TIM POWERS

 

Die kalte Braut

 

 

 

 

Roman

 

 

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Windgassen

 

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

DIE KALTE BRAUT 

 

Prolog: 1816 

 

BUCH EINS: Einladende Geste 

Kapitel 1 

Kapitel 2 

Kapitel 3 

Kapitel 4 

Kapitel 5 

Kapitel 6 

Kapitel 7 

Kapitel 8 

Kapitel 9 

Kapitel 10 

Kapitel 11 

 

Interludium: Sommer 1818 

 

Interludium: Februar 1821 

 

BUCH ZWEI - 1822: Sommerfliegen 

Kapitel 12 

Kapitel 13 

Kapitel 14 

Kapitel 15 

Kapitel 16 

Kapitel 17 

Kapitel 18 

Kapitel 19 

Kapitel 20 

Kapitel 21 

Kapitel 22 

Kapitel 23 

Kapitel 24 

Kapitel 25 

Kapitel 26 

Kapitel 27 

 

Epilog: Warnham, 1851 

 

Das Buch

 

 

1816: In einer regnerischen Nacht taumelt ein Mann durch die Straßen einer englischen Kleinstadt und streift einer verzauberten Statue seinen Verlobungsring auf den Finger...

Ahnungslos erwacht der Arzt Dr. Michael Crawford am Morgen nach seiner Hochzeit und entdeckt den entstellten Leichnam seiner Frau neben sich. Auf der Flucht vor der Schlinge des Henkers flieht er in die Schweiz und sucht Hilfe bei den Dichtern John Keats, Percy Shelley und Lord Byron, die ihm das Geheimnis jener Macht enthüllen sollen, die sein Schicksal beherrscht. Denn Crawford hat eine zweite – eine heimliche – Braut, der die Stunden seines Schlafes gehören: la belle dame sans merci, die gnadenlose Schöne, die betörende Muse der Dichter. Ebenso schön wie böse, hält sie ihre zahlreichen Liebhaber in lustvoller Abhängigkeit und richtet sie langsam zugrunde.

Es gibt einen Ausweg, doch dieser Ausweg ist schrecklicher als der Tod...

 

»Nahtlos verbindet Powers historische Fakten, Legende und Phantasie zu einem Roman voll düsteren Vergnügens, der tief erschüttert und gleichzeitig höchsten Lesegenuss schenkt.« (Twilight Zone) 

 

»Es gibt kaum bessere und anspruchsvollere Fantasy-Literatur als Die kalte Braut.« (The Oxford Times) 

  Der Autor

 

Tim Powers, Jahrgang 1952.

 

Tim Powers (* 29. Februar 1952 in Buffalo) ist ein vielfach preisgekrönter US-amerikanischer Science-Fiction- und Fantasy-Schriftsteller.

Zu seinen bekanntesten Romanen gehört der 1983 mit dem Philip-K.-Dick Award ausgezeichnete Zeitreise-Roman Die Tore zu Anubis Reich (1988 – engl. The Anubis Gates, 1983), welcher gemeinhin als Meisterwerk gilt und der zum Vorreiter einer ganzen Fantasy-Richtung wurde.  

Er zählt zur sogenannten Kalifornischen Gruppe von Autoren um Philip K. Dick, mit dem ihn bis zu dessen Tod eine enge Freundschaft verband. Die Figur »David« in Dicks Roman Valis (1981) basiert auf Tim Powers. Als Träumen Roboter von elektrischen Schafen? im Jahr 1982 als film-tie-in unter dem Titel Blade Runner wiederveröffentlicht wurde, widmete Dick diesen Roman Tim und Serena Powers.  

Gemeinsam mit James P. Blaylock schreibt und veröffentlicht Tim Powers auch unter dem gemeinsamen Pseudonym William Ashbless - ein fiktiver Dichter, der in einer Vielzahl Werke der beiden auftrat und unter dessen Namen mittlerweile sogar eigene Bücher veröffentlicht wurden (z.B. Offering the Bicentennial Edition of the Complete Twelve Hours of the Night: 1785-1985).

Im Alter von elf Jahren faszinierte ihn Robert A. Heinleins Der Rote Planet (1975/80 – engl. Red Planet, 1949) derart, dass seine Begeisterung für die Phantastik ins Unermessliche wuchs. Mit dreizehn versuchte er sich an eigenen Geschichten, die jedoch von Magazinen abgelehnt wurden.  

Mit The Skies Discrowned (auch: Forsake The Sky) erschien 1976 Powers’ erster Roman.  

Weitere herausragende Bücher sind das in Las Vegas spielende und von T. S. Eliots Das wüste Land (The Waste Land, 1922) inspirierte Last Call (1992), The Stress Of Her Regard (1989 – dtsch., Die Kalte Braut, 1991) sowie der Spionagethriller Declare (2000 – dtsch. Declare – Auf dem Berg der Engel, 2004), in dem die Ereignisse um den Cambridge Spy Ring in ein neues Licht gerückt werden.  

In seinem Roman Three Days to Never (2006) treten unter anderem Einstein, dessen unbekannte Tochter, Chaplin und verschiedene Geheimdienste auf, im Kampf um eine Waffe mit verheerender Wirkung.  

Im Jahr 2012 veröffentlichte Powers mit Hide Among The Graves eine Quasi-Fortsetzung zu The Stress Of Her Regard. Sein aktuellstes Werk ist der Roman Medusa's Web (2016)  

Powers wurde mehrfach mit dem World-Fantasy-Award, dem Philip-K.-Dick-Award und dem Locus- Award ausgezeichnet.  

Er lebt zusammen mit seiner Frau Serena im südkalifornischen San Bernardino.

DIE KALTE BRAUT

 

  

 

 

Für Dean und Gerda Koontz,

für zehn Jahre

heiterer, gastlicher und toleranter Freundschaft

 

Und mit Dank an

Gregory Santo Arena und Gloria Batsford und

Gregory Benford und Will Griffin und

Dana Holm Howard und Meri Howard und

K. W. Jeter und Jeff Levin und Monique Logan und

Kate Powers und Serena Powers und

Joe Stefko und Brian M. Thomsen und Tom Whitmore

 

- und an Paul Mohney

für jenes bierselige Gespräch vor vielen Jahren

in der Tinder Box über Percy Shelley.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

»...sieht der Gedanke doch voraus,

Dass an der Zeiten Ende, wenn Menschen nicht mehr

streben,

Die Sphinx des Lebens, deren Mund verschlossen,

nicht vernehmen;

Wenn aus dem Raum der Ewigkeit dann Stille,

Medusa, unerbittlich, wirft auf die verlor'ne Welt

den Bannstrahl ihrer Blicke.«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  Prolog: 1816

 

 

 

 

 

»Bring auch... einen neuen Degenstock mit...

(mein letzter fiel in diesen See).«

 

- Lord Byron, an John Cam Hobhouse, 23. Juni 1816

 

 

 

Bevor der Sturm ausbrach, war der Lac Léman, der Genfer See, so still, dass die beiden Männer, die im offenen Bug des Segelboots miteinander sprachen, getrost ihre Weingläser auf den Ruderbänken abstellen konnten.

Wie gewelltes Glas lagen die Bugwellen zu beiden Seiten; backbords fächerten sie weit über den See aus, nach Steuerbord hin rollten sie langsam das Ufer entlang und schienen im späten Glanz des Nachmittags bis zu den grünen Gebirgsausläufern hinaufzuspülen, um als Luftspiegelung über das zerklüftete, schneefleckige Haupt des Dent d'Oche zu flirren.

In einem Buch schmökernd, hockte ein Diener auf einem der Sitze, und die Seemänner schienen zu dösen; noch brauchten sie den Kurs nicht zu ändern. Als die Unterhaltung der beiden Touristen ins Stocken geriet, wehte der Wind den Klang ferner Kuhglocken herbei, was wie die Melodie einer zarten Äolsharfe anmutete.

Der Mann im Winkel des Bugs schaute mit trägem Blick hinüber zum östlichen Seeufer. Obwohl er erst achtundzwanzig Jahre alt war, schimmerte schon Grau in seinen lockigen dunkelroten Haaren, und die blasse Haut um Augen und Mund zeigte Fältchen, die ironischen Humor verrieten.

»Das Schloss dahinten ist Chillon«, erklärte er seinem jüngeren Begleiter, »wo die Herzöge von Savoyen ihre politischen Gefangenen in Verliese warfen, die tiefer lagen als der Wasserspiegel. Stell dir vor, zu einem vergitterten Fenster hochzuklettern und einen solchen Ausblick vorzufinden.« Er wies hinaus auf die ferne weiße Welt der Alpen.

Der Freund fuhr mit den Fingern seiner dünnen Hand durchs dichte blonde Haar und schaute nach vorn. »Es steht wohl auf einer Halbinsel, oder? Reicht weit in den See hinein. Ich schätze, sie würden sich freuen über das viele Wasser ringsum.«

Lord Byron musterte Percy Shelley; wieder einmal war er nicht sicher, was der junge Mann eigentlich meinte. Er hatte ihn vor knapp einem Monat hier in der Schweiz getroffen, und obwohl sie viel miteinander gemein hatten, war ihm Shelley in mancher Hinsicht ein Rätsel geblieben.

Beide hatten England aus freien Stücken den Rücken gekehrt. Byron war vor einem Konkurs und einer gescheiterten Ehe sowie, was weniger bekannt war, vor dem Skandal geflohen, die eigene Halbschwester geschwängert zu haben. Vor vier Jahren war er mit der Publikation des langen, weitgehend autobiographischen Gedichts Junker Harolds Pilgerfahrt zu einem der gefeiertsten Dichter des Landes aufgestiegen; doch die Gesellschaft, die ihn damals bejubelt hatte, verschmähte ihn jetzt. Wenn englische Touristen ihn auf den Straßen entdeckten, zeigten sie mit dem Finger auf ihn, und nicht selten markierten Damen bei seinem Anblick einen Ohnmachtsanfall.

Shelley war längst nicht so berühmt, aber seine Tiraden auf das Eigentum schreckten manchmal sogar Byron ab. Wegen eines Pamphlets, das den Atheismus predigte, hatte er sein Studium in Oxford abbrechen müssen. Er war von seinem vermögenden Vater enterbt worden und hatte seine Frau und seine zwei Kinder verlassen, um mit der Tochter des radikalen Londoner Philosophen William Godwin davonzulaufen. Godwin war vom Rigorismus, mit dem die Tochter sein abstraktes Plädoyer für die freie Liebe in die Tat umsetzte, nicht allzu begeistert gewesen.

Byron zweifelte daran, dass Shelley wirklich froh wäre, über das viele Wasser ringsum. Die Steinmauern mussten doch leck sein, und Gott allein wusste, wie feucht und faul es an einem solchen Ort sein mochte. War es Naivität, die Shelley diese Worte in den Mund legte, oder steckte eine geheimnisvolle überirdische Qualität dahinter, die Heilige früher dazu veranlasst hatte, ihr Leben auf Säulen in der Wüste hockend zu verbringen?

Und war Shelleys Verteufelung von Religion und Ehestand wirklich ernst gemeint oder doch nur die Ausflucht eines Feiglings, der nach Lust und Laune leben wollte, ohne eine Schuld anerkennen zu müssen? Courage schien ihm wirklich nicht eigen zu sein.

Vor vier Nächten hatten Shelley und die beiden jungen Frauen, mit denen er reiste, Byron einen Besuch abgestattet, und das regnerische Wetter hielt die kleine Gesellschaft im Haus zurück. Byron hatte die Villa Diodati gemietet, einen inmitten von Weingärten gelegenen Säulenbau, in dem schon zwei Jahrhunderte zuvor Milton Gast gewesen war. Bei warmem Wetter, wenn die Gäste über die Terrassengärten ausschwärmen oder von der breiten Veranda aus den See überblicken konnten, wirkte das Anwesen groß und geräumig; aber in dieser Gewitternacht, als das Wasser durch die Türen zu schwemmen drohte, schien das Haus eng zu sein wie eine Fischerkate.

Byron war ganz besonders unwohl zumute gewesen, weil Shelley nicht nur Mary Godwin mitgebracht hatte, sondern auch deren Stiefschwester Claire Clairmont, die, wie's der Zufall wollte, Byrons letzte Geliebte in London gewesen war und nun durch ihn in Hoffnung zu sein schien.

Der Sturm, der hinterm Fenster heulte, und die in wechselhafter Zugluft flackernden Kerzen lenkten die Unterhaltung auf Geister und übernatürliche Erscheinungen - zum Glück für Byron, denn Claire, das war bald klar, ließ sich durch solche Themen allzu schnell bange machen, was ihm Gelegenheit gab, sie in Angst und Schrecken zu versetzen; und abgesehen davon, dass sie gelegentlich entsetzt nach Luft schnappte, blieb sie stumm.

Shelley war mindestens ebenso leichtgläubig wie Claire, fand aber Vergnügen an den Vampir- und Phantomgeschichten, und nachdem Byrons Leibarzt, ein eitler junger Mann namens Polidori, von einer Frau erzählt hatte, die mit blankem Schädel statt Kopf umherstreifend gesehen worden sein sollte, beugte sich Shelley vor und klärte die Gesellschaft mit leiser Stimme über die Gründe auf, die ihn und seine inzwischen verlassene Frau vor vier Jahren bewogen hatten, aus Schottland zu fliehen.

Die Erzählung bestand mehr aus Andeutungen und Stimmungsbildern als aus wirklich konkreten Einzelheiten. Aber Shelley - seine langfingrigen Hände zitterten im Kerzenlicht, und die großen Augen stachen funkelnd aus dem Wust seiner Locken hervor - war von der eigenen Geschichte offenbar selbst so überzeugt, dass sogar Mary Godwin, ansonsten sehr vernünftig, verängstigte Blicke auf die regennassen Fenster warf.

Laut Shelley waren er und seine Frau zu eben jener Zeit in Schottland eingetroffen, als man dort eine junge Bauernmagd mit Namen Mary Jones zu Tode zerhackt aufgefunden hatte. Eine Schafsschere war nach Ansicht der Behörden die Mordwaffe gewesen. »Der Schuldige«, flüsterte Shelley, »soll ein Riese gewesen sein, den die Ortsansässigen den Bergkönig nennen.«

»Ein Riese?« Claire war sichtlich verstört.

Byron warf Shelley einen dankbaren Blick zu, denn er glaubte, dass sein junger Freund gleichfalls darauf aus war, Claire zu schrecken, um sie nicht auf das Thema ihrer Schwangerschaft kommen zu lassen. Doch Shelley nahm ihn überhaupt nicht wahr. Es machte ihm, wie Byron feststellte, einfach Spaß, anderen Angst einzujagen.

Trotzdem war Byron dankbar.

»Man nahm einen Mann fest«, fuhr Shelley fort, »einen gewissen Thomas Edwards, dem das Verbrechen zur Last gelegt und die Schlinge um den Hals gelegt wurde. Aber ich weiß, dass er nur als Sündenbock herhalten musste. Wir...«

Polidori lehnte sich in seinem Sessel zurück und sagte, streitlustig und mit gekünstelter Stimme, wie man es von ihm gewohnt war: »Woher wussten Sie das?«

Shelley krauste die Stirn, und weil ihm das Gespräch offenbar eine allzu persönliche Note angenommen hatte, setzte er fahrig und mit schnell dahingesprochenen Worten nach: »Woher? Das - das wusste ich aufgrund meiner Recherchen. Ich war ein Jahr zuvor, noch in London, sehr krank gewesen, hatte Halluzinationen und schreckliche Schmerzen in der Seite... tja, da blieb mir eben viel Zeit zum Studieren. Ich habe mich mit Elektrizität und mit der Berechnung der Tagundnachtgleiche beschäftigt... und auch mit dem Alten Testament, der Schöpfung...« Ungeduldig schüttelte er den Kopf, und Byron fand, dass die Frage, so verrückt sie auch beantwortet worden war, sehr viel Wahres über Shelley hervorgebracht hatte. »Wie dem auch sei«, fuhr Shelley fort, »am sechsundzwanzigsten Februar - einem Freitag - hielt ich es für besser, mit zwei geladenen Pistolen zu Bett zu gehen.«

Polidori öffnete den Mund und wollte einen Kommentar abgeben, doch Byron ließ ihn nicht zu Wort kommen und sagte unwirsch: »Still jetzt!«

»Ja, Pollydolly«, sagte Mary, »warten Sie, bis die Geschichte vorbei ist.«

Polidori setzte sich zurück und zog einen Flunsch.

»Und wir waren kaum eine halbe Stunde im Bett«, erzählte Shelley, »als ich ein Geräusch im Stockwerk tiefer hörte. Ich ging nach unten, um nachzusehen, und ertappte eine Gestalt, die das Haus gerade durch ein Fenster verlassen wollte. Da griff sie mich an, aber ich konnte einen Schuss abgeben und traf - in die Schulter.«

Byron machte sich mit gerunzelter Stirn über Shelleys Schießkunst lustig.

»Und das Ding wirbelte herum, baute sich vor mir auf und sagte: Du willst mich erschießen? Bei Gott, das wird gerächt. Ich töte deine Frau. Ich vergewaltige deine Schwester. Und dann nahm es Reißaus.«

»Es?«, fragte Claire zaghaft.

Auf einem Tisch nahe seinem Sessel waren Papier, Feder und Tintenfass. Shelley nahm die Feder zur Hand, tauchte sie ein und zeichnete eine flüchtige Skizze. »So ungefähr sah mein Angreifer aus«, sagte er und hielt das Blatt ans Kerzenlicht.

Byrons erster Gedanke war, dass ein Kind besser malen konnte als dieser Mann. Die Zeichnung stellte eine Monstrosität dar mit tonnenförmigem Rumpf, fassförmigen Beinen, mit Händen wie Baumäste und einem Kopf, der einer afrikanischen Maske glich.

Claire konnte nicht hinschauen, und selbst Polidori schien aufgebracht zu sein. »Das - das hat kaum annähernd menschliche Gestalt«, sagte er.

»Oh, ich weiß nicht, Polidori«, entgegnete Byron und musterte das Bild mit zusammengekniffenen Augen. »Es sieht aus wie der Urtyp des Menschen. Gott hat doch Adam aus Lehm geformt, nicht wahr? Der Bursche hier scheint aus einem Hügel von Sussex gemacht worden zu sein.«

»Wie voreilig du bist«, sagte Shelley heftig. »Das Ding könnte doch auch aus Adams Rippe entstanden sein.«

Byron grinste. »Aha, eine Eva soll das sein? Hoffentlich ist sie Milton nicht unter die blinden Augen gekommen, als er hier zu Besuch war - falls doch, wär's mir lieb, wenn sie heute Nacht nicht in der Nähe herumspukt.«

Zum ersten Mal an diesem Abend schien auch Shelley nervös geworden zu sein. »Nein«, antwortete er schnell und schaute zum Fenster hinaus. »Nein, ich bezweifle...« Er ließ den Satz unausgesprochen und sackte in die Lehne zurück.

In Sorge darüber, dass das Gerede über Adam und Eva die Unterhaltung in häuslichere Bahnen lenken könnte, stand Byron plötzlich auf, trat ans Bücherregal und zog ein kleines Buch heraus. »Coleridges jüngstes Werk«, sagte er und kehrte zu seinem Sessel zurück. »Von den drei Gedichten, die darin enthalten sind, ist Christabel wohl dasjenige, das am besten zum heutigen Abend passt.«

Er begann das Gedicht laut vorzulesen, und als er die Stelle erreichte, wo Christabel die seltsame Frau Geraldine aus dem Wald mit zu sich nach Hause nimmt, hörten ihm alle aufmerksam zu. Dann, als die beiden das Schloss von Christabels verwitwetem Vater erreichen, brich. Geraldine wie unter Schmerzen zusammen, und Christabel muss sie aufheben und über die Schwelle tragen.

Shelley nickte. »Irgendeine Form von Einladung muss es ja geben. Ungebeten hat niemand Zutritt.«

»Hast du die Lehmfrau in dein Haus in Schottland eingeladen?«, fragte Polidori.

»Das war nicht nötig«, antwortete Shelley überraschend bitter und wandte sich wieder dem Fenster zu. »Ein anderer hat das Wesen vor zwei Jahrzehnten eingeladen, mich heimzusuchen.«

Nach einer Pause fuhr Byron mit dem Lesen fort und rezitierte Coleridges Beschreibung von Geraldine, die, als sie sich vor dem Bett auszieht, ihre welke Brust enthüllt...

 

Sieh nur! Ihr Busen und der halbe Leib

Ein Anblick wie erträumt, unsäglich ist. Oh, meiner Seel,

So schirmt sie ab und schützt die süße Christabel!

 

...und Shelley schrie auf, schnellte wie ein aufgeklapptes Messer aus dem Sessel und stürzte in drei wilden Sprüngen zur Tür, wobei er einen Stuhl umstieß und eine brennende Kerze vom Tisch schnappte.

Auch Claire schrie auf, und Polidori hob stöhnend die Arme wie ein bedrängter Boxer. Byron legte das Buch ab und warf einen argwöhnischen Blick zum Fenster, durch das Shelley geschaut hatte. Auf der vom Regen überschwemmten Veranda war nichts zu sehen.

»Polidori, kümmre dich um ihn!«, bat Byron.

Der junge Arzt ging ins Nebenzimmer, um seine Tasche zu holen, und folgte Shelley. Byron füllte sein Weinglas, nahm wieder Platz und sah Mary mit hochgezogenen Brauen an.

Sie lachte nervös und zitierte aus Macbeth: »Mein Herr ist öfters so und war's von Jugend auf.«

Byron grinste ein wenig verstört. »Der Anfall ist sicher schnell vorüber; sobald er sich besinnt, geht's ihm wieder gut.«

Mary führte das Zitat zu Ende: »Allzu viel Beachtung wird ihn kränken und seine Hitzigkeit nur steigern.«

Byron sah sich im langen Zimmer um. »Wo hat er Banquo's Geist bloß gesehen? Ich hab ein Auge für Gespenster, aber keins entdeckt.«

»Er...« Mary stockte. »Da ist er ja wieder.«

Shelley kam zurück ins Zimmer und blickte sowohl verängstigt als auch verlegen drein. Das Gesicht und die Haare waren nass; Polidori hatte ihn offenbar mit Wasser bespritzt. Außerdem roch Shelley nach Äther. »Es war bloß eine Laune, die mich plötzlich befallen hat«, sagte er. »Wie ein Alptraum wachen Auges. Tut mir leid.«

»Er stammelte irgendwas...«, fing Polidori an, und Shelley warf ihm einen warnenden Blick zu. Doch der junge Arzt schien ihn nicht bemerkt zu haben, denn er fuhr fort: »...von einer Frau mit - wörtlich - Eis auf der Fläche«

Shelleys sichtliche Verblüffung dauerte nur einen Augenblick lang, aber Byron hatte sie registriert. Dann überspielte Shelley seine Verwirrung und nickte. »Ja, so war's«, pflichtete er bei. »Wie gesagt, eine Halluzination«

Byron war neugierig geworden, aber mit Rücksicht auf das offensichtliche Unbehagen seines Freundes verzichtete er auf eine Klärung dessen, was Shelley wirklich gesagt und Polidori missverstanden hatte.

Er zwinkerte Shelley zu und wechselte das Thema. »Ich finde, jeder von uns sollte eine Schauergeschichte schreiben«, sagte er gutgelaunt. »Mal sehen, vielleicht lässt sich was mit dieser Lehmgestalt anstellen, die unseren armen Shelley verfolgt.«

Schließlich gelang es allen zu lachen.

 

Ein Schatten hüllte die stumpfen Türme von Chillon ein, legte sich über -den See und reichte bis ans Boot heran. Byron drehte sich auf seinem Platz im Bug herum, um nach Norden schauen zu können. Eine Wolke hatte den halben Himmel verdeckt.

»Wir sollten wohl besser in St. Gingoux festmachen«, sagte er mit Blick nach oben. Sein Diener unterbrach die Lektüre und steckte das Buch in die Tasche.

Shelley stand auf und lehnte sich an die Reling. »Sieht nach Sturm aus, oder?«

»Damit müssen wir rechnen. Hoffentlich wachen die verfluchten Seeleute bald auf... Was ist los mit dir?«, rief er Shelley zu, der plötzlich von der Reling zurückgewichen war und hastig im Gepäck herumwühlte.

»Ich brauch eine eiserne Breche!«, brüllte er und sprang Sekunden später auf mit Byrons Degenstock in der Faust. »Da, über deinem Kopf! Pass auf!«

Byron fürchtete schon, dass Shelley nun völlig übergeschnappt sei, und fasste, sprungbereit, den am Masten hängenden Rucksack ins Auge, in dem außer einigen Flaschen Wein auch zwei geladene Pistolen steckten. Doch Shelleys Stimme klang so dringlich, dass er einen Blick nach oben riskierte.

Die herbeischwebende Wolke war klumpig und verknotet und glich an einer Stelle einer nackten Frauengestalt, die vom Himmel auf das Boot einzuschwenken schien. Byron wollte gerade erleichtert auflachen und Shelley eine sarkastische Bemerkung zurufen, als er sah, dass die Frauengestalt nicht - oder zumindest nicht mehr - Teil der fernen Wolke war, sondern sich als kleineres Dunstgebilde dem Boot genähert hatte, näher als zuvor vermutet.

Dann begegnete er ihrem wilden Blick und hastete zu seinen Pistolen.

Das Boot geriet ins Schwanken, als die Wolkengestalt mit ihm zusammenprallte. Shelley und die Seeleute schrien auf. Als Byron, auf den Planken kauernd, die Pistole in Anschlag brachte, sah er, wie Shelley mit dem blanken Degen auf die unheimliche Wolke einschlug, die nun knapp über der Reling hing. Der wuchtig geschlagene Degen wurde so jäh abgeblockt, dass die obere Klingenhälfte zerbrach. Die Wolke schien zurückzuzucken und an Gestalt zu verlieren. Auf Shelleys Wangen und in seinem Haar war Blut zu sehen. Byron zielte mit der Pistole auf die Wolke und drückte ab.

Die scharfe Explosion der Ladung hallte ihm in den Ohren nach, doch trotzdem hörte er Shelleys Geschrei: »Gut so... Blei leitet elektrische Ströme. Aber Silber oder Gold wären noch besser.«

Shelley stemmte den langen schlanken Körper gegen die Reling und versetzte dem Ding mit der zerbrochenen Klinge einen Hieb, der einen Baum gefällt hätte. Die Wolke geriet in Turbulenzen und zog sich erneut zurück; einer Frau glich sie nicht mehr. Shelley schlug wieder zu, und der Degen landete krachend auf der hölzernen Reling. Byron glaubte, der Freund habe sein Ziel verfehlt, aber als Shelley kurz darauf zum zweiten Mal die Reling traf, wurde ihm klar, dass der andere darauf aus war, einen Holzspan loszuhacken.

Shelley ließ den zerbrochenen Degen fallen - die Waffe kippte über Bord - und riss den Span mit den Händen ab. »Gib mir die andere Pistole!«

Byron fischte die Waffe aus dem Sack, der auf die Planken gefallen war, und reichte sie dem Freund. Der stopfte den Holzspan in den Lauf, legte trotz lauter Proteste von Byron mit der seltsam bestückten Waffe auf das Dunstgebilde an und feuerte.

Die Wolke zerplatzte und stank dabei so streng wie frisch zerschlagenes Gestein. Shelley ließ sich auf seinen Sitz fallen. Eine Weile später zog er ein Taschentuch aus dem Rock und betupfte die blutende Stirn.

»Du hast verdammt viel Glück gehabt«, sagte Byron, der zu keinem anderen Gedanken in der Lage war. Das Herz pochte ihm; er steckte die Hände in die Taschen, damit Shelley das Zittern nicht sehen konnte. »Wenn du noch mal einen Lauf so zustopfst, reißt es dir die Hand ab.

»Das Risiko musste eingegangen werden. Holz ist der schlechteste Leiter.« Shelley stand wieder auf und sah besorgt zum Himmel hinauf. »Sag den Bootsleuten, sie sollen uns an Land bringen, und zwar schnell.«

»Was denn? Rechnest du damit, dass wir einem weiteren Ding wie diesem begegnen?« Byron wandte sich den kreidebleichen Bootsleuten zu. »An Land... Bougez nous dans le rivage plus près! Vite, aber ganz vite!«

Er strengte sich an, die Herrschaft über seine Stimme zu behalten, als er, an Shelley gerichtet, sagte: »Was war das bloß? Und was zum Henker wollte es?«

Shelley hatte das Blut abgewischt, faltete das Taschentuch sorgfältig zusammen und steckte es weg. Dass er sichtlich zitterte, machte ihm offenbar nichts aus, aber seine Augen waren ruhig, als er Byrons starrem Blick begegnete. »Es wollte das, worauf auch die Touristen in Genf neugierig sind, wenn sie mit den Fingern auf mich zeigen: was Verschrobenes zu Gesicht bekommen.« Er winkte ab und ließ Byron nicht zu Wort kommen. »Und willst du wissen, was es war? Eine Art Lamia. Welcher Ort käme für eine solche Begegnung eher in Frage als der Lac Léman?«

Byron war nicht in der Stimmung, Widerspruch zu erheben. »Über den Namen des Sees habe ich noch gar nicht nachgedacht. Léman bedeutet doch Geliebte.« Er lachte nervös. »Du hast sie ganz schön in Rage gebracht.«

Auch Shelley hatte sich beruhigt; er lehnte an der Reling und sagte: »Der See ist bloß nach ihr benannt. Im Grunde ist er unser Verbündeter.«

Der Mann an der Pinne hatte das Boot hart in den ablandigen Wind gedreht, und das Schloss von Chillon lag nun backbords. Die Weingläser waren umgekippt und zersplittert, als das Wolkenwesen mit dem Boot zusammenstieß. Byron nahm die Flasche zur Hand, zog den Korken mit den Zähnen heraus und nahm einen tiefen Schluck. Dann reichte er die Flasche an Shelley weiter und fragte: »Wenn also Holz der schlechteste Leiter ist, warum ist es dann gelungen? Du sagtest doch...«

Shelley setzte die Flasche ab und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Ich glaube, das Ding muss - extrem elektrisch sein. Solche Wesen sind wie Fische im Teich, denen eine zu starke Strömung genauso wenig bekommt wie Stillstand.« Er grinste verschmitzt und nahm noch einen Schluck aus der Flasche. »Silbergeschosse und Holzkeile, du verstehst?«

»Um Himmels willen, worüber reden wir eigentlich? Das klingt nach Vampiren und Werwölfen.«

Shelly zuckte mit den Achseln. »Nicht zufällig. Wie dem auch sei, Silber ist der beste elektrische Leiter und Holz der schlechteste. Für Leute, die an die alten Geschichten glauben, ist Silber in der Regel zu teuer, also haben sie sich traditionsgemäß mit Eisenstangen begnügt. Die eiserne Breche war ein Werkzeug, mit dem Flachs geschlagen wurde. Brechen bedeutet: gewaltsam zerteilen; auch eine Bresche schlagen hat damit zu tun oder Lichtbrechung und Ehebruch. In einem archaischen Kontext waren alle diese Ausdrücke synonym. Interessant, nicht wahr? Übrigens habe ich in dem Zusammenhang auch vor vier Tagen in deinem Haus nach einer eisernen Breche verlangt. Polidori, dieser Idiot, hat verstanden Eis auf der Fläche.« Shelley lachte. »Als ich wieder zu mir gekommen bin, blieb mir keine andere Wahl, als dieses dumme Wissverständnis gelten zu lassen. Mary dachte, ich sei übergeschnappt; aber das war mir lieber, als ihr die Wahrheit zu sagen.«

»Warum hast du danach verlangt? War das Ding, das uns heute begegnet ist, auch damals am Fenster?«

»Das oder eins, was ihm sehr ähnlich war.«

Byron wollte gerade etwas sagen, stockte aber und schaute übers Wasser zurück nach Norden. Ein plötzlicher Windstoß wehte auf das Boot zu. »Das Segel, desserrez la voile!«, brüllte er den Seeleuten zu; und dann: »Halt dich irgendwo fest«, forderte er Shelley auf.

Die Bö rollte wie eine Lawine über sie hinweg, zerriss das Segel und krängte das Boot nach Steuerbord, bis der Mast fast horizontal lag, Wasser über den Rand schwappte und vor Ruderbänke und Pinne klatschte. Einen Moment lang schien es, als wolle das Boot umschlagen. Der heulende Wind zerrte an den Händen, die sich an der Reling festzuklammern versuchten, und schleuderte Gischt in die Gesichter. Aber dann, widerstrebend wie eine Baumwurzel, die aus dem Erdreich bricht, wenn der Stamm zu Boden fällt, richtete sich der Mast wieder auf, und das fast gekenterte Boot kippte schwerfällig zurück ins aufgewühlte Wasser. Der Mann am Ruder riss die Pinne hin und her; sie klapperte lose in der Führung: das Ruder war gebrochen. Der Wind pfiff immer noch durch das zerfetzte Segel und schob eine hohe Welle vor sich her, die hundert Meter weiter vor die Felsküste brandete.

Byron zog den Rock aus und zerrte an den Stiefeln. »Uns bleibt wohl nichts anderes übrig als zu schwimmen!«, rief er gegen das Tosen an.

Shelley, der immer noch die Reling umklammert hielt, schüttelte den Kopf. »Das habe ich nie gelernt.« Sein Gesicht war bleich; trotzdem wirkte er gefasst und auf merkwürdige Weise frohgestimmt.

»Himmel! Und du nennst den See einen Verbündeten! Egal, leg' deine Sachen ab. Ich besorge uns ein Ruder zum Festhalten, und wenn du nicht in Panik gerätst, werde ich's schon schaffen, dich um diese Felsen dort herum zu führen. Zieh dir...«

Shelley musste laut rufen, um gehört zu werden, doch seine Stimme war gefasst: »Ich will gar nicht gerettet werden. Mit der eigenen Rettung hast du genug zu tun.« Er warf einen Blick auf die buckligen Felsen, die der gewaltigen Brandung widerstanden, sah dann Byron an und lächelte ihm nervös durch die herabhängenden Locken zu. »Ich hab keine Angst vorm Ertrinken, und wenn du mir ein Ruder gibst, an dem ich mich festhalten soll, verspreche ich dir, dass ich es loslassen werde.«

Byron starrte ihn eine Weile an, zuckte dann mit den Achseln und watete, sich an der Reling entlanghangelnd, nach achtern, wo sein Diener und einer der Seemänner hastig das Wasser mit Eimern zu schöpfen versuchten, das ihnen bis zu den Waden reichte. Der andere Mann zog an den Segelfetzen, um dem Wind einen Rest an Angriffsfläche zu bieten. Byron langte nach zwei weiteren Eimern und warf einen davon Shelley zu. »Wenn du Mary wiedersehen willst, schöpf so schnell wie möglich.

Shelley hielt weiter krampfhaft an der Reling fest. Aber wenig später ließ er die Schultern sinken und nickte. Er hob den schwimmenden Eimer auf und kam zu Hilfe, machte aber, wie Byron fand, einen kläglichen und leicht beschämten Eindruck, wie ein Mann, der einsehen muss, dass sein Wille schwächer ist als angenommen.

Während der nächsten Minuten waren die Männer in hektischer Bewegung und schütteten schwitzend und ächzend Eimer um Eimer voll Wasser zurück in den See. Der Mann am Segel hatte den Baum weit über die Steuerbordseite hinausgeschwenkt und schaffte es trotz gebrochenen Ruders, das Boot ein wenig in Fahrt zu bringen. Und der Wind flaute ab.

Byron gönnte sich eine kleine Pause. »Ich - habe dich falsch - eingeschätzt - was deinen Mut angeht«, keuchte er. »Entschuldigung.«

»Schon gut«, stöhnte Shelley und bückte sich, um den Eimer neu zu füllen. Er kippte ihn über den Rand und ließ sich schlaff auf eine der Bänke fallen. »Ich habe meine wissenschaftlichen Kenntnisse überschätzt.« Er hustete so wüst, dass Byron der Gedanke kam, sein Freund könnte unter Schwindsucht leiden. »Ich habe erst kürzlich vor einem dieser Wesen Reißaus genommen und England den Rücken gekehrt. Denen ist es praktisch unmöglich, Wasser zu überqueren, und der Ärmelkanal hat eine hübsche Menge davon. Dass ich auch hier welchen begegne, ist mir nicht in den Sinn gekommen, geschweige denn, dass sie mich - kennen.«

Er packte den Eimer. »Ich hatte gehofft, dass wenigstens die Schweiz frei von ihnen wäre, wegen der Hochlage. Aber jetzt glaube ich, dass das, was mich hierhergezogen hat, eben dieses - Wiedererkennen ist... Und das scheint... Ach, ich weiß nicht. Aber jetzt glaube ich, dass ich an keinen gefährlicheren Ort hätte fliehen können.« Er zog den Eimer durch das nunmehr knöcheltiefe Wasser, stand auf und hievte den Eimer auf die Reling.

Bevor er ihn leerte, wies er mit einem Kopfnicken auf die Bergspitzen ringsum. »Die können doch rufen, oder?«

Das knarrende Boot hatte die Landzunge umrundet und trieb auf den Strand von St. Gingoux zu. Leute am Ufer winkten ihnen zu.

Byron kippte noch einen Eimer Wasser über Bord und ließ ihn dann fallen. Die Wolke war weggezogen, und als er nach Süden ins Rhonetal blickte, sah er Sonnenlicht auf den Gipfeln der Dents du Midi glitzern. »Ja«, sagte er leise. »Sie rufen, und zwar mit einer ganz besonderen Stimme, die nur von bestimmten Leuten gehört werden kann, was denen aber, wie ich fürchte, nicht von Vorteil ist.« Er schüttelte müde den Kopf. »Ich frage mich, wer nicht alles auf diesen Sirenengesang reagiert.«

Shelley schmunzelte und zitierte - wohl in Gedanken an die jüngste Gefahr - aus demselben Drama, das auch seine Frau und Byron vor vier Tagen erwähnt hatten: »Ich schätze, es gibt noch manch einen anderen, der wie ein erschöpftes Schwimmerpaar, sich packend, die Kunst erdrückt

Byron sah ihn aus blinzelnden Augen an. Wieder konnte er sich aus den Worten des Freundes keinen Reim machen. »Manch einen anderen?«, fragte er verwirrt. »Du meinst wohl manch andere, oder?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Shelley, immer noch lächelnd und mit einem Blick auf den Küstenstreifen, der stetig näher rückte. »Aber nein, ich meine: ein jeder jeweils wie ein erschöpftes Schwimmerpaar.«

Über das sonnige Wasser kam ein Rettungsboot auf sie zu gerudert, und einer der Männer darauf wirbelte bereits das beschwerte Ende eines Seils in schwirrenden Kreisen durch die Luft. Byrons Seeleute kauerten im Bug und gaben händeklatschend zu verstehen, dass sie bereit waren, das Seil aufzufangen und einzuholen.

 

 

 

 

 

 

  BUCH EINS: Einladende Geste

 

 

 

»Der Feen, Peris, Göttinnen Liebreiz

Reicht nicht heran, wie nichts unter ihnen all –

Den Spukwesen aus Höhle, See und Wasserfall -,

An eine echte Frau, fürwahr entsprossen Aus Pyrrhas Steinen...«

 

-John Keats, Lamia 

 

 

 

»Und Venus segnete den Ehebund,

den sie geschlossen hatte.«

 

- Ovid, Metamorphose 

Buch X, Zeilen 94 und 95

 

 

 

 

 

 

 

  Kapitel 1

 

 

 

»...und der Mittemachthimmel loht,

ein Licht, erschreckender als Dunkelheit.«

 

- Percy Bysshe Shelley

 

 

 

»Lucy«, flüsterte die Kellnerin mit entschiedenem Nachdruck, als sie die beiden Männer am Fuß der Eichenstiege vorbeiführte. »Das müssen Sie doch inzwischen kapiert haben. Und seien Sie jetzt still, bis wir wieder draußen sind.«

Die flackernde Laterne in ihrer Hand warf einen immer schwächer werdenden Lichtschein vom Rand der Stiege auf Jack Boyd, der die Kellnerin gerade zum vierten Mal an diesem Abend nach ihrem Namen gefragt hatte und nicht abgeneigt gewesen wäre, sie nach oben zu führen, zumal er endlich - einstweilen - wusste, wie er sie anreden konnte.

»Allmächtiger, dass Sie von der Marine sind, merkt man gleich«, zischte sie verzweifelt, wand sich aus der Umarmung des betrunkenen großen Mannes und eilte durch den dunklen Flur auf die Tür zum zweiten Speisezimmer zu.

Boyd war aus dem Gleichgewicht geraten und ließ sich plump auf die unterste Treppenstufe fallen, worüber Michael Crawford, der zurückhing, damit sein schwankender Schritt nicht auffiel, die Stirn runzelte und den Kopf schüttelte. Die junge Frau aber hielt er für ungerecht, wenn sie alle Männer der Marine über einen Kamm scherte.

Appleton und die andere Kellnerin waren ein paar Schritte weiter und hatten schon das dunkle Speisezimmer betreten. Crawford hörte, wie eine Tür entriegelt und aufgezogen wurde, und der plötzlich ins Gesicht wehende kalte Luftzug roch nach Regen, Laub und Lehm.

Lucy warf einen Blick über die Schulter auf die beiden betrunkenen Männer und hielt die Flasche in der linken Hand fester gepackt. »Sie haben dafür bezahlt, dass die Bar ein, zwei Stunden länger geöffnet bleibt«, flüsterte sie. »Louise hat schon die Gläser geholt. Also, kommen Sie jetzt mit, es sei denn, Sie wollen sich ins Bett verkriechen. Und leise, bitte; der Hausherr schläft zwei Türen weiter.« Sie verschwand im Speisezimmer.

Crawford beugte sich auf wackligen Beinen vornüber und schüttelte Boyd an den Schultern. »Komm schon!« raunte er. »Du bringst nicht nur dich in Verruf, sondern auch mich.«

»In Verruf?«, murmelte der stämmige Mann und richtete sich schwerfällig auf. »Im Gegenteil, ich hab vor zu heiraten...« Er hielt inne und zog die Stirn kraus, was ihm sichtlich Mühe machte. »Die junge Frau nämlich; wie heißt sie noch gleich?«

Crawford zog ihn ins Speisezimmer und auf die geöffnete Tür in der gegenüberliegenden Wand zu, die ins Dunkle führte. Lucy wartete ungeduldig im Türrahmen. Im schwankenden Licht ihrer Laterne registrierte Crawford .das Fachwerk der Wand, und er erinnerte sich an die zwei verzierten Schornsteine, die er auf dem Dach entdeckt hatte, als die Kutsche am Nachmittag zuvor von der Horsham Road abgebogen war. Tatsächlich war die gregorianische Front des Gasthauses dem alten Tudorbau vorgesetzt worden. Es würde ihn nicht wundern, wenn der Küchenboden aus Stein bestünde.

»Wir feiern morgen eine Doppelhochzeit«, lallte Boyd und stieß im Dunklen gegen einen Stuhl. »Du hast doch nichts dagegen, so ein Glück mit mir zu teilen? Aber natürlich kann ich dann nicht dein Trauzeuge sein. Zum Kuckuck, ich wette, Appleton zeugt für uns beide.«

Das Regengeprassel wurde lauter, als sie auf die überdachte Veranda hinaustraten, und die kühle Luft wirbelte Crawfords Weinfahne auf. Die Veranda reichte, wie er feststellte, von der Tür, durch die sie gekommen waren, bis fast zu den Ställen und lag abseits vom Schlafzimmer des Hausherrn. Appleton und Louise hatten schon auf zwei der verwitterten Stühle Platz genommen, die auf den Dielenbrettern herumstanden. Lucy füllte die Gläser mit Wein.

Crawford trat an den Rand der Veranda. Der Regen fiel wie ein Vorhang nur wenige Zentimeter an seiner Nase vorbei. Draußen im dunklen Hof konnte er einen etwas helleren Grasfleck ausmachen; dahinter standen dichte schwarze Bäume, die im Wind schaukelten.

Er wollte sich gerade umdrehen, als der Himmel von einem grellen Weiß zerrissen wurde, und der Donner, der gleich darauf folgte, hob ihn fast von den Beinen und schien die Hälfte der Dachschindeln weggeblasen zu haben. Der Schrei der Frau war kaum zu hören.

»Verdammt!«, stöhnte er und sprang unwillkürlich einen Schritt zurück. Das gewaltige Echo rollte über die Landschaft von The Weald hinweg nach Osten, um im fernen Kent die Kinder zu erschrecken. »Hast du das gesehen?« In seinen Ohren summte es, und er sprach viel zu laut.

Ein paar Sekunden später stieß er prustend die Luft aus und grinste. »Die Frage war wohl dumm. Aber im Ernst, Boyd, wenn der über uns eingeschlagen wäre, hättest du mich morgen zu 'ner anderen Kirchenfeier begleiten können.«

Der Versuch zu scherzen wirkte gezwungen. Seine Stirn war plötzlich so nass, als wäre er hinaus in den Regen getreten, und die Luft hatte einen scharfen Geruch wie die Essenz aus Angst. Einen Augenblick lang schien es ihm, als würde er im Gleichtakt mit der Erde vor Schreck erzittern. Er drehte sich um. Die Augen waren schon auf die Dunkelheit eingestellt, so dass er die anderen erkennen konnte. Sie standen reglos da; die Frauen wirkten verstört.

»Keine Chance!«, rief Boyd. Er setzte sich und füllte sein Glas. »Ich weiß noch, wie Corbies Tante dir im Sturm bei Vigo vor der Nase rumtanzte. Du ziehst wohl so was an.«

»Und wer ist Corbies Tante?«, fragte Appleton amüsiert.

Crawford nahm jetzt auch Platz und zog ein Glas mit den Fingern herbei, die er kraft seines Willens vom Zittern abhielt. »Nicht wer«, antwortete er, »sondern was. Es ist Italienisch und heißt eigentlich Corposanto oder Capra Saltante oder so ähnlich und entspricht unserem Elmsfeuer, dem gespenstischen Licht, das am Masten und in der Rahnock von Schiffen hängt. Manche glauben, dass dieses Phänomen mit dem Blitz zu vergleichen ist«, fügte er hinzu, schenkte sich ein und prostete Boyd zu, bevor er einen tiefen Schluck aus seinem Glas nahm.

Boyd stand wieder auf den Beinen und zeigte auf das südliche Ende des Hofes. »Welche Gebäude sind das da drüben?«

Lucy versicherte ihm mit gereizter Stimme, dass dort keine Gebäude ständen, und forderte ihn auf, leiser zu bleiben.

»Ich hab sie aber gesehen«, beharrte Boyd. »Im Licht des Blitzes. Kleine Hütten mit Fenstern.«

»Ach, er meint die Kutschen«, sagte Louise, sah Boyd an und schüttelte den Kopf. »Da stehen nur ein paar alte Berlinen, die Blundens Vater gehören und seit dreißig oder vierzig Jahren nicht mehr bewegt worden sind. Die Polster sind wahrscheinlich längst kaputt, von den Achsen gar nicht erst zu reden.«

»Achsen? Wer braucht Achsen? Mike, kannst du nicht noch mal Corbies Tante bitten? Sie wird die Wracks schon in Bewegung bringen.« Boyd war schon von der

Veranda gesprungen und lief im Zickzack über den verdreckten Hof auf die alten Kutschen zu.

»Zum Teufel«, stöhnte Appleton und stieß seinen Stuhl zurück. »Ich finde, wir sollten ihn einfangen und zu Bett bringen. Hast du daran gedacht, Laudanum einzustecken? Wohl nicht, oder?«

»Nein. Wir sind doch im Urlaub. Ich habe nicht mal Lanzette oder Pinzette dabei.« Crawford stand auf und war ein wenig überrascht darüber, dass ihn die Aussicht, hinaus in den Regen gehen zu müssen, überhaupt nicht ärgerte. Im Gegenteil, der Gedanke an eine fiktive Kutschenfahrt hatte einen gewissen Reiz.

Er hatte den Hut in der Schankstube liegen lassen, doch der Regen fühlte sich angenehm kühl auf Gesicht und Nacken an. Er durchquerte frohgemut den dunklen Hof und verließ sich auf sein Glück, in keine der tiefen Pfützen zu stapfen. Er hörte, dass Appleton und die beiden Frauen folgten.

Boyd wankte und suchte mit rudernden Armen das Gleichgewicht. Er war nur noch wenige Meter von den schwarzen Rechtecken entfernt. Mehr war von den Kutschen noch nicht zu sehen, die, wie Crawford bald entdeckte, auf einem krumm gepflasterten Sockel standen, ein paar Zentimeter über dem Lehmboden.

Hinter ihm leuchtete ein gelbes Licht auf, hell genug, um vom nassen Laub der Bäume golden zurückgeworfen zu werden. Auch Boyd war jetzt deutlich zu sehen, als er eine der Kutschen zu besteigen versuchte. Appleton und die Frauen kamen herbei; Lucy hielt immer noch die Laterne. Crawford wartete auf sie.

»Galopp, auf, auf, ihr flüchtigen Stuten!«, grölte Boyd aus dem Innern der Kutsche. »Warum rückst du nicht näher, Tante?« 

»Wenn er denn unbedingt durchdrehen muss, ist hier der geeignete Ort dafür«, bemerkte Lucy nervös, hielt die rauchende Laterne in die Höhe und blinzelte durch den Regen nach vorn. »Die alten Karren sind sowieso nur Schrott, und Blunden wird den Krach aus der Entfernung wohl kaum hören.« Sie zitterte und ließ das Licht flackern. »Trotzdem, ich geh wieder ins Haus.«

Crawford wollte aber nicht, dass die Feier zu Ende ging - seine womöglich letzte als Junggeselle. »Wart noch!«, bat er. »Ich hol ihn da raus.« Er ging los, blieb aber bald darauf wieder stehen und musterte das Pflaster. Bei dem Regen, der auf die schlammigen Pfützen pladderte, war es nicht mit Sicherheit zu erkennen, aber er glaubte zu sehen, dass in die Pflastersteine Flachreliefs gehauen waren.

»Was hat das ursprünglich einmal dargestellt?«, fragte er. »Hat hier ein Haus gestanden?«

Appleton fluchte ungeduldig.

»Ja, vor langer Zeit«, antwortete Louise, die an Appletons Arm hing und ihm, ohne es zu wissen, Wein aufs Hemd kleckerte. »Gebaut von Römern oder so. Wir finden immer noch Stücke von Statuen und solchen Dingen, wenn im Frühling die Bäche vom Regen übers Ufer treten.«

Crawford dachte wieder an seine Spekulationen über das Alter des Wirtshauses und glaubte nun, dass er sich um mindestens ein Jahrtausend verschätzt hatte.

Boyd grölte, was keiner verstehen konnte, und trampelte mit den Beinen in der Kutsche herum.

Lucy fing wieder zu zittern an. »Es ist schrecklich kalt hier draußen.«

»Oh, bleib noch ein Weilchen!«, bettelte Crawford. Er reichte Appleton sein Weinglas und zog mit ungeschickten Bewegungen den Rock aus. »Hier«, sagte er, ging auf Lucy zu und legte ihr den Rock über die Schultern. »Der hält warm. Wir bleiben nicht lange, und außerdem hab ich dafür bezahlt, auch nach dem Zapfenstreich bedient zu werden.«

»Aber dass wir in den verfluchten Regen hinaus müssen, war nicht abgemacht. Aber gut, noch ein paar Minuten«

Appleton sah sich plötzlich um. Er schien etwas gehört zu haben, das den rauschenden Regen übertönte. »Ich - ich geh aber jetzt wieder rein«, sagte er, und zum ersten Mal in dieser Nacht fehlte seiner Stimme der sonst übliche überheblich zuversichtliche Beiklang.

»Wer bist du?«, brüllte Boyd verschreckt. Aus dem Innern der Kutsche drang ein wütendes Poltern nach draußen, und im Lampenschein sah man das Gefährt auf der alten Federung wild hin und her schaukeln. Doch die Nacht schien den Lärm zu schlucken; nicht einmal von den dunklen Baumreihen schallte es zurück.

»Gute Nacht«, sagte Appleton. Er drehte sich um und eilte mit Louise dem Wirtshaus entgegen.

»Verschwinde!«, krächzte Boyd.

»Gütiger Himmel, jetzt reicht's!« murrte Lucy und folgte Louise und Appleton. Der Regen prasselte mit einem Mal heftiger herab als je zuvor, trommelte aufs Wirtshausdach, auf die Straße und die verlassenen Hügel weit draußen in der Nacht, und durch das Plätschern hindurch glaubte Crawford einen Moment lang einen Chor schriller Stimmen aus den Wolken zu hören.

Sofort hastete er den drei anderen hinterher, und erst als er zu Lucy aufschloss, fiel ihm ein, dass er Boyd allein zurückgelassen hatte. Wie in Krisenmomenten so üblich, drängten sich unschöne Bilder seiner Vorstellung auf: ein gekentertes Boot in aufgewühltem Wasser, ein Haus in Flammen, gesehen von der Kneipe gegenüber - er wollte auf keinen Fall die Erinnerung an diesen Hinterhof mit aufnehmen in den quälenden Bilderbogen. Als sich Lucy ihm zuwandte, dachte er sich deshalb blitzschnell eine Ausrede aus, um nicht zugeben zu müssen, dass er ihr aus Angst gefolgt war.

»Mein Ring«, keuchte er. »Der Ehering, den ich morgen meiner Braut geben muss - der ist im Rock. Entschuldige einen Augenblick!« Er langte in die Jackentasche, kramte darin herum und zog den Ring dann zwischen Daumen und Zeigefinger hervor. »Das war's.«

Im Licht der Laterne, die sie trug, sah er, wie sich ihr Gesicht verfinsterte in Reaktion auf die Beleidigung, die seine Ausrede anklingen ließ. Entschlossen machte er kehrt und eilte zu Boyd zurück, der im Finstern herumzeterte.

»Ich komm ja schon, du Esel!«, rief Crawford und versuchte, die Nacht mit zuversichtlicher Stimme zu beeinflussen

Wie ein Seemann, der einer Operation unterzogen wird und dabei auf eine Kugel beißt, so fest umklammerte die Hand den Ehering. Wenn das Schmuckstück hier im Schlamm verloren ginge, könnte er jahrelang danach suchen.

Boyds Schreie übertönten das Rauschen des Regens.

Crawfords enge Reithose hatte keine Taschen. Er hatte Angst, dass ihm der Ring vom Finger gleiten könnte, wenn er sich mit Boyd würde balgen müssen. Deshalb sah er sich um nach einem aufrechten Zweig oder einer anderen Stelle, wo er das Schmuckstück ablegen konnte. Da entdeckte er die weiße Statue, die vor der Rückwand des Stalls stand.

Die lebensgroße Skulptur stellte eine nackte Frau dar, die mit der erhobenen linken Hand lockend winkte, und als Boyd wieder zu schreien anfing, stürzte Crawford durch den Schlamm auf die Statue zu, schob den Ring über den Ringfinger der erhobenen Steinhand und lief auf die zerfallenen Kutschen zu.

Es war nicht schwer herauszufinden, in welcher der verrückte Marineleutnant steckte; die Kutsche wackelte so stark, dass sie auseinanderzubrechen drohte. Es sah so aus, als würde sie über einen steilen Berghang ins Tal rasen. Crawford eilte herbei, langte nach dem Türknauf und riss den Verschlag auf.

Zwei Hände flogen ihm aus der Dunkelheit entgegen und packten ihn beim Hemdkragen. Er schrie auf, als Boyd ihn in den Innenraum zerrte. Der große Mann warf ihn auf einen der nach Schimmel stinkenden Sitze und stieg über ihn hinweg auf die Türöffnung zu. Polsterfetzen hatten sich um Boyds Füße geschlungen und ließen ihn der Länge nach hinschlagen; doch war es ihm gelungen, seinen Oberkörper ins Freie zu wuchten.

Für einen Moment glaubte Crawford, das entfernte Singen wieder zu hören, und als ihm etwas Weiches über die Wange strich, stieß er einen Schrei aus, so laut wie Boyd, und sprang, wie von einer Tarantel gestochen, auf die Füße. Er wollte sich schon über den Kameraden werfen, blieb aber stehen, eng an die Wand geschmiegt, und entspannte sich ein wenig, denn er fühlte, dass die haarige Füllung aus dem aufgeplatzten Polster quoll und sich wie die Bürste eines wütenden Hundes aufgerichtet hatte. Was ihm also soeben übers Gesicht gefahren war, schien nur die Polsterfüllung gewesen zu sein.

Na schön, sagte er sich im Stillen, zugegeben, seltsam ist es ja, aber kein Grund, die Nerven zu verlieren. Eine durch das Gewitter hervorgerufene elektrostatische Kraft hatte wohl die Rosshaare aufgeladen und aufgerichtet. Jetzt galt es, den armen Boyd zurück ins Gasthaus zu schaffen.