Mami – 1932 – Wenn wir dich nicht hätten!

Mami
– 1932–

Wenn wir dich nicht hätten!

Angela ist der rettende Engel

Anna Sonngarten

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-153-7

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Angela versuchte sich Gehör zu verschaffen, was angesichts des Geräuschpegels um sie herum fast unmöglich war. Die Herbstferien hatten begonnen, und seit zwei Tagen regnete es ununterbrochen. Kein Wunder, daß das Hallenbad von lärmenden Kindern bevölkert war und Angela Mühe hatte, ihren Baby-Schwimmkurs in gewohnter Ruhe zu leiten. Die hübsche blonde Frau mit den lebhaften blauen Augen stand bis zur Taille im Wasser inmitten einer Gruppe von etwa zehn Müttern, die den Erläuterungen der sympathischen Sportstudentin aufmerksam folgten. Gerade zeigte sie einer jungen Mutter, wie sie ihren zehn Monate alten Sonnenschein zu halten hatte, damit das Kind Vertrauen zum Element Wasser bekam. Sie hielt das Kind mit geübtem Griff und zog es durch das Becken, so daß der kleine Kerl vor Vergnügen quietschte und wild mit seinen kleinen Speckbeinchen strampelte. Dabei lachte er Angela an und schien sagen zu wollen: »Das gefällt mir, bei dir bleibe ich.« Nach einer Runde durch das Becken, das auf Badewannentemperatur erwärmt war, lieferte Angela das Kind wieder bei seiner Mutter ab.

»Ihr Kind hat großen Spaß am Wasser. Es ist eine Freude mit ihm. Haben Sie sehen können, wie ich es gemacht habe?«

»Ja, ich glaube schon«, antwortete die junge Mutter und versuchte, ihr Kind genauso zu halten, wie sie es bei Angela gesehen hatte.

Angela zeigte daraufhin einer weiteren Mutter, die auch das erste Mal dabei war, wie sie vorzugehen hatte.

»Zum Schluß singen wir noch unser Abschiedslied«, rief Angela laut und dachte, daß sie heute abend bestimmt heiser sein würde, denn von Singen konnte jetzt beim besten Willen nicht die Rede sein. Sie würde den Liedtext schreien müssen. Glücklicherweise war das für heute ihre letzte Gruppe. Normalerweise schwamm Angela nach ihren Kursen noch einige Bahnen, aber das konnte sie heute vergessen. Das Schwimmbecken war so überfüllt, daß an Schwimmen nicht zu denken war. Also stieg sie aus dem Wasser und steuerte auf die Umkleidekabinen zu.

»Angela, Telefon für dich!« rief ihr plötzlich ein Bademeister zu und winkte sie heran. Angela war erstaunt. Wer um alles in der Welt rief sie hier im Hallenbad an? Es mußte etwas Dringendes sein, und leicht beunruhigt nahm sie den Hörer entgegen.

»Angela Neumann.«

»Hallo, Angela, ich bin’s, Vera«, erklang die ungewohnt matte Stimme ihrer Schwester am anderen Ende der Leitung.

»Was ist los? Du klingst ja ganz… schrecklich?« Angela war mit einem Mal sehr beunruhigt.

»Ich kann es dir nicht sagen… ich fühle mich ganz elend…«

»Ich bin in fünf Minuten bei dir. Leg dich hin… ich werde nicht klingeln, ich habe ja deinen Schlüssel.« Angela legte sofort auf und lief Richtung Umkleidekabine. Sie zog ihre Jeans einfach über den noch feuchten Badeanzug, schlüpfte in die Schuhe und stopfte rasch alles übrige in ihre Sporttasche. Während sie bereits Richtung Ausgang lief, zog sie einen Pulli über. Vom Hallenbad aus waren es glücklicherweise nur wenige Minuten zu Fuß zu ihrer Schwester. Angela dachte angestrengt nach. Was um Himmels willen mochte ihre Schwester haben? Vera war kein Mensch, der schnell klagte. Es mußte etwas Schwerwiegendes sein. Angela fiel ein, daß sich ihre Schwester in letzter Zeit häufig nicht wohl gefühlt hatte. Natürlich war sie deshalb nicht zum Arzt gegangen. Es wird schon wieder werden, war ihre Devise. Vera hat einfach zu viel um die Ohren, dachte Angela. Drei Kinder und einen Mann, der ständig auf Dienstreise ist. Angela hatte manchmal den Eindruck, als hätte ihre Schwester einfach aufgehört, sich um sich selbst zu sorgen, weil sie in ständiger Sorge um ihre Kinder war. Die drei waren auch nicht ohne. Lebhaft ist noch geschmeichelt, dachte Angela, die bereits auf das Haus ihrer Schwester zueilte und im Laufschritt den Schlüssel aus ihrer Tasche kramte. Merkwürdigerweise hörte sie Veras Rasselbande jetzt gar nicht, obwohl die drei zu Hause sein mußten. Es waren schließlich Ferien. Als Angela die Tür zum Wohnzimmer öffnete, sah sie ihre Schwester auf der Couch liegen. Angela erschrak. Vera war kreidebleich. Sie hatte die Augen geschlossen. Die Kinder saßen mucksmäuschenstill neben ihrer Mutter und schauten ihre Tante mit großen Augen an.

»Tante Angela, Gott sei Dank bist du da!« Philipp, der mit seinen acht Jahren der älteste der drei war, kam angelaufen. Tina, die Sechsjährige, begann zu weinen. Nur Charlotte, die mit ihren vier Jahren die jüngste war,

schien nicht recht zu begreifen, was vor sich ging. Sie spielte still mit ihrer Puppe und sagte, als sie Angela sah:

»Meine Puppe ist krank, Tante Angela.«

Angela griff nach der Hand der Schwester und tastete nach deren Puls. Er war schnell und flach. Auf Veras Stirn hatten sich feine Schweißperlen gebildet, und sie atmete unruhig und angestrengt. Ihre dunklen Ponyfransen klebten ihr an der Stirn. Sie hatte offensichtlich Fieber.

»Kannst du mich hören, Vera?«

Vera öffnete nicht die Augen, aber sie nickte kaum merklich.

»Hol mir rasch das Telefon, Philipp!« sagte Angela. Sie versuchte, ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie fühlte, wie eine Welle von Panik sich in ihrem Inneren ausbreitete. Die Kinder dürfen nicht merken, daß du dir Sorgen machst, sagte sie sich und war bemüht, ein Zittern ihrer Hand zu unterdrücken, als sie die Nummer 112 wählte.

*

Der Krankenwagen war binnen weniger Minuten zur Stelle. Doch wie sollte man weiter vorgehen? Angela wollte bei Vera bleiben, doch wohin mit den verängstigten Kindern, die dem ganzen Geschehen aufmerksam folgten, aber nicht recht begriffen, was eigentlich los war. Es hatte keinen Sinn. Zuerst mußte sie sich um die Kinder kümmern und hoffen, daß Vera im Krankenhaus in gute Hände geriet. Wenn sie eine Lösung gefunden hätte, würde sie sofort ins Krankenhaus fahren. Sie informierte den Notarzt und die Sanitäter über das wenige, was sie wußte.

»Meine Schwester hat sich seit längerem nicht wohl gefühlt. Sie rief mich vor einer knappen halben Stunde an…«

»Mama konnte auf einmal nichts mehr sehen«, mischte sich Philipp ein, und Tina nickte bestätigend.

Der Notarzt machte seine Notizen. Er sah ernst aus und sagte nicht viel.

»Ich werde mit Ihrer Schwester jetzt auf die Intensivstation des Marien-Hospitals fahren. Zur Diagnose kann ich Ihnen jetzt noch keine Angaben machen. Melden Sie sich in etwa einer Stunde mal. Dann werden wir sicher Genaueres wissen.«

Daß ihre Mutter einfach auf einer Trage mitgenommen wurde, war für die Kinder ein schwerer Schock. Angela mühte sich nach Kräften, die Sache als halb so schlimm darzustellen, was ihr wohl auch ganz gut gelang. Vielleicht, weil Angela sich selbst einreden wollte, daß es um Vera nicht so schlimm stand, wie es zunächst aussah. Als der Krankenwagen außer Sichtweite war, fragte Angela:

»Sag mal, Philipp, ihr seid doch auch schon einmal bei eurer Nachbarin, der Frau Kruse, nicht wahr?«

»Ja, bei Jan und Sören. Mit denen spielen wir oft.«

»Dann rufe ich da mal an. Wann kommt Papa denn nach Hause?«

»Ich weiß nicht«, antwortete der Junge.

»Papa kommt am Wochenende nicht. Der ist doch in New York, Philipp«, berichtigte Tina ihren großen Bruder.

»Ach ja, hatte ich ganz vergessen«, stimmte Philipp Tina zu.

»In New York, ich verstehe.« Angela stöhnte innerlich auf. Sie mochte ihren Schwager Ingo, aber manchmal hatte sie das Gefühl, daß der gute Ingo ein Workaholic war und darüber vergaß, daß er Frau und Kinder hatte. Und die Kinder ihrerseits schienen ihren Vater manchmal zu vergessen, weil sie ihn so selten zu Gesicht bekamen.

Angela nahm erneut den Hörer in die Hand, nachdem sie in Veras Adreßbuch die Nummer der Nachbarin gefunden hatte.

»Kruse«, meldete sich die Nachbarin.

»Hallo, Frau Kruse. Angela Neumann, die Schwester von Vera hier. Frau Kruse, wir haben ein Problem…« Angela erzählte Frau Kruse, was vorgefallen war.

»Keine Frage. Natürlich können Sie die Kinder vorbei bringen. Allerdings muß ich heute abend zu einer Elternratssitzung. Dann kommt meine Mutter, um auf die Kinder aufzupassen… Sie verstehen, daß ich meiner Mutter keine fünf Kinder zumuten kann.«

»Natürlich, Frau Kruse, bis dahin muß ich eine andere Lösung gefunden haben«, antwortete Angela, die glücklich war, schon einmal für den Nachmittag jemanden gefunden zu haben, der die Kinder beaufsichtigte. Philipp und Tina, die das Gespräch mit angehört hatten, fragten dann auch sogleich: »Und was ist mit heute abend? Müssen wir allein bleiben? Wir waren noch nie allein zu Hause«, fügte Tina hinzu und sah ihre Tante groß an. Angela strich dem dunkelhaarigen Mädchen mit den großen braunen Augen übers Haar.

»Nein, natürlich nicht. Ich werde dann wohl hier schlafen«, sagte Angela mehr zu sich selbst, denn bis dahin hatte sie sich selbst noch nicht klargemacht, daß dies die einzige Möglichkeit sein würde, wenn Ingo in New York ist. Mit dieser Aussicht schienen zumindestens die beiden Großen einverstanden zu sein. Doch Angela fiel plötzlich ein, daß sie mit ihrem Freund Georg an einem Survival-Wochenende hatte teilnehmen wollen. Ein Wochenende mit Rucksack und Zelt ohne Geld und Proviant im Taunus. Das Survival-Training sollte in einer Gruppe von sechs Teilnehmern stattfinden und von einem erfahrenen Führer geleitet werden. Na, da wird wohl nichts draus werden, dachte Angela, und während sie dafür sorgte, daß die Kinder Schuhe und Jacken anzogen, überlegte sie, wie Georg die Nachricht wohl aufnehmen würde. Insgeheim hoffte sie, daß er vielleicht ebenfalls auf das Wochenende verzichten und ihr mit den Kindern helfen würde, denn mittlerweile war Angela klar: Sie würde zumindest dieses Wochenende für die Kinder ihrer Schwester da sein müssen. Hoffentlich meldete sich Ingo aus New York. Angela wollte ihm die Hölle heiß machen, wenn er sich nicht sofort in den nächsten Flieger setzte, um hierher zu seiner Frau zu eilen. Angela schob die Kinder zur Tür hinaus und ging mit ihnen hinüber zu Frau Kruse. Sie kannte Veras Nachbarin nicht und war erleichtert, als ihr eine sympathische rundliche Frau mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht die Tür öffnete und die Kinder herzlich begrüßte. Sie nahm die kleine blonde Charlotte gleich auf den Arm.

»Hallo, meine kleine Maus. Kommst du mich besuchen?«

»Ja, weil die Mama auf einer Trage weggebracht wurde«, sagte die Kleine wichtig.

»Ich habe schon gehört. Die Mama ist krank. Na, dann kommt erst einmal herein.« An Angela gerichtet fragte Frau Kruse: »Haben die Kinder schon zu Mittag gegessen?«

Angela schaute Frau Kruse peinlich berührt an und blickte instinktiv auf ihre Uhr. Es war fast vierzehn Uhr.

»Tut mir leid, daran habe ich überhaupt nicht gedacht.«

Frau Kruse lächelte nachsichtig.

»Kein Wunder bei der Aufregung. Ich hab’ noch etwas von heute mittag übrig. Wollen Sie auch noch etwas essen, oder möchten Sie gleich los?«

»Ehrlich gesagt, ich bin ziemlich nervös wegen meiner Schwester.«

»Ich verstehe. Also, gegen neunzehn Uhr müßten Sie die Kinder wieder abholen. Es sei denn… na ja, malen wir nicht gleich den Teufel an die Wand…« Frau Kruse machte eine Handbewegung, als wollte sie die Möglichkeit einer weiteren Komplikation wegwischen. Angela ging nicht weiter darauf ein. Sie machte sich schon selbst Sorgen genug und wollte so schnell wie möglich erfahren, was mit Vera los war. Sie verabschiedete sich noch kurz von den Kindern, die bereits mit Jan und Sören zu spielen begonnen hatten und machte sich auf den Weg zum Krankenhaus.

*

Dr. Wolfgang Humboldt besprach mit seinem Assistenzarzt Dr. Robert Michels den Fall Vera Hollender.