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Andreas Rieck

Nimm’s leicht!

In 3 Schritten zu mehr Gelassenheit

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1. Auflage 2018

Für die Texte der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift,

Umschlaggestaltung: Franziska Barczyk, Toronto/New York

www.caminobuch.de

ISBN 978-3-96157-021-8

Auch als E-Book erhältlich unter

Inhalt

Nimm’s leicht! – Zum Einstieg

Im Strategiequartier

Was stört mich im Moment?

Welchen Wolf in mir füttere ich?

In drei Schritten zu mehr Gelassenheit

Rettungsanker im Alltag

Learning by living

Die 20 Bewerbungen

Das ungespülte Geschirr

Die globale Umweltverschmutzung

Herumliegende Kleidungsstücke

Exkurs: Das innere Team

Wohin mit der Wut?

Exkurs: Gut mit Wut

Mitgefühl statt Mitleid

Exkurs: Veränderungsschwierigkeiten

Wie Sie höflich Nein sagen können

Humor hilft!

Exkurs: Ich bin dankbar für…

Das Kreuz mit der Schwiegermutter

Die schwierige Kollegin

Die Chemotherapie

Er macht seine Hausaufgaben nicht!

Selbstläufer

Zu guter Letzt – es wirkt!

Quellen

Dank

Zum Autor

Nimm’s leicht! – Zum Einstieg

Ich erinnere mich an eine Seminarsituation mit Mitarbeiterinnen der Verwaltung. Ich stelle die Frage in den Raum: „Worüber ärgern Sie sich?“. Eine Teilnehmerin meldet sich zu Wort und erzählt, sichtlich verärgert: „Ich ärgere mich immer noch über eine Situation beim Sommerfest, als ich zusammen mit einem neuen und jungen Kollegen Brötchen mit Butter beschmiere. Da sagt der zu mir, ich soll weniger Butter nehmen. Das muss man sich mal vorstellen. Jetzt bin ich über fünfzig Jahre alt und dieser Jungspund denkt, er muss mir sagen, wie man Butterbrötchen schmiert.“ Ich frage, ob die anderen sich in die Situation hineinversetzen können. Alle Anwesenden können sich in die Situation einfühlen. So dreht es sich eine ganze Zeit lang um die Situation mit dem Brötchen und wir kommen an Themen wie: Warum bringt mich diese Aussage auf die Palme? Welche Gedanken, Gefühle und weitere Konsequenzen hat das, was ich gehört habe für mich? Wie kann ich damit umgehen? usw. Da es nie die Situation an sich ist, die uns beschäftigt, sondern die Bedeutung, die wir dieser geben, taugt selbst so ein vergleichbar kleines Ärgernis gut, um daran zu üben. Als ich zu der Mitarbeiterin sage: „Jetzt versuchen wir es leicht zu nehmen!“ antwortet sie prompt: „Du bist lustig! Wenn das so einfach wäre!“

Nimm’s leicht! – Dieser Titel kann durchaus innere Widerstände hervorrufen. Wenn wir uns in einer Situation befinden, mit der wir uns schwer tun, dann hilft der gut gemeint Ratschlag: „Jetzt nimm es doch einfach leicht!“ einer Freundin oder eines Freundes in der Regel nicht weiter. Eher kommt uns dann in den Sinn: „Ach, lass mich doch in Ruhe!“

Daher möchte ich den Titel Nimm’s leicht! nicht als Appell oder Aufforderung verstehen, sondern als Zusage:

Nimm’s leicht!, weil jede noch so kleine Situation uns zum Wachsen einlädt. Natürlich kann man einwenden: „Wegen einem Brötchen solch einen Terz machen! Gibt es nichts Bedeutenderes?“ Es geht nie um die Sache, sondern immer um die Bedeutung, die wir dieser beimessen. Deshalb ist jede noch so kleine Störung eine Einladung des Lebens, tiefer zu blicken. Wir müssen nicht gleich die großen Belastungen heranziehen, um freier zu werden, sondern können an den alltäglichen Herausforderungen üben und daran wachsen.

Nimm’s leicht!, weil wir in jeder Situation einen Spielraum haben, den wir entdecken und gestalten können. Dies ist eine Zusage, die den Horizont offen hält und Raum zum Aufatmen schenken kann.

Nimm’s leicht!, weil es um Bewusstheit geht und nicht um Leistung. Wenn wir uns dessen bewusst werden und erkennen, dass wir in einer Situation einen Kampf gegen Windmühlen führen, den wir nur verlieren können.

Nimms leicht!, weil wir uns vielleicht einen Schuh angezogen haben, der gar nicht unserer ist. Wenn wir (ungefragt) Verantwortung für etwas übernommen haben, das wir getrost auch anderen überlassen können, dann wird es leichter.

Nimm’s leicht!, weil wir nicht alleine unterwegs sind! Die schönsten Momente in Seminaren sind für mich immer diejenigen, in denen jemand seine Erleichterung darüber zum Ausdruck bringt, dass es den Anderen genauso geht. So eine Situation, wie oben beschrieben, kennt jeder – in abgewandelter Form. Wir denken vielleicht, mit uns würde etwas nicht stimmen – dabei geht es Anderen ähnlich. Diese Erkenntnis kann sehr viel von dem Druck nehmen, den wir uns selbst machen.

Nimm’s leicht!, schließlich deshalb, weil das Leben freundlich ist. Vielleicht denken Sie jetzt: „Was soll denn der Quatsch!“ Natürlich empfindet man es nicht als freundlich, wenn man einen Schicksalsschlag zu verdauen hat. Darauf zu hoffen und daran zu glauben, dass das Leben freundlich ist, bedeutet, optimistisch zu bleiben und den Horizont offen zu halten. Darauf zu vertrauen, dass das, was jetzt im Moment aussichtslos erscheint, am Ende vielleicht zum Segen werden kann.

Am Ende des Seminars ist die Atmosphäre eine andere. Das geflügelte Wort des Seminars lautet: „Jetzt nimm doch einfach weniger Butter!“ Das hilft der Mitarbeiterin, der geschilderten Situation die Schwere zu nehmen und jetzt sogar darüber lachen zu können.

Ich habe mehrmals wöchentlich Seminargruppen in ganz verschiedenen Kontexten meiner Tätigkeit als Resilienztrainer, bei denen ich zu Beginn immer dieselbe Frage stelle:

Was stört oder belastet Sie?

Die Antworten auf diese Frage fallen so bunt und kreativ aus, wie das Leben ist. Es können mal schwere Krisen sein, die jemand in der Runde ansprechen möchte. Manchmal sind es aber auch die kleinen alltäglichen Ärgernisse oder Herausforderungen, die zur Sprache kommen.

Immer häufiger sind es auch globale Themen, die von den Teilnehmern der unterschiedlichen Seminare angesprochen werden. Viele sind besorgt angesichts der aktuellen (welt-)politischen Lage und angesichts der globalen Herausforderungen, wie zum Beispiel der Umweltverschmutzung und des Terrorismus. Aufgrund der Tatsache, dass diese Entwicklungen mittels der Medien unmittelbar in unser Leben hineinwirken, sind wir heute vielleicht so stark wie nie zuvor herausgefordert, uns abzugrenzen und unseren eigenen Spielraum zu schützen, damit das Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit in uns nicht überhandnimmt.

In den folgenden Kapiteln möchte ich Ihnen einen einfachen und knackigen Ansatz vorstellen, der aus der Praxis entstanden und auch für das alltägliche Leben gedacht ist. Die Geschichten haben sich so oder so ähnlich in Seminaren und Coachings ereignet. Die Namen habe ich aus Schutz vor den Teilnehmer*innen geändert. Mein Ziel ist es, Ihnen ein konkretes Hilfsmittel an die Hand zu geben, mit dem Sie sich besser kennenlernen und Ihre persönliche Widerstandskraft (Resilienz) stärken können.

Nach den einführenden Kapiteln, in denen ich die Methodik ausführlich erläutere, folgen die weiteren Kapitel, in denen diese anhand konkreter Beispiele vertieft wird.

In drei Schritten können Sie jede Situation, die als Belastung empfunden wird, analysieren und mal kreativ neugierig, mal aus der Not geboren den eigenen Spielraum entdecken und gestalten.

Die Kapitel folgen in der Regel einer festen Struktur.

imageWir gehen immer aus von konkreten belastenden Situationen, die erläutert werden.

imageAnschließend schauen wir, in welchem Spielraum wir uns befinden und welche Folgen die Situation hat: Welche Gedanken, Gefühle und sonstige Konsequenzen sich daraus ergeben.

imageSchließlich stellt sich in jeder Situation jeweils neu die Frage:

1.Was kann ich ändern? (Change it!)

2.Was kann ich bejahen, annehmen oder gar lieben? (Love it!)

3.Wo gönne ich mir die (innere) Freiheit, und verlasse die Situation? (Leave it!)

Und nun lade ich Sie ein, teilzunehmen am Seminar! Nehmen Sie Platz. Lesen Sie, und versetzen Sie sich in die Situation der Teilnehmer. Vielleicht erkennen Sie sich wieder.

Letztlich wünsche ich Ihnen aber auch den Mut, die Dinge zu ändern, die sich ändern lassen. Ich wünsche Ihnen Gelassenheit, um die Dinge annehmen zu können, die Sie nicht ändern können und ich wünsche Ihnen die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

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Was stört mich im Moment?

Zwei Mönche waren auf der Wanderschaft. Eines Tages kamen sie an einen Fluss. Dort stand eine junge Frau mit wunderschönen Kleidern. Offenbar wollte sie über den Fluss, doch da das Wasser sehr tief war, konnte sie den Fluss nicht durchqueren, ohne ihre Kleider zu beschädigen.

Ohne zu zögern ging der ältere Mönch auf die Frau zu, hob sie auf seine Schultern und watete mit ihr durch das Wasser. Auf der anderen Flussseite setzte er sie trocken ab.

Nachdem der jüngere Mönch auch durch den Fluss gewatet war, setzten die beiden ihre Wanderung fort.

Nach etwa einer Stunde fing der eine Mönch an, den anderen zu kritisieren: „Du weißt schon, dass das, was du getan hast, nicht richtig war, nicht wahr? Du weißt, wir dürfen keinen nahen Kontakt mit Frauen haben. Wie konntest du nur gegen diese Regel verstoßen?”

Der Mönch, der die Frau durch den Fluss getragen hatte, hörte sich die Vorwürfe des anderen ruhig an. Dann antwortete er: „Weißt du, was der Unterschied zwischen mir und dir ist? Ich habe die Frau vor einer Stunde am Fluss abgesetzt – warum trägst du sie immer noch mit dir herum?”

(frei nacherzählt, The Wisdom of the Zen Masters)

Es gibt immer wieder Situationen im Leben, in denen es uns so ähnlich gehen mag wie dem jungen Mönch: etwas geht uns in Gedanken nach, beschäftigt uns und bindet Energie. Man kann sich ja bildhaft vorstellen, wie es in dem jungen Mönch gearbeitet hat und wie viel Energie er aufbringen musste, bis er schließlich den Mut hatte, seine Gedanken auszusprechen und den älteren Mönch zu kritisieren.

Im Laufe des Lebens können es viele Situationen sein – kleinere und größere – die wir nicht dort lassen, wo sie hingehören, sondern mit uns herumtragen und die den emotionalen Ballast mit der Zeit vergrößern.

Ich lade Sie nun ein, für sich zu prüfen, welchen Ballast Sie aktuell spüren. Alles, was Ihnen in den Sinn kommt, dürfen Sie nun aufschreiben. Alleine das kann schon eine Erleichterung darstellen. Denn das Unbestimmte und Unbenannte wird benannt und damit verliert es vielleicht einen Teil seiner Schwere.

Gibt es eine konkrete Situation, die Sie stört, über die Sie sich ärgern oder die einen gewissen Leidensdruck in Ihnen auslöst?

Wir befinden uns in einem Seminar mit dem Titel „Nimm`s leicht!“ Ich stelle die Frage in die Runde: „Gibt es eine konkrete Situation, die dich stört, über die du dich ärgerst oder die einen gewissen Leidensdruck in dir auslöst?“

Als erste meldet sich Raphaela: „Mich ärgert aktuell eine Situation. Wir haben seit Kurzem einen neuen Nachbarn“, erzählt sie. „Es war von vornherein klar, dass es schwierig mit ihm werden wird. Deutlich wurde es aber dann bei der Gestaltung seines Gartens. Wir selbst haben einen Naturgarten. Alles darf wachsen. Es tut mir gut, wenn die Natur sich entfalten kann. Unser Nachbar dagegen hat sich ganz viele schwarze Basalt-Steine in den Garten gelegt. Und nun haben wir mitbekommen, dass er sich eine Sauna in den Garten stellen möchte. Und zwar direkt an die Grenze zu unserem Garten. Stellt euch das mal vor! Als ich das gehört habe, da bin ich fast ausgetickt. So eine Sauna direkt neben uns. Die Vorstellung, dass der nackt durch den Garten rennt, während wir auf der Terrasse sitzen… Also nein! Außerdem nimmt sie uns das Licht der Abendsonne. Ich weiß ja, dass das jetzt blöde klingt und dass es gewiss schlimmere Dinge im Leben gibt. Aber dennoch beschäftigt mich dies sehr.“ Ich bestätige sie: „Es ist nicht die Tatsache an sich, sondern immer die Bedeutung, die wir dieser geben, die das Leiden verursacht. Und außerdem lässt sich anhand von kleineren Übeln leichter lernen.“

Wenn wir uns über etwas aufregen, dann deshalb, weil wir der Überzeugung sind, es nicht ändern zu können. Das, was wir ändern können, nimmt uns den Leidensdruck und führt uns wieder in einen inneren Zustand des Wohlbefindens. Wenn Sie beispielsweise frösteln und in der Lage sind, das Fenster zu schließen und die Heizung aufzudrehen, so dass Ihnen wollig warm wird, dann ist alles wieder in bester Ordnung. In dem Moment, in dem wir jedoch der Überzeugung sind, irgendjemand sollte die Heizung aufdrehen, damit es mir wieder gut geht, beginnt unter Umständen der innere Kampf: „Warum macht denn niemand etwas gegen die Kälte hier im Raum?“

Der erste Reflex, wenn uns etwas stört, besteht darin: „Was stört, muss weg!“

Die drei Spielräume: Welche Gefühle füttere ich?

Wenn wir auf unser tägliches Leben blicken, dann sind wir immer in Beziehung mit drei Einflussbereichen oder Spielräumen: wir sind in Beziehung mit uns selbst, mit anderen Menschen und – ganz allgemein – mit der Welt oder der Realität, die uns umgibt. Störungen, die wir erleben, haben mit einer der drei Beziehungsdimensionen zu tun. Wenn uns etwas stört – an uns selbst, an einer anderen Person oder am Leben, so wie es sich zeigt – dann ist es hilfreich, zu unterscheiden zwischen dem, von dem ich sagen kann, das ist…

image„Mein“ Spielraum

image„Dein“ Spielraum (der einer anderen Person) und

imageDas „Leben“ oder der Spielraum „Gottes“. Wir Schwaben sagen manchmal: „So isch`s Leben“ und meinen damit all das, was weder ich selbst noch ein anderer Mensch verändern kann: Die Wirklichkeit, die gegenwärtige Realität oder je nachdem auch das „System“.

Befinden wir uns mit Überzeugungen gedanklich im Spielraum oder in den Angelegenheiten einer anderen Person oder dem des Lebens, so sind wir nicht mehr bei uns und vernachlässigen somit uns selbst und unsere eigenen Angelegenheiten. Dadurch kann viel Stress entstehen. Die Gewohnheit, sich in die Angelegenheiten anderer einzumischen ist sehr weit verbreitet und rührt bspw. aus der Sorge um den Anderen oder daher, dass uns gar nicht bewusst ist, was unsere Angelegenheit ist und was nicht.

Doch das hat Konsequenzen: Sorgen und ein (leichtes) Gefühl des Unwohlseins dürften für die meisten von uns regelmäßige Begleiter im Alltag sein. Dieses Unbehagen ist oft nicht stark genug, dass wir es beachten würden: wir haben uns daran gewöhnt. Dabei summiert sich das zu einer beachtlichen inneren Energieverschwendung, wenn wir einfach wegschauen und hoffen, dass „es“ – was immer es gerade auch sein mag – sich von selber löst. Doch oft genug bleiben diese inneren Energieräuber in uns aktiv: wir tragen sie mit uns und schwächen uns selbst.

Es wird Zeit, diese Energiefresser zu erkennen und unser Innerstes zu reinigen!

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„Mein“ Spielraum

Als ich mich wirklich selbst zu lieben begann, habe ich mich geweigert, immer weiter in der Vergangenheit zu leben und mich um meine Zukunft zu sorgen.

Jetzt lebe ich nur mehr in diesem Augenblick, wo alles stattfindet. So lebe ich jeden Tag und nenne es Vollkommenheit!

(Charlie Chaplin)

Mein Spielraum oder meine Angelegenheit ist mein Leben. Dazu gehörten meine Gedanken, Gefühle und mein Verhalten. Wie ich mich selbst behandle und wie ich andere behandle – all das ist meine Angelegenheit.

Wenn ich mich in meinen Angelegenheiten befinde, dann sitze ich am Steuer und kann mein Leben führen. Jede Herausforderung, die ich bestehe und jedes Ziel, das ich aus eigenen Mitteln erreiche, verdeutlicht mir, dass ich mich in meinem Spielraum oder in meiner Angelegenheit befinde.

Ich erinnere mich an die ersten Schritte meines ältesten Sohnes: Er stand auf seinen Wackelbeinen am Sofa und hielt sich daran fest. Dann visierte er den Wohnzimmertisch an und lies los. Seine ersten drei Schritte gelangen und er kam an, ohne hinzufallen. Der Kleine platzte schier vor Begeisterung und Stolz. Sofort ging sein Blick umher, um zu prüfen, ob ihn jemand dabei gesehen hatte, mit dem er die Begeisterung teilen kann. Später dann legte er los mit dem Laufrad, dann mit dem Fahrrad. Eines Tages wird es der Zug sein, dann das Auto und irgendwann auch das Flugzeug, mit dem er seinen äußeren Spielraum erobert und vergrößert. Sich Ziele zu stecken, die selbstverantwortlich erreicht werden können, vergrößert den persönlichen Spielraum und stärkt das Selbstwertgefühl.

Das gilt vor allem auch für die ungeliebten Momente im Leben. Wenn wir vor Herausforderungen stehen und erkennen, dass wir diesen nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern einen äußeren Spielraum haben und etwas ändern können oder über einen „inneren“ Spielraum verfügen und die Haltung zu den Dingen ändern können, dann wächst das Gefühl von Selbstbestimmung im Laufe der Zeit stetig an. Die Konsequenz aus solchen Erfahrungen: wir suchen zunehmend Wege, um mit den Herausforderungen umzugehen, anstatt uns selbst zu bemitleiden.

Je mehr wir uns also in unserem eigenen Spielraum befinden, desto selbstwirksamer erleben wir uns, was dazu führt, dass Seele und Geist gestärkt werden.

Bin ich egoistisch, wenn ich mich um meine Angelegenheiten kümmere?

Als ich mich wirklich selbst zu lieben begann, habe ich mich von allem befreit, was nicht gesund für mich war, von Speisen, Menschen, Dingen, Situationen und von allem, das mich immer wieder hinunterzog, weg von mir selbst. (Charlie Chaplin)

Zu Beginn der Auseinandersetzung mit dem eigenen Spielraum werden die Beziehungen im sozialen Umfeld bisweilen belastet und der bisherige Umgang miteinander in Frage gestellt. Der erste Schritt bedeutet Abgrenzung. Wer beginnt, ein Bewusstsein zu entwickeln für den Ursprung des eigenen Leidens und erkennt, welches die eigenen Angelegenheiten sind, der ändert sein Auftreten in bestimmten Situationen. Sich dann nicht mehr – aus einer inneren Not heraus – um jeden und alles zu kümmern, sondern selbstverantwortlich Grenzen zu setzen, kann im Umfeld zu Unruhe und Unverständnis führen. Es kann sich die Frage aufdrängen: Wo bleibt die soziale Komponente, wenn jeder sich um seine Angelegenheit kümmert? Wird hier nicht ein Individualismus recht eigener und elitärer Art geprägt?

Anfangs nannte ich das gesunden Egoismus, aber heute weiß ich, das ist Selbstliebe! (Charlie Chaplin)

In meiner Angelegenheit ist nicht gleichbedeutend damit, sich innerlich abzuschotten und gleichgültig zu werden gegenüber Anderen und gegenüber dem Leben.

Selbstverständlich sind der bloße Rückzug und Abgrenzung jedoch nicht das Ende der Entwicklung. Es handelt sich dabei um den ersten und notwendigen Schritt auf dem Weg zu einer neuen, freieren und selbstbestimmteren Identität und zu mehr Ehrlichkeit im Umgang miteinander.

Menschen, die es geschafft haben, diverse „Schuhe“ auszuziehen, die nicht ihre eigenen sind und die sich nicht mehr so stark in fremde Angelegenheiten einmischen, können auf tiefere und intensivere Weise auf Menschen zugehen, haben die Fähigkeit, Gemeinschaft zu stiften und die Kraft, Ideen umzusetzen. Wenn wir diesen Schritt der Abgrenzung gegangen sind und uns dann um andere kümmern, geschieht dies aus einer selbstbestimmten und bewussten Freiheit heraus. Dann geschieht es, dass jemand zu dem freien Entschluss kommen kann, sich um die alte Nachbarin zu kümmern, die nicht mehr selbst einkaufen gehen kann oder die Wäsche für die Familie zu waschen. Eben nicht, weil man der „Depp vom Dienst“ ist, sondern aus innerer Zustimmung. So, wie der ältere Mönch in der Eingangsgeschichte, der der Frau hilft und mit sich im Reinen ist.

Beispiele für „Meine“ Angelegenheit:

imageWas ich fühle

imageWas ich sage

imageWas ich denke

imageWas ich mache und was nicht

imageWas ich mag und was nicht

imageZu sagen, was mich stört und was ich mir wünsche

imageWas mir wichtig ist (meine Werte)

imageMeine Bedürfnisse

imageDer Umgang mit mir und anderen

imageZu akzeptieren, was ich nicht ändern kann

imageEinen Schussstrich zu ziehen und etwas zu beenden

imageWoran ich glaube

imageVerantwortung zu übernehmen für mein Handeln, mein Nichthandeln, meine Fehler und mein Leben

„Dein“ Spielraum

Ich finde es nicht gut, was du tust. Aber ich respektiere es und anerkenne, dass es deine Angelegenheit ist.

Wenn wir denken: „Du sollst uns nicht den schönen Ausblick mit deiner Sauna verbauen! Du sollst mich in Ruhe lassen.“ Oder auch: „Du sollst nicht leiden! Du sollst glücklich sein! Du solltest dich besser um dich kümmern! Du solltest nicht nörgeln! Du solltest mich lieb haben!“, dann befinden wir uns gedanklich im Spielraum einer anderen Person.

In familiären – aber auch in kollegialen – Beziehungen kann es besonders schnell vorkommen, dass wir uns in die Angelegenheiten der Anderen einmischen und uns darin verstricken. „Du sollst es gut haben. Ich will, dass es dir gut geht und dass du nicht leiden musst!“ Diese Einstellung führt schnell dazu, dass wir uns gedanklich im Spielraum des Anderen bewegen und überlegen, was wir tun können, damit es dem Anderen besser geht. Wie selbstverständlich erwarten wir dann ein „Danke!“ dafür. Der Satz „Ich habe es doch nur gut gemeint!“ kommt uns dann über die Lippen, wenn der Andere sich nicht bedankt, sondern die ungefragte Hilfe als Grenzüberschreitung wahrgenommen hat und sich dagegen wehrt.

Die Einmischung in fremde Angelegenheiten kann auch dann schnell geschehen, wenn wir ein Idealbild von uns und von unseren Beziehungen haben. Unsere eigene Biographie sowie gesellschaftliche und religiöse Leitbilder etc. vermitteln uns klare Vorstellungen, wie der Chef, die Kollegin, Partner oder das Kind „sein sollte“. Fällt jemand aus dem Rahmen unseres Bildes, so kann es sein, dass die Einmischung nicht lange auf sich warten lässt und wir dem Anderen signalisieren: „Das gehört sich nicht!“ Wir mischen uns gedanklich oder verbal in das Leben des Anderen ein und bevormunden den Anderen: „Du hättest das nicht tun dürfen!“

Es ist jedoch nicht meine Angelegenheit, was jemand tut oder denkt:

imageMein Kollege kann mich nicht leiden? – sein Spielraum oder seine Angelegenheit!

imageIch fühle mich deshalb schlecht? – mein Spielraum oder meine Angelegenheit.

imageWie ich mit meinen Gefühlen umgehe und welche Konsequenz ich daraus ziehe? – mein Spielraum oder meine Angelegenheit.

Es liegt ebenso im Spielraum des Anderen, ob er viel arbeitet oder wenig, ob er seine Sachen aufräumt oder Alkohol trinkt. Die Liste ließe sich nach Belieben erweitern. Ganz egal, worum es geht: Was der Andere denkt und tut, ist voll und ganz seine Angelegenheit, Freiheit und auch Verantwortung! Was das Verhalten des Anderen in mir auslöst und wie ich darauf reagiere, das hingegen ist meine Angelegenheit und Verantwortung.