Inhaltsverzeichnis


Einleitung

Vorwort
Amerika, hast du es besser?
Wie der Pioniergeist das Land im Guten wie im Schlechten geprägt hat

Eine Nation entsteht

Die Heiligen & die Anderen
Plymouth oder Jamestown? Zwei Städte und die Frage, wo der Geburtsort Amerikas liegt
Prinzessin im Korsett
Legende & Wahrheit: die Indianerin Pocahontas
„Dem Verderben entrinnen“
Germantown und die deutschen Auswanderer
Die Tabakspfeife
Aufschwung für Virginia
Töchter des Königs
Das französische Riesenreich in Nordamerika
Der Groß-Administrator
Das epische Leben des US-Gründervaters Hamilton
Ein Musical schreibt Geschichte
„Hamilton“ am Broadway
Der Apostel von San Diego
Spanische Missionare setzten sich in Kalifornien fest

Der Kontinent wird erobert

Der kalte Tod
Wie Pioniere zu Kannibalen wurden - die dramatische Geschichte der „Donner Party“
Die Wasser-Hochzeit
Der Eriekanal sorgte für ein Wirtschaftswunder
Einfach leben
„Walden“-Autor Henry David Thoreau, ein zeitloses Vorbild für Individualisten
Ein Kontinent unter Kontrolle
Die Monroe-Doktrin
„Die große Tat der Annexion“
Im mexikanisch-amerikanischen Krieg erweiterten die USA ihr Territorium
Der letzte Jagdgrund
Der vergebliche Sieg des Häuptlings Red Cloud
Fabriken gegen Plantagen
Im Sezessionskrieg ging es vor allem um ökonomische Fragen
Die zweite Heimat
Wie der deutsche Revolutionär Friedrich Hecker in den USA für die Freiheit kämpfte
Sehnsucht nach Helden
Legende & Wahrheit: Baseball
General Moses
Harriet Tubman, eine Heldin der Sklavenbefreiung
Der Kastor hut
Krieg um den Pelz

Modern Times

Der elektrische Mensch
Die genialen Erfindungen des Thomas Alva Edison
Made in USA
Der Scheibenwischer und andere Geistesblitze
„Man kann ihm nicht befehlen“
Wie der Mississippi das Land geprägt hat
Angriff aufs Big Business
John D. Rockefeller und die Antitrust-Gesetze
Dreck fressen
Im Westen waren „Black Cowboys“ keine Seltenheit
Die Jeans
Gold und Nieten
Ungeliebter Meister
D. W. Griffith war der erste Kaiser von Hollywood
Vater des Völkerbunds
Traum und Wirklichkeit des Präsidenten Woodrow Wilson
Das Werk der „Madam Secretary“
Wie Francis Perkins, die erste Frau in einem Ministeramt, den „New Deal“ verwirklichte
Drei von sechs
Legende & Wahrheit: Iwo Jima

The American Way of Life

Gutes Amerika, böses Amerika
Der Aufstieg zur Weltmacht nach 1945
Die Computermaus
Technik zum Begreifen
Oh say, can you see
Das Flaggenbild von Jasper Johns
Zwei gegen die Welt
Die Geschichte von Afeni und Tupac Shakur
Engel der Zerstörung
Die Ideen einer Bankerin führten zur Finanzkrise
Auf dem Ozean zu Hause
Der Surf-Pionier Kelly Slater
Am falschen Ort
Legende & Wahrheit: Woodstock
Obamas Vermächtnis
Was bleibt vom 44. Präsidenten?
„Du bist gefeuert“
Donald Trump, der bisher schrillste Präsident in der US-Geschichte
„Weltreiche kommen und gehen“
Die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt im Interview

Anhang

Buchempfehlungen
Impressum
Einleitung

Vorwort

Aufbruch, Wagemut und Optimismus: Der Pioniergeist der Menschen, die ab dem frühen 17. Jahrhundert den nordamerikanischen Kontinent eroberten, prägt bis heute das Selbstverständnis der USA. Der Stolz, den ersten modernen demokratischen Staat geschaffen zu haben, beflügelte die Nation und trug dazu bei, dass die Vereinigten Staaten zu einer Weltmacht wurden. Aber auch Härte und Rücksichtslosigkeit, gegen sich und andere, kennzeichneten die Pioniere. Opfer dieser Mentalität waren und sind vor allem Afroamerikaner und Indianer. 
In einer Zeit, in der die unstete US-Politik von Präsident Trump die Welt bewegt, ermöglicht es dieses E-Book, neben der Geschichte auch die heutige Lage des Landes besser zu verstehen. Der Bogen reicht von der Ankunft englischer Siedler in Jamestown und Plymouth über die Befreiung von der Kolonialherrschaft, die Landnahme im Westen bis zur globalen Machtausübung als Weltpolizist im 20. und 21. Jahrhundert.
An zahlreichen Beispielen zeigt das SPIEGEL E-Book nicht nur die großen politischen und gesellschaftlichen Linien, sondern auch technische Pioniertaten, wie sie dem Erfinder Thomas Alva Edison gelangen, oder kulturelle Innovationen, etwa die des Malers Jasper Johns oder des Rappers Tupac Shakur. Immer wieder wird deutlich, wie sehr das Selbstbild des Landes von Legenden und Überhöhungen geprägt ist, sei es in der Erzählung von der »Indianerprinzessin« Pocahontas oder in der Überlieferung des Kampfes um die befestigte Missionsstation Alamo im mexikanisch-amerikanischen Krieg. In einem ausführlichen Gespräch analysiert die Schriftstellerin Siri Hustvedt das charakteristische Sendungsbewusstsein der USA und beschreibt auch die Schattenseiten ihrer Nation. Aber noch immer, sagt Hustvedt, gebe es viel Verbindendes: »Das Land ist gegründet auf den Menschenrechten und den Prinzipien der Aufklärung. Das Gefühl, gemeinsam etwas Neues begonnen zu haben, bestimmt das Selbstverständnis, quer durch alle Schichten.« 
Anke Dürr
Einleitung • Essay

Amerika, hast du es besser?

Immer vorwärts: Mit Mut, Optimismus und Härte gegen sich und andere eroberten Einwanderer aus aller Welt den nordamerikanischen Kontinent. Bis heute ist der Pioniergeist in den USA ein lebendiger Mythos. Von Willi Winkler
All the past we leave behind, /
We debouch upon a newer mightier world, varied world, /
Fresh and strong the world we seize, world of labor and the march, /
Pioneers! O pioneers!

Walt Whitman, 1865

Das Ende kam 1979. Lange Schlangen bildeten sich an den Tankstellen, die nicht mehr genügend Nachschub bieten konnten. Die Abhängigkeit vom arabischen Öl rächte sich. Der Preis für eine Gallone Benzin übersprang die Marke von einem Dollar. Der Treibstoff wurde so knapp, dass einige Autofahrer anfingen, beim Warten aufeinander zu schießen. Harry Angstrom, der Held in John Updikes Roman „Bessere Verhältnisse“ (1981), beobachtet, was nicht mehr zu übersehen ist: „dass die große amerikanische Autofahrt zu Ende geht“.
Das Auto war nur das letzte Symbol für die gottesfürchtige Landnahme, die aus einer bescheidenen Siedlung frommer, aus Europa geflohener Ketzer einen Staatenbund werden ließ, der sich unaufhaltsam über Flüsse und Berge, über Wüsten und Prärien ausdehnte und schließlich – „from sea to shining sea“ – bis an den Pazifik reichte. Eine Nation nicht nur, sondern das mächtigste Land der Erde, und mit einem Mal versackt in tiefster Depression.
Trapper und Pelzhändler, Rinderzüchter und Viehdiebe, Soldaten, Marketender und Huren, Missionare und Wirtschaftsflüchtlinge, Goldgräber und ganz gewöhnliche Glücksritter waren die Pioniere, die das weite Land erobert hatten. Dass unterwegs fast alle Indianer umgebracht werden mussten, um den Siedlern, die Weideland brauchten, eine neue Heimat zu verschaffen, verzeichnet das Legendenbuch von der großen Wanderung westwärts bestenfalls als Kollateralschaden.
So wurde ein Mann wie Daniel Boone zum Helden der amerikanischen Folklore, weil er 1778 nicht bloß eine Zeit lang in der Wildnis lebte und sogar von Indianern adoptiert wurde, ehe er ihnen doch entkam und wieder Krieg gegen sie führte. In der Sage war Boone bald nicht mehr zu unterscheiden von dem „Lederstrumpf“, den James Fenimore Cooper einige Jahrzehnte später als ewigen Jäger in die Wälder schickte. Buffalo Bill war dafür keine Erfindung, sondern ein echter Schlächter: Der Scout William Cody bekam seinen Beinamen nicht umsonst, er hatte dafür Tausende Büffel abgeknallt, nur so zum Spaß, aus Rekordsucht, und weil aus dem Osten immer neue Siedler herandrängten, die den Weidegrund für sich beanspruchten. Noch erfolgreicher wurde Cody als Zirkusattraktion. Mit seiner Wildwestshow begeisterte er nicht nur seine Landsleute, sondern am Ende des 19. Jahrhunderts auch ganz Europa. Der Papst sogar empfing ihn, er trat vor Kaiser und Königen auf und prägte für immer das Bild des schießfreudigen Westerners – der Archetyp des Pioniers, der es mit den Indianern aufgenommen, die Wildnis urbar gemacht und dem Land die Zivilisation beigebracht hatte.
Bis heute liefert der Pionier als Wald- und Wiesenläufer das amerikanische Ideal. Wie lebendig der Mythos ist, zeigte sich noch 2004, als Präsident George W. Bush jene großherzigen Spender, die für seine Wiederwahlkampagne jeweils mindestens 100 000 Dollar einsammeln konnten, zu „Pionieren“ ernannte.
Der Pionier gehört zu Amerika, weil er die ewige Jugend verkörpert. Goethe kam natürlich nie bis Amerika, aber wie alle Europäer, die ehemaligen englischen Kolonialherren begreiflicherweise ausgenommen, bewunderte er das Neuland wegen dessen Jugendfrische. „Amerika, du hast es besser / Als unser Kontinent, das alte, / Hast keine verfallene Schlösser / Und keine Basalte“. Ein sagenhafter Reim. Auch der Dichter Walt Whitman wollte mit dem Alten, mit der ganzen Vergangenheit aufräumen, als er die Pioniere marschieren ließ.
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An der Südspitze Manhattans, mitten im Börsenviertel der Wall Street, steht ein Denkmal für den Verleger Horace Greeley, der den amerikanischen Imperativ „Go West, young man!“ populär gemacht hat. Millionen sind dieser Aufforderung gefolgt, Millionen Einwanderer aus Europa, die ihr Heil im „Gelobten Land“ suchten, später weitere Millionen, die innerhalb des Landes weiterzogen, jeder einzelne ein Pionier.
Greeley meinte seinen Appell allerdings pädagogisch, zumal der bald um die Forderung ergänzt wurde „and grow up with the country“. Reifen sollte der junge Mann und wie das Land endlich erwachsen werden. Dass die beiden es geschafft hätten, der junge Mann und das Land, ist schon durch den Erfolg des entschlossen unreifen Donald Trump widerlegt. Dabei folgt auch Trump der amerikanischen Ideologie, die Herman Melville bereits 1850 formuliert hat. Der Schriftsteller wusste, dass Amerika seine Zukunft noch vor sich hatte und deshalb der „Nachwelt als Lehrer dienen und nicht Schüler vergangener Generationen“ sein sollte. Von Melville, der in „Moby Dick“ den epischen Kampf nicht mit einem weißen Wal, sondern mit dem Bösen persönlich schilderte, stammt auch die deutlichste Umschreibung des amerikanischen Exzeptionalismus: „Wir sind die Pioniere der Welt; die Vorhut, ausgesendet in die Wildnis, unversuchter Dinge, um einen neuen Pfad in die Neue Welt zu schlagen, die die unsere ist.“
1893, als die Eroberung des Kontinents abgeschlossen war, veröffentlichte der Historiker Frederick Jackson Turner seinen ersten Aufsatz über die frontier, die ebenso reale wie mythisch aufgeladene Grenze. In den folgenden Jahren entwickelte er daraus eine wirkmächtige Theorie, wonach Amerika als Nation und Kultur erst durch die Ausdehnung nach Westen entsteht und von dort aus, von der Wildnis, den bereits stabilisierten Osten neu formt. Diese Theorie ist vielfach bestätigt und noch öfter bezweifelt worden, aber Turner hat damit den Begriff gefunden, der das amerikanische Selbstverständnis bestimmt und verhindert, dass diese Nation altert. Die frontier muss dann, wie die Filme von John Ford beweisen, irgendwo vor dem Prospekt des Monument Valley gelegen sein, am besten ein weit vorgeschobenes Fort, draußen die Indianer, drinnen eine drohende Meuterei, Frauen, die vor einer schweren Geburt stehen, Männer, die versagen, andere, die über sich hinauswachsen und sich zu einem der Helden entwickeln, die das Land braucht.

Nicht erst Hollywood machte Kalifornien zum Fluchtpunkt aller Sehnsucht, auch die Okies, die Farmer im Mittleren Westen, die als Opfer von Misswirtschaft und Dürre in den Dreißigern nach Westen aufbrachen. Das Auto erhob jeden zum Pionier, der sich, inzwischen ohne Lebensgefahr, ins Unbekannte aufmachen konnte. Mehr als der unberechenbare Indianer, der einen jederzeit skalpieren konnte, war doch die unendliche Weite des Landes zu fürchten.
Noch bedrohlicher ist die Stagnation, von der die Nation in unregelmäßigen Abständen befallen wird. In den Fünfzigerjahren schien aus dem beständigen Unterwegssein plötzlich ein rasender Stillstand geworden zu sein, das Land drohte zu altern. Die Vereinigten Staaten hatten Hitler besiegt und den Krieg gewonnen, Großbritannien und Frankreich hatten ihr Kolonialreich aufgeben müssen, aber es waren weiter die alten Männer, die über die freie Welt regierten. Das Fernsehen kam auf und förderte die Familie, die Häuslichkeit, die Sesshaftigkeit. Doch so bleiern die Eisenhower-Jahre auch waren, die Sehnsucht nach einem Aufbruch war so wenig vergessen wie der Appell Greeleys, sich nach Westen aufzumachen.
In dieser Verlangweiligung der Verhältnisse feiert Jack Kerouac (der selber gar nicht Auto fahren konnte) in seinem eruptiven Buch „On The Road/Unterwegs“ (1957) den Rausch des Fahrens als Selbstzweck. Bobby Troups Hymne auf die Route 66 (1946) besteht fast nur in einer Aufzählung der Orte entlang dieser Straße, die von Chicago nach Los Angeles führt. Selbst der Lüstling Humbert Humbert in Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“ (1958) muss den Blick von seiner Nymphe wenden, wenn er auf der Reise durch die Vereinigten Staaten die Merkwürdigkeiten entlang der Landstraße anstaunt.
Keiner hat diese Sehnsucht besser verstanden als John F. Kennedy, der millionenschwer geborene Nachfahre blutig armer irischer Einwanderer. Kennedy beschwört bei seiner Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Demokraten eine „new frontier“ und erneuert damit das amerikanische Glaubensbekenntnis zum Pioniergeist. Mit dem Slogan „Let's get America moving again“ zieht Kennedy in den Wahlkampf. An der Schwelle der Sechzigerjahre schwärmt er (oder vielmehr sein genialer Redenschreiber Ted Sorensen) von den „unbekannten Möglichkeiten und Gefahren“, die die Pioniere in diesem Neu- und Grenzland erwarteten. Nicht von Alaska spricht er, das erst im Jahr zuvor als Bundesstaat in die Union aufgenommen worden ist, er meint die Zukunft. Kennedy fordert einen neuen Aufbruch, nicht nach Westen diesmal, sondern nach vorn, ins Ungewisse, ein Unternehmen, das an neue Grenzen führen muss. „Viel leichter wäre es, vor dieser Grenze zurückzuschrecken und sich mit der sicheren Mittelmäßigkeit der Vergangenheit zufriedenzugeben“, aber genau das soll das wieder erwachende Amerika nicht.
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Amerika befindet sich im Kalten Krieg mit der Sowjetunion, und so vergisst Kennedy auch nicht, mit der Bedrohung durch den Kommunismus zu operieren. Aber noch besser ist er, wenn er mit biblischem Pathos und ciceronischer Rhetorik an den Pioniergeist seiner Landsleute appelliert. Ihren Stolz wolle er erreichen und nicht ihren Geldbeutel, sagt er, und dass sie eher Opfer bringen müssten, als dass sie einen Profit davon erwarten könnten. Vor allem wendet er sich gegen die Trägheit, den Stillstand, das vorzeitige Altern des amerikanischen Traums.
Kennedy wird 1960 als bis dahin jüngster Präsident ins Amt gewählt und verkündet sein berühmtes patriotisches Credo: Nicht nach Betreuung durch den Staat sollten die Amerikaner fragen, sondern danach, was sie selber für ihr Land tun könnten, „ask what you can do for your country“.
Dass in der Folge für dieses Land und für diese Idee fast sechzigtausend Männer sterben würden, konnte er nicht wissen, es war in diesem idealistischen Aufbruch nicht vorgesehen. Die Erweiterung der Grenze nach Südostasien, die Verlagerung der frontier in den vietnamesischen Dschungel, ist Amerika nicht gut bekommen, sowenig wie die späteren Kriege in Afghanistan und im Irak.
Als umso erfolgreicher erwies sich der Vorstoß in eine völlig andere Dimension, in den Weltraum. Nur wenige Monate nach seinem Amtsantritt erschien Kennedy im Kongress und forderte Geld für ein Vorhaben, das „schwieriger und teurer“ als alles bisher Gewohnte sein würde. „Ich bin der Meinung“, verkündete er, „dass diese Nation sich zu einem Unternehmen verpflichten sollte, mit dem noch vor Ende des Jahrzehnts ein Mensch auf den Mond befördert und sicher wieder zurückgebracht“ würde. Unwahrscheinlicherweise gelang es. Es gelang nicht nur, die Russen einzuholen, die bereits 1957 den ersten Satelliten ins All gejagt und Amerika damit tief gedemütigt hatten. Im Juli 1969 landeten Neil Armstrong und Buzz Aldrin auf dem Mond, hissten für das Farbfernsehen zu Hause das Sternenbanner und kehrten unbeschadet wieder zur Erde zurück.
Das Versprechen Kennedys war erfüllt, wenn auch mit der schrecklichen Pointe, dass es Richard Nixon war, sein bei der Wahl 1960 unterlegener Gegner, der die neuen Helden der neuesten frontier begrüßen durfte. Denn Kennedy war der unerfreulichsten Erscheinung des amerikanischen Exzeptionalismus zum Opfer gefallen, dem Recht, jederzeit zu schießen. Wer sich draußen in der Wildnis befindet, im unerforschten Grenzland, muss selbstverständlich der Gefahren gewärtig sein, die ihm von blutrünstigen Indianern und wilden Tieren drohen könnten. Die Waffe erst macht den Mann zum Pionier, er ist wieder in der Prärie und verteidigt die Zivilisation gegen die Barbaren. Darum kann sich bis heute jeder Eigenheimbesitzer, der einen herumstrolchenden Austauschschüler für einen Einbrecher hält und ihn deshalb erschießt, auf das Second Amendment berufen, den zweiten Verfassungszusatz, der nicht das Schießen untersagt, sondern jede Einschränkung des „Rechts der Menschen, Waffen zu haben und zu tragen“.

Der Aufbruch in den Weltraum bestätigte Melvilles Forderung, und wie von ihm erhofft, sollte das Unternehmen der ganzen Menschheit dienen. Doch binnen wenigen Jahren war das jugendliche Feuer der Sechziger auch schon wieder erloschen. Wieder einmal folgte der Euphorie die Depression. Die Raumfahrt war nicht mehr bezahlbar. Der mörderische Krieg in Vietnam hatte die Finanzen erschöpft, mit Watergate und dem Ölpreisschock der Siebziger setzte eine nationale Stagnation ein, in der nicht nur die amerikanische Autofahrt zu Ende ging, sondern der ganze jugendliche Elan vorbei war, der Amerika immer weiter vorangetrieben hatte. Die alten Industrieanlagen wurden abgewrackt, die Fabriken wanderten erst in den energiesparsamen Süden, dann ganz nach Übersee. Dort, wo sich einst der Urwald dehnte, in dem sich der „Lederstrumpf“ herumtrieb, verkam das amerikanische Herzland zu einer riesigen Brache.
Noch vor wenigen Jahren, als der norwegische Autor Karl Ove Knausgård „unter dem grau-weißen Himmel, an heruntergekommenen Gebäuden, die sich abwechseln mit Gruppen farbloser Bäume in farblosen Feldern“, vorbeifuhr, beschlich ihn das deutliche Gefühl, „dass hier etwas vorbei war, dass etwas ausgeleert worden war und niemals wieder zurückkommen“ würde. Dafür entstand wiederum etwas Neues, denn der Pioniergeist ist ungebrochen. Aus der Wirtschafts-, die auch eine Bewusstseinskrise war, wie sie Updike geschildert hatte, erstand ein neu geborener Optimismus. Verspätet kam Ende der Siebziger die Nationalhymne der Hippies heraus, „Don't Stop“ von Fleetwood Mac. Das Gestern ist für immer vorbei, und nie, nie, nie, forderte Christine McVie mit ihrer kratzigen Altstimme, sollten sie aufhören, an morgen zu denken. Bill Clinton zog mit diesem Wahlkampfschlager 1993 ins Weiße Haus ein. Bill Gates und Steve Jobs hießen die neuen Pioniere, die im Geist Melvilles und Kennedys in die Wildnis der unerforschten Dinge vordrangen, das Internet und der Cyberspace wurden die neue frontier.
Und siehe da, für ihr Geld können diese Pioniere sogar wieder Raketen bauen, die ein weiteres Mal den Weltraum erobern sollen. Für Jeff Bezos und Elon Musk darf der Himmel kein Hindernis sein, das Abenteuer geht weiter. Auch die Ausgabe des Magazins „Wired“, die der scheidende Präsident Barack Obama betreut hat, widmet sich der frontier, die nach dem Willen des Gastredakteurs von den Bürgerrechten bis zur Weltraumfahrt reichen soll.
Und selbst ein Ungut wie Donald Trump, der zum Anwalt des aufgegebenen Herzlandes geworden ist, kann noch vom Pioniermythos profitieren, wenn er fordert: „Make America great again“. Auch er beruft sich auf eine glorreiche Vergangenheit, die wieder Gegenwart und Zukunft werden soll. Trump hat Hotels und Spielkasinos aus dem Boden gestampft, und alles gewissermaßen mit seiner Hände Arbeit, was ihn, so die unwiderstehliche Logik, auch dafür prädestiniert hätte, ins Weiße Haus einzuziehen, um dort wie ein Wilder unter Wilden zu wüten. Wer es wissen wollte, wusste, dass diese Erfolgsgeschichte vor allem eine Legende ist, dass bereits sein Vater reich war und den Sohn mit einem Millionenstartkapital ausstattete und dass Trump als Unternehmer mehrfach falliert hatte. Aber wie man im Westen oder jedenfalls im Western sagt: „Wenn die Legende zur Wahrheit geworden ist, druck die Legende.“
Eine Nation entsteht

Die Heiligen & die Anderen

Jamestown oder Plymouth ? Auf der Suche nach dem wahren Geburtsort Amerikas Von Anke Dürr
Die Geschichte der USA ist eine Geschichte von Pioniertaten. Erster sein, das wird schon den Kindern in der Schule beigebracht, ist ein Wert an sich: Lewis und Clark waren die Ersten, die einen Weg über die Rocky Mountains zum Pazifik fanden, James Marshall fand das erste Gold in Kalifornien. Kathryn Bigelow ist die erste Frau, die einen Regie-Oscar gewann, Barack Obama ist der erste afroamerikanische Präsident.
Ausgerechnet beim Gründungsmythos der amerikanischen Nation aber werden bis heute die Zweiten gefeiert: Plymouth, der Ort, an dem die sogenannten Pilgerväter am 20. Dezember 1620 von Bord der „Mayflower“ gingen, gilt als die Keimzelle der USA. Dass knapp 1000 Kilometer südlich in Virginia bereits seit 1607 die britische Kolonie Jamestown bestand, ist weit weniger im allgemeinen Bewusstsein verankert.
Woran liegt das? Warum gilt Plymouth, Massachusetts, als Ursprung der amerikanischen Mentalität, von Mut, Risikobereitschaft, Freiheitswillen, Pioniergeist, und nicht Jamestown, Virginia? Was hat Plymouth Jamestown voraus, das den zeitlichen Nachteil von 13 Jahren wettmacht?
Der Schauwert ist es jedenfalls nicht. Kaum etwas ist in Plymouth von damals erhalten. Nur den „Plymouth Rock“ gibt es, einen erstaunlich kleinen Steinbrocken (der „Boston Globe“ verglich ihn mit einer „überdimensionalen Kartoffel“), der am Strand unter einer Art Tempelhalle liegt. Die Touristen stehen meist etwas enttäuscht an der Balustrade und blicken ratlos hinunter auf den Ort, an dem die Pilgerväter zum ersten Mal ihren Fuß aufs amerikanische Festland gesetzt haben sollen. Wirklich historisch belegt ist das nicht, doch die Symbolik ist unschlagbar: „Es ist nicht schlecht für eine Nation, auf einen Fels gegründet zu sein“, heißt es auf einer Tafel neben dem Stein.
Die Geschichte der Pilgerväter in Plymouth wird erzählt als die von Idealisten – rechtschaffenen Menschen, die die lange, gefährliche Überfahrt riskierten, um in der Neuen Welt ihre Religion frei ausüben zu können. Bereits vor der Landung schufen sie mit dem „Mayflower Compact“ rechtliche Grundlagen für ihre Gemeinschaft, eine Art Miniverfassung. Sie kamen mit Frauen und Kindern, und ihr erstes „Thanksgiving“ (Erntedankfest) feierten sie in friedlicher Eintracht mit den Indianern. In dieser Darstellung sind sie die idealen Uramerikaner. Aber es ist nur ein Teil ihrer Geschichte.
Jamestown hingegen war zunächst eine reine Männergemeinschaft. Auf den ersten Blick eine Versammlung von Abenteurern, darunter viele Angehörige der „gentry“, des niederen britischen Adels, gekommen, um Profit zu machen. Großes Interesse findet bis heute vor allem die märchenhafte Begegnung mit dem Indianermädchen Pocahontas ().
Zeugnisse dieser Zeit lassen sich heute im Museum von Jamestown besichtigen: Alltagsgegenstände, die man bei den umfangreichen Ausgrabungen seit 1994 hier gefunden hat und die von einem harten Alltag zeugen. Man kann sich kaum vorstellen, mit welch einfachen Werkzeugen die Siedler den neuen Kontinent urbar machen wollten.
Das war in Plymouth nicht anders. Betrachtet man die Geschichten der Kolonien Plymouth und Jamestown genauer, gibt es in ihren Anfangsjahren große Parallelen. An beiden Orten hatten die Menschen mit den gleichen Problemen zu kämpfen: mit Hunger, Krankheiten, Kälte. Sie mussten einen Umgang mit den Indianern finden und einen Weg, ihre Gemeinschaft zusammenzuhalten. Dass Plymouth heute mit dem Slogan „America's Hometown“ wirbt, hat genauso seine Berechtigung wie die Bezeichnung „English America's Founders“, die Jamestown für sich reklamiert. In der Geschichte beider Orte sind jedoch auch Dinge geschehen, die in einem Gründungsmythos keinen Platz haben. Die Gründe, warum der eine Ort idealisiert, der andere marginalisiert wurde, liegen vor allem im 19. Jahrhundert.

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Virginia, 1607. 104 englische Männer waren an Bord der drei Schiffe, die nach vier Monaten Überfahrt im April 1607 die Chesapeake Bay in Virginia erreichten und von dort aus den James River noch 50 Meilen flussaufwärts segelten. Auf einer kleinen, dem Ostufer vorgelagerten Insel errichteten sie schließlich ein Fort – die Siedlung, die bald Jamestown heißen sollte, benannt nach dem britischen König James I.
Die Männer waren losgeschickt worden von der Virginia Company of London. Diese Gesellschaft sollte im Auftrag der englischen Krone eine Kolonie gründen, in dem Gebiet, das gut 20 Jahre vorher bei einer Expedition den Namen Virginia erhalten hatte. Der britische Machtanspruch in Europa war nur zu verteidigen, wenn man verhinderte, dass sich die Spanier, reich geworden durch die Ausbeutung Südamerikas, nicht auch noch im Norden des Kontinents festsetzten. England wollte selbst eine Kolonialmacht werden. Entsprechend lautete der Auftrag an die Siedler: Gold finden, einen Wasserweg nach Asien suchen, die Ureinwohner bekehren und Waren nach England exportieren.
Die Siedler ließen sich darauf ein, weil man ihnen Landbesitz in Aussicht stellte: Nach sieben Jahren Arbeit für die Company erhielten sie von der Krone ein Stück eigenes Land. Die Adligen unter ihnen waren meist Zweitgeborene, sie wären als Erben in England leer ausgegangen und hätten allenfalls in der Armee oder als Pfarrer Karriere machen können. Die anderen Männer waren Handwerker, ausgesucht nach den benötigten Fähigkeiten, sowie Soldaten, ungelernte Arbeiter und Diener – in der englischen Ständegesellschaft wären sie niemals zu Grundbesitz gekommen.
Zunächst wollte aber die Virginia Company Erträge sehen für das Geld, das sie in die Expedition investiert hatte. Für die Siedler ging es erst einmal ums nackte Überleben: Keine zwei Wochen waren vergangen, da wurden sie von den Powhatan-Indianern angegriffen, woraufhin sie innerhalb von 20 Tagen ein Fort im Westen der Insel errichteten, einen dreieckigen Palisadenzaun mit Ausbuchtungen für die mitgebrachten Kanonen in allen drei Ecken.
Schnell stellten sie fest, dass es kein Trinkwasser auf der Insel gab. Obwohl sie Brunnen gruben, blieb die Wasserversorgung problematisch: Wie man heute weiß, landeten die Siedler zu Beginn einer mehrjährigen Dürreperiode in Virginia. Über den Herbst und den ersten Winter starben mehr als die Hälfte der Männer an den Folgen von Hunger, Kälte und Krankheiten oder weil sie Brackwasser getrunken hatten.
Die Lage in Jamestown verbesserte sich kurzzeitig, als John Smith das Kommando übernahm. Smith war zur See gefahren und hatte als Soldat für verschiedene Armeen in ganz Europa gekämpft – ein klassischer Abenteurer. Nachdem er von den Powhatan gefangen genommen worden war und in dieser Zeit von Pocahontas die fremde Sprache gelernt hatte, erkundete er den James River.
Smith beginnt, mit den Powhatan zu handeln. Im Herbst 1608 wird er zum Präsidenten der Kolonie gewählt und gibt die biblische Order aus: „He who will not work shall not eat.“ („Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.“) Dennoch hält sich lange die Legende, dass die faulen vornehmen Herren Mitschuld trugen an den großen Startschwierigkeiten der Kolonie.
1609 geht John Smith zurück nach England. Der folgende Winter ist eine weitere furchtbare Hungerperiode: Die Powhatan bedrohen das Fort. Weil zuvor Schiffe mit neuen Siedlern angekommen sind, leben nun rund 300 Menschen innerhalb der Umzäunung, darunter auch Frauen. Die Eingeschlossenen essen in ihrer Verzweiflung Hunde, Schlangen, Schuhsohlen und schließlich auch eine 14-Jährige, die zuvor gestorben war. Hinweise auf diese Untat gibt es schon in Aufzeichnungen damaliger Bewohner, den Beweis allerdings fand man erst jetzt: Die Schlagspuren an dem Schädel, der 2012 bei den Ausgrabungen in Jamestown gefunden wurde, ließen keinen anderen Schluss zu als Kannibalismus.
Nur 60 Menschen überleben den Winter. Sie beschließen, die Kolonie aufzugeben. Ihr Rückzug wird aber gestoppt, noch bevor sie die Mündung des James River erreichen – auf dem Fluss kommt ihnen ein englisches Schiff entgegen, mit neuen Männern, neuen Vorräten und einem neuen Gouverneur an Bord: Thomas West, Lord de la Warr, entsandt von der britischen Krone. Der Mann, nach dem der Bundesstaat Delaware benannt ist, scheucht die Siedler zurück in ihre Kolonie. Die blutigen Auseinandersetzungen mit den Indianern dauern auch in den nächsten Jahren an.
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Es ist, man muss es zugeben, keine ideale Story für einen Gründungsmythos. Erst von 1614 an ändert sich die Situation, als der Virginia-Tabak zum Exportschlager wird (). 1619, noch ehe die Pilgerväter nach Plymouth aufbrechen, findet eine Generalversammlung in Jamestown statt. Sie gilt als die erste gesetzgebende Versammlung von Bürgern in der Geschichte Nordamerikas. Ein Ereignis, auf das die Nachfahren zu Recht stolz sind, das aber in der Geschichtsschreibung der späteren USA nur selten Erwähnung findet. 1619 beginnt allerdings auch das dunkelste Kapitel von Virginia: Die ersten Sklaven werden nach Jamestown verschleppt.

Neuengland, 1620. Die 102 Männer, Frauen und Kinder, die nach vielen Verzögerungen im September 1620 im englischen Plymouth die „Mayflower“ bestiegen hatten, um eine weitere englische Kolonie in Nordamerika zu gründen, kannten die Geschichte von Jamestown, wenn auch nicht in allen Details. Ein erster schriftlicher Bericht über mitteilenswerte „Occurrences and Accidents“ in der kleinen Kolonie wurde bereits 1608 in London veröffentlicht. John Smith hatte sie mit den ersten zurückkehrenden Versorgungsschiffen nach England geschickt.
1614 war Smith noch einmal im Auftrag der Krone unterwegs und erkundete die Buchten von Maine und Massachusetts, nannte die Gegend New England und fertigte eine relativ präzise Karte an. In dieser ist auch schon das amerikanische Plymouth verzeichnet, das vor der Landung der Pilgerväter ein Flecken war, an dem viele europäische Fischer – vor allem aus England, Frankreich und den Niederlanden – zeitweise Station machten.
Die Passagiere der „Mayflower“ hatten von John Smith gehört. Sie überlegten sogar, ihn als Kapitän anzuheuern, hatten jedoch wohl Sorge, dass er das Kommando an sich reißen würde.
Auch ohne Smith hatten die Pilgerväter mit Autoritätsproblemen an Bord zu kämpfen. Denn nur etwa die Hälfte der Menschen auf dem Schiff gehörte zu ihrer Gruppe, auf die sich später die Darstellungen von den Anfängen in Plymouth konzentrieren sollten. Die Pilgerväter waren Kongregationalisten, eine besonders radikale Gruppierung von Puritanern, die als Glaubensabtrünnige von der offiziellen Church of England verfolgt wurden. Sie waren auf der Suche nach einem Ort, an dem sie als Gemeinde gemäß ihrer eigenen religiösen Überzeugungen, streng nach der Bibel und ohne kirchliche Hierarchien, leben konnten. Sie bezeichneten sich selbst als „saints“, Heilige, alle anderen waren für sie „strangers“, Fremde. Zu diesen Fremden gehörte die andere Hälfte der „Mayflower“-Passagiere, gewöhnliche Auswanderer, die von den Investoren der Kolonie – es handelte sich wieder um die Virginia Company of London – angeworben worden waren. Alle, Saints wie Strangers, standen bei diesen Investoren in der Schuld. Erste Konflikte zwischen den Gruppierungen gab es bereits vor der Abreise, weil die Fremden die Führungsrolle der Pilgerväter nicht ohne Weiteres anerkennen wollten.
Das königliche Patent der neuen Siedler galt für das nördliche Virginia. Sie hatten die Order, an der Mündung des Hudson River an Land zu gehen, dort, wo heute New York liegt. Aber die Herbststürme trieben die „Mayflower“ fast 400 Kilometer weiter nordöstlich. Schließlich entschieden sie sich, nach einem Zwischenstopp am Cape Cod (benannt nach dem Kabeljau-Vorkommen rund um das Kap), am 20. Dezember 1620 in Plymouth an Land zu gehen. Der Mythos von Plymouth Rock gründet also eher auf ungünstig stehenden Winden als auf einem Fels. Für die Pilgerväter war es natürlich göttliche Fügung.
Weil die Nichtpuritaner Sorge hatten, sich den strengen Regeln der Saints unterwerfen zu müssen, wurde noch an Bord des Schiffes der „Mayflower Compact“ aufgesetzt. Darin versichern die Unterzeichner dem britischen König ihre Loyalität, vor allem jedoch wird eine Selbstverwaltung vereinbart: Man verpflichtete sich, „gerechte und gleiche Gesetze“ zu schaffen. Abgeleitet von den Prinzipien englischen Rechts und dem „covenant“, dem Bündnis, das der Glaubensgemeinschaft der Kongregationalisten zugrunde lag, gilt der Vertrag vielen als ein Vorläufer der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung.
An Land aber ging es zunächst um praktische Dinge. Die Ankunft zu Beginn des Winters machte die Gründung einer Siedlung besonders schwierig. Obwohl die Männer sofort mit dem Häuserbau begannen – primitive Bauten aus einem Holzgerüst, das mit Lehm verkleidet wurde –, starb bis zum Frühjahr die Hälfte der Siedler an Hunger, Kälte und Skorbut.
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Die Häuser sind heute eine Attraktion für geschichtsbewusste Touristen: Einige Kilometer vom Originalschauplatz entfernt präsentiert die „Plimoth Plantation“ Nachbauten der ersten Häuser, perfekt ausgestattet mit Imitationen damaliger Alltagsgegenstände und bevölkert von Schauspielern, die in historischen Kostümen den Alltag von 1624 darstellen, bis hin zum Shakespeare-Englisch, das sie nachahmen. Im benachbarten Indianerdorf zeigen Nachfahren der Wampanoag, wie die Ureinwohner damals lebten. Und im Hafen kann man eine maßstabsgetreue Kopie der „Mayflower“ besichtigen.
In Jamestown hat man dieses Konzept des „lebenden Museums“ übernommen. Aber hier wie dort ist es schwer, sich die Kälte, den Dreck und den Hunger jener Zeit vorzustellen.
Mit Gottvertrauen allein gab es in der Neuen Welt kein Überleben, das war schnell klar. Eine der ersten Taten der „Mayflower“-Passagiere nach ihrer Landung bestand darin, den Indianern einen großen vergrabenen Maisvorrat zu stehlen, den sie zufällig gefunden hatten. In den Aufzeichnungen „Mourt's Relation“ über die frühe Zeit in Plymouth, zusammengetragen vornehmlich von dem Pilgervater Edward Winslow und neben dem Bericht des langjährigen Gouverneurs William Bradford die wichtigste Quelle für die Anfänge von Plymouth, wird erklärt, sie hätten die Ureinwohner später dafür bezahlen wollen.
Trotz des Diebstahls verliefen die ersten Begegnungen mit den Einheimischen in Plymouth wesentlich friedlicher als in Jamestown; die Indianer zeigten den Weißen unter anderem die einheimischen Pflanzen und ihre Anbaumethoden. Das gute Verhältnis war nicht so sehr das Verdienst der Siedler von Plymouth, sondern lag vor allem daran, dass die ursprüngliche Bevölkerung bereits durch die Begegnung mit den europäischen Fischern stark dezimiert worden war. Die Fischer hatten Krankheiten eingeschleppt, gegen die die Ureinwohner keine Abwehrkräfte hatten; Forscher gehen heute davon aus, dass zwischen 1616 und 1619 bis zu 90 Prozent der Indianer in dieser Region Neuenglands an Seuchen starben. So trafen die Siedler auf einen extrem geschwächten Indianeranführer, den Sachem (Häuptling) Massasoit, der für sein dezimiertes Volk, die Wampanoag, Verbündete brauchte, um sich gegen die feindlichen Indianerstämme behaupten zu können, die nicht von der Seuche betroffen waren.
Die Wampanoag und die Pilgerväter schlossen eine Allianz, die immerhin eine Generation lang hielt, obwohl es zwischen neuen Siedlern außerhalb von Plymouth und den Indianern immer wieder blutige Auseinandersetzungen gab.
Auch innerhalb der Gemeinschaft musste um den Frieden gerungen werden. Die „Heiligen“ wollten ihre religiösen Regeln durchsetzen. Viele von ihnen waren vor ihrer Überfahrt auf der Flucht vor der anglikanischen Staatskirche jahrelang im niederländischen Exil gewesen, um ihre Religion nach ihren Vorstellungen leben zu können, und nicht bereit, ausgerechnet jetzt die Regeln aufzuweichen. So kam es Weihnachten 1621 zum Eklat, als der gewählte Gouverneur William Bradford einigen anglikanischen Siedlern verbot, sich mit Ballspielen zu vergnügen – in England eine durchaus übliche Art, den Feiertag zu begehen. Für die Pilgerväter war Weihnachten aber ein normaler Arbeitstag, weil dieses Fest in Wahrheit heidnischen Ursprungs sei. Als 1624 ein Pfarrer der Church of England nach Plymouth kam, gab es neue Spannungen. Die viel gepriesene religiöse Toleranz, die später auch ein wesentliches Element der amerikanischen Verfassung werden sollte, entwickelte sich erst in den folgenden Jahrzehnten, als mehr und mehr Einwanderer unterschiedlicher Glaubensrichtungen in Neuengland eintrafen und eigene Siedlungen gründeten.
Auch wirtschaftlich lief in Plymouth nicht alles nach Plan. Zwar schafften es die Siedler, sich bald selbst zu versorgen, doch die London Virginia Company erwartete in England verkäufliche Waren wie Felle und Fisch. In diesem Geschäft erwiesen sich die Pilgerväter als nicht sehr erfolgreich. Kein Wunder, dass sie heute vor allem für ihren Idealismus gerühmt werden.
Für die Amerikaner