöde wie seine fetten Ochsen am Waingunga?«

»Psst!«, warnte Mutter Wolf. »Er ist heute nicht hinter Böcken oder Ochsen her, sondern hinter Menschen.«

Aus dem Winseln war ein kehliges Schnurren geworden, das von überall her zugleich zu kommen schien. Dieses Schnurren war es, das die Holzfäller und Zigeuner, die im Freien übernachteten, vor Angst meist ganz verrückt machte. Oft genug rannten sie dann dem Tiger direkt vors Maul.

»Menschen!«, knurrte Vater Wolf und bleckte die weißen Zähne. »Pah! Als ob es nicht genug Käfer und Frösche im Sumpf gäbe. Aber nein, Menschen muss er fressen – noch dazu in unserem Revier!«

Das Gesetz des Dschungels, das nichts unüberlegt vorschreibt, verbietet jedem Tier, Menschen zu fressen, außer wenn einer die Jungen lehrt, wie man sie tötet. Selbst dann aber muss das jenseits des Jagdgebietes des Rudels oder Stammes geschehen. Der wahre Grund dafür ist, dass nach einem solchen Überfall früher oder später der Weiße Mann kommt. Er rückt auf Elefanten und mit Gewehren an und wird von Hunderten Braunen Männern mit Gongs, Feuerwerkskörpern und Fackeln begleitet. Dann ergeht es allen im Dschungel schlecht. Die Tiere begründen dieses Gesetz allerdings damit, dass der Mensch das schwächste und wehrloseste aller Geschöpfe sei und es daher unsportlich sei, ihn anzugreifen. Sie behaupten auch – und das stimmt –, dass man von Menschenfleisch die Räude bekommt und die Zähne verliert.

Das Schnurren wurde lauter und endete als vollkehliges »Aaa-rrr!«, als Shir Khan lossprang. Dem folgte ein ganz untigerisches Aufheulen.

»Daneben!«, sagte Mutter Wolf. »Wie kommt es, dass er sein Ziel verfehlt?«

Vater Wolf trabte ein paar Schritte nach draußen und hörte gerade noch, wie sich Shir Khan mit wütendem Knurren in die Büsche schlug.

»So ein Narr!«, knurrte Vater Wolf. »Springt der Dummkopf doch mitten in die Feuerstelle eines Holzfällers und versengt sich die Pfoten! Tabaqui ist bei ihm.«

»Da kommt jemand den Hügel herauf«, zischte Mutter Wolf plötzlich und stellte einen Lauscher hoch. »Vorsicht!«

Etwas raschelte im Gebüsch und Vater Wolf duckte sich sprang los …

Und was jetzt geschah, war ganz ungewöhnlich: Mitten in der Luft änderte der Wolf seine Absicht. Er war blindlings hochgeschnellt, und nun hatte er Mühe, seine Absicht rückgängig zu machen. So kam es, dass der Wolf vier, fünf Fuß kerzengerade in die Höhe schoss und fast wieder an Ort und Stelle landete.

»Ein Mensch!«, japste er. »Ein Menschenjunges! Schau nur!«

Unmittelbar vor ihm klammerte sich ein nacktes braunes Kind an einen Ast. Es musste gerade erst laufen gelernt haben. Winzig klein und wacklig auf den Beinen stand es mitten in der Nacht vor der Höhle und lachte dem Wolf ins Gesicht.

»Ist das ein Menschenjunges?«, fragte Mutter Wolf erstaunt. »Ich hab noch nie eines gesehen. Bring es her!«

Ein Wolf kann mühelos ein Junges im Maul herumtragen, ohne ihm auch nur ein Haar zu krümmen. Wenn es sein muss, hält er sogar ein rohes Ei zwischen den Zähnen, ohne es zu zerbrechen. Und obwohl Vater Wolf das Kind am Rücken fasste und in den Rachen nahm, ritzte er ihm nicht einmal die Haut.

Behutsam setzte er den Kleinen zwischen den eigenen Jungen ab.

»Wie niedlich er ist!«, sagte Mutter Wolf zärtlich. »Wie nackt und – wie unerschrocken!« Der Winzling zwängte sich zwischen die Wolfsjungen ans warme Fell. »Ahai«, rief Mutter Wolf, »er will mit den anderen trinken. Das also ist ein Menschenjunges! Sag selbst, bin ich nicht die erste Wölfin, die mit ihren eigenen Kindern auch ein Menschenjunges säugt?«

»Nicht die erste«, sagte Vater Wolf. »Dergleichen kam gelegentlich vor; aber soweit ich mich erinnern kann, nicht in unserem Rudel. – So ein haarloses Ding! Ein Stups mit der Pranke und ich könnte es töten. Aber schau! Es guckt mich an und hat überhaupt keine Angst.«

Ein mächtiger Schatten schob sich vor die Höhle und verdunkelte den Mond. Shir Khans eckiger Schädel und seine breiten Schultern versperrten den Eingang. Hinter ihm quäkte Tabaqui: »Ja, Herr, ja, Herr, dahinein ist es geschlüpft.«

»Shir Khan erweist uns eine große Ehre«, sagte Vater Wolf, aber seine Augen funkelten vor Zorn. »Was begehrt Shir Khan von uns?«

»Meine Beute!«, sagte der Tiger. »Ein Menschenjunges hat sich hier verkrochen. Seine Eltern sind davongelaufen. Gib es heraus!«

Wie Vater Wolf gesagt hatte, war Shir Khan in die Feuerstelle eines Holzfällers gesprungen und der brennende Schmerz in den Pfoten machte ihn wütend und unberechenbar. Aber andererseits, und das wusste Vater Wolf, war der Höhleneingang zu eng, als dass sich Shir Khan hätte durchzwängen können. Schon, wie er jetzt dastand, musste er aus Platznot die Schultern ganz schmal machen und die Vorderpfoten anlegen – auch ein Mensch kann nicht kämpfen, wenn er in einem Fass steckt.

»Die Wölfe sind ein freies Volk«, sagte Vater Wolf. »Sie erhalten ihre Befehle vom Anführer des Rudels, nicht von jedem beliebigen Ochsenfresser mit Streifen im Fell. Das Menschenjunge gehört uns, und wir allein entscheiden, ob wir es umbringen wollen.«

»Was schert es mich, was ihr entscheidet oder nicht? Beim Ochsen, den ich töte: Habe ich es nötig, mir meine Nase an eurer Hundehöhle wund zu scheuern, nur um zu meinem Recht zu kommen? Hörst du? Hier spreche ich, der große Shir Khan!« Der Tiger brüllte, dass die Wände bebten. Mutter Wolf schüttelte die Jungen ab und sprang vor. Ihre Augen, zwei grüne Monde in der Dunkelheit, funkelten den flammenden Augen Shir Khans entgegen.

»Und ich, Raksha, die Dämonin, gebe dir die gebührende Antwort. Das Menschenjunge gehört mir, Lungri. Mir allein! Und wir werden es nicht umbringen. Es soll leben und mit dem Rudel laufen und jagen. Und zu guter Letzt – hör mir gut zu, du Kinderfänger, du Froschfresser, du Fischschlucker –, zu guter Letzt soll es dich jagen. Und nun mach, dass du weiterkommst! Troll dich zu deiner Mutter, du versengter Hinkefuß; oder – beim Sambhur, den ich töte, ich vergreife mich nämlich nicht an halb verhungertem Herdenvieh –, oder ich setze dir so zu, dass du schlimmer lahmst als am Tag deiner Geburt! Verschwinde!«

Vater Wolf schaute sie verdutzt an. Und er erinnerte sich wieder an die Zeit, als er Mutter Wolf in ehrlichem Kampf gegen fünf andere Wölfe für sich gewonnen hatte. Damals war sie mit dem Rudel gelaufen und nicht umsonst Raksha, die Dämonin, genannt worden.

Mit Vater Wolf hätte es Shir Khan jetzt vielleicht aufgenommen; mit ihr aber würde er nicht fertig werden, denn er wusste, dass er einen ungünstigen Standort gewählt hatte und dass sie im Vorteil war – und bereit, auf Leben und Tod zu kämpfen. Also zog er sich knurrend vom Höhleneingang zurück und brüllte aus sicherer Entfernung: »Im eigenen Hof hat der Hund leicht bellen! Aber wartet nur, was das Rudel dazu sagt, dass ihr Menschbrut aufzieht. Das Kleine gehört mir, und es kommt mir schon noch zwischen die Zähne, ihr zottelschwänzigen Räuber!«

Mutter Wolf ließ sich keuchend zwischen den Jungen nieder und Vater Wolf sagte ernst: »Was das betrifft, hat Shir Khan recht. Das Menschenjunge muss dem Rudel gezeigt werden. Willst du es tatsächlich behalten, Mutter?«

»Ob ich es behalten will?«, japste sie. »Es kam nackt und allein zu uns, mitten in der Nacht. Und es hatte Hunger. Aber es hatte keine Angst. Schau nur, es hat bereits eines meiner eigenen Kinder zur Seite gedrängt! Und dieser lahme Menschenfresser hätte es bestimmt getötet. Und dann wäre er zum Waingunga gestürmt und die Menschen aus den Dörfern würden kommen. Sie würden unsere Höhlen ausräuchern und sich bitter an uns rächen. Ob ich es behalten will? Natürlich will ich es behalten! Bleib nur ruhig liegen, kleiner Frosch. Ach, Mowgli – ja, Mowgli, den Frosch, werde ich dich nennen –, dein Tag wird schon noch kommen! Dann jagst du den großen Shir Khan, so wie er dich heute gejagt hat.«

»Aber was wird das Rudel dazu sagen?«, fragte Vater Wolf.

Das Gesetz des Dschungels ist klar und eindeutig. Es stellt jedem Wolf frei, sein Rudel zu verlassen, wenn er sich vermählt. Er muss aber zurückkommen, sobald seine Jungen groß genug sind, um auf eigenen Beinen zu stehen, und er muss sie dem Großen Rat des Rudels vorführen, der sich für gewöhnlich an jedem Vollmond versammelt. Dort wird das Junge von allen Wölfen betrachtet, damit sie es kennenlernen, und hinterher gilt es als anerkannt und darf sich frei im Rudel bewegen. Und ehe es nicht den ersten Bock erlegt hat, wird kein erwachsener Wolf es anfallen oder gar töten. Tut er es doch und wird gefasst, droht dem Mörder selbst der Tod. Und wer ein wenig darüber nachdenkt, wird zugeben, dass dies so sein mag.

Auch Vater Wolf wartete, bis seine Jungen laufen konnten, und dann nahm er sie und Mowgli und Mutter Wolf in der Nacht des nächsten Großen Rates zum Rudel mit, das sich am Ratsfelsen versammelte. Der lag auf einer mit Steinen und Geröll bedeckten Hügelkuppe, auf der hundert Wölfe und mehr sicheren Unterschlupf fanden.

Akela, der große graue Leitwolf, der mit Stärke und Schlauheit das Rudel anführte, lag bereits in voller Länge ausgestreckt auf dem erhöhten Felsen. Um ihn scharten sich etwa vierzig Wölfe jeder Größe und Färbung – von den dachsgrauen Alten, die es ganz allein mit jedem Bock aufnehmen, bis zu den dreijährigen schwarzen Jünglingen, die bloß meinten, sie könnten das auch. Seit einem Jahr leitete der Einsame Wolf nun das Rudel. In seiner Jugend war er zweimal in Wolfsfallen geraten und einmal hatte man ihn windelweich geprügelt, und er war nur davongekommen, weil man ihn schon für tot hielt; er kannte also die Sitten und Bräuche der Menschen.

Hier, beim Ratsfelsen, wurde kaum gesprochen. In der Mitte des Kreises, in dem die Mütter und Väter saßen, purzelten die Kleinen durcheinander, und von Zeit zu Zeit kam einer der Alten auf die Beine, trabte gemächlich zu diesem oder jenem Jungen hin, sah es prüfend an und schritt lautlos wieder auf seinen Platz zurück. Dann wieder stupste eine der Mütter ihr Junges möglichst mitten hinein ins helle Mondlicht, damit es nur ja keiner übersah. Und Akela lag auf dem Felsen und rief immer wieder: »Ihr kennt das Gesetz! Ihr kennt das Gesetz! Schaut sie euch gut an, Wölfe!« Und die besorgten Mütter griffen den Ruf auf und sagten: »Schaut hin! Schaut genau hin, Wölfe!«

Zuletzt – und Mutter Wolfs Nackenhaare sträubten sich, als es so weit war – stieß Vater Wolf »Mowgli, den Frosch«, wie sie ihn nannten, in die Mitte des Kreises; dort blieb er sitzen, lachte und spielte mit den Kieseln, die im Mondlicht glänzten.

Akela hob nicht einmal den Kopf, sondern rief bloß eintönig weiter: »Schaut gut hin!«

Da war plötzlich hinter dem Felsen ein dumpfes Gebrüll zu hören und Shir Khans Stimme donnerte: »Das Junge gehört mir! Her damit! Wozu braucht das Freie Volk der Wölfe ein Menschenjunges?«

Akela zuckte mit keinem Ohr. Er rief bloß: »Schaut gut hin! Wozu braucht das Freie Volk der Wölfe die Befehle eines Fremden? Es folgt seinen eigenen Befehlen. Schaut gut hin!«

Aus dem Kreis kam ein Murren und Knurren und ein junger vierjähriger Wolf griff Shir Khans Frage auf und fuhr Akela an: »Ja, wirklich, wozu braucht das Freie Volk ein Menschenjunges?«

Das Gesetz des Dschungels schreibt auch vor, was geschehen soll, wenn einer das Recht eines Jungen auf Anerkennung bestreitet. Dann müssen mindestens zwei aus dem Rudel zu seinen Gunsten sprechen, das dürfen aber nicht seine Eltern sein.

»Wer spricht für dieses Junge?«, fragte Akela. »Wer vom Freien Volk will das tun?«

Alle schwiegen, und Mutter Wolf machte sich schon bereit, notfalls für Mowgli zu kämpfen, obwohl sie wusste, dass dies, wenn es wirklich dazu kam, ihr letzter Kampf sein würde.

Da meldete sich schließlich der Einzige zu Wort, der an der Ratsversammlung teilnehmen durfte, obwohl er kein Wolf war: Baloo, der verschlafene Braunbär, der die Wolfskinder im Gesetz des Dschungels unterweist. Baloo durfte nach Belieben kommen und gehen, weil er nur von Nüssen, Wurzeln und Honig lebte. Er richtete sich auf den Hinterpfoten auf und brummte: »Du fragst, wer für das Menschenjunge spricht? Ich. Ich will es tun. Von einem Menschenjungen haben wir nichts zu befürchten. Ich bin kein Schönredner, aber was ich sage, stimmt. Nehmt den Kleinen ins Rudel auf, lasst ihn mit den anderen herumlaufen. Ich selbst will ihm Unterricht geben.«

»Nun brauchen wir noch einen zweiten Fürsprecher«, sagte Akela. »Baloo hat gesprochen, und er ist der Lehrer der Wolfskinder. Wer außer Baloo ist bereit, sich ebenfalls zu melden?«

Ein schwarzer Schatten landete leichtfüßig im Kreis. Das war Bagheera, der Schwarze Panther. Schwarz wie Tinte war er, und nur bei einem ganz bestimmten Licht leuchteten die Pantherflecken auf wie nasse Seide. Ihn kannten alle, aber keiner kreuzte gern seine Wege, denn er war so verschlagen wie Tabaqui, so stark wie der wilde Büffel und so tollkühn wie ein verwundeter Elefant. Aber seine Stimme war sanft wie der Honig, der vom Baum tropft, und sein Fell war daunenweich.

»O Akela und ihr alle vom Freien Volk!«, schnurrte er. »Ich habe nicht das Recht, in eurer Versammlung zu sprechen. Doch sagt das Gesetz des Dschungels, dass das Leben eines Jungen im Zweifelsfall um einen gewissen Preis erkauft werden kann. Um welchen Preis und wer ihn abzustatten hat, schreibt es allerdings nicht vor. Habe ich recht?«

»Das ist gut! Das ist gut!«, heulten die unersättlichen jungen Wölfe. »Hört, was Bagheera sagt! Das Junge kann um einen gewissen Preis erkauft werden. So lautet das Gesetz!«

»Ich bitte also um die Erlaubnis, ausnahmsweise in eurem Kreis sprechen zu dürfen.«

»Sprich nur! Sprich!«, riefen zwanzig Stimmen.

»Es ist eine Schande, ein nacktes Junges zu töten. Schließlich könnt ihr euch immer noch an ihm schadlos halten, wenn es erst einmal groß ist. Baloo hat zu seinen Gunsten gesprochen. Ich gebe zu seinen Worten einen fetten Ochsen drauf, den ich eben erst getötet habe. Er liegt keine halbe Meile von hier und soll euch gehören, wenn ihr dafür das Menschenjunge nach dem Gesetz in euer Rudel aufnehmt. Nun, was haltet ihr davon?«

Die Antwort war ein wirres Durcheinander von Stimmen. »Was soll’s? Es wird ohnehin sterben, wenn der Monsunregen kommt. Es wird in der Sonne ausdörren. Von einem nackten Frosch haben wir nichts zu befürchten. Lasst ihn mit dem Rudel laufen! Wo ist der Ochse, Bagheera? Wir nehmen den Kleinen bei uns auf!«

Und wieder erklang Akelas kehliger Ruf: »Schaut gut hin, Wölfe! Schaut gut hin!«

Mowgli spielte noch immer ganz selbstvergessen mit den Kieseln und merkte gar nicht, dass die Wölfe einer nach dem anderen herankamen und ihn ausgiebig betrachteten.

Zuletzt trotteten sie alle den Hügel hinunter, zum getöteten Ochsen, und nur Akela, Bagheera, Baloo und Mowglis eigene Sippe blieben zurück. Und draußen in der Nacht brüllte Shir Khan noch immer, so wütend war er darüber, dass man ihm Mowgli nicht ausgeliefert hatte.

»Ah, brüll nur zu!«, knurrte Bagheera in seinen Bart. »Warte nur, dieser kleine Nackedei wird dir schon noch ganz andere Töne entlocken – oder ich müsste mich in den Menschen sehr getäuscht haben.«

»Gut gemacht!«, lobte Akela. »Die Menschen und ihre Jungen sind sehr klug. Vielleicht wird uns der Kleine eines Tages eine große Hilfe sein.«

»Ja«, sagte Bagheera. »Hilfe in der Not kann nie schaden. Schließlich darf keiner damit rechnen, das Rudel ewig zu führen.«

Akela sagte nichts darauf. Er dachte an die Stunde, die jedem Leitwolf einmal schlägt, wenn seine Kräfte schwinden und er schwächer und schwächer wird – bis ihn zur gegebenen Zeit die anderen Wölfe töten und ein neuer Anführer kommt, einer, dem schließlich dasselbe Schicksal bestimmt sein würde.

»Nimm den Kleinen mit!«, sagte Akela zu Vater Wolf. »Und erziehe ihn so, wie es einem vom Freien Volk gebührt.«

Und so wurde Mowgli auf Baloos Fürsprache hin und um den Preis eines fetten Ochsen in das Rudel der Seeonee-Wölfe aufgenommen.

 

Gut zehn Jahre müssen wir nun überspringen und uns mit der Vorstellung begnügen, was für ein wunderbares Leben Mowgli bei den Wölfen führte; denn alles genau zu beschreiben, würde so viele Bücher wie Jahre füllen.

Mowgli wuchs mit seinen Brüdern auf, obwohl sie natürlich schon erwachsene Wölfe wurden, als er noch ein richtiges Kind war. Vater Wolf gab sein ganzes Wissen an ihn weiter und lehrte ihn, die Bedeutung aller Dinge im Dschungel zu verstehen: das heimliche Rascheln im Gras; den heißen Atem der Nacht; den Ruf der Eule von hoch oben; das Scharren der Klauen auf dem Ast, wenn eine Fledermaus für eine Weile im Baum rastet; das leise Aufklatschen, wenn ein kleiner Fisch aus dem Wasser schnellt … Das alles wurde Mowgli bald so vertraut wie einem Menschen die tägliche Arbeit im Büro. Wenn er nicht gerade lernte, lag er in der Sonne und schlief, aß zwischendurch und schlief weiter. Wenn er sich waschen oder bloß abkühlen wollte, sprang er in einen der Tümpel im Wald. Und wenn er Lust auf Honig bekam – Baloo hatte ihm nämlich beigebracht, dass Honig und Nüsse nicht schlechter schmecken als rohes Fleisch –, dann holte er ihn sich eben aus dem Baum. Das Klettern hatte er von Bagheera gelernt. Der Panther hatte auf einem Ast gelagert und ihm zugerufen: »Komm herauf, Kleiner Bruder!« Erst war Mowgli noch schwerfällig wie ein Faultier gewesen, aber bald schwang er sich fast ebenso behände durch die Baumkronen wie die grauen Affen.

Bei den Versammlungen des Rudels auf dem Ratsfelsen hatte Mowgli nun seinen eigenen Platz. Dort machte er auch die Entdeckung, dass kein Wolf seinem Blick standhielt, sondern doch zuletzt die Augen niederschlug, wenn er ihn nur lange und eindringlich genug anstarrte. Das probierte Mowgli zum Spaß immer wieder aus.

Gelegentlich zog er seinen Freunden die Splitter aus den Tatzen, denn Wölfe treten sich oft Dornen ein und leiden schrecklich unter den Kletten, die ihnen im Pelz hängen bleiben.

Manchmal schlich er nachts den Hügel hinunter. An den Feldern vorbei drang er bis zu den Hütten der Dörfer vor und betrachtete neugierig die Menschen, die dort lebten. Aber er misstraute ihnen, seit ihm Bagheera einmal eine große Kiste mit einer Klappe gezeigt hatte, die so geschickt im Dschungel versteckt war, dass Mowgli beinahe hineingetappt wäre; das war eine Falle gewesen.

Am liebsten folgte Mowgli aber Bagheera in das heiße, dunkle Herz des Dschungels, um dort den ganzen Tag zu verdösen, und bei Nacht begleitete er Bagheera auf der Jagd. Wenn Bagheera Hunger hatte, tötete er blindlings, ohne nach rechts oder links zu schauen, und Mowgli machte es bald ebenso – mit einer Ausnahme. Sobald Mowgli alt genug war, um etwas so Wichtiges zu begreifen, hatte ihn Bagheera nämlich gelehrt, dass er sich niemals an Herdenvieh vergreifen dürfe; denn dafür, dass Mowgli ins Rudel aufgenommen wurde, habe ein Ochse mit dem Leben bezahlen müssen.

»Der ganze Dschungel gehört dir!«, hatte Bagheera gesagt. »Töte, was du willst und kannst. Aber dem Ochsen zu Ehren, der dich ins Rudel einkaufte, sollst du kein Rind reißen, kein junges und kein altes, du sollst sein Fleisch nicht fressen. So lautet das Gesetz des Dschungels.« Und ihm gehorchte Mowgli willig.

Er wuchs heran und wurde stark und kräftig, wie eben einer, der immer weiterlernt, ohne lang darüber nachzudenken, und keine andere Sorge kennt als einen leeren Magen.

Mutter Wolf warnte ihn wiederholt vor Shir Khan. Dem sei nicht zu trauen und eines Tages werde Mowgli ihn wohl töten müssen. Ein junger Wolf hätte eine solche Mahnung stets bedacht, aber Mowgli war nur ein junger Mensch, also vergaß er sie. Dabei hätte er sich bestimmt selbst einen Wolf genannt, wäre er der Sprache der Menschen mächtig gewesen.

Oft begegneten Shir Khan und Mowgli einander im Dschungel, denn seit Akela alt und schwach geworden war, hatte sich der lahme Tiger bei den jüngeren Wölfen im Rudel angebiedert. Sie folgten ihm willig, weil er ihnen die Reste seiner Beute überließ. Früher einmal hätte Akela das nie zugelassen und auch jetzt noch sprach er gelegentlich ein Machtwort. Aber dann schmeichelte Shir Khan seinen Freunden umso mehr und fragte sie ganz verwundert, warum sich so kühne Jäger eigentlich von einem alten Wolf, der bald verrecken würde, und einem Menschenjungen anführen ließen. »Man munkelt sogar«, sagte er, »dass ihr es nicht einmal wagt, ihm beim Großen Rat offen ins Auge zu sehen.« Da knurrten die jungen Wölfe und ihr Fell sträubte sich.

Bagheera, dessen Augen und Ohren nichts entging, hatte das ebenfalls gehört, und er versäumte es nicht, Mowgli von Zeit zu Zeit wortreich davor zu warnen, dass Shir Khan ihm eines Tages nach dem Leben trachten werde.

Aber Mowgli lachte dann bloß und sagte: »Ich habe das Rudel und ich habe dich. Und sogar Baloo, so faul er auch sonst ist, würde für mich schon noch ein paar Hiebe austeilen. Wovor sollte ich also Angst haben?«

Einmal, an einem besonders heißen Tag, versuchte Bagheera es auf andere Weise. Vielleicht hatte Ikki, das Stachelschwein, ihn auf den Gedanken gebracht. Jedenfalls fragte er Mowgli, als der tief im Dschungel an seiner Seite lag, den Kopf auf Bagheeras schönes schwarzes Fell gebettet: »Kleiner Bruder, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass Shir Khan dein Feind ist?«

»Mindestens einmal für jede Nuss, die dort drüben an der Palme hängt«, erwiderte Mowgli, der ja nicht zählen konnte. »Lass mich in Frieden, Bagheera! Ich will schlafen und Shir Khan ist nichts weiter als ein langschwänziges Großmaul – so wie Mao, der Pfau.«

»Jetzt ist nicht die Zeit zum Schlafen. Baloo weiß das, ich weiß das, das ganze Rudel weiß das und sogar die dümmsten Hirsche wissen das allmählich. Und auch Tabaqui hat es dir gesagt.«

»Ho, ho!« Mowgli lachte. »Das stimmt. Erst neulich kam Tabaqui zu mir und nahm gehörig den Mund voll. Er sagte, ich sei nur ein nacktes Menschenjunges und wüsste nicht einmal, wie man Erdnüsse ausgräbt. Aber da habe ich Tabaqui einfach am Schwanz gepackt und ein paarmal gegen eine Palme geklatscht, damit er bessere Manieren lernt.«

»Das war dumm von dir, denn Tabaqui ist zwar ein Lästermaul, aber er hätte dir einiges sagen können, was dich sehr wohl betrifft. Mach endlich die Augen auf, Kleiner Bruder! Noch wagt Shir Khan es nicht, dich im Dschungel zu überfallen. Aber vergiss nicht, dass Akela schon sehr alt ist. Bald kommt der Tag, an dem er seinen Bock nicht mehr zur Strecke bringt, dann ist es mit seiner Führerschaft vorbei. Auch von denen, die dich seinerzeit beim Großen Rat ins Rudel aufgenommen haben, sind mittlerweile viele alt geworden. Und die jungen Wölfe glauben, was Shir Khan ihnen einredet: dass ein Menschenjunges in der Meute nichts zu suchen hat. Vergiss auch nicht, dass du bald ein Mann sein wirst.«

»Und wenn schon!«, sagte Mowgli. »Warum sollte ein Mann nicht mit seinen Brüdern laufen? Ich bin im Dschungel geboren, ich habe die Gesetze des Dschungels stets beachtet, und da ist keiner in unserem Rudel, dem ich nicht schon einen Dorn aus der Pfote gezogen hätte. Alle, alle sind sie meine Brüder.«

Bagheera rekelte sich in seiner ganzen Länge und zog die Augen zu engen Schlitzen zusammen. »Kleiner Bruder«, sagte er, »greif mir einmal an den Hals.«

Mowgli streckte den kräftigen gebräunten Arm aus und ertastete unter Bagheeras Kinnbacken, dort, wo sich unter dem seidigen Fell die gewaltigen Muskeln spannten, eine kleine kahle Stelle.

»Niemand im Dschungel hat je erfahren, dass ich, Bagheera, dieses Mal trage. Es ist der Abdruck eines Halsringes. Ja, mein kleiner Bruder, ich wurde unter den Menschen geboren und meine Mutter starb unter den Menschen – im Zwinger des Königspalastes von Udaipur. Deshalb war ich bereit, für dich, das kleine nackte Junge, beim Großen Rat den Preis zu zahlen. Ja, deshalb. Weil auch ich bei den Menschen zur Welt kam. Nie hatte ich den Dschungel gesehen. Auf einer Eisenstange reichte man mir die Fleischbrocken durchs Gitter – bis ich eines Nachts erkannte, dass ich kein niedliches Spielzeug für die Menschen war, sondern Bagheera, der Panther. Mit einem einzigen Prankenhieb sprengte ich das lächerliche Schloss und hatte die Freiheit gewonnen. Und weil ich die Schliche der Menschen kenne, wurde ich im Dschungel noch schrecklicher als Shir Khan. So ist es doch, oder?«

»So ist es«, sagte Mowgli. »Alle im Dschungel fürchten Bagheera – alle, außer mir.«

»Ach, aber du bist ja auch ein Menschenjunges«, schnurrte der Schwarze Panther zärtlich. »Und so wie ich in den Dschungel zurückkehrte, musst du eines Tages zu den Menschen zurückkehren. Zu den Menschen, die deine wahren Brüder sind. Tust du es nicht, wirst du im Großen Rat getötet werden.«

»Aber warum?«, fragte Mowgli. »Warum sollte mich jemand töten wollen?«

»Darum«,