Über das Buch

»Ich bin, wie die meisten Schriftsteller, ein schlechter Briefschreiber«, meint der Sechzigjährige. Dieses Buch tritt den Beweis an, dass Elias Canetti mit dieser Einschätzung vor allem eine Aussage über seine Fähigkeit zur Selbstkritik liefert. Zumindest was sein Schreiben angeht, möchte man hinzufügen, was seine erste Frau Veza Canetti ihm früh bescheinigt hatte: »Du schreibst das Leben, aber wenn Du lebst, verschreibst Du Dich.«

In hoher Dichte dokumentieren die hier versammelten knapp 600 Briefe an Gefährten und Freunde, an Freundinnen und Geliebte, an Schriftstellerkollegen, Kritiker und Leser den Lebens- und Arbeitsweg, den Elias Canetti zurücklegen musste: vom bohemehaften Außenseiter der literarischen Avantgarde über den seiner sprachlichen Heimat beraubten Emigranten und den Philosophen ohne Anschluss an eine Schule bis zum Erfolgsautor nicht zuletzt als Chronist einer verschwundenen Welt.

Zugleich erweist sich Canetti in seinen Briefen auch als Chronist des deutschsprachigen Literaturbetriebs nach dem Zweiten Weltkrieg, in dessen Mittelpunkt er nie stand, und auf den er vielleicht gerade deshalb so erhellende Schlaglichter wirft.

Elias Canetti

Ich erwarte von Ihnen viel

Briefe 1932–1994

Herausgegeben von Sven Hanuschek
und Kristian Wachinger

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Vorbemerkung

Briefe 1932–1994

Nachweise

Register

Vorbemerkung der Herausgeber

Canetti hat sich verschiedener literarischer Gattungen bedient und dabei ein großes Repertoire entwickelt: »Die Blendung« (1935) ist einer der wichtigen Romane der frühen Moderne, ein Werk der Avantgarde, beängstigend, komisch und grotesk. Seine ersten Dramen, die apokalyptische »Hochzeit« und die »Komödie der Eitelkeit«, folgen noch seiner frühen Ästhetik, die späten Charakter-Porträts »Der Ohrenzeuge« wirken wie eine satirisch-freundlichere Ausprägung dieser Ästhetik. »Masse und Macht« (1960) als überbordendes essayistisch-philosophisches Werk folgt einer eigenen Logik, abseits vom wissenschaftlichen Diskurs dieser Jahre. Die Autobiographien, vor allem »Die gerettete Zunge« (1977) und »Die Fackel im Ohr« (1980), waren Canettis Bestseller, weit zugänglicher als das frühe Werk; auch mit den »Stimmen von Marrakesch«, einer Identitätssuche im Gewand von »Aufzeichnungen nach einer Reise«, hat er ein großes Publikum erreicht.

Durch diese Sprünge ist Canettis Werk für viele Leserinnen und Leser schwer zusammenzubringen. Er hat noch erlebt, dass viele Anhänger der »Blendung« mit seinen späten Büchern nicht zurande kamen und umgekehrt. Dabei gibt es sehr wohl Grundauffassungen, die die einzelnen Werke eng verbinden – Canettis »Todfeindschaft«, sein Verständnis von Verwandlung, sein luzider Stil fern von Sprachexperimenten. Am vollständigsten ist Canetti wohl in den »Aufzeichnungen«, die er seit Mitte der 1960er Jahre in schmalen Teilen publizierte (es gibt etwa das Zehnfache in seinem Nachlass): Hier finden sich alle Themen und Tonfälle, hier berühren sich Philosophie und Privates.

Wo stehen in diesem Horizont Elias Canettis Briefe? Auch hier ist ein großes Repertoire zu besichtigen, wenn auch ganz anderer Art: Es gibt strategische Briefe, freundlich-verbindliche, erboste, kompromisslose, Briefe zur Arbeit an den Büchern und zum harten Geschäft. Die hier versammelten knapp 600 Briefe bilden den vielfältig gebrochenen Lebens- und Arbeitsweg ab, den Elias Canetti zurücklegen musste – nicht nur vom hellhörigen und sprachbewussten Sohn aus gutem Hause zum Denker und Chronisten des fatalen 20. Jahrhunderts, sondern auch vom Künstler-Faun über den Emigranten-Guru zum späten Familienvater. Biographischer Voyeurismus soll aber nicht in erster Linie bedient werden. Es geht vor allem um eine literarische Laufbahn, die Geschichte eines schwer erarbeiteten und sehr spät eingetroffenen Erfolges.

Das Buch beginnt damit, dass ein junger Autor mit dem Manuskript seines Erstlingsromans schüchtern an die Tür des Nobelpreisträgers von 1929 klopft – und von Thomas Mann freundlich abgewimmelt wird. Ein halbes Jahrhundert später reist Canetti selber nach Stockholm, um den Preis entgegenzunehmen.

In der Kindheit gleichermaßen gebeutelt wie verwöhnt, muss er mitten in der Aufbauphase einer Schriftstellerexistenz 1938 Wien verlassen. In England fristet er zusammen mit seiner Mentorin und Ehefrau Veza Taubner-Calderon ein mühevolles und ärmliches Dasein. Canetti bleibt als Schriftsteller der deutschen Sprache – die ihm buchstäblich nicht an der Wiege gesungen war – treu und versucht unmittelbar nach dem Krieg einen Neustart in der Öffentlichkeit. Während »Die Blendung« 1946 immerhin in englischer Übersetzung erscheint und ihre Reise um die Welt antritt, bleibt die deutsche Nachkriegsausgabe 1948 weitgehend unbeachtet, ebenso wie der 1960 vorgelegte Großessay »Masse und Macht«. Erst die dritte deutsche Ausgabe der »Blendung« 1963 bringt den Durchbruch. Es folgen die skandalträchtigen Theateraufführungen, die ersten Veröffentlichungen von »Aufzeichnungen«, heute von vielen als Canettis Hauptwerk erachtet, seine literatur- und kulturkritischen Beiträge und schließlich das autobiographische Werk.

Canetti hat sich stets als schlechten Briefschreiber bezeichnet – trotzdem ist umfangreiches Material erhalten geblieben, größtenteils verstreut bei den Adressaten. Zwei große Komplexe sind 2006 und 2011 in Einzelausgaben erschienen: die Briefe von Veza und Elias Canetti an seinen Bruder Georges (1933–48) sowie der Briefwechsel mit Marie-Louise von Motesiczky (1942–92); Briefe an Fritz Wotruba sind 2005 in dem Band »Zwillingsbrüder« zu dessen hundertstem Geburtstag erschienen.

Der vorliegende Band mit Briefen an viele verschiedene Adressaten umfasst den gesamten Zeitraum, allerdings mit Schwerpunkt auf den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. In die Zeit zwischen dem Tod Vezas (1963) und der Familiengründung mit Hera Buschor (1972) fällt die Phase des schriftstellerischen und publizistisch-buchhändlerischen Aufstiegs, 1972 gekrönt vom Georg-Büchner-Preis. Canettis Lektoren werden ihm in dieser Zeit zu Freunden. In den Briefen bilden sich seine zunehmende Verankerung im intellektuellen Leben und im Literaturbetrieb ab, die Aufnahme in mehrere Akademien, die Verleihung zahlreicher Preise bis hin zum Nobelpreis 1981. Erstaunlich ist das Register der Adressaten dieser Briefe: Canetti korrespondierte mit einer Vielzahl von Kollegen, von Theodor W. Adorno bis Herbert Zand, aber gleichermaßen mit kaum öffentlich sichtbaren Literaturvermittlern und Künstlerinnen, etwa der lebenslangen Freundin Cilli Wang, und selbstverständlich mit seinen Verlegern, mit Buchhändlern, Kritikern und Germanisten.

Dieses Buch ist auch ein Zeitbild, ein Querschnitt durch den deutschen Literaturbetrieb, der sich nach dem Krieg neu erfinden musste – vom (bald durch Verbote beschädigten) linken Willi Weismann Verlag bis zum Großkritiker Marcel Reich-Ranicki. Canetti beobachtete diesen Betrieb meist von der Seite, fast vollständig unabhängig von Strömungen wie der Gruppe 47, den österreichischen Experimentellen der Wiener Gruppe oder der Grazer Autorenversammlung.

Vor allem aber: Es sind dies Briefe aus der Hand eines Menschen, der schreibend lebte. Die Leserinnen und Leser werden Zeugen nicht nur eines persönlichen und literarischen Überlebenskampfes, sondern auch der Äußerungen eines hingebungsvollen Menschenfreundes, der gut zuhören und heftig austeilen konnte, der im direkten Austausch bezwingenden Charme entwickeln und Dritten gegenüber auch seine Lust an der Sottise pflegen konnte.

München, im Dezember 2017

MAXWELL_AYMER_a.tif
MAXWELL_AYMER_b.tif

An Hermann Kesten

Wien, 30. November 1932

Lieber Hermann Kesten!

An Ihrem Brief habe ich mehr Freude gehabt, als mir zukommt. Manchmal legt sich auch das böseste Misstrauen schlafen. Ich wollte Ihnen eben glauben und nahm jedes Ihrer Worte für bare Münze. Sie sind, in einer Person, der Strengste und der Nachsichtigste, also zwei Kritiker zugleich. Es ist angenehm, sich einzureden, dass der Strenge gesprochen hat, während es in Wirklichkeit nur der Nachsichtige war. Das dritte Bild des Vorspiels ist eine einzige Länge; es gehört zu den drei, vier Szenen des Stückes, deren ich mich jetzt schon schäme. Verzeihen Sie diese gefühlvolle Ausdrucksweise. Ich bin der unsachlichste Mensch von der Welt und will es gerade Ihnen gegenüber bleiben. Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich Sie zu meiner Wahrheit ernennen, an die ich mich halten und zu der ich sprechen kann, wie mir wirklich zumute ist.

An der Monotonie der Redetechniken ist mir allerdings sehr gelegen. Ich glaube, dass jeder Mensch (außer den paar Verbildeten, die ernstlich nicht in Betracht kommen) seine eigene Sprache besitzt und bei jeder unmöglichen Gelegenheit anwendet. Diese hunderttausend Sprachen zu einer einzigen abzuschleifen, die doch viel von allen noch in sich enthält, ist Ihnen, wohl als einzigem heute, geglückt. Ich darf Ihrem Beispiel nicht folgen, weil es mir um Individuen und nicht um Typen zu tun ist. Das Individuum hasse ich, das Individuum will ich töten, und dazu muss ich immer wieder Individuen machen. Mein Leblang werd ich mich sicher mit diesen verfluchten Geschöpfen abschleppen. Darum musste ich ja auch eine realistische Katastrophe umgehen. Sie hätte die Zuhörer von den Gestalten des Stückes abgelenkt, auf sich. Wo wir Katastrophen fürchten, werden wir zu Angst und verlieren den Verstand. Den darf aber hier niemand verlieren, weil jeder einmal bis zu Ende mitansehen soll, wie ihn die anderen verlieren.

Um beim Thema zu bleiben: Auch der Roman, dessen Länge Sie abschreckt, behandelt die Geschichte eines verlorenen Verstandes. Der Träger ist uninteressant, sein Verstand noch mehr, wichtig war mir nur die Konsequenz, mit der er ihn verliert. Das Buch ist mit bewusster Breite geschrieben, herauslösen lässt sich eigentlich nichts, kein Stück gibt ein Bild des Ganzen. Lassen Sie sich durch die drei Bände nicht gar zu sehr abstoßen, sie enthalten alles in allem 580 Seiten. Mundgerechter kann ich Ihnen die Geschichte, die mich ein Jahr meines Lebens gekostet hat, beim besten Willen nicht machen. Vielleicht schlucken Sie sie doch. Mein Appetit auf Ihre Urteile ist beim Essen gewachsen. Wollte Gott, auch der Ihre wüchse beim Lesen.

Sie haben mir Ihren »Scharlatan« versprochen. Ich kann ihn mir jetzt nicht kaufen. Wenn Sie mich noch sehr lange darauf warten lassen, begehe ich irgendeine Unterschlagung und kauf ihn mir doch. Machen Sie mich bitte nicht zum »Scharlatan«. Schicken Sie mir ihn lieber.

Herzlichst   Ihr   Elias Canetti

Canettis 1931 in Wien geschriebenes Stück »Hochzeit« war 1932 »als Manuskript gedruckt« bei S. Fischer in Berlin erschienen.

Sein Roman »Die Blendung« erschien erst 1935 (mit Jahreszahl 1936) bei Herbert Reichner in Wien, Leipzig, Zürich. Die erwähnten drei Bände beziehen sich auf ein gebundenes Manuskript.

An Hermann Kesten

Wien, 25. Mai 1933

Lieber Hermann Kesten!

Ich fürchte, Sie werden es als Bosheit ansehen, wenn ich mich in einer Zeit, die Sie gewiss arg mitgenommen hat, mit einer kleinen Privatbitte an Sie wende. Aber die Verfassung, in der Sie jetzt vielleicht sind, ist die meinige seit Jahren, und da ich das Geld für eine neue Kopie meines Romanes nicht habe, muss ich mich, so kleinlich und schäbig mir das selbst erscheint, um die alte kümmern. Bitte teilen Sie mir doch mit, wo das Manuskript meines Romans »Kant fängt Feuer« liegt, den Sie in Berlin ja gelesen haben, ob bei Ihnen oder bei Kiepenheuer, und was ich tun muss, um es mir zu verschaffen; ich brauche es wirklich dringend.

Vielleicht erleichtern Sie sich und mir die Antwort durch einige Sätze über Sie selbst. Sie haben hier nämlich einen Freund, auf den Sie zählen können, einen verschmähten zwar, aber einen umso treueren dafür. Ich meine mich und nicht den Frischauer. Dieses Scheißgesicht, dem ich leider Ihre Adresse verdanke, sprach sehr herablassend vom »kleinen Kesten«, für den man etwas tun müsste. Ach, warum lässt man sich nicht öfters zu Ohrfeigen hinreißen? Warum rechnet man einem Juden die Prügel hoch an, die doch der andere eingesteckt hat? Erst seit ich den ohnmächtigen Wunsch habe, Ihnen ein sorgenfreies Dasein zu ermöglichen, empfinde ich meine Armut bitter. Das soll Sie aber keineswegs zu den entsprechenden Gegenempfindungen verpflichten, höchstens zu einem freundschaftlichen Brief.

Allerherzlichst   Ihr   Elias Canetti

Hermann Kesten war im März 1933 vor den Nazis aus Berlin nach Frankreich geflohen.

Paul Frischauer verfasste später eine lobende Rezension der »Blendung« (Neue Freie Presse, 1. Dezember 1935).

Venetiana Taubner-Calderon, später Veza Canetti – als Schriftstellerin bereits Anfang der 1930er Jahre unter dem Pseudonym Veza Magd hervorgetreten –, war seit ihrer Begegnung in den Lesungen von Karl Kraus Ende der 1920er Jahre Canettis literarische Mentorin und auch Agentin, so etwa in einem Brief an Hermann Kesten (Wien, 3. Juli 1933): »Sehr verehrter Herr Kesten! Durch Ihre liebenswürdige Vermittlung hat Canetti seinen Roman sofort zugeschickt bekommen und wollte Ihnen auch gleich danken, doch kann er Ihnen nicht anders als lang und überschwänglich schreiben, wenn er auch weiß, wie nachsichtig Sie Ihre Mundwinkeln kräuseln. Er holt jetzt nicht dazu aus, weil er auf der Jagd nach einem Pass ist, den er (es ist eine lange Geschichte) nicht hat und trotz Travens Totenschiff haben muss. Wenn Canetti endlich bei seinem Freund Hermann Scherchen in Straßburg sein wird, wird er Ihnen aufatmend selbst schreiben und sich für die Anmut bedanken, mit der Sie seinem jugendlichen Brief begegnet sind. Vorläufig will ich es tun, und ich reiße mich darum, denn so kann ich ohne zudringlich zu scheinen einfließen lassen, dass uns Lesern hier ein Kesten unvergesslich ist und dass wir jetzt erst recht auf sein nächstes Buch warten. Mit herzlichem GrußVeza Magd-Canetti.«

Die überlieferten Briefe Canettis der Jahre 1933 bis 1948, also aus den Wiener Jahren und der Zeit des englischen Exils, sind größtenteils an seinen jüngsten Bruder gerichtet, den Arzt Georg(es) Canetti, der sich zu dieser Zeit mit der Mutter und dem mittleren Bruder, dem späteren Musik-Impresario Nissim (Jacques), in Paris befand. Diese Briefe sind zusammen mit jenen von Veza Canetti auf 420 Seiten unter dem Titel »Briefe an Georges« (2006) erschienen. Als Beispiele werden hier der folgende Brief sowie später der Brief vom 3. Juli 1959 aufgenommen.

An Georges Canetti

Wien, 2. März 1934

Mein lieber Georg!

Ich verstehe, dass Dich das so sinnlose und zufällige Pech bei der mündlichen Prüfung gekränkt hat, aber wenn man jetzt, aus der Ferne, darüber nachdenkt, kann man sich nur darüber freuen. Du bist verflucht jung, was Du an Erfahrung in diesem Jahr sammelst, wird Dir praktisch nur nützen, und die Vertiefung des idiotisch mechanischen Wissens, das Du bloß für die Prüfung erbüffeln musstest, ist für eine ernsthaft wissenschaftliche Leistung unumgänglich. Je mehr Gewächse man in sich anlegt und je tiefer man sie wurzeln lässt, umso bessere Frucht trägt man. An der Zahl von Gewächsen leidest Du ja allerdings keinen Mangel, wohl aber hattest Du viel zu wenig Zeit zur Vermehrung. Überhaupt ist mir nicht bange um Dich – soweit einem nicht um die Welt im Ganzen bange sein muss. Du hast eine so glückliche Mischung von musischen und Gelehrten-Eigenschaften; und da Du gerade vor kurzem John Cowper Powys kennengelernt hast: ich sehe den Tag kommen, da Du nach einer bedeutenden Leistung als Gelehrter die Welt, nicht Dein Bruder, mit einem großen Roman überraschst – es gibt drei Brüder Powys, alle drei Schriftsteller, und der größte von ihnen hat zuletzt mit der Kunst begonnen, er war früher reiner Philosoph. Ich hoffe, Du weißt diese ehrende Bemerkung zu schätzen.

Carlo hast Du sehr gut gefallen; er hat mir einen begeisterten Brief über Dich geschrieben und meint, ich hätte durchaus nicht zuviel von Dir erzählt.

Nun zu meiner »seltsamen Hochzeit«. Ich weiß nicht, in welcher idiotischen Form die Nachricht zu Dir gedrungen ist. Ich schreibe Dir jetzt die Wahrheit, von der nur Renée und einige engste Freunde wissen; entscheide bitte Du selbst, ob Du sie der Mama auch erzählen sollst. Es handelt sich nämlich darum, dass sie (die Wahrheit) auf Umwegen nach Wien zurücksickern könnte, wo sie uns ungemein schaden müsste. Veza hat sehr böse Monate hinter sich. Sie war bereits im Januar, als Mit-Arbeiterin einer hiesigen Zeitung und jugoslawische Staatsbürgerin von einer Abschiebung nach Jugoslawien bedroht. Wie es aber dort in solchen Fällen zugeht, dürftest Du ja wissen. Ich kam also auf die ausgezeichnete Idee, sie zu heiraten. Da ich als staatenlos gelte, verliert sie durch die Ehe ihre Staatsbürgerschaft und kann sich, im Falle einer Abschiebung, das Land selber aussuchen. Mein Plan war leichter zu fassen als auszuführen. Eine zivile Trauung war mit meinen Papieren unmöglich, nur im spaniolischen Tempel ist die Schlamperei für solche Dinge groß genug. Da die Gefahr groß war (eine Zeitlang sah es geradezu lebensgefährlich aus, Du musst bedenken, was für ein feiner und empfindlicher Mensch Veza ist), bissen wir beide in die harte Nuss und spielten vor den Spaniolen alles was dazu gehört. Wir sind also jetzt offiziell verheiratet, und beide, laut amtlichem Trauungszeugnis staatenlos. Das ist auch für mich von Vorteil, denn meine Staatenlosigkeit war früher eine sehr heikle Sache, jedes amtliche Dokument mehr darüber verhilft mir später leichter zu einer neuen Staatsbürgerschaft.

An meiner Beziehung zu Veza hat sich dadurch nichts geändert. Sie ist mein wärmster und selbstlosester Freund (Deiner auch, was Du offenbar vergessen hast; Du schreibst ihr nie und Du weißt, wie sie auf einen Brief von Dir seit Monaten wartet!), eigentlich ist sie jetzt meine Mutter, falls ich je wirklich heiraten wollte, was kaum der Fall sein wird, würde sie natürlich sofort in eine äußerliche Scheidung willigen. Überhaupt berührt diese Hochzeit nichts von allem was da war. Ich hatte gehofft, dass Du Dir das alles, auch ohne Erklärungen, von selbst denken würdest; da Du aber in der Familie lebst, nimmst Du Hochzeiten unwillkürlich ernster. Unter den Künstlern galt Veza immer als meine Frau, und in dem schönen geistigen und seelischen Sinn, den diese Leute meinen, ist sie es ja auch. Du und sie, Ihr beide, werdet immer die Menschen sein, die ich am meisten liebe, und es ist meine feste Absicht, immer einen Teil des Jahres mit ihr zu verleben (und mit Dir hoffentlich auch).

Über die hiesigen Ereignisse wünsche ich nichts zu schreiben. Du hast genug Phantasie, um Dir alle mögliche Bestialität, diesmal in ihrer anheimelnden Wiener Form vorzustellen. Ich hoffe sie Dir mündlich und ein andermal in einem Buch erschöpfend darzustellen. Meine persönlichen Aussichten sind denkbar schlecht. Vom Roman war schon früher keine Rede mehr. Er liegt jetzt in der Schweiz bei einem neuen Verlag. Die Komödie hatte intern größtes Aufsehen erregt und eine Aufführung bei Reinhardt in der Josefstadt galt für April als sicher. Nur hatten sich die Leute bis jetzt vor einem Kontrakt wohlweislich gedrückt. Seit den letzten Ereignissen halte ich alles für unsicher. Vielleicht sehe ich das Schicksal der Komödie schwärzer als es notwendig wäre, aber ich will nur noch mit Sicherem rechnen und vor allem Dir ein richtiges Bild geben. Deinem Rat im Herbst folgend, war ich auch sonst nicht müßig. Ich habe für einen Wiener Schriftsteller, den ich zutiefst verachte, ein Filmbuch ausgearbeitet (»geholfen« nennt man das) unter der Bedingung, dass mein Name nicht genannt wird. (Es weiß also niemand davon, und Du darfst es weder Nissim noch Mama erzählen.) Der Mann ist jetzt in London, schreibt, dass die Aussichten für eine Annahme des Films ausgezeichnet sind und verspricht endgültigen Bescheid in den nächsten drei Wochen. Du musst wissen, dass ich diese Arbeit auf gut Glück gemacht habe, also ohne Bezahlung. Wird der Film angenommen, so bin ich auf gut zwei Jahre aller Sorgen enthoben.

Außerdem habe ich einen unbegreiflich guten Freund an Dr. Cohn in Straßburg, der sich alle Mühe gibt, mir zu helfen. Seit Monaten schon bereitet er mir, vorsichtig und in aller Ruhe, eine Stelle in Straßburg vor, die mich halbtägig beschäftigen und ganz ernähren würde. Soweit ein Mensch verlässlich sein kann, ist er es; ich halte ihn für noch verlässlicher als Dich, was viel heißt, und ich höre von allen Seiten, dass er mich mehr liebt als ein Kind. Wahrscheinlich wird also daraus etwas werden. Ob ich der Arbeit, die er für mich plant, entsprechen werde, ist eine andere Frage. Sie erfordert ein flüssiges schriftliches Französisch, und dazu könntest nur Du mir verhelfen. Sollte ich also von Dr. Cohn hören, dass ich die Stelle bekomme, so fahre ich auf einen Monat oder zwei nach Paris, und Du bringst mir bei, was ich brauche. Die Pass-Schwierigkeiten würde man mir schon von Straßburg aus regeln (hoffe ich).

Im Laufe der kommenden Woche trifft in Paris ein: Dea Gombrich, eine wunderbare Geigerin, für moderne Musik die erste in Wien (sie spielt manche Sachen von Berg, Křenek, Webern als einziger Mensch auf der Welt). Sie kann unvergleichlich mehr als die Erika und ist ein besonders lieber und bescheidener Mensch, der noch dazu zu meinen und Vezas engsten Freunden zählt. In Straßburg hat sie ein Radio-Konzert, ebenso in Paris, wo sie mit Orchester spielt (Festival Autrichien am 15. März). Ihre Cousine, bei der sie wohnen wird, ist Sekretärin eines sehr wichtigen Pariser Theatermannes, dessen Name mir entfallen ist. Sie wird für meine Komödie, die sie mithat, alle Hebel in Bewegung setzen. Ich habe sie gebeten, Dich gleich anzurufen. Ich brauche Dir gar nicht sagen, dass Du Dich ihrer annehmen sollst, es wird Dir ein Vergnügen sein, einer so feinen und grundedlen und noch dazu reizvollen Frau Paris zu zeigen. Bitte sag Nissim, dass er bei seiner Firma etwas für sie tun soll – sie spielt neben modernen Sachen auch klassische Stücke, die sie wiederentdeckt hat und fast niemand außer ihr kennt. Nissim soll sie unbedingt vorspielen lassen; ich erweise damit ausnahmsweise ihm und nicht er mir einen Gefallen, da sie eine Künstlerin von allerhöchstem Rang ist.

Für heut Schluss. Schreib gleich und ausführlich. Beruhige die Mama. Falls Du es für gut hältst, ihr den Grund meiner Trauung mitzuteilen, schärfe ihr unbedingtestes Schweigen ein, sie könnte uns in größte Gefahr bringen.

Grüße alle.

Du sei herzlichst umarmt von Deinem   Elias

Canetti 35.tif

Elias Canetti liest aus der »Komödie der Eitelkeit« vor. Comologno, Kanton Tessin, Januar 1935

Komödie: Das Stück »Komödie der Eitelkeit« erschien erst 1950 im Druck.

Renée: Canettis Cousine Renée Arditti.

Dr. Cohn: Canetti wohnte in Straßburg bei Dr. Cohn, der ihm auch zu einem länger gültigen Visum für Frankreich verhalf. Mitte der 1930er Jahre bahnte sich auch die Bekanntschaft zu dem Straßburger Zeitungsverleger Jean Hoepffner an, der sich für die Veröffentlichung der »Blendung« einsetzte.

Dea Gombrich: Die in Wien geborene Geigerin, Schwester des Kunsthistorikers Ernst Gombrich, mit dem Canetti lebenslang in Verbindung blieb (siehe Brief vom 2. August 1985), war 1936 nach England emigriert.

Erika: Es könnte Erika Morini gemeint sein, die wohl die Vorlage war für eine fiktive »›Erika‹, eine Geigerin, die in Rodaun zuhause war«, mit der Canetti seine Mutter von seiner Beziehung zu Veza ablenken wollte (»Die Fackel im Ohr«, VIII, 212).

An Alban Berg

Wien, 9. März 1935

Lieber hochverehrter Herr Berg!

Vielleicht haben Sie und Ihre Frau doch Lust, in meine Vorlesung zu kommen. Im ersten Teil lese ich ein abgeschlossenes Kapitel des Ihnen noch unbekannten Romans; im zweiten wahrscheinlich wieder aus der »Komödie der Eitelkeit«. Da der Saal ziemlich klein ist, sichere ich Ihnen auf alle Fälle Karten.

Ich hätte gern Herrn Webern eingeladen, der zu den ganz wenigen Wiener Künstlern gehört, die ich wirklich schätze. Leider kenne ich ihn persönlich kaum. Wäre es zu viel von Ihnen verlangt, wenn ich Sie darum bitte, ihm die Einladung und zwei Karten mit ein paar aufklärenden Worten von Ihnen zu übermitteln. Er könnte mir ja, falls es ihm unmöglich ist zu kommen, die Karten an meine Adresse

Ferdinandstraße 29

Wien II

zurückschicken.

Ich hoffe, Sie nehmen mir dieses etwas beschwerliche »Amt« nicht übel.

Mit sehr herzlichen Grüßen an Sie und Ihre Frau

Ihr   Elias Canetti

Beilage: Eintrittskarten zur »Vorlesung E. Canetti: Aus eig. Werken«, Samstag, den 13. April 1935, 20 Uhr im Festsaal der Schwarzwaldschen Schulanstalten, Wien I, Regierungsgasse 1.

An Thomas Mann

Wien, 29. Oktober 1935

Am Himmel 30

Wien XIX

Hochverehrter Herr Thomas Mann!

Vor etwa vier Jahren übersandte ich Ihnen das sehr umfangreiche Manuskript meines Romans, der damals den Titel »Kant fängt Feuer« trug, mit der Bitte, ihn zu lesen, und mit der vielleicht unausgesprochenen Hoffnung auf Ihren Rat. So gut es in einem bloßen Briefe ging, suchte ich auch den Plan einer größeren Romanreihe, einer »Comédie humaine an Irren« vor Ihnen zu entwickeln. Ich möchte Ihnen, hochverehrter Herr Thomas Mann, nicht des näheren schildern, mit welcher Verzweiflung mich damals Ihre Absage erfüllte. Sie hatten, wie ich Ihrem überaus freundlichen Schreiben entnahm, wenig Zeit, und vielleicht schreckten Sie auch die drei Bände des Manuskripts, so ungeschickt war ich gewesen, besonders ab. Heute wundere ich mich über die Naivität, mit der ich ein solches Ansinnen an Sie stellen konnte, umso mehr als ich ja, vom größten Respekt für Ihr Werk erfüllt, den Wert Ihrer Zeit sehr wohl zu schätzen wusste. Solcher Unvereinbarkeiten trägt man nur zu viele mit sich herum; und man soll auch ruhig für sie büßen. Denn so stolz jener Brief an Sie damals geklungen haben mag – es war nur der Stolz auf mein Werk und auf meinen Plan. Sonst besaß ich nichts, keinen literarischen Freund, niemand, dem ich das Recht auf ein Urteil oder Hilfe zugebilligt hätte; meine ganze Hoffnung hatte ich auf Sie gesetzt.

Viel später, langsam zwar, aber doch immer größere Kreise ziehend, erwarb sich das Manuskript einige warme Freunde. Besonders Stefan Zweig und Hermann Broch haben sich wiederholt dafür eingesetzt; ersterem verdanke ich es auch, dass es jetzt im Wiener Reichner-Verlag erscheinen konnte. Sie werden »Die Blendung« gewiss schon erhalten haben. Ich weiß nun nicht recht, wie ich diese neuerliche Zusendung rechtfertigen soll. Noch immer hab ich das Gefühl, dass Ihnen etwas an meiner Arbeit zusagen könnte – vielleicht ihr Ernst, vielleicht ihr beinahe physiologischer Pessimismus. Auch dass sie schon bei Ihnen war, ruft sie zu Ihnen zurück; es hat sich da eine Geschichte angesponnen, die noch nicht zu Ende ist, und sie will zu Ende geführt sein. Zu allem Überfluss hat mir Stefan Zweig, der das Vorangegangene allerdings nicht kennt, sehr eindringlich zu einer Zusendung geraten.

So bleibt mir nichts anderes übrig. Bitte glauben Sie mir: es ist wirklich stärker als ich, und selbst wenn ich wieder als der alte Narr vor Ihnen dastehen sollte, diesmal ein- statt dreibändig.

In größter Hochachtung   Elias Canetti

Die korrekte Adresse »Himmelstraße 30« überhöhte Canetti zu dieser Formel; im Folgenden werden die von Canetti regelmäßig wiederholten Adressangaben nur dann abgedruckt, wenn sie zusätzlichen Informations- oder literarischen Gehalt haben.

Hermann Broch gehörte seit Anfang der 1930er Jahre zum Freundeskreis von Veza und Elias Canetti und setzte sich für den Druck der »Blendung« ein.

Thomas Mann hatte, nachdem ihm Canetti vier Jahre zuvor das Manuskript »Kant fängt Feuer«, die spätere »Blendung«, geschickt hatte, an Canetti geschrieben (München, 15. November 1931): »Sehr geehrter Herr Canetti: Zu meinem aufrichtigen Bedauern bin ich gezwungen, Ihnen Ihre Manuskriptsendung unverrichteter Dinge wieder zugehen zu lassen. Das geschieht ungern, weil es eigentlich nicht in meiner Natur liegt, Wünsche nach künstlerischer Teilnahme und literarischer Beratung abzuweisen, zumal wenn sie brieflich auf so eindrucksvolle Weise unterstützt werden, wie es hier der Fall ist. Aber meine Belastung ist so groß und ich bin mit meinem Leseprogramm in so beängstigender Weise in Rückstand, dass ich Sie auf eine Äußerung über Ihre Arbeit unverantwortlich lange warten lassen müsste. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als Sie zu bitten, mir Nachsicht zu gewähren und mir zu glauben, dass ich mich nicht aus Gleichgültigkeit und Egoismus der Beschäftigung mit Ihrem Werk entziehe, sondern aus wirklicher Unzulänglichkeit meiner Kräfte. Ihr sehr ergebener   Thomas Mann.«

Nachdem »Die Blendung« mit der Unterstützung des Straßburger Zeitungsverlegers Jean Hoepffner als Buch erschienen war, äußerte sich Thomas Mann erneut (Küsnacht, 14. November 1935): »Sehr geehrter Herr Canetti, für Ihren freundlichen Brief habe ich Ihnen noch zu danken und nun auch für Ihren Roman, nachdem ich ihn mir in guten, sehr gefesselten Stunden zu eigen gemacht – verzeihen Sie, dass ich so spät dazu komme, Ihnen von meinen Eindrücken zu sprechen; der Bücherzudrang war in diesen Wochen sehr groß und es gab manches zu ›verdanken‹, wie der Schweizer sagt. Ihr Werk aber tut sich doch aus der Menge sehr merkwürdig hervor und hat mich nächst dem Henri IV meines Bruders von neuesten Romanen (es ist im Ganzen nicht viel damit, wenigstens in deutscher Zunge) am meisten beschäftigt. Das hätte ich früher haben können, werden Sie sagen, – nun ja, ich habe mir damals zu dem riesigen Manuskript nicht Mut zu fassen vermocht, – als ob ich das Recht hätte, von riesigen Manuskripten zu reden! Aber das ist es eben. Man hat solche Unvernünftigkeiten im eigenen Haus, man ist belastet, nervös, gereizt, wenigstens manchmal, und man wehrt ab. Sie sind gewiss der Mann, das zu verstehen, umso mehr, als Sie sich jetzt, Ihr Buch in der Hand, das Verstehen leisten können. Und ich für mein Teil bin froh, dass sich Leute mit mehr Kräfteüberschuss, wie Zweig und Broch, gefunden haben, die für mich in die Bresche gesprungen sind. Man muss ihnen dankbar dafür sein. Ihnen aber danke ich, dass Sie mir, unbeirrt, ›Die Blendung‹ schickten und mir aufs Neue eine Chance gaben. Ich habe sie genutzt und das Vergnügen gehabt, einen verwegenen jungen Autor kennen zu lernen, der keinen Schrecken und keine Lustigkeit scheut und der gewiss eine interessante Zukunft hat. Es ist noch viel Sturm und Drang in dem Roman; talent- und generationsmäßig am nächsten steht ihm wohl der begabte Erstling des Johann Rabener mit dem guten Titel, der auch von Ihnen sein könnte, ›Zum Leben verurteilt‹. Aber – wenn es hier ›aber‹ heißen kann – ich bin aufrichtig angetan und freudig beeindruckt von seiner krausen Fülle, dem Débordierenden seiner Phantasie, der gewissen erbitterten Großartigkeit seines Wurfes, seiner dichterischen Unerschrockenheit, seiner Traurigkeit und seinem Übermut. Es ist ein Buch, das sich, anders als die müßige Mediokrität, die heute in Deutschland gepflegt wird, sehen lassen kann neben den Talententwürfen anderer literarischer Kulturen. Der Reichner-Verlag ist zu beglückwünschen, dass er es herausgebracht hat, und zu beglückwünschen ist vor allem der Autor: im Sinne der Gratulation zum Vollbrachten und der erwartungsvollen Wünsche für das, was da kommen mag. Ihr sehr ergebener   Thomas Mann.«

Canetti widmet der Episode einen eigenen Abschnitt in seinem autobiographischen Buch »Das Augenspiel« (1985): »Ein Brief von Thomas Mann« (IX, 249–254).

An Thomas Mann

Wien-Grinzing, 25. April 1936

Hochverehrter Herr Thomas Mann!

Etliche Monate sind es nun her, dass mich Ihr Brief in die größte und glücklichste Aufregung versetzte, und wenn ich, alle Regeln der Höflichkeit außer Acht lassend, so lange mit einer Antwort gezögert habe, so entsprang das dem übermächtigen Wunsch, eine Freude, wie sie mir noch nie zuteil geworden war, bis in alle Ewigkeit zu verlängern. So lange ich ihn noch nicht beantwortet hatte, war es mir, als hätte ich Ihren Brief eben erst bekommen. Die ganzen fünf Monate über durfte ich täglich daran denken. Zu einer leisen Hoffnung auf Ihre Nachricht gesellte sich das wache Gefühl einer Sicherheit, die ich aus Ihrer Zustimmung – wenn ich den Brief so deuten darf – wie aus einer guten Quelle, ein jahrelang Dürstender, schöpfte, und gerade diese Sicherheit hatte ich oft bitter nötig, denn Angriffe gegen die »Blendung« gab es nicht wenige; und am schwersten zu ertragen waren die Hiebe, die sich als unmäßige Lobhudeleien gaben.

Es müsste jemand leben, den Sie hoch über sich stellen, wie ich Sie über mich, damit Sie meine Dankbarkeit ganz nachzufühlen vermöchten. Aber als Dichter fühlen Sie ja ohnehin alles nach, und es mag überflüssig sein, für Sie so Selbstverständliches erst lange noch auseinanderzusetzen. Um eines nur bitte ich Sie: Missdeuten Sie mein Schweigen nicht; sollten Sie es schon missdeutet haben, wozu ja Zeit genug gewesen wäre, so revidieren Sie bitte eine Meinung, die ich gewiss nicht verdiene. Es hat bei der »Blendung« alles so lang gedauert. Der ohnehin düstere Roman war als Manuskript noch düsterer und lastete schwer auf manchem Späteren. Vielleicht daran sind meine Zeitempfindungen etwas in Unordnung geraten. Manche mögen den Versuch, sich halbjährige Freuden zu züchten, mit solchen Mitteln, die noch dazu auf Kosten eines andern gehn, absonderlich finden. Aber in diesem Falle sind Sie der Andre, und nur in diesem Falle konnte ich so viel wagen; denn Sie werden mich gewiss begreifen.

Ich lese, dass Sie in etwa vierzehn Tagen zu einem Vortrag über Freud nach Wien kommen werden. Eine Begegnung mit Ihnen würde mir mehr bedeuten, als ich sagen kann. Mit dem bezaubernden Wiener Vorort Grinzing, wo ich wohne und wo jetzt alles in Blüte steht, würde ich Sie gerne locken – doch kenne ich Ihre neue Heimat Küsnacht, und gegen den Züricher See gehalten, mögen meine Weinberge verblassen. Auch weiß ich nicht, wie es um Ihre Zeit hier bestellt sein wird, und ob ich Ihnen persönlich genug zu bieten habe. Auf jeden Fall, ob Sie nun von der beigefügten Telefon-Nummer Gebrauch machen oder nicht, freue ich mich auf Ihren Vortrag und begrüße Sie, so herzlich und dankbar ein Mensch nur sein kann,

als Ihr   Elias Canetti

Tel. B 16-2-59

Nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 verließen die Canettis Ende des Jahres Wien, zunächst nach Paris und dann nach London. Im »Blitzkrieg« mussten sie die Stadt verlassen und fanden eine Bleibe in der Nachbarschaft der ebenfalls aus Wien geflohenen Malerin Marie-Louise von Motesiczky fünfzig Kilometer westlich von London.

An Kae Hursthouse

Amersham, März 1941

Samstag

Kae:

ich hatte zuerst vor, über unsere letzte Auseinandersetzung zu schweigen, aber je mehr Stunden seither verfließen, umso klarer wird mir, dass ich es nicht darf. Meine Toleranz und Liebe darf nicht wieder so weit gehen wie damals bei Franz. Ich will kein neues Unglück anrichten und zu Dir von Anfang an offen sein. Ich tue das, obwohl es um mich geht. Es handelt sich um viel allgemeinere und wichtigere Dinge als um mich; und es handelt sich auch um eine ganz gefährliche Enge in Dir selbst, die ich Dir, eben weil ich Dich so gern habe, aufzeigen muss. Unser Gespräch hatte persönliche Formen; persönlich wird also auch dieser Brief scheinen; Du wirst das Objektive darin leicht finden.

Ich muss Dir ganz hart sagen, dass Dein Leben wie das jedes bewussten Menschen von denen zehrt, die den Mut hatten, im Geist zu leben. Du bist ein Parasit an Shakespeare, Milton, Blake, Grünewald und Brueghel. Seit Du auf der Welt bist, wirst Du von ihnen und ihresgleichen gefüttert; kein Symbol, kein Wort, kein Gedanke könnte Dir irgendetwas bedeuten, wenn nicht Menschen vor Dir ihr Leben hineingegossen hätten. Dein Geist ist aufgebaut aus fremder Nahrung, und Du hast bis jetzt nicht das Leiseste an Eigenem dem großen geistigen Bestande der Menschheit hinzugefügt. Du liest Buch um Buch, Gedicht um Gedicht, unter vielen schlechten auch sehr gute, Du verbreitest Dich über das geistige Erbe andrer Sprachen. Du nimmst – mit einer erstaunlichen Biegsamkeit und mit immer echtem, schönem und legitimem Hunger Sätze auf, in einer Stunde vielleicht, die bei andern für zwanzig Jahre eines verzweifelten Lebens stehen mögen. Sehr arm und nichtig wärst Du, wenn Du alles herzugeben hättest, was Du Dir als Deinen geistigen Leib im Laufe Deines bisherigen Lebens assimiliert hast. Unmöglich kannst Du sagen, dass Dir alle diese Dinge nichts bedeuten, weil Du aus ihnen bestehst. Du bist zu naiv und unwissend, und hast viel zu schematische Vorstellungen vom Leben, um auch nur zu ahnen, wie diese Nahrung, von der Du selber lebst, zustande kommt. Es gibt da sehr geheimnisvolle Konstitutionsformeln (nicht nur für Aspirin), die man noch nicht kennt, und um die man sich erst sehr bemühen muss. Es gibt noch keine Fabriken für diese Dinge, und der Mann, der Deine geliebten Tickets zwickt, wird sie zehntausend Jahre weiter zwicken können – gewiss eine produktive Beschäftigung –, wenn nicht manche Leute sich endlich weigern, Tickets zu zwicken.

Du hast die Vorstellung, dass wirkliche geistige Leistungen nebenbei zustande kommen, zwischen 6 und 8 Uhr vielleicht. Dass die Leute, die sie zustande bringen, genau so sein müssen wie alle andern Menschen, aber nebenbei trainiert für ihre Zwecke, eine Art Spezialisten-Armee von braven, moralischen Dichtern, Malern, Philosophen, Musikern usw. Du vergisst, dass auf Tausend, die sich ehrlich und selbstlos um geistige Dinge bemühen, einer kommt, der – meist zufällig – etwas Neues und Andres findet. Aber die Tausend müssen da sein, damit einer von ihnen das vielbegehrte Glück hat.

Du hast das Unglück gehabt, einem Menschen zu begegnen, dem es mit dieser Aneignung, Sichtung und Vermehrung der geistigen Leistungen ernst ist. Niemand weiß, ob dieser Mensch nicht schon die Gedanken und Sätze in sich trägt, die bei der Veränderung der Welt helfen werden. Vom Geistigen her geschieht diese Veränderung, eine andre Quelle, die sie selbst fassen könnten, haben die Menschen nicht gefunden. Wer aber die Welt verändern will, kann sich ihr nicht unterwerfen. Nur ein hoffnungsloser Narr lässt sich erst vom Walfisch schlucken, den er umbringen will. Man stillt seinen eigenen Hunger nicht, indem man sich einem Gefräßigeren zur Speise hinwirft. Wer die Welt verändern will, muss sie erst kennen. Hier kommt es auf die Wahrheit an, Deine Wahrheit, von der Du aber wenig weißt. Denn nicht über die Wahrheit kommt man zur Wahrheit; und der Mensch, der sich der Wahrheit nähert, ist zuvor auf tausend Lügen gegangen. Die Welt kennen, heißt nicht: sich ihr anpassen.

Du hast über die Leistungen dieses Menschen, der mit so strengem Anspruch auftritt, nichts auszusagen; denn Du kennst sie nicht und wärest auch gar nicht imstande, sie zu verarbeiten, oder gar zu beurteilen. Du hast Dir durch Deine Güte und Schönheit das Vertrauen dieses Menschen erworben. Die Folgen seines Vertrauens müssen für Dich sehr verwirrend sein; statt in ein geordnetes, übersehbares, klares Werk hast Du Einblick in den Hexenkessel einer Werkstatt bekommen; in scheinbar kindische Neigungen und Abneigungen, in sinnlose Meinungen, heftige Urteile, überflüssige Ekstasen, Verzweiflungen und Ängste, in ein Chaos, wo nichts sein eigentliches Ziel verrät, Form und Gehalt vag nebeneinander her fließen, wo der Mensch sich quält und das Werk nicht vorwärtsgeht, wo nur vom Unendlichen her ausgeholt wird und die Forderung sich wieder ins Unendliche verliert. Wie sollte Dich das nicht verwirren?

Ich habe also den Fehler begangen, über Milton (wahrscheinlich weil ich ihn zu wenig kenne) abschätzig zu urteilen oder die George Eliot (aus besseren Gründen) abzulehnen. Ich hätte solche Ansichten vor Dir gar nicht äußern sollen. Sie haben in Deinem Wertsystem überhaupt keinen Platz. Du musst die Geister verteidigen, von denen Du lernen kannst. Für Dich, wie Du heute bist, ist selbst Galsworthy ein großer Psychologe. Du bist nur ehrlich und anständig, wenn Du Dich gegen meinen abrupten Hohn wehrst. Das bedeutet aber nicht, dass Du für die Welt Recht hast. Ich muss mich entschuldigen für meine übertriebene Offenheit und Redseligkeit. Es ist schwer, so viel von den Dingen zu sagen, die man verehrt und liebt, und über alles was man ablehnt zu schweigen, besonders wenn jemand freundlich aber hartnäckig, wie Du eben bist, seinem Bekehrungseifer so gern nachgibt.

Dieser Dein Eifer ist gefährlich. Bedenke, dass Du mich allen Ernstes zur Ticket-Zwickerei bekehren wolltest. Du hast mit dem unglücklichsten Instinkt gerade den Punkt gefunden, wo Christentum und Nationalsozialismus sich berühren: Ticket-Zwicken oder Drudgery. Du hast mich damit wohl um eine Erkenntnis bereichert, aber vom Christentum, für das Du doch werben willst, wahrscheinlich für mein ganzes Leben zurückgestoßen. Denn wenn ein so guter und reiner Mensch wie Du so herzlos werden kann, wie Du es in unserm letzten Gespräch warst, so muss an der Lehre, die er vertritt – eben dem Drudgery-Christentum –, etwas nicht in Ordnung sein.

Wenn Du ein Zehntel so viel Phantasie wie Herz hättest, müsstest Du Dir sagen, dass ich zu voll bin von eigenen Drudgeries, um mir noch andere dazu zu suchen. Glaube mir, dass es keine trostlosere Drudgery gibt als das unaufhörliche, wache, beißende Bewusstsein um den Tod jedes einzelnen Menschen, den man kennt. Irgendein banaler religiöser Trost kann mir da so wenig helfen wie dem Mann, der Tickets zwickt, das Jenseits, in dem er zu zwicken aufhören wird. In diesen Gedanken seh ich meine schrecklichste Pflicht. Es dürfte doch zu Deiner Drudgery-Religion gehören, dass man dort bleibt, wo es am unangenehmsten ist. Ich bleibe bei den Toden und werde zu keinen Tickets desertieren.

Ich wundere mich, wozu Du Buddha liest und warum Du von den Maoris wissen willst. Jetzt bist Du – sagen wir – einem Maori begegnet, einem wirklichen, lebenden, und schon willst Du ihn in Deine enge Drudgery-Zivilisation einsperren. Du bedenkst nicht, dass an dieser Zivilisation, wenn Du auch in ihr aufgewachsen bist, etwas radikal Böses sein muss, sonst würde sie sich nicht in Bomben vom Himmel her zerstören. Wie wäre es z.B., wenn die Menschen durch das Ticket-Zwicken böse geworden wären? Das ist nur ein Vorschlag und noch keine Theorie.

Glaube ja nicht, dass ich Dich verspotte; es ist mir bitterer und sachlicher Ernst mit jeder Silbe dieses Briefes und ebenso ernst ist es mir auch mit den persönlichen Dingen, die ich jetzt anfüge.

Du hast mir über eines der schwersten Jahre meines Lebens hinweggeholfen, und wenn ich Dich nicht liebte – abgesehen von allem andern –, könnte ich sagen, dass ich Dir dankbar bin wie nur vier oder fünf Menschen auf der Welt. Ich nahm Deine Hilfe, weil ich dachte, dass Du mich begreifst. Jetzt weiß ich, dass alle Güte, alle Mühe, alle Geduld, alle Nachsicht aus Deinem christlichen Herzen kamen. Gerade darum bedeuten sie umso mehr für Dich – aber nicht für mich. Denn siehst Du: Ich glaube an allgemeine Liebe nur, wenn sie vollkommen persönlich wird. Liebe kann nicht vag und unverbindlich sein. Sie muss jedes Mal eine ganz bestimmte, unverwechselbare Gestalt haben. Man könnte also vielleicht sagen, dass ich Liebe für Dich habe. Du hingegen empfindest Nächstenliebe für mich.

Ich bin aber, wie Du weißt, fest entschlossen, nicht von Charity zu leben. Ich bin auch kein Parasit und will keiner werden. Drum möchte ich ein Abkommen mit Dir treffen, dass wir nie mehr über meine materielle Lage, meine Sorgen, Pläne, Schulden und Hoffnungen miteinander sprechen. Du hast Übermenschliches für mich und Veza geleistet und es ist höchste Zeit, dass wir diesen Teil unsrer Beziehung abschließen, bevor er alles Übrige und um so vieles Wichtigere vergiftet.

Nun möcht ich Dir noch eines sagen, Kae. Ich weiß sehr wohl, welches die wahren Motive zu Deiner letzten Attacke waren. Du selber kennst sie vermutlich gar nicht. Ich darf darüber nicht sprechen und ich will es auch gar nicht. Aber obwohl sie mir sehr gegenwärtig sind, muss ich mich gegen Deine Worte selbst wenden, gegen den bloßen Schein dieser Worte, hinter denen etwas viel Schöneres steckt. Deine Worte waren eng, phantasielos und Deiner unwürdig. Sie waren sogar unchristlich; denn es ist Hochmut, wenn man einen Irrtum, sei er noch so kapital, nicht einsieht und stattdessen Reue setzt, die zu nichts verpflichtet und die man nach drei Monaten einfach zurückzieht. Gegen diese Worte ist dieser Brief gerichtet, nicht gegen Dich. Denn Du bist, was Du immer warst.

Canetti

Franz: der Ethnologe Franz Baermann Steiner.

Drudgery: Schinderei.

Maori: indigene Bevölkerung Neuseelands, der Heimat von Kae Hursthouse.

An Franz Baermann Steiner

um 1942

Mittwoch

Lieber Steiner,

ich war ganz unglücklich über das »Ruthenische Dorf«, das ich nirgends finden konnte. Zufällig erzählte ich Marie-Louise davon und es stellte sich heraus, dass sie die »Acht Gedichte« vom letzten Herbst, die ich ihr einmal vorgelesen hatte, nie zurückgegeben hat; sie meinte, das sei eine Fehlleistung von ihr; und beide finden wir, dass meine Vergesslichkeit auch für Sie nichts Verletzendes enthält, denn genau dasselbe ist mir mit dem Manuskript meiner »Komödie« passiert, die ich seit Wochen vergeblich gesucht habe, auch sie war bei Marie-Louise. So schicke ich Ihnen jetzt endlich das »Dorf«. Neu aufgetaucht sind also jetzt, für den Fall, dass Sie noch etwas brauchen sollten: »Plötzliche Rast«, »Zerschnittene Nacht«, »Ankunft«, »Dein blasses Antlitz«, »Schweigsam in der Sonne«, »Nächtliche Fassung«, »Begegnung«.

Was Amersham betrifft, so kann ich Ihnen leider keine günstige Antwort geben. Sie wissen, wie gern ich Sie hier gehabt hätte. Aber Veza hat noch keine Wohnung gefunden; es ist kaum anzunehmen, dass sie in den nächsten zwei, drei Wochen etwas hat; so musste ich ihr von dem Plan Ihres Besuches erzählen, und ich tat es mit aller Vorsicht. Sie machen sich schwerlich von der Wut ihrer Reaktion einen Begriff. Dabei hat sie jetzt gar nichts gegen Sie. Sie hat einen sehr kümmerlichen Schein von Recht für sich, es ist mir gesundheitlich wieder viel schlechter gegangen. Aber in Wirklichkeit geht es ihr um ihre wütenden Kali-Passionen. Ich fühle nicht die Kraft in mir, augenblicklich, diesen furiosen Widerstand zu brechen, und ich möchte nicht wieder Ihre Ferien in Unordnung bringen. Rechnen Sie also bitte nicht mit Amersham, richten Sie sich ganz unabhängig davon ein. Ich möchte Sie, wenn es mir nicht schlechter geht, sobald Sie vom Meere zurück sind, auf ein oder eventuell zwei Tage in Oxford besuchen. Schreiben Sie mir also bitte genau, wann Sie wiederkommen und wann Sie wieder wegfahren; ich denke, die ersten Augusttage werden sich am besten dazu eignen. Sollte ich mich schlecht fühlen, so treffen wir uns besser in London, wo ich leichter über den Tag hin kann, und wo Sie selbstverständlich übernachten können. Ohnehin drängt Friedl immer darauf, dass ich Sie wieder mit ihr versöhne. Sie hat, glaube ich, ein schlechtes Gewissen, oder ist es pure Anhänglichkeit an Sie.

Bitte erwähnen Sie alle diese Dinge nicht in Ihren Briefen. Veza macht mir das Leben zur Hölle; seit einiger Zeit reißt sie »irrtümlich« meine Briefe auf; ich segne den Tag, an dem sie woanders wohnen wird. Ich will endlich allein sein, und ich will auch nicht, dass irgendwer erfährt, dass ich allein sein werde, sonst bin ich es wieder nicht. Schreiben Sie also vom Meer nur, wann Sie zurück sein werden, und was Sie sonst Schönes zu sagen haben, nur über mich nichts.

Es ist das alles traurig, aber die allgemeinen Dinge stehen so schlecht, dass man kaum mehr über etwas Privates traurig sein kann.