Honigmann & Breuer

 

 

Honigmann & Breuer

 

Teil 1: Land zwischen den Linien

 

 

Robert Friedrich von Cube

 

 

Buch & Autor

 

Privatdozent Simon Honigmann kehrt kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem Exil nach Deutschland zurück, um seine Forschungen an übernatürlichen Phänomenen fortzusetzen. Doch der Mann, auf dessen Hilfe er baut – ein gewisser Dr. Breuer – ist mindestens so unberechenbar wie der Alltag in den Trümmern des besiegten Landes. Die Zusammenarbeit gestaltet sich schwierig, doch irgendjemand muss sich schließlich um all die herrenlosen Seelen kümmern, die seit dem Krieg nach neuen Menschenkörpern suchen ...

 

Robert Friedrich von Cube ist Psychiater, Phlegmatiker und Phantast. Er schreibt mit dem Herzen, den Fingern und mit Scrivener.

Seine Geschichten spielen in fremden Sphären, fernen Zeiten und in den Herzen und Köpfen von Menschen mit Herz oder Köpfchen.

Neben Fantasy schreibt er auch Witze für das Satiremagazin Titanic und Artikel für Blogs wie Die Ruhrbarone oder Die Prinzessinnenreporter. Einen Podcast zu abseitiger Musik betreibt er obendrein.

Impressum

 

Originalausgabe | © 2020

Verlag in Farbe und Bunt

Am Bokholt 9 | 24251 Osdorf

www.ifub-verlag.de / www.ifubshop.com

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Alle Rechte liegen beim Verlag.

 

Herausgeber: Björn Sülter

Lektorat & Korrektorat: Lisa Reim

Cover-Gestaltung: E. M. Cedes

E-Book-Erstellung: E. M. Cedes

 

ISBN: 978-3-95936-118-7 (Ebook)

ISBN: 978-3-95936-190-3 (Print)

Vorwort

 

Mein Vater schrieb zeit seines Lebens. Ob er Tagebuch führte, Protokolle seiner wissenschaftlichen Studien anfertigte oder versuchte, seine Abenteuer nachträglich zusammenzufassen – stets hielt Privatdozent Simon Honigmann Dinge fest und zwar meistens mit einem viel zu kurzen Bleistift in viel zu kleinen Notizbüchern. Hunderte dieser Journale finden sich in seinem Nachlass.

Es liegt eine akribische Kleinarbeit hinter mir und oft genug schien die kleine, akkurate Schrift vor meinen Augen zu verschwimmen, wenn ich wieder einmal acht, neun oder zehn Stunden mit diesen Notizen verbracht hatte. Ich habe alles transkribiert, sortiert, eingeordnet und nachrecherchiert. Um eine möglichst gute Lesbarkeit und Kontingenz zu erreichen, habe ich mir die Freiheit genommen, alle Fragmente in eine chronologische Reihenfolge zu bringen, so dass der Leser eine fortlaufende Geschichte präsentiert bekommt, ungeachtet des Entstehungszeitpunktes der Texte.

Abgesehen von der Anordnung habe ich auch hier und da stilistische Eingriffe vorgenommen. Neben der Verbesserung von Flüchtigkeitsfehlern habe ich die Zeitform angepasst und gelegentlich Sätze umgestellt oder Überleitungen ergänzt, damit das Material flüssig lesbar ist.

Ich weiß, dass einige Leser dies als unzulässige Verfälschungen ansehen werden. Andere werden sich für das bessere Leseerlebnis bedanken. Mit diesem Widerspruch muss ich leben.

Die vorliegende Gesamtausgabe (deren ersten Teil Sie in den Händen halten) umfasst die Erlebnisse meines Vaters zwischen 1945 und 1962. Diese sind aber bei weitem nicht vollständig erfasst. Fehlende Episoden habe ich versucht, anhand von Recherchen zu rekonstruieren, und weise gegebenenfalls darauf in den Fußnoten hin. Diese ergänzen auch Hintergrundwissen, wo ich es für sinnvoll hielt. Einige Widersprüche müssen sich bei einem solch umfangreichen Werk ergeben. Auch diese habe ich in Fußnoten aufgezeigt, stelle die Faktenlage nach derzeitigem Stand der Forschung dar und überlasse es im Übrigen dem geschätzten Leser, sich sein eigenes Urteil zu bilden.

 

 

Ruth-Maria Honigmann

Hamburg, im Frühjahr 2018

8. Mai 1945

 

Für Millionen von Menschen endete an diesem achten Mai die Hölle auf Erden. Ich hingegen erblickte erstmals die Hölle hinter der Erde. Im Turmzimmer eines Seitenbaus der Zürcher Universität brütete ich über meinen Zeichnungen. Und ziemlich genau um 23:01 Uhr, als die von Generaloberst Jodl unterzeichnete Kapitulation in Kraft trat, machte ich zwischen den Linien auf dem Papier eine Entdeckung, die mein Leben verändern sollte.

Das Zimmer war eine vergessene Dependance der naturkundlichen Sammlung, vielleicht wurde es auch nur von den Präparatoren als Abstellkammer missbraucht. Jedenfalls teilte ich mir den verwinkelten Raum mit hundert ungeliebten toten Tieren. Gleich neben meinem Schreibtisch ein Fasan, der so ungelenk die Flügel reckte, dass man ihn in keiner Ausstellung haben wollte. Ein Fuchs ohne Bein, vermutlich Opfer eines postmortalen Unfalls. Sieben augenlose Raben auf einem Balken über mir. Wahrscheinlich hatte man ihnen die Glasaugen gestohlen und anderen Objekten eingesetzt, die in der Gunst der Museumsbesucher höher standen.

Meine blinden Beobachter, nannte ich die Sieben. Ich muss zugeben, dass ich manchmal, wenn es spät wurde, mit ihnen sprach. Meine Arbeit erforderte Konzentration und Ausdauer und es half mir, wach zu bleiben, wenn ich ab und zu redete. Bögen über Bögen zeichnete ich voll. Mit geometrischen Formen und Linien. Zirkel und Lineal waren mein Handwerkszeug. Algebra meine Sprache.

Die Arbeit lenkte mich ab. Von der Trauer um die Toten. Von der Sorge um jene, die noch lebten oder über die ich zumindest keine Todesnachricht bekommen hatte. Half mir, nicht daran zu denken, dass nur ein paar Stunden Autofahrt entfernt mein Heimatland zu meinem Feind geworden war.

„In Deutschland würden sie das entartete Kunst nennen“, sagte ich zu den Raben. „Aber das ist keine Kunst. Das ist Wissenschaft.“

Ich fand sie durchaus ästhetisch ansprechend. Diese Quadratmeter voller Bleistiftlinien, die zwischen Gämsen und Bisamratten, Hühnern und Schwalben an die Balken geheftet waren. Wellenlinien aus Sinuskurven, Gitter und Netze, Quadrate in Kreisen in Quadraten, Sterne und Pentagramme, Dodekaeder und andere Vielecke sowie dreidimensionale Strukturen wie von Kristallen.

Ich zog eine weitere Gerade mit dem Lineal und plötzlich blickte ich in eine fremde Landschaft. Mir war, als erwache meine Welt aus Linien zum Leben. Die optische Täuschung, die die Berge und Täler aus grauen Wellenlinien bildeten, wurde perfekt. Ich sah in ein Tal. Die Berge, die es begrenzten, waren nur Striche, doch unten lag eine Wüste. Verdorrte Bäume ragten empor und ein roter Strom schlängelte sich durch das karge Gestein. Es musste ein starker Wind wehen, der graue Fetzen über die Landschaft trieb, wie Stoffreste oder, dachte ich schaudernd, ledrige Stücke von Haut.

Mir entfuhr ein Stöhnen. Aufgeschreckt lösten sich Vögel aus einem der kahlen Bäume. Sieben schwarze Punkte, winzig wie Krümel auf dem Papier. Leise, aber glasklar, drang ein Krächzen an mein Ohr. Schreie der Wut und Verzweiflung. Vogelrufe, in gewisser Weise, doch vielmehr Klagelaute verlorener Seelen. Ich saß wie gebannt. Etwas in mir wollte hineingreifen, in dieses bizarre Diorama. Doch eine Angst hielt mich zurück. Auch wenn der Wissenschaftler in mir behaupten möchte, es sei die Sorge gewesen, das Schauspiel zu zerstören, so war es in Wirklichkeit eine animalische, uralte Angst.

Die Vögel kreischten lauter und aggressiver. Sie kreisten umeinander, mit hektischem Flattern. Dann erkannte ich, dass sich sechs gegen einen gewandt hatten. Sie attackierten ihn. Flogen Bögen, stießen auf ihn herab, in fast schon choreographierten Schleifen. Der eine zerriss in zwei Teile und sank herab.

Ein Schatten vor meinen Augen. Ein Knall. Ich erschrak fast zu Tode. Ein ausgestopfter Rabe war vom Balken über mir auf das Papier gefallen. Ein Flügel war abgebrochen. Ich sprang auf und machte ein paar Schritte rückwärts. Ein Blick zu den anderen Raben. Sie saßen still und unbewegt, keine Augen, kein Zucken, kein Laut. Ich schaute zurück zum Papier. Graue Linien auf weißem Grund. Tote Geometrie. Keine Wüste. Kein Leben. Nur Papier. Darauf ein kaputtes Präparat.

Ich gähnte. Etwas, das ich in dieser Situation sehr merkwürdig fand, pochte doch zugleich mein Herz wie wild.

 

Ich muss zu Posch, dachte ich. Ich hatte schon mehrfach, vielleicht fünf oder sechsmal, eigenartige Spiegelungen bemerkt, wenn bestimmte geometrische Bedingungen aufeinandertrafen. Farbbrechungen zwischen den Zeilen, vermeintliche Bewegungen der Wellen. Professor Posch hatte mich angespornt, diesen Weg weiterzuverfolgen. Er war mein großer Gönner. Mein Retter.

Posch war unmittelbar nach der Machtergreifung der Nazis ausgewandert. Er hatte keinen Tag gezögert. Mir erzählte er, dass sie zu ihm gekommen seien, früher schon, weil sie seinen Rat zu übernatürlichen Dingen gesucht hätten. Ein gefährliches Interesse an heidnischen Ritualen und dunkler Magie, sagte er. Böse, sagte er. Es sei ihm ohne Umschweife klar gewesen, dass sie übel und mächtig waren und dass, ich bitte um Entschuldigung für das Zitat, man „als Jude seinen Arsch retten“ müsse.

Wie es ihm gelungen war, den weltweit einzigen Lehrstuhl für Paraphysik zu gründen, noch dazu in der friedlichen, reichen Schweiz, ist mir noch immer ein Rätsel.[Fußnote 1] Ich weiß aber, dass das gesamte Dekanat glaubte, der Professor erforsche die psychologischen und physikalischen Hintergründe esoterischen Irrglaubens und eingebildeter Erscheinungen. Seine drei Studenten und sein einziger Dozent – nämlich ich, Privatdozent Simon Honigmann – mussten Stillschweigen bewahren über die Tatsache, dass wir nicht den Glauben, sondern die Erscheinungen selbst untersuchten, ernsthaft und empirisch, aber in voller Überzeugung, es mit dem Übernatürlichen zu tun zu haben. Wobei ich stets an eine wissenschaftliche Erklärung für diese Phänomene glaubte, wenn auch eine, die das bisherige Wissen sprengte. Bislang waren es nur Kleinigkeiten gewesen, die wir erreicht hatten. Ein vorhergesagter Würfelwurf. Eine verschwundene Nähnadel. Was da eben passiert war, musste ein neuer Durchbruch sein. Es erfüllte mich mit kalter Angst. Aber da war auch Euphorie. Neugier inmitten von Verwirrung und Adrenalin. Ich fühlte mich auch körperlich nicht gut. Bei diesem unsinnigen Gähnen hatte ich mir das Kiefergelenk verrenkt. Und ich spürte einen Druck auf meinem Gaumen, als würde die Luft auf halber Strecke feststecken.

Ich eilte zu Professor Posch. Seine Wohnung lag in einem anderen Flügel des mächtigen Ziegelbaus. Es war viel zu spät, um zu läuten. Ich tat es dennoch. Minuten vergingen, dann öffnete er mir die Tür, im Schlafrock. Sein grauer Bart war von einem Bartschoner verdeckt, die Glatze von einer Mütze.

„Habe ich Sie geweckt?“, fragte ich.

„Mich nicht, aber meine Frau. Was ist los, Herr Honigmann? Wollen Sie den Frieden mit uns feiern? Etwas spät, meinen Sie nicht?“

„Frieden?“

„Freilich.“

Es war seit Tagen absehbar gewesen, dass der Krieg gewonnen war, doch bislang war nichts offiziell verkündet worden. Ich lächelte. Unwillkürlich nahm ich den Professor in den Arm, nur um mich gleich wieder zu fangen. „Entschuldigung“, sagte ich.

„Schon gut. Was treibt dich dann hierher, mein Junge?“ Er verfiel gelegentlich ins Du, wenn ich seinen Beschützerinstinkt weckte.

„Eine Entdeckung. Ich habe eine Entdeckung gemacht!“

Er sah mich scharf an. „Dann komm rein.“ Wir mussten uns in die Küche setzen, weil wir dort seine Frau am wenigsten störten. Im Ofen zwinkerte noch ein Rest Glut. Die hohen, dunklen Geschirrschränke warfen schwere Schatten. Der Professor holte Obstbrand und goss uns schwindelerregende Mengen ein. „Erzähl.“

Ich berichtete von meiner jüngsten Zeichenstudie, wie ich verschiedene Graphen überlagerte, komplexe Wellenmuster erzeugte, Berge und Täler aus Graphit. Dann erzählte ich von der Wüste, dem Wind und den Raben. Professor Posch nickte. Kein Zweifel in seinem Blick. Keine kritischen Anmerkungen.

„Was Sie da wohl gesehen haben, Herr Privatdozent?“

„Wissen Sie es, Herr Professor?“

Er zuckte mit den Achseln. Ich war es, der stets hinterfragte, ich war es, der allem eine plausible Erklärung verpassen wollte, der Schein und Illusion und optische Täuschung wähnte, wenn Posch seine verwirrenden Experimente zeigte. All das spiegelte sich in diesem Achselzucken: Du glaubst mir doch sowieso nicht, Junge.

„So einfach ist das nicht“, widersprach ich. „Es zeugt von meinem großen Respekt Ihnen gegenüber, wenn ich auch Ihre Postulate mit aller wissenschaftlichen Methodik durchleuchten will. Ich kann nicht einfach hinnehmen, ich muss fragen. Sonst würde ich meine Ideale verraten, die mich doch erst in die Position gebracht haben, unter Ihnen als Dozent tätig sein zu dürfen.“

Doch war das nur ein Teil der Wahrheit und das wussten wir beide. Ich hatte gar keine Wahl. Ich verdankte Posch mein Leben. Er hatte mich zu sich geholt, als meine Verwandten einer nach dem anderen deportiert wurden. Er hatte mir das Visum für die Schweiz besorgt. Er hatte mir die einzige Stelle an seinem winzigen Institut gegeben. Er hatte mich vor dem Terror der Nazis gerettet und mir wie nebenbei ein gesichertes Einkommen, dankbare Arbeit und ein komfortables Leben