Über das Buch

Alma und Kristian, Camilla und Charles, Edward und Alwilda sind Jugendfreunde. Gemeinsam gehen sie jetzt durch die Phase des Lebens, die man die mittleren Jahre nennt. Herrlich schwerelos ziehen sie den Leser unmittelbar hinein in ihre Existenzen – ihre Leidenschaften, ihre Kümmernisse, ihre Sehnsüchte und Überempfindlichkeiten. Mit grandioser Beiläufigkeit und übermütiger Komik erzeugt Christina Hesselholdt dabei das Gefühl, dem Leben selbst nie näher gewesen zu sein als in den Lebensausschnitten dieser sechs Kopenhagener Freunde, die so radikal subjektiv, so befreiend offen über sich und ihre Beziehung zur Welt sprechen, über Liebe und Sex, Melancholie und Schmerz und das Glück der Freundschaft.

Christina Hesselholdt

Gefährten

Aus dem Dänischen von
Ursel Allenstein

Hanser Berlin Verlag

Inhalt

Camilla and the horse

Die Wanderung

Tiere

Nachlass

Camilla and the horse

Camilla und Charles

Camilla – und die übrigen Gefährten

Camilla – und die übrigen Gefährten

Camillas Navigationssystem

Wenn die Asche Augen hätte

Die Natur als Reihe von Versatzstücken

Das Antlitz des Mülls

Die Häuser und ihre Genie-Selbstmörder(innen)

Charles revisited

Ein Seelentheater oder Sämtliche Gefährten

Umzüge

Die Gefährten ziehen Bilanz

Die Patienten oder Camillas und Almas gemeinsame frühe Jahre

Darf ich mir diese Mutter aneignen?

Hochzeit

Die Gogo-Stange der Welt

Das Haar in der Kommodenschublade

Teilen, nicht einteilen

Die Gefährten beim Tee (rings um Charles als Leuchtturm im Bett)

Vom Pferd persönlich

Der März-Hase

Gestrandet

Allein im Paradies, mit den Gartenarbeitern und dem Herzen des Igels

Bernhards Schuhe, eine Anmerkung

Die Chefin

Der Bruder der Tierärztin

Columbia, Drei kleine Chinesen (und eine große, wilde Freude)

Bruchstücke vom Geplauder der Gefährten, im Garten

Die Marmeladenkönigin mit den klebrigen Beinen

Auf der Liste bereits geschriebener Dinge

Der Esel mit einer Stange Dynamit im Maul

Wenn sie erst mit dem Suchen anfangen

Meine beiden Hauptpersonen

An den Ufern des Regals

Camilla
and the horse

… and the blood of love welled up in my
heart with a slow pain.

Sylvia Plath

Die Wanderung

[Alma]

Als ich im Sommer durch Wordsworth’ hügelige Landschaft wanderte, wo die Schatten auf den Kuppen so dunkel und markant sind, als wären sie mit Wasser übergossen, und die Seen so tief … tauchte so plötzlich ein Düsenjäger auf, dass ich mich unwillkürlich zu Boden warf, von Furcht ergriffen. Ich hatte ihn weder gehört noch gesehen, ehe er über mir war. Er wippte mit den Flügeln, legte sich auf die Seite, und schon war er zwischen zwei Hügeln verschwunden, elegant, schnell und unerwartet, und von dem Moment an lebte und atmete ich dafür, noch einen zu sehen oder am liebsten noch viele mehr. Ich hatte Glück, denn in diesem Sommer übten britische Kampfpiloten, sich durch die Hügel im Lake District zu schlängeln, und vielleicht flogen sie weiter ins schottische Hochland, bevor sie nach Afghanistan aufbrachen; als jagende Schatten über endlosen Opiumfeldern und endlosen Gebirgszügen, »mit ihrer tödlichen Last«, wie ich mir wiederholt vorsagte, um meine Begeisterung zu dämpfen, und jeden Tag bekam ich mindestens einen oder zwei zu sehen. Ich machte mir ein paar Notizen, schrieb Folgendes: »Typhoon-Maschinen, das Erhabene, der flüchtige Augenblick, ein Wippen, furchterregender Lärm – und weg waren sie. In dieser Landschaft, wo W.W. eine Vision nach der anderen hatte, wo er, in plötzlich aufglimmender Einsicht, schaute und schaute.«

Und wie ich durch Wordsworth’ Landschaft streifte, mich seine steilen Hügel hinaufkämpfte, dachte ich mir die Düsenjets als Verkörperung seiner Inspiration; als plötzliche Einsicht, als göttlichen Funken der Erkenntnis; ein Gedanke wie ein Blitzschlag und doch voller Kraft – imstande, ein ganzes Gedicht zu tragen. Derlei Wörter würde ich sonst nie gebrauchen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass William Wordsworth sie gescheut hätte.

Viel mehr beschäftigte mich jedoch, wie mich der Anblick eines Düsenjägers derart erregen und beseelen konnte. Ich kam nicht umhin, mich zu schämen. Ich schämte mich dafür, dass ich mich an einem Phänomen erfreute, das erschaffen worden war, um Tod und Zerstörung zu verbreiten. Ich schämte mich und konnte es doch kaum erwarten, den nächsten zu sehen. Sicher spielte eine große Rolle, dass er nur so flüchtig auftauchte. Ich kam nie dazu, mich sattzusehen. Ich jagte meiner eigenen Sehbegierde nach.

Und womöglich jagte ich auch jenem Rausch der Sinne nach, den das mit sich brachte: dem Lärm, dem Schock ob seines plötzlichen Erscheinens. Ich rief mir in Erinnerung, dass diese Plötzlichkeit, die mich so faszinierte, keinen anderen Zweck hatte, als Bomben abzuwerfen und zu verschwinden, ehe auch nur jemand den Gedanken fassen konnte, den Düsenjäger abzuschießen; doch es half nichts. Ich wartete nur auf den nächsten. Und wie niedrig sie flogen! Ich hatte das Gefühl, ein Kontakt entsteht. Vielleicht hatten mich die Piloten ihrerseits auch entdeckt, und derjenige, der meinen Hechtsprung gesehen hatte, musste sicherlich lachen.

Das Wir, das es einmal gab, existiert nicht mehr. Wie ich dieses Wir geliebt habe. Wie erfüllt ich mich gefühlt habe, wie gut aufgehoben.

Mein Mann war dabei. Er ist es leid, dass ich nicht mehr »wir« sage, sondern nur noch »ich«. Aber ich vergesse, darauf zu achten, und wenn ich das nächste Mal von einer Reise erzähle, die wir gemeinsam unternommen haben, oder von einem Erlebnis, das wir teilen, höre ich mich schon wieder sagen: Ich.

Mein Mann war bei dieser Wanderung im Lake District dabei, und auch Dorothy Wordsworth ist zwischen diesen Hügeln so ausgiebig umhergewandert wie ihr Bruder William; in einigen Fällen basieren W.W.s Gedichte auf ihren Aufzeichnungen. Doch ganz gleich, ob er eine Begebenheit in ihrem Beisein bezeugt hatte oder ob sie Dorothys eigenes, einzigartiges Erlebnis war, verwendete er in seinen Gedichten stets das Personalpronomen »ich«. Beispielsweise war sie es, die zuerst die Narzissen sah (die Aberhundert Narzissen an einem Seeufer), und ihre Beschreibung wurde zur Grundlage für sein wohl berühmtestes Gedicht, I wandered lonely as a Cloud.

Dorothy schreibt: »… sowie wir dort ankamen, wurden es mehr und nochmals mehr, und am Ende, unter den Zweigen der Bäume, erkannten wir, dass sie am Ufer ein langes Band bildeten, von der Breite einer Zollstraße vielleicht. Nie zuvor hatte ich solch schöne Narzissen gesehen, sie wuchsen inmitten der bemoosten Steine, zwischen ihnen und ringsherum, einige ließen ihre müden Köpfe auf den Steinen ruhen wie auf Kissen, die anderen aber wogten und wirbelten und tanzten und machten den Anschein, als lachten sie mit dem Wind, der sie vom See her anblies, sie sahen so fröhlich aus, stets in Bewegung, stets in Veränderung.«

Ich weiß nicht, ob es dabei um Gerechtigkeit geht; eine schlichte Anerkennung des Umstands, dass mein Mann auch anwesend war; dass Dorothy anwesend war. Wie komme ich dazu, in der ersten Person Singular über ein Erlebnis zu sprechen, das ich mit ihm teilte … etwa weil ich mich währenddessen allein fühlte? Oder weil ich mich gänzlich auf die Regungen meines Bewusstseins konzentriere; wie ich etwas erlebe – beispielsweise die Düsenjäger. Allerdings warf sich auch mein Mann zu Boden.

William Wordsworth wiederum schrieb nicht allein »ich« im Narzissengedicht, er sprach seiner Schwester später gar jeglichen Einfluss auf seine Dichtung ab. Er schrieb Dorothy aus seiner Dichtung heraus.

Und als er heiratete, schnitt er sie aus seinem Herzen oder jedenfalls ihr Ihm-eine-Muse-Sein. Dazu war er gezwungen, ebenso wie zur Heirat. Die Leute tuschelten. Man denke nur daran, dass Byron ein Kind mit seiner Halbschwester zeugte. W.W. hatte die Gewohnheit, Dorothy zu umarmen und auf den Mund zu küssen, wenn sie sich draußen in der Natur begegneten; vielleicht war sie ihm entgegengegangen und wartete auf ihn. Und da kam er, endlich kam er – sie stürzte in seine Arme. Das hatte man beobachtet. Man hatte sie in den Hügeln belauert.

Er wollte seine Literatur als souveränen Entwurf eines souveränen Ichs verstanden wissen. Später distanzierte er sich auch von seiner Methode der Notizen (von der er beispielsweise im Narzissengedicht Gebrauch gemacht hatte, in diesem Fall waren es Dorothys Notizen), ja, er leugnete sogar, je auf der Grundlage von Notizen, selbst der eigenen, Gedichte verfasst zu haben. Er wollte seine Dichtung als eine ursprünglichere Praxis verstanden wissen, als etwas dem Bewusstsein unmittelbar Entsprungenes: Er zog in die Landschaft hinaus, er sah, er dachte, er schrieb – sagte er in einem berühmten Interview zu einem seiner Biographen.

Aber ich darf Dorothy nicht verharmlosen. Sie besaß eine Eigenart, die Anklänge an William verriet. Sie bediente sich zwar nicht der Worte oder Ideen anderer. (Während eine solche Aneignung in unserem Jahrhundert als selbstverständlich gilt; und hätte W.W. sein Vorgehen nicht verleugnet, hätte ich auch keine Einwände gehabt.) Aber sie bediente sich deren Kleidung. Wenn sie einen anderen Ort besuchte, für ein paar Tage oder vielleicht auch einen längeren Zeitraum, machte sie sich nicht die Mühe, für die Reise zu packen, sondern verließ sich auf die Garderobe ihrer Gastgeberin. Angeblich borgte sie sich selbst intimste Kleidungsstücke, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass die Gastgeberin ihre Unterwäsche vielleicht lieber für sich behalten hätte.

Während ich meinem Mann auf den Fersen folgte oder ihm vorauseilte (aber nie neben ihm ging, wie vermutlich William auf seinen Wanderungen mit Dorothy), sagte ich das Narzissengedicht auf und versuchte mich an einer Übersetzung:

Ich wanderte einsam wie eine Wolke

Die hoch über Hügeln und Tälern treibt

Als ich plötzlich eine Schar,

Eine Fülle goldener Narzissen sah;

Am See, im Schatten der Bäume,

Flatternd und tanzend im Wind.

So grenzenlos, wie die Sterne

Auf der Milchstraße strahlen und funkeln,

Erstreckten sie sich in endlosen Reihen

Am Ufer einer Bucht:

Zehntausende sah ich auf einen Blick,

Die Köpfe schwenkend im fröhlichen Tanz.

Auch die Wellen an ihrer Seite tanzten; sie aber

Übertrafen die glitzernden Wogen an Heiterkeit:

Ein Dichter konnte nur glücklich sein

In einer solch muntren Gesellschaft:

Ich starrte – und starrte – und dachte nur wenig daran,

Welchen Reichtum mir dieser Anblick bescherte:

Denn oft, wenn ich auf meiner Pritsche liege,

Gedankenverloren oder nachdenklich,

Blitzen sie auf vor jenem inneren Auge,

Das die Wonne der Einsamkeit ist;

Und dann wird mein Herz erfüllt von Freude

Und tanzt mit den Narzissen.

Dies war nur ein Vorschlag von mir, an jenem Tag in den Hügeln; ungereimt, prosaisch. (Übrigens stammt die Strophe »Blitzen sie auf vor jenem inneren Auge/Das die Wonne der Einsamkeit ist« von Mary Hutchinson, seiner Frau.) Drei Paar Hände hatten auf diesem Klavier gespielt; dem Narzissengedicht.

Ich hörte das Gedicht zum ersten Mal, als ich siebzehn oder achtzehn war, in einer Fernsehsendung über Wordsworth und Coleridge, einer Art dramatisiertem Dokumentarfilm; jedenfalls sah man einen Menschen delirierend durch eine Landschaft taumeln und dieses Gedicht rezitieren; es stürmte, das Gras glich einem aufgepeitschten Meer, die Wolken rasten am Himmel vorüber. Die Natur stimmte ein, als der Schauspieler, der W.W. darstellte, die Fülle der Blumen besang.

Mein Mann meint, ich hätte kein Sprachgefühl. Er meint auch, ich wüsste mich nicht zu bewegen. Als ich eines Nachts nicht schlafen konnte und mir ein Glas Wasser holte, sagte er bei meiner Rückkehr: »Dein Geschlurfe raubt mir den Schlaf.«

Ich schlurfe. Ich schlappe. Ich schlurfe & schlappe & trapse. Schlurf-schlurf-schlapp-schlapp-trap-trap.

Ich kann nicht singen, weshalb mein Mann glaubt, ich könnte die Musik nicht hören. Mit hören meint er begreifen, ein Verhältnis dazu entwickeln.

Seit Jahren singe ich nicht mehr. Ich weigere mich zu singen. Ich schlurfe um den Weihnachtsbaum herum wie ein stummes Gefäß.

Ich singe falsch. Und ich habe das Pech, es selbst zu hören. Die wenigen Male in meinem Leben, da ich einen Ton traf, sind mir als groß und unvergesslich in Erinnerung geblieben – dieses Verschmelzen, das Gefühl, nicht danebenzuliegen, sondern Teil eines Ganzen zu sein. Dann passiert etwas. Ich arbeite gerade aushilfsweise als Lehrerin, um mir neben dem Studium etwas hinzuzuverdienen. An jenem Tag bin ich in einer Kindergartenklasse. Ein kleines Mädchen muss zum Zahnarzt. Seine Eltern können nicht mitkommen. Ich werde gebeten, das Kind zu begleiten. Wir dürfen mit dem Taxi fahren, hin und zurück. Mir ist das nur recht, und das Mädchen zeigt sich auch einverstanden. Auf dem Rücksitz des Taxis ist sie sehr still.

Die Zahnarztpraxis liegt in einem Schulgebäude. Wir betreten es. Drinnen riecht es nach Schule (fremder Schule) und Zahnarzt. Das ist fast zu viel für ein Gebäude. Das Mädchen packt meine Hand oder ich die des Mädchens.

Auf dem Zahnarztstuhl weigert sich das Mädchen, den Mund zu öffnen. Die Zahnärztin spricht vom freien Willen des Menschen. Sie sagt, sie halte nie jemanden fest, zwinge nie jemandem den Mund auf. Ich sage, das klinge wie ein vernünftiger Grundsatz. Das Mädchen drückt meine Hand. Eindringlich bitte ich es, den Mund zu öffnen. Da wechselt die Zahnärztin ihre Taktik und appelliert an den Herdentrieb der Patientin. Sie erzählt, alle Klassenkameraden des Mädchens seien schon bei ihr gewesen und hätten es hinter sich gebracht. Ob sie denn nicht auch schaffen könne, was alle anderen geschafft hätten? Offenbar nicht. Der Mund bleibt geschlossen. Die Zahnärztin wird emotional und erzählt, sie sei sehr beliebt und schade niemandem, ihre eigenen Kinder hätten sie auch lieb und das wäre doch wohl nicht so, wenn sie kein netter Mensch sei? Das Mädchen macht den Mund auf und sagt: »Klar haben sie dich lieb – es sind deine Kinder.« Es hält den Mund geöffnet, und die Zahnärztin steckt ihre Finger hinein, nennt das Mädchen Schätzchen und verspricht, den ganzen langen dunklen Winter hindurch zu singen, und die Arzthelferin soll auch mitsingen, und die Lehrerin. Sie stimmen ein Lied an. Grün, grün, grün sind alle meine Kleider. Ich bleibe stumm, sie werfen mir strenge Blicke zu. Die Zahnärztin nimmt sich sogar Zeit, mich mit dem Ellbogen anzustoßen. Das Mädchen hat ein großes Loch und muss mit Lachgas betäubt werden. Man stülpt ihr ein Gerät über die Nase. Sie umklammert meine beiden Hände, ich hänge halb über ihr. Allmählich gerät sie in Panik, trotz des Gesangs. Und dann passiert es. Ich tue es. Öffne den Mund und singe. Die anderen verstummen. Ich singe Grün, grün, grün sind alle meine Kleider. Meine Stimme klingt wild und sonderbar, sie passt gut zu all den Stahlinstrumenten.

»Wer sich selbst überwindet, ist größer als jener, der Städte erobert«, sage ich zu dem Mädchen, als wir wieder im Taxi sitzen, sie mit einer Füllung, ich mit einem Solo.

Er steckt voller Verachtung. Er leidet an Ekel. Er hat keinen Humor. Er kennt keine Freundlichkeit. (Und er hat mehr als nur diese vier Fehler.)

Der Gedanke, mit ihm alt zu werden, macht mich frösteln. Wie wird er mich erst ansehen, wenn ich fünfundfünfzig oder fünfundachtzig bin und die Füße nachziehe, und zwar nicht wie jetzt aus Müdigkeit oder Verdrossenheit, sondern weil ich ganz einfach nicht mehr in der Lage bin, sie zu heben.

Vielleicht wird er aber auch altersmilde werden.

»Als ich im Sommer im Lake District wandern war …«, sage ich.

Aber er war auch dabei.

»Hüte dich vor deinem Ego!«, sagt er – und lächelt der Zuhörer wegen.

Aber wenn er sich selbst über etwas verbreitet, beschleicht mich manchmal das Gefühl, dass wir nicht dieselben Ferien verbracht haben; nicht dasselbe Leben leben; nicht dieselbe Strafe verbüßen. Wir, zwei blutleere Schatten, die sich gegenseitig die Freude am Leben aussaugen. Ich sehne mich nach einem anderen Leben; nach Freundlichkeit und einem freigiebigen Körper. Ich fühle mich, als würde ich, im Alter von fünfunddreißig Jahren, bald austrocknen, und ich befinde mich in einer Art Dämmerzustand. Ich bin handlungsunfähig. Wenn ich über die Straße gehe, träume ich insgeheim davon, dass mich jemand anfährt – ein Knall und ein Erwachen. Vielleicht sollte ich lieber davon träumen, dass mich jemand wachrüttelt.

Jeden Abend wende ich das Gesicht ab, wenn er sein Essen totkaut. Es sind seine angespannten Kiefermuskeln, die ich nicht ertrage; wie er seinen schönen Mund in einen Müllhäcksler verwandelt. Klassische Musik hört er so, wie er isst: verbissen, angespannt, die spitzen Ellbogen auf dem Tisch, die Finger wie einen Eisenring um den Kopf: Konzentration, Kadavergehorsam. Währenddessen darf ich keinen Laut von mir geben. Die Musik ist eine Kirche. »Kannst du die Musik nicht hören?«, fragt er. Mir kommen Zweifel, denn ich habe das Hören nie als Anstrengung empfunden. (Als Dorothy William dazu brachte, die Natur wahrzunehmen – was man ihr nachsagt –, geschah das ganz gewiss auf liebenswürdigere Weise.) Warum gehe ich nicht einfach meines Wegs … tue ich ja auch.

Opfer sind uninteressant, im Leben wie in der Literatur. Ich meine jene, die sich ausschließlich als Opfer begreifen oder allein als solche dargestellt werden. Und ich habe durchaus einen Stachel, ich bin nur vorübergehend betäubt. Fahrt mich an. Rüttelt mich auf. Ich schlafe und bin doch wach.

Was mein nüchterner Gatte wohl denken mag? Er ist vor allem damit beschäftigt, seine Eigenarten zu pflegen, und deshalb außerstande, als Mann in Erscheinung zu treten, ich meine: sozial, und deshalb wartet er, in seine Verschrobenheit vermummt, ja sogar stolz darauf, im Grunde nur auf den Tag, an dem es mir reicht und ich ihn verlasse.

Es gibt da einen Mann, den ich nicht vergessen kann. Hin und wieder rufe ich ihn mir in Erinnerung. Auch er war im Lake District wandern, jedenfalls hielt er sich dort auf. Er saß unter den Wolken, auf einem Dach. Ich sah ihn von unten. Er sah aus wie ein herrlicher Mann. Ich ging mit meinem weiter und wurde den Eindruck nicht los, mein Leben vergeudet zu haben.

Ist das nicht aberwitzig … nicht ein Wort haben wir gewechselt, und doch beißen sich meine Gedanken an ihm fest. Ich würde mich gern noch einmal im Leben verlieben dürfen, nur ein einziges Mal; mich vom Leben erobern lassen und den Abgrund spüren.

[Edward]

Die Kunst hat etwas an sich, was mich irritiert, das wurde mir letzten Sommer klar. Da nämlich verstand ich plötzlich, worin das Wesen der Kunst besteht.

An jenem Tag war ich müde und hatte eine kurze Runde gewählt. Ich war auf dem alten Coffin Trail von Grasmere nach Rydal gelaufen, jenem Pfad, den einst die Hinterbliebenen nahmen, wenn sie ihre Verstorbenen zum Friedhof in Grasmere bringen mussten. Unterwegs gab es mehrere flache, große Steine, die dazu gedient hatten, den Sarg darauf abzusetzen. Ich dachte an all die Anstrengungen und Mühen, die andere hier gehabt hatten, wo ich jetzt so unbeschwert, nur mit einem kleinen Rucksack auf dem Rücken, dahinspazierte.

In Rydal machte man mich in The Ramblers Tea Shop auf eine kleine Grotte an einem Wasserfall aufmerksam, die ich auf keinen Fall verpassen dürfe. Diese Grotte sei eine sogenannte »viewing station«, erzählte mir die Kellnerin, und die erste ihrer Art in England. Der natur- und kunstinteressierte Sir Daniel Fleming hatte sie nur einen Steinwurf entfernt von seinem Herrensitz Rydal Hall angelegt, Ende des 17. Jahrhunderts, das heißt zu einer Zeit, in der man gerade erst allmählich ein Gespür für Landschaft entwickelte und imstande war, die Schönheit der Natur zu schätzen.

In dieser kleinen Grotte, bezeichnen wir sie doch einfach als Haus, Bruchbude, Schuppen oder Aussichtsposten, gab es ein Fenster (ohne Scheibe), durch das man den Wasserfall betrachten konnte. Dort saß eine Künstlerin mit dem Rücken zur Tür und dem Gesicht zum Fenster; ich hätte es als Schummelei empfunden, auf das zu blicken, was sie da malte, aber was sollte es schon anderes sein als der Wasserfall. Still trat ich hinter sie und achtete sorgfältig darauf, nur aus dem Fenster zu sehen.

Das Fenster umrahmte den Wasserfall.

Die Umrahmung machte den Wasserfall zu einem Bild.

Die Umrahmung bestimmte den Blickwinkel auf den Wasserfall.

Die Umrahmung schnitt ein Rechteck aus der naturschönen Aussicht, dem romantischen Motiv, dem Wasserfall.

Sir Daniel Flemings Aussichtsposten lockte (und lockt nach wie vor) viele Touristen und Künstler an. Eine der berühmtesten Darstellungen des Wasserfalls wurde 1795 von Joseph Wright of Derby gemalt (ich erstand im Teesalon eine Postkarte davon). Auf diesem Bild gleicht das fallende Wasser Strömen weißer Farbe (oder vielleicht eher sorgfältig gekämmtem Haar mit sichtbaren Zinkenspuren), die eigentliche Wildnis der Natur findet man in den Baumstämmen neben und hinter dem Wasserfall, sie leben ihr eigenes verzerrtes, wildwüchsiges Leben. Das Wasser ist geordnet und still. Sowohl das fallende als auch jenes, das sich in dem aus Fels geformten Bassin befindet – das Wasser im Felsbassin ist weitgehend unbeeinflusst von dem Wasser, das hineinfällt.

Hinter dem Wasserfall gibt es eine kleine Brücke, einen perfekten Bogen aus Holz, den die wahnwitzigen Bäume jedoch bald bezwingen werden.

Vielleicht ist das Wasser so zahm, weil es, kaum als Motiv identifiziert, auch schon kultiviert wurde.

Schließlich ärgerte es mich so sehr, dass Sir D.F. darüber bestimmte, wie ich den Wasserfall zu sehen hatte, was davon ich überhaupt sehen sollte, dass ich nach einem kurzen Blick auf seine Perspektive das kleine Haus verließ und auf dessen Dach kletterte, um den Wasserfall so sehen zu können, wie es mir passte. Während ich wie ein Hamlet auf dem Dach saß (das mir in den Schritt stach, und später entdeckte ich auch, dass ich voller Splitter war) und die Beine rechts und links vom Dachfirst baumeln ließ, wurde mir klar, dass das Wesen der Kunst darin besteht, anderen Menschen eine bestimmte Sichtweise aufzuzwingen.

Ja, ja – ohne Blickwinkel, Motivwahl, Begrenzung, Fokussierung, Heranzoomen: kein Werk. Das ist mir durchaus bewusst.

Dass Sir D.F. dieses Stück Aussicht herausgemeißelt und mit dem Fenster gerahmt hatte … was soll ich sagen … ich begriff es plötzlich als Machtgeste; er hatte sich zum Herrn über den Blickwinkel erklärt, hatte die Aussicht beschnitten, und wie die Schafe waren Touristen und Maler herbeigeströmt (und tun es noch immer), hinein in das Haus, um hinaus zu sehen.

Zum Glück für meine Laune trat plötzlich eine junge Frau im lila Badeanzug mit guter Figur und sichtbarer Gänsehaut in meinen ungehinderten Blick. Sie balancierte empfindsam über die Steine des Felsbassins vor dem Wasserfall und musste kurz nach Luft schnappen, als sie sich hineinlegte. Mit ein paar Schwimmzügen war sie hinter den Vorhang aus Wasser gelangt. Als sie die Felswand erreichte, drehte sie sich um und starrte mich an.

Ich wollte ihr gerade winken – und was hätte das nicht alles zur Folge haben können –, als ich auch einen Mann erblickte, der wie ein schnaubender Stier am Ufer stand und mit einem Fuß scharrte. Ich kam mir ein wenig lächerlich vor, ich, Prinz Dachfirst. Ich weiß nicht, was sie dachten. Vielleicht hielten sie mich für einen Wolkengucker.

Ich saß auf dem Dach, und unter mir, im Haus, rumorte die Malerin. Mir kam der Gedanke, dass ich gewissermaßen auf ihr ritt. Das Haus war ein trojanisches Pferd: Man setze einen Mann breitbeinig auf den Dachfirst, und im Nu wird das Gebäude zu einem Pferd, und in diesem Fall beinhaltete es eine Malerin und ein Pferd mit einem menschlichen Inneren – schon klingt es trojanisch, ach so trojanisch.

Vielleicht glaubten sie auch, ich würde das Haus inspizieren, nach Schäden suchen, ich wäre ein Handwerker oder schlimmer noch: Ich wäre eines dieser sinnenfreudigen Wesen, die alles anfassen müssen – runter auf die Knie, um die welken Blätter anzufassen, rauf aufs Dach, um es zwischen den Schenkeln zu spüren.

[Kristian]

Wir bekommen beide Kopfschmerzen in unserem Zimmer, weil überall diese Duftdinger angebracht sind; ich habe Angst vor einem Hirnschaden, und deshalb leben wir bei geöffnetem Fenster, in ständigem Zug, zu Almas großem Unmut, und tatsächlich ist sie auch ziemlich erkältet; ich muss immerzu an einen Fernfahrer denken, den ich in den Nachrichten gesehen habe, er hatte diese Duftdinger in seiner Fahrerkabine verteilt, in der er einen Großteil seines Lebens verbrachte, und musste dann in den Vorruhestand gehen, ein kleines Plastikskelett am Rückspiegel ist also viel gesünder, es sei denn, man lutscht daran oder befummelt es ständig.

Natürlich hängt ein Duftdings in der Kloschüssel, wo es einen auch nicht weiter wundert, und hat zwei Funktionen, das Wasser lila zu färben und unangenehme Gerüche zu vertreiben; doch auch in der Duschkabine schlägt einem synthetischer Mief entgegen, sodass man gar nicht erst dazu kommt, sich selbst zu riechen, ehe man das Wasser aufdreht und das Problem im Abfluss verschwindet. Dasselbe im Kleiderschrank und auf dem Schuhregal – ferner liegt in jeder einzelnen Kommodenschublade eines dieser kleinen giftigen Dinger. Heute habe ich sogar eins über dem Bett entdeckt! Da fällt mir etwas ein. In meinem ökologischen Haarsalon hörte ich einen männlichen Friseur etwas zu einem männlichen Kunden sagen, während er einen Duft vorführte, indem er ihn in der Luft versprühte … vom Kunden befragt, bei welcher Gelegenheit man diesen Duft verwenden solle, antwortete der Friseur: »Na, zum Beispiel, wenn der Herr morgens im Bett liegt und vögelt.«

Es wurde mucksmäuschenstill im Salon. Ich vermute, sämtliche Anwesende, die Kunden, Friseure und der Junge für alles beziehungsweise fürs Haarewegfegen, glaubten, sie hätten sich verhört. Und ich sah ein Paar beim Liebesakt vor mir, das ständig mit ein paar Spritzern die Atmosphäre über sich auffrischte, vor allem die südlichen Regionen, wie manche Leute sagen. Meine eigene Friseurin erstarrte kurz mit der Schere in der Luft, ehe sie sich hastig in irgendein Geplapper über Perücken stürzte – »in der Renaissance«, sagte sie, »verwendete man Bleiweiß für Gesicht und Haar, und das führte zu großen, offenen Wunden, die nicht mehr verheilten, und die Haare fielen aus, also waren nicht mehr viele Leute mit Haaren übrig, als dann die Zeit des Barocks kam, und man erfand die Perücke. Die Perücken der Armen wurden aus Filz hergestellt und glichen wohl eher Hüten als Haaren.«

Und sie zwang mich, mir diese armen Haarlosen vorzustellen, wie sie sich mit großen Wunden quer durch die Epochen schleppten, bis sie, mehrere hundert Jahre alt, endlich erlöst ins Perückenzeitalter eintreten konnten.

Unsere Zimmerwirtin hat ein Faible für Limetten- und Erdbeerduft. Sie sieht selbst ziemlich synthetisch aus und duftet intensiv, ebenfalls nach diesen Duftdingern, die sie wahrscheinlich auch an unterschiedlichen Stellen unter ihrer Kleidung deponiert hat. Sie lispelt ein wenig, weil sie eines davon in ihrer Backentasche versteckt hat wie einen Tabakpriem, sie würde Krebs immer schlechtem Atem vorziehen. Mit all dieser Unnatur konfrontiert … überraschte es mich wirklich, als sie erzählte, dass sie jeden Abend eine Art Dachs-Show in ihrer Einfahrt veranstaltete, für ihre Pensionsgäste; unter ihrem Rhododendron (einem sehr üppigen, ausgreifenden Exemplar) wohnte eine ganze Dachsfamilie, und jeden Abend gegen 23 Uhr fütterte die Wirtin sie mit Frühstücksresten; Bacon, Eiern und gebratenen Würstchen, »wahrscheinlich sind es die einzigen Dachse in England mit einem zu hohen Cholesterinspiegel«, sagte sie, und ich hörte genau, dass sie diesen Satz nicht zum ersten Mal sagte. Und kaum hatte sie ihn ausgesprochen, hörte ich mich denselben Satz wie ein Echo (ziemlich irritierend; sagt mal: Wo bleibt hier der Witz?) in einer Nacherzählung dieser Episode wiederholen, und ich sah Alma vor mir, wie sie wegsah – das erfordert nicht viel Phantasie, sie tut es oft.

Am selben Abend nahmen wir auf den Klappstühlen Platz, ein paar grelle Scheinwerfer wurden eingeschaltet, sodass die Einfahrt plötzlich in ein Licht getaucht wurde, das einem Gefängnishof oder Lager alle Ehre gemacht hätte, und die Wirtin trat in einem rosa Hausanzug hinaus und erteilte letzte Anweisungen: »Sie sind fast blind«, sagte sie, »wenn Sie also vollkommen still sitzen bleiben, kommen sie ganz nah heran. Aber bei der kleinsten Bewegung …«, sie machte eine jähe Bewegung in der Luft. Verlust, Verschwinden, wupps, weg. Anschließend verstreute sie großzügig Essensreste in der Einfahrt und zog sich in ihr Duftschloss zurück.

Schon einen Augenblick später streckte ein Tier den Kopf aus dem Rhododendron. Und kurz darauf kam das gedrungene, korpulente, lauthals schnaufende Wesen mit schlangenartigen Bewegungen zum Vorschein und näherte sich, die Nase dicht am Boden, ganz in der Gewalt dieser Nase, bereit, für die Leckerbissen zu sterben (ich spürte einen Stich des Neids; ich sehnte mich nach etwas, für das es sich zu sterben lohnte). Es zermalmte ein paar Kotelettknochen, und ich musste natürlich daran denken, wie man früher, als es in den Wäldern nur so von Dachsen wimmelte, seine Stiefel mit Koks füllte, wenn man auf die Jagd ging, weil Dachse ihren Biss erst lockern, wenn sie die Knochen knacken hören.

Seine Nase führte das Tier zum nächsten Bissen, es kam bis zu meinem Stuhlbein, wo ein Stück Bratkartoffel lag, und ich schielte nervös zu meinem Fuß in Sandale hinab. Der Dachs schmatzte und schnaufte. Dann hörte er etwas! Und fegte los! Die Luft war erfüllt mit Galopp und aneinanderklatschenden Körperteilen. Es klang, wie wenn eine fette, nackte Frau läuft. Wenn die eigene Frau anfängt, morgens ihre Kleidung mit ins Bad zu nehmen und abends ihr Nachthemd, um den Blicken beim Umziehen zu entgehen, liegt etwas im Argen. Alma ist nicht fett, ganz im Gegenteil. Unsere Badewanne hier oben im Zimmer hat eine Whirlpool-Funktion, ob man sie in die Wellen locken könnte? Wohl kaum.

Sie sitzt da und betrachtet die Katze, denn so etwas besitzt die rosa Dame ebenfalls. Und die Katze betrachtet Alma. Alma gibt kleine Lockrufe in diesem besonderen katzenhaften Tonfall von sich, einer Mischung aus Fauchen und einem tiefen, zärtlichen Laut, wie man sie schon im Kindesalter Katzen gegenüber zu gebrauchen lernt. Und das Tier schnurrt und reibt sich an der Mülltonne, Almas Geräusche sind genug, sie braucht es nicht einmal anzufassen, schon gibt es sich ihr hin. Die Katze positioniert sich in ihrer Nähe, vor der Tür.

Unser Pensionswirt trifft ein, parkt und will hinein – zum rosafarbenen Engel des Hauses, der den ganzen Tag über mit dem Staubwedel in der Hand umherwirbelt. Er grüßt, eine sehr männliche Erscheinung, Tweed und Pfeife. Bestimmt wartet ein Pie im Ofen. Während er isst, wird sie ihre Pantoffeln abstreifen und ihre gesalbten Füße in seinen Schritt legen. Er wird das Messer beiseitelegen, kauen und währenddessen ein bisschen in ihre süßen Zehen kneifen. Ich verzehre mich nach einem ähnlichen Idyll. Wie Marzipan.

Die Katze wird gestört. Sie muss Platz machen, sonst kommt der Herr des Hauses nicht hinein. Beleidigt sieht sie ihm nach. Sie betrachtet sich nicht als seine Katze. Er ist längst im Haus verschwunden. Nichts zu machen. Niemand mehr da zum Klagen.

[Alma]

Wollte man zur Zeit der Lake-Dichter nicht die gute Seele im Hause sein, war man gezwungen, sich ins Bett zu begeben, Krankheiten gab es genug und keine anderen Kuren dagegen als Opium und Brandy. Dort konnte man dann liegen und sich vertiefen, in die Lektüre, ins Übersetzen, in Opiumgespinste; man konnte schreiben, während sich andere um Kinder und Verwandte kümmerten, um Hausherr, Hausarbeit, Höflichkeitsbesuche, Abendgesellschaften und Kirchgang. Darf ich eine atemlose Sarah Coleridge vorstellen:

»Um neun versammelten wir alle uns beim Frühstück – S., seine Frau und die beiden ältesten Töchter, ich und Sara, alle waren guter Dinge bis auf die Dame des Hauses, die derzeit viel klagt (Mrs Lovell nimmt ihr Frühstück immer allein im Klassenzimmer ein & Hartley allein in seiner Studierkammer). Eine Nachricht erreicht uns – Sir G. & Ly. B lassen grüßen und hoffen, die ganze Gesellschaft inklusive der beiden jungen Damen bei sich zum Abendessen zu sehen. Wir versprechen zu kommen – fort fliegen die beiden Cousinen, um den Birnbaum zu schütteln, ehe sie sich zum Kirchgang umziehen – einen Augenblick später erscheint Edith, atemlos – ›Tante Coleridge, Sara hat etwas vom Baum und in ihr Auge geschüttelt & sie weiß nicht ein noch aus vor Schmerz.‹ Nachdem sie das Auge gespült & gejammert hat & fast eine Stunde lang die Dummheit der armen Verletzten missbilligt hat, klopft S. an die Tür, mit allen Kindern, bereit zum Kirchgang, bis auf eines. Wo ist Kate? ›Sie hat schreckliche Kopfschmerzen, sie kann nicht in die Kirche gehen, ihre Mutter bleibt zu Hause, um ihr James’-Pulver zu geben, deshalb hoffe ich, Sara geht es besser & ihr seid beide parat für die Kirche.‹ Sara war zu blind, um zu gehen. Aber ich machte mich in aller Hast zurecht und erreichte die Kirche genau in dem Moment, als das letzte Lied gesungen wurde, fand unsere Kirchenbank besetzt vor, war gezwungen, eine andere zu finden & die Kollekte begann, aber ich hatte meine Geldbörse zu Hause vergessen & da saß ich nun zwischen Fremden und fühlte mich dämlich … als wir nach Hause kamen, hatte Kate hohes Fieber; Mama sehr unglücklich, die arme Tante Lovell auf dem Sofa in ihrer allerschlimmsten Gemütslage & als ich ins Schlafzimmer trat, war es verdunkelt und Sara in Tränen gebadet … Wir schickten nach dem Arzt, der mit einem Kamelhaarpinsel versuchte, das Augenlid zu reinigen, es jedoch nur noch schlimmer machte; ein Rezept für Kate ausstellte, die ins Bett gelegt wurde, und Sara legte sich voller Verzweiflung auch wieder hin & ich saß auf der Bettkante und las … ich hatte mich gerade bereitgemacht, um die Nacht über bei ihr zu bleiben … da kommt das Mädchen – Ma’am, da stehen zwei Herren, die Sie treffen wollen, es sind Freunde von Mr Coleridge – ›seien Sie so gut und suchen Sie Hartley, ich habe fast nichts am Leib‹, ›Mr Hartley ist gerade ins Wirtshaus gegangen‹ … Nun denn, nachdem ich eine ganze Stunde mit den Herren verbracht hatte, gelang es mir, sie wieder wegzuschicken, ohne sie zum Abendessen eingeladen zu haben, wofür ich von S. zurechtgewiesen wurde, der es nicht gewagt hatte, sie einzuladen, weil er sich nicht sicher gewesen war, ob wir etwas im Haus hatten, um es ihnen anzubieten …«

Mit einer Begabung, die sich messen konnte mit dem Drang nach Vertiefung und Ruhe ihres berühmten Vaters und mit einer ähnlich ausgeprägten Opiumsucht legte sich Sara Coleridge (ohne h; die Tochter von Sarah und Samuel) häufig aufs Sofa oder stieg manchmal auf Reisen einfach aus der Kutsche, und unter dem Vorwand, ihre Gesundheit sei geschwächt (es stand allerdings auch wirklich schlimm um sie), logierte sie sich über Wochen in einer Pension ein, wo sie so lange schrieb, bis ihr Mann, nachdem er sie zunächst in unzähligen Briefen nach Hause zu locken versucht hatte, persönlich erschien und sie heimführte. Vielleicht schrieb sie bei einer solchen Gelegenheit das Mohngedicht, das später eigentümlicherweise und ungeachtet der Proteste ihrer Familie in einem Buch mit Lehrreimen für Kinder erschien, welches sie verfasst hatte:

The Poppies Blooming all around

My Herbert loves to see,

Some pearly white, some dark as night,

Some red as cramasie;

He loves their colours fresh and fine

As fair as fair may be,

But little does my darling know

How good they are to me.

He views their clustering petals gay

And shakes their nut-brown seeds.

But they to him are nothing more

Than other brilliant weeds;

O how should’st thou with beaming brow

With eyes and cheek so bright

Know aught of that blossom’s pow’r,

Or sorrows of the night!

When poor mama long restless lies

She drinks the poppy’s juice;

That liquor soon can close her eyes

And slumber soft produce.

O’ then my sweet my happy boy

Will thank the poppy flow’r

Which brings the sleep to dear mama

At midnight’s darksome hour.

Wieder muss ich prosaisches Wesen mich damit begnügen, eine ungereimte Übersetzung von mir wiederzugeben, die nicht vermag, diesen magnetischen, schwarzen Sog des Originals in der Brust auszulösen, als würde man durch Algen hindurch auf den Meeresgrund starren. Darf ich vorschlagen, das »Mama« mit zwei tiefen, gutturalen A auszusprechen, das entspräche noch mehr einem: Hört her, entspringt diese Stimme nicht einem tiefen Brunnen, einer lebenslangen Gefangenschaft mit krankhafter Bindung zum Wächter, einem Überhaupt-nicht-frei-sein-Wollen, wenn du zwanzig Jahre später ins Licht blinzelst und die knochige Mutterhand dir einen Stoß versetzt und mit einem Knall die Tür hinter dir zuschlägt.

Die Mohnblumen überall in Blüte

Mein Herbert liebt es, sie anzusehen

Einige perlweiß, andere dunkel wie die Nacht

Einige rot wie Karmesin;

Er liebt ihre feinen und frischen Farben

So schön, wie etwas schön sein kann

Doch mein Schatz weiß nichts davon

Wie gut sie für mich sind.

Er sieht ihre muntere Blätterschar

Und schüttelt die nussbraunen Samen.

Doch sie bedeuten ihm nicht mehr

Als jedes andere schöne Gewächs;

Oh, wie solltest du mit deinen strahlenden Brauen

Mit Augen und Wangen so klar

Etwas über die Kraft dieser Blume wissen,

Über die Sorgen der Nacht!

Wenn die arme Mama lange wach liegt

Trinkt sie den Saft des Mohns;

Dieser Trunk kann ihr schnell die Augen schließen

Und sanften Schlaf ihr bringen.

Oh, dann würde mein süßer, mein fröhlicher Junge

Der Mohnblume danken,

Die seiner lieben Mama Schlaf bringt

In der dunklen Mitternachtsstunde.

Wir verließen den reichen, fruchtbaren Lake District, all die Schönheit, die Hügel und die glitzernden Seen, die sehnigen Wanderer mit ihren silberbeschlagenen Wanderstöcken und langen Schritten, und fuhren durch Discount-England; an jeder Haltestelle wurde der Bus schwerer, 150-Kilo-Teenie-Mütter stiegen zu, gefolgt von übergewichtigen Kleinkindern mit Kurzhaarfrisuren, starr von Gel.

Kristian hat sich seine weißen Shorts hinten mit Teer verschmiert. Er hat versucht, das Schlimmste mit etwas Küchenrolle abzuwischen, aber natürlich ist der Zellstoff am Teer klebengeblieben. Jetzt läuft er also mit einem großen, dunklen Fleck auf dem Hintern herum, an dem weiße Fetzen kleben, was natürlich sehr unglücklich aussieht. Aber er läuft unbeirrt weiter. Ich fühle mich wie ein pubertierendes Kind, das sich für seine Eltern schämt. Ich habe die eitle Hoffnung, die Leute könnten glauben, wir würden nicht zusammengehören, wenn ich mich nur ein paar Meter vor oder hinter ihm halte. Sobald er sitzt, bin ich froh. Ich lehne meinen Kopf an die Scheibe im Bus, und es ist, als würde eine Landschaft mit heftiger Geschwindigkeit in mein linkes Auge hineinlaufen, durch mich hindurch und aus dem Hinterkopf wieder hinaus.

Hände haben sie von unten gepackt und ins Wanken gebracht: Die Grabsteine sind schief, sie neigen sich in alle Richtungen. Sie sollten in geraden Reihen stehen, sind aber wild und zahnartig, vielleicht könnten riesige Spangen sie richten. Der Friedhof liegt im Dorf Haworth, wir! (ich lerne es allmählich) müssen ihn überqueren, um den Pfad zur Heide zu finden. Wir überqueren ihn am Morgen, und am Nachmittag überqueren wir ihn erneut.

»Also« steht zwischen den Namen der Familienmitglieder, auch sie, auch er, auch sie, und auf einem Stein lesen wir: »also or enough!«, wieder ein Kind verloren, vielleicht ist es ein an Gott gerichtetes Ausrufezeichen: Jetzt ist es genug! Eine ganze Familie begraben zu haben – wie ziellos muss man dann selbst umhergehen und warten, vielleicht mit der Locke eines der Lieben in einem Medaillon um den Hals, um eine Locke des eigenen Haares gewickelt. Im 19. Jahrhundert war man von abgeschnittenen Locken besessen. Im Brontë-Museum kann man in einer Vitrine das Haar von Vater Brontë und einer der Töchter sehen, vereint in einem kleinen, offenen Ding. Ob jemand das Medaillon zwischendurch geöffnet und seine Nase in dieses kleine Grab zu dem Lockengeflecht gesteckt hat? Eine Locke für jeden Verstorbenen, mit der Zeit kann das zu viel werden, so viel Liebe, und ach, so trocken!, auf so engem Raum. Der letzte Überlebende eines Geschlechts spazierte dann mit einem ganzen Miniaturfriedhof um den Hals herum.

Ich erinnere mich an eine ganze Wand, lebendig von Haaren, es war in der Türkei, in einem Gebiet mit Höhlen, wo die ersten Christen versteckt gelebt hatten, eine der Höhlen war wie eine Bar eingerichtet, und die Wand war mit Strähnen weiblicher Haare verkleidet, dicke Schichten aus Haar, die man am liebsten getätschelt hätte, und von jeder Locke baumelte ein Zettel mit dem Namen der Besitzerin. Ein eifriger Türke lief mit einer Schere hinter Alwilda und mir her, aber ich glaube, wir beugten uns nicht. Oder neigten wir unsere Häupter am Ende doch zu diesem kleinen Mann herab? Und kurz darauf stiegen zwei amputierte, skandinavische Riesinnen verärgert in den wartenden Bus.

In der Kirche, wo Reverend Brontë unter Aufbietung all seiner Kräfte predigte, nachdem er seine Frau verloren hatte und im Laufe der Jahre auch seine sechs Kinder – Emily starb auf einem Sofa, ich stand hinter der Absperrung im Brontë-Museum und sah das Sofa an und versuchte, Emilys den Quellen nach kurze und kräftige Gestalt heraufzubeschwören, die möglicherweise durch die Tuberkulose ätherisch geworden war, einen Körper, den der Husten geschliffen hatte, aber das Sofa blieb leer –, in dieser Kirche also treffen wir einen Mann, der arm dran ist. Er verletzt meinen persönlichen Luftraum, der wie bei allen Menschen einen knappen Meter umfasst, kommt mit seinem Gesicht ganz nah an meines heran und fragt, wie ich zum gekreuzigten Herrn Jesus stehe. Ich sage, dass ich getauft sei und deshalb wohl seinem Reich angehören dürfte, viel mehr aber auch nicht.

»Wie stehen Sie denn zu ihm?«

»Ich leide unter heftigen Wutausbrüchen, na ja, eigentlich sollte ich das jetzt gar nicht erzählen.«

»Tun Sie es ruhig«, sagte ich.

»Ich könnte diese Kirche binnen zehn Minuten kurz und klein hacken.«

Ich spähte zum Ausgang hinüber, ich weiß gar nicht, wie ich so weit in diesen tiefen Raum gelangen konnte, jetzt bewegte ich mich langsam rückwärts.

»Deshalb versuche ich zu glauben«, brüllte er. »Glauben, glauben, glauben«, echote der Raum, »und das hat mir sehr geholfen«, flüsterte er.

Sein Gesicht klebte an meinem – während der Operation Exit. Leb wohl, Zorn, leb wohl, Gebrüll; es ist immer Unglück und Erleichterung zugleich, einen so schwierigen Menschen zurückzulassen, wie viele habe ich, um nur einmal mich als Beispiel zu nehmen, schon hinter mir gelassen, Obdachlose, hungrige Kinder mit blitzschnellen Bewegungen in der Dritten Welt, you name it, und immer nimmt man ein wenig vom Unglück mit: Kummer und Reue. Den Unglücklichen aber lässt man sitzen.

Herrje, all die Menschen, die ich mir unter den Arm hätte klemmen sollen, um mit ihnen davonzuspazieren, aber wo sollte ich sie aufbewahren, lebensgroße Menschen.

[Kristian]

Haworth ist ein dunkler Ort, aus dunklen Steinen erbaut oder aus Steinen, die mit der Zeit nachgedunkelt sind, seine Straßen sind schmal. Viele Häuserfassaden sind mit Blumen geschmückt, ganzen Orgien von Blumen, vor allem blaue und rote, die man unter dem Begriff Altweiberblumen zusammenfassen könnte: Blütenblätter wie Ohrläppchen, die mit der Zeit groß und schlaff geworden sind, in so kreischenden Farben, dass selbst schlechte Augen sie erfassen können; in Töpfen, die von der Fassade herabbaumeln und vor der Mauer stehen, jedes Haus ein ganzer Blumenladen. Unser Pensionswirt ist Engländer und die Wirtin Französin; als wir eintrafen, kam sie uns mit offenen Armen entgegen, und sie bonjourte und setzte zur Wangenküsserei an; irgendwie stand mein Mund zu weit offen, oder sie drehte den Kopf zu schnell: Anstatt einen Kuss in die Luft neben ihrer Wange zu platzieren, bekam ich ihr Ohr in den Mund. Es schmeckte nach Pfeffer. Und bevor sie es wieder zu sich gezogen hatte, sah ich in einem Gedankenblitz die Herzogin aus Alice im Wunderland vor mir, wie sie in einem riesigen Topf rührte.

Unsere Pension liegt direkt neben dem Friedhof. Man überquert den Friedhof, öffnet eine Pforte, folgt einige Hundert Meter einem schmalen, dunklen Pfad, öffnet ein ziemlich schiefes Tor, und dann steht man auf der Heide. Haworth Moor. Das Abenteuer breitet sich vor einem aus. Uns geht es immer noch erbärmlich zusammen, und wieder durchwandern wir die Gegend einer starken Liebe: Catherines und Heathcliffs. Ihre Liebe war genauso unmöglich wie die von Dorothy und William, aus der wir sozusagen kommen. Und unsere eigene ist auch völlig unmöglich. Wenngleich aus anderen Gründen, aber die verstehe ich nicht. Wenn ich mit der Hand über Almas Körper streiche, schaudert sie und sagt, es würde kitzeln. Sie schiebt meine Hand nicht weg, bringt sie jedoch zum Stillstand, indem sie ihre Hand darauflegt. Das erinnert eher an ein Begräbnis als an eine Liebkosung.

Heute haben wir Top Withens besucht, ein Gebäude, das Emily Brontë zu dem sturmumtosten Haus Wuthering Heights inspiriert haben soll, jetzt eine Ruine.

Die Heide. Über uns kreisen Sperber. Die Heide ist weiß von Wollgras. An feuchten Stellen wächst Farn. Er kann krebserregend sein. Und ich trage kurze Hosen. Das Wetter verändert sich unablässig. Die Sonne scheint. Dann beginnt es plötzlich zu regnen. Der Regen peitscht einem ins Gesicht, und der Wind ist stark. Wir schlüpfen in unsere Wollpullover. Kurz darauf ziehen wir sie wieder aus. Gestern hat Alma ein Paar lange Kniestrümpfe aus Wolle gekauft. In einem Spezialgeschäft (Regionalwolle) im Ort. Wir kamen mit dem Inhaber ins Gespräch. Er wollte gern weg aus England. Wegen der Art und Weise, wie man die Ausländer behandelt. Er wollte gern nach Frankreich ziehen. Alma bemerkte, das Klima für Zugereiste (hatte nicht auch die Königin in ihrer letzten Neujahrsrede dieses Wort gebraucht? Ein ausgesucht neutrales Wort, ein richtiges Königinnenwort; aber womöglich so neutral, dass es keine Präzision besitzt) sei auch in Dänemark ziemlich rau geworden. Er sah uns verständnislos an. »Nein, nein!« Er wolle gern heim zu Le Pen. Le Pen wisse, was zu tun sei. Nur wenige Tage zuvor hatte ich in einem Artikel in The Independent von den gefängnisähnlichen Zuständen gelesen, unter denen Asylsuchende in England ihr Dasein fristen mussten; von einer Afrikanerin, die man in Handschellen ihr Kind zur Welt bringen ließ, damit sie den Krankenhausaufenthalt nicht zum Anlass nahm, zu verschwinden und sich der illegalen Menge anzuschließen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Alma die Strümpfe schon bezahlt. Sonst wären wir ohne gegangen. Jetzt benutzen wir Almas lange Rassistenstrümpfe als Schal. Ein Strumpf für jeden, das Fußteil schlenkert auf der Brust umher, Alma wagt ein Grinsen, die Lächerlichkeit vereint uns. So kalt ist es.

Auf dem Weg nach Top Withens durchquerten wir ein ganz und gar hinreißendes Tal, in dem es den Brontë-Schwestern zu sitzen beliebte. Steile Felswände. Ein Wasserfall. Eine Furt mit Steinen: eine Einladung zu purer Freude. Ich zog die Schuhe aus und hüpfte von Stein zu Stein. Derweil ging Alma über die Brontë-Brücke und wieder zurück und setzte sich für einen Moment auf den Brontë-Stuhl (ebenfalls ein Stein).

»Hier möchte ich noch mal hinkommen«, sagte Alma, und dann gingen wir weiter.

Als wir schwitzend und atemlos bei der Ruine anlangten, wurden wir sofort umringt von Heideschafen, graubraun und frischgeschoren. Sie scharten sich um uns. Bei einem von ihnen baumelte eine große Geschwulst vom Kinn herab. Vielleicht wegen der Farne.

Wuthering Heights