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Verwirrende Nachrichten

Pavel Mey war einunddreißig und je mehr er darüber nachdachte, wie alt er schon war, desto weniger wusste er, was er eigentlich in all den Jahren vorher gemacht hatte. Sie waren einfach vergangen, diese Jahre, und es schien, als sei dies ohne sein Dazutun, geschweige denn seine Einwilligung, geschehen. Ganz ähnlich war es mit seinem Beruf. Ohne es zu wollen oder auch nicht zu wollen, war er Lehrer geworden und unterrichtete derzeit in einer Dortmunder Sprachschule Deutsch für Ausländer. Es hätte auch etwas anderes sein können, etwa die Arbeit bei einer Zeitung oder dem Radio, das hatte er während seines Studiums sogar mit einigem Erfolg bereits begonnen, doch dazu war es dann nicht gekommen, weil das Leben ihm für Entscheidungen keine Zeit gelassen hatte. Und wenn er bedachte, dass in früheren Zeiten ein Mann in seinem Alter bereits als gestanden, wenn nicht gar alt galt …

Seit seiner Geburt war Pavel Mey auf dem rechten Auge blind. Zwar konnte er trotzdem problemlos sehen, allerdings war es ihm bis heute nur sehr schwer möglich, die richtigen Entfernungen zwischen Gegenständen abzuschätzen. Deshalb hatte er auch nie einen Führerschein gemacht. Nun saß er in der S-Bahn und las gerade eine Zeitung, die er dort gefunden hatte. Die sogenannte muslimische Welt, was immer das sein mochte (er sagte lieber mohammedanisch, in Anlehnung an christlich und buddhistisch), war aufgebracht wegen einiger Karikaturen ihres Religionsstifters, die in dänischen und später dann in anderen Zeitungen der nichtmuslimischen Welt erschienen waren. Mohammed wurde darin als Selbstmordattentäter, als ein Brandstifter und Mörder dargestellt, als eine Bedrohung für jeden aufgeklärten westlichen Menschen. Außerdem nahm die Vogelgrippe derzeit Überhand, jetzt gab es sie schon in Deutschland, an der Ostseeküste war sie aufgetaucht, ohne von Zugvögeln eingeschleppt worden sein zu können, das Virus, dachte Pavel, war womöglich aus wirtschaftlichen Interessen entwickelt worden, um unliebsame Konkurrenz in der Nahrungsmittelbranche auszuschalten oder um einen Impfstoff verkaufen zu können. Oder beides. Doch dass Karikaturen für manche Menschen eine solche Provokation darstellen konnten, das verwunderte ihn schon. Man stelle sich die Darstellung einer Vergewaltigung der Gottesmutter vor, Jesus also ein Bastard, die Jungfernzeugung endlich aufgeklärt, hier würde doch kaum jemand daran Anstoß nehmen, dachte Pavel, überreizt und nivelliert wie die Menschen waren, dazu lebten sie längst inmitten allzu vieler Bilder. Dass es jedoch auch eine ganz andere Welt gab, eine stärker dem Wirklichen verhaftete Welt, eine Wirklichkeit, die nicht aus Bildern für sich, sondern allein aus sich selbst bestand, wurde in solchen Situationen manchmal deutlich, überlegte Pavel. Und dann war da noch dieser wahnsinnige Staatsmann im Iran, ein Bombennarr mit unaussprechlichem Namen, er schien alle Klischees über die Mohammedaner durch seine Person zu bestätigen, nach dem Ende des Kalten Krieges war die Atombombe nun wieder präsent, hier wie auch andernorts, und auf der anderen Seite ein paranoider amerikanischer Präsident, ach, es war eine Welt, dachte Pavel, die wir als Kinder nicht gewollt hätten.

Maşallah

Während Pavel über diese Dinge nachdachte, waren zwei junge türkische Männer, offenbar Studenten, denn sie waren erst an der Untergrundhaltestelle Dortmund-Universität in die S-Bahn zugestiegen, in ein Gespräch vertieft. Pavel hörte ihnen beiläufig zu, doch auf einmal merkte er auf, als ein bestimmtes Wort fiel, denn dieses Wort löste eine Erinnerung in ihm aus, die wie alle Erinnerungen, so lange man sie nicht erinnerte, nie vorhanden gewesen zu sein schien, doch auf einmal war sie da. Einer der Türken hatte maşallah gesagt, was so viel wie großartig oder wunderbar bedeutete (nahm man jedenfalls an, dass Worte überhaupt von der einen in eine andere Sprache übersetzbar waren), und Pavel sah in diesem Moment ein Bild vor dem inneren Auge, nämlich einen alten Ford-Transit, den er als Kind bei den Türken gesehen hatte, die in seiner Nachbarschaft gewohnt hatten. Das Auto stand irgendwann, vielleicht vor oder nach einer Reise zurück in die Heimat, auf dem Hof neben der blühenden Wiese, auf der im Sommer die klapprigen Plastiktische an dem Bretterverschlag ruhten, der den eigentlichen Hof von den geheimnisvollen Gemüsegärten hinter dem Haus abteilte. In der Windschutzscheibe hatte Pavel dieses Wort schon einmal gesehen, auf einem Schild, möglicherweise hatte dort auch gestanden maazallah, das war sogar wahrscheinlicher, denn dieser Ausdruck bedeutete im Deutschen so viel wie Gott behüte. Doch was immer genau damals auf dem Schild in der Windschutzscheibe des alten Ford-Transit auch gestanden hatte, das soeben gehörte Wort sorgte dafür, dass Pavel die Bilder, in denen er als Kind leibhaftig gesteckt hatte, nun wie einen Film noch einmal sah, einen Film, der schöner zu sein schien als die damalige Wirklichkeit, denn jetzt war das Geschehen ja für alle Zeit vor seinen Eingriffen geschützt.

Pavel erinnerte sich, dass er als Kind eigentlich nicht mit den Türkenkindern in seiner Straße hatte spielen dürfen. Immer wieder hatte seine Mutter ihm in ihrem mahnenden Tonfall gesagt, die Türken seien ganz ähnlich den Straßenkindern, die einige Häuser weiter wohnten. Sie seien dreckig und kein guter Umgang für ihn. In seiner Familie nannte man solche Leute gemeinhin die Asozialen, weil sie eine vergleichsweise heruntergekommene Wohngegend bevölkerten und ihre Toiletten noch auf dem Flur hatten. Auch bei den Türken war vieles zwar anders, als Pavel es von zuhause her kannte, doch diese Leute waren sehr nett, auch wenn Pavel sie damals nicht richtig verstehen konnte in ihrer fremden Sprache.

Dort, bei den Türken, war ein Mädchen, sie hieß Gülcan, und mit ihr hatte Pavel als Kind gerne gespielt, wenngleich er es immer heimlich tun musste, was den Reiz des Spielens allerdings noch erhöhte. Gülcan war ihm wie eine Prinzessin gewesen mit ihrem schwarzen schimmernden Haar und ihrem schwerschönen dunklen Blick.

Als Pavel wieder einmal an dem großen Türkenhaus ankam, dessen grob umzäunter Garten schon von weit her zu sehen war, schellte er mit klopfendem Herzen an der Tür. Leider war Gülcan nicht da, wie ihre Mutter ihm in ihrem schlecht zu verstehenden Deutsch sagte. Aber sie komme gleich, will du warten? Pavel ging mit ihr in die fremdartige Türkenküche, in der es so ganz anders roch als bei ihm zuhause. Über dem Herd hing ein Kalender mit seltsamen goldenen Zeichen, die ein Foto von einem Wasserfall umrahmten. Will du trinken Tee?, fragte Gülcans Mutter in diesem Moment. Schüchtern bejahte Pavel, so dass sie ihm ein kleines bauchiges Glas hinstellte, das ebenfalls mit einem feinen Goldrand umsäumt war. Golden wie zwei ihrer Zähne. Der Tee war heiß und sehr süß.

Pavel hatte diese Menschen als Kind dafür beneidet, dass ihre Heimat im märchenhaften Orient lag, wo es diese prächtigen Städte mit den sonnenglänzenden Kuppeln gab, von denen aus die Händler auf Kamelen durch die Sahara bis nach Samarkand reisten. Es gab Räuber dort, wie in den Geschichten von Ali Baba, und auf den Marktplätzen saßen Männer im Schneidersitz, die einen Turban trugen und mit ihren Flöten gefährlich sich windende Schlangen aus Flechtkörben lockten. Und dieser rätselhaften Welt entstammte auch Gülcan, die in diesem Moment gerade durch die Küchentür herein kam. Als sie ihn sah, errötete sie für einen kurzen Moment.

Gülcan sagte, Hallo, doch lag in ihrer Stimme etwas Trauriges, das Pavel von ihr nicht kannte. Bevor sie zum Spielen in den Garten gehen konnten, den ihre Mutter vom Küchenfenster aus beobachten würde, erzählte Gülcan ihr etwas in ihrer melodischen Sprache, und ihre Mutter entgegnete etwas, das Pavel auch nicht verstand, doch es hörte sich ein wenig so an, als würden sie gemeinsam singen.

Als Pavel seinen Tee ausgetrunken hatte, gingen die beiden Kinder in den Garten. Der Junge und das Mädchen streiften durch die Gemüsebeete und entlang der verwilderten Sträucher. Sie spielten zuerst ein wenig, sie würden sich verirren, und Pavel wäre der Prinz, der sie beide sicher wieder zurückführen würde. Sie hatten das oft gespielt, und immer hatte Pavel gedacht, eigentlich war sie es doch, die ihn führte. Doch heute war es anders. Gülcan war wirklich traurig, das wurde Pavel sehr schnell klar. Schließlich setzten die Kinder sich hinter den Geräteschuppen. Sie schwiegen für einen langen Moment, bis Gülcan auf einmal bekümmert sagte, wir werden bald von hier fortziehen. Mein Vater hat nämlich eine neue Arbeit gefunden. Bedrückt nahm Pavel ihre Hand. Sie war warm und er wünschte sich in diesem Augenblick, sie nie wieder loslassen zu müssen. Ebenso lange, wie sie vorher geschwiegen hatten, sahen sie sich nun wortlos in die Augen und ein leichter Wind ging, der Gülcan ihr langes Haar in feinen Strähnen ins Gesicht wehte. Werden wir uns dann nie wieder sehen?, fragte Pavel. Gülcan zuckte mit ihren Schultern und Pavel sah, dass sich eine kleine Träne aus ihrem Auge gelöst hatte. Da näherten sich ihre Münder auf einmal ganz wie von selbst und Pavel zitterte sehr, als er die Lippen des Mädchens plötzlich auf den seinen spürte.

Danach gab es keine weitere Erinnerung an Gülcan. Denn kurz darauf war sie tatsächlich fortgegangen, genauer, ihre ganze Familie, und eine Weile stand das große Türkenhaus leer, bis es schließlich irgendwann abgerissen wurde, weil Bauland für eine Reihe neuer Einfamilienhäuser benötigt wurde.

Das Schlimmste an der ganzen Situation war für Pavel gewesen, dass er seinen Eltern damals nichts davon erzählen konnte, denn sie wussten ja nicht, dass ihr Junge mit den Türken verkehrte. Weniger schlimm hingegen war die Einsicht, dass er Gülcan vielleicht sogar auf eine kindliche Art geliebt hatte. Doch auch das wusste Pavel eigentlich erst jetzt, da er sich auf einmal besann, dass er gleich würde aussteigen müssen, um seiner Arbeit in der Sprachschule nachkommen zu können.

Begegnungen

Heute war sein erster Tag mit dem neuen Kurs. Es waren insgesamt fünfzehn Männer und Frauen aus verschiedenen Ländern, die er zu unterrichten hatte, unter anderem aus Afrika und aus der Türkei, aus Indochina und aus den selbständig werdenden Staaten der ehemaligen UdSSR. Er hatte die Liste mit den Teilnehmern schon vorab bekommen, bei Gudrun im Büro. Sie war einige Jahre älter als Pavel, hatte ein freundliches und offenes Wesen, war dabei unscheinbar und doch eine Frau mit starker Anziehungskraft. Auch sie war, genau wie er und wie die meisten der anderen Sprachlehrer am Institut, eine ursprünglich für das öffentliche Schulsystem ausgebildete Pädagogin und nur knapp der Totenstarre beamtenrechtlicher Daseinsverordnungen entkommen. In der Schule, so hatte Pavel während seines Referendariats erfahren, war es nämlich beinahe unmöglich, sinnvollen Unterricht zu machen, einfach weil es dort neben den zu vielen und zu großen Klassen voller überwiegend widerständiger Schüler (eine Haltung, die er sehr gut nachvollziehen konnte) unzählige Dinge gab, die man außerdem noch machen musste. Er nannte das verkürzt die drei Ks, nämlich Klassenführung, Konferenz und Korrekturen. Nüchtern betrachtet blieben als Anreiz, sich auf ein Leben als Studienrat einzulassen, nur die hohe Bezahlung und die soziale Absicherung übrig, das Leben selbst wurde früher oder später zur bloßen Fußnote. Freilich hatte Pavel Bewerbungen laufen, wie man sagte, denn bei aller beruflichen Zufriedenheit, die ihm seine Arbeit als Sprachlehrer gab, lebte er seit Jahren im Grunde von der Hand in den Mund. Doch war dies eher eine Art Austausch von Postwurfsendungen, wie ihm schien, da er ebenso regelmäßig, wie er seine Unterlagen in ordnungsgemäßer Form verschickte, Absagen in ordnungsgemäßer Form in seinem Briefkasten vorfand, und das, obwohl die Presse doch immer wieder beteuerte, es fehle an guten Lehrern. Als er sich damals vor seinem Referendariat, das nun seinerseits schon wieder ein ganzes Jahr zurück lag, bei Gudrun im Institut beworben hatte, bedurfte es hingegen nicht mehr als eines Gespräches. Seitdem hatten Deutschkurse für Ausländer ihn über längere Strecken hinweg vor der Unmündigkeit einer arbeitslosen Existenz bewahrt und würden das, dank des neuen Zuwanderungsgesetzes, zumindest auch in den nächsten Jahren noch tun.

Als er zum Bahnhofsausgang kam, saß dort wie jeden Morgen Reiner, ein Obdachloser. Er grüßte Pavel und Pavel grüßte zurück. Wie geht’s?, fragte er und Reiner sagte, ach, es geht. Ich warte. Worauf?, fragte Pavel. Ich warte auf etwas anderes, entgegnete Reiner, etwas, von dem ich im Augenblick noch nicht weiß, was es ist. Aber ich werde es erkennen ... Übrigens, hast du vielleicht ’n Euro für mich? Ich hab’ selbst nicht viel Geld, sagte Pavel und Reiner nickte, geht klar. Sie verabschiedeten sich voneinander und Pavel ging in Richtung der Sprachschule.

Die Sonne schimmerte blasskalt hinter den milchigen Wolken hervor und schwere leichte Flocken sanken wie ein weißer Regenschauer hinab in die Straßen und auf die Dächer. Seit Wochen schon fiel der Schnee auf die froststarre Welt, fluffige Zentimeter, hell und strahlend auf den Zweigen, den Autodächern, allerorts, jeden Morgen aufs Neue und dann den ganzen Tag hindurch bis zum Abend, und das, obwohl es bereits März war.

Nach dem Kurs wollte Pavel erst etwas essen und dann anschließend ins Bordell gehen, das hatte er sich so vorgenommen, und sogleich eilten seine Gedanken zu jenem Ort in der Nähe des Bochumer Rathauses. Von weitem, dachte er, kam man die kaum beleuchtete, von rissigen Mauern gesäumte Straße unter der Eisenbahnbrücke her entlang, wirkte der kleine plötzliche Eingang in die Bordellstraße wie jener Augenblick, da man sich von einem auf den nächsten Moment als träumend erkannte. Niemand wusste, wie lange man es tatsächlich bereits tat, denn während man träumte, war man wach, insofern als man nicht über sein Tun reflektierte. Auf einmal also träumte man, und ebenso spazierte man auf einmal die enge Häusergasse entlang, schaute in die ersten Fenster und sah dort die ersten lockenden Körper, sie nickten einem zu, man ging weiter, denn es gab noch vieles mehr zu sehen, nur nicht das Erstbeste, auch die anderen wollten zunächst begutachtet sein, manchmal grüßte man sich, da man sich bereits kannte, lächelte, ging weiter, dann drang man tiefer ein und umrundete den ersten Häuserblock, das Neonlicht wurde greller, die Fensterchen bunter, die Damen darin interessanter. Wir tun dir doch nix, sagte eine, komm doch mal rein, sagte eine andere, ganz so, als wohnten die Damen dort und man selbst sei nach wie vor ein sie Träumender.

Und als ein solcher ging man weiter, dem Erwachen noch ganz entrückt, wollte sehen, wollte von der Welt etwas kosten, nur ein Stückchen hier und nur ein wenig dort, dann wollte man weiter gehen, ein Liebesblick im Herzen würde genügen, doch weil man außerdem ein Mann war, blieb man schließlich irgendwo und bezahlte und ließ sich in ein kleines Zimmerchen führen.

Dort sah es aus wie zuhause bei ihr, entspannt brummte rötliches Licht von der Zimmerdecke, eine einfache Liege mit einem Tuch darauf genügte, ein Waschbecken, ein Sofa, Peitschen vielleicht, Phalli, batteriebetrieben, sie war möglicherweise Asiatin; oder schon älter, vielleicht sah sie aus wie von nebenan, jedenfalls kümmerte sie sich ganz um das Wohlergehen ihres Somnambuls, massierte, pulsierte, ließ sich anfassen, ließ eindringen und seine Unrast an ihrem Körper schließlich stillen.

Dann ging man wieder, nun erwacht, man war zufrieden und zugleich enttäuscht, denn erneut hatte man erfahren, dass auch hier kein Lieben war. Doch wenigstens blieb ihr Geruch noch eine Weile … So jedenfalls stellte es sich Pavel in seiner Vorfreude auf einen gelingenden Nachmittag vor.

Eigentlich, so dachte er in diesem Augenblick, hatte er alles im Leben erreicht. Er hatte es geschafft, nicht wirklich arbeiten gehen zu müssen und trotzdem regelmäßig Geld zu bekommen für eine Tätigkeit, die ihm Spaß machte. Als Kind hatte Pavel befürchtet, arbeiten zu gehen sei etwas, das seinem Wesen nach nicht mit Freude verbunden sein könnte, und deshalb etwas, das man so lange es ging vermeiden müsste. Ich habe Geld, überlegte er, und ich kann mit einer Frau schlafen, wann immer ich gerade möchte. Durch die Wirren von Beziehungen musste man wohl erst einmal hindurch, dachte er, um schließlich die sehr vorteilhaften Möglichkeiten eines Bordells nutzen zu wollen. Und Liebesverkäuferin (so nannte er die Prostituierten, wobei die Betonung für ihn dabei durchaus auf dem Wort Liebe lag), überlegte Pavel, einen vollkommeneren Beruf konnte es für eine Frau ihrem Wesen nach doch eigentlich gar nicht geben, und mit diesem Gedanken war er längst wieder vertieft in seine Vorfreude auf den Nachmittag.

Doch heute sollte alles ganz anders kommen.

Als Sprachlehrer betrat Pavel Mey den Kursraum, warf einen kurzen freundlichen Blick in die Runde der umsitzenden Männer und Frauen, sagte sehr deutlich, guten Morgen, setzte sich dann an seinen Tisch, um die Unterlagen hervorzuholen, die Anwesenheitsliste für das Bundesamt sowie das Lehrbuch, Letzteres eher aus einer Gewohnheit heraus, denn am Anfang brauchte man es noch nicht, mit dem gegenseitigen Vorstellen würde man problemlos den kompletten ersten Kurstag verbringen können. Doch zunächst die Namen für die Liste. Alphabetisch las Pavel einen nach dem anderen vor und automatisch erwiderte irgendwer im Raum, er oder sie sei gemeint, dann machte Pavel ein Kreuzchen und las den nächsten Namen, musterte den entsprechenden Menschen für einen Augenblick, eine Geste, die für ihn eine rein technische Bedeutung hatte, von manchem jedoch möglicherweise als überheblich oder herrisch oder typisch deutsch aufgefasst wurde, möglicherweise auch nicht, es dauerte immer eine ganze Weile, bis der Mensch hinter seinem Namen, und das galt für beide Seiten, hervortrat.

Wie üblich waren nicht alle Kursteilnehmer anwesend, wie üblich saßen Menschen hier, die nicht auf der Anwesenheitsliste standen, wie üblich klopfte es nach einer Weile an der Tür, die Tür ging auf, und Pavel schaute auf, wollte sagen, herzlich willkommen, doch bevor er seinen Mund öffnen konnte, versteinerte dieser für einen Moment zusammen mit seinem restlichen Körper, denn in der Tür stand eine kleine junge Frau mit dunklem zurückgebundenen Haar, grüßte verlegen und hatte zugleich die wunderbarsten Augen von allen, unergründlich. Ihr Name war Inanna Alraies.

Tatsächlich sagte Pavel, herzlich willkommen, bitte setzen Sie sich, und fuhr fort mit dem Verlesen der letzten zwei Namen auf der Lis­te. Anschließend stand er auf, ging im Kursraum auf und ab, sagte, mein Name ist Pavel, dabei zeigte er auf sich selbst, wiederholte es und fragte überdeutlich, wie heißen Sie? Eine Schwarzafrikanerin antwortete in englischem Anfängerdeutsch, ischeiße Mbonge, ischkomeaos die Kenia, schbinn seksunswansig Jarre alt, und auf diese Weise ging es den ganzen Morgen über dann weiter, man begann seine persönlichen Daten aufzuschreiben, man begann zu buchstabieren und sich ein wenig kennen zu lernen. Bis auf jene Situationen, in denen Pavel zu Inanna als Lehrer sprechen musste, versuchte er, ihren Blick zu vermeiden. Denn sie erinnerte ihn stark an ein Mädchen aus seiner eigenen Schulzeit, sie hatte Yvonne geheißen und sie hatte dieselben Augen gehabt wie Inanna. Oder umgekehrt. Es waren diese unverkennbar fröhlichen kleinen Säckchen darunter, die auf die gleiche Weise mit Lachen gefüllt zu sein schienen wie ihr physiognomisches Gegenteil, die Tränensäcke, mit Kummer. Lachbeutelchen nannte Pavel sie liebevoll, und Inanna hatte sie auch, ebenso wie damals Yvonne, wenngleich ihr Gesicht ansonsten ein ganz anderes war. Inanna schien ein sehr sonniger Mensch zu sein, und in ihrem Blick lag etwas ihm sehr Vertrautes. Selbst ihre Uhr trug sie genauso wie Yvonne, nämlich so, dass sie weich und locker auf der Innenseite ihres Handgelenkes auflag. Noch ehe er es deutlich hätte sagen können, wusste Pavel, dass er bereits dabei war, sich in diese schöne Fremde zu verlieben.

Diese Einsicht ließ ihn unsicher werden, doch glücklicherweise war sein Verhalten als Sprachlehrer genügend automatisiert, um das, jedenfalls für den Moment, aufzufangen. Als Kind hätte er gerne mit einem Mädchen, wie sie es war, gespielt und als Jugendlicher hätte er sie anzubaggern versucht, doch jetzt und hier als versprengter Erwachsener und Repräsentant einer Institution blieb ihm bloß eine gewisse Ratlosigkeit. Mann war er nach wie vor, und sie eine Frau, zumal eine, die ihm vielleicht sein Leben lang gefehlt zu haben schien und die ihm, dessen war er sich ganz sicher, sehr würde fehlen können.

Wie sich doch alles seltsam fügte, dachte Pavel, denn erst gestern hatte er aus Langeweile das Reisebüro Weinrich in seinem Stadtteil besucht, um sich dort eine Flugverbindung geben zu lassen. Der kleine Laden lag ein wenig versteckt zwischen anderen Geschäftsräumen an der alten Bahnhofstraße in Bochum-Langendreer, wo Pavel wohnte, man stieß nicht unweigerlich darauf, doch Pavel hatte vor ein paar Wochen entdeckt, dass dort eine sehr attraktive Beraterin arbeitete, mit der er ins Gespräch zu kommen sich seitdem immer wieder vorgenommen hatte. Gleich beim Betreten des Büros umfing ihn ein Gefühl von Freizeit und Strand, von Sonne und Palmen und von all den anderen Glücksversprechen für den einfachen Menschen, ausgelöst vor allem durch die Werbeplakate der verschiedenen Fluggesellschaften, aber auch durch die üppige Raumbepflanzung in den mit Hydrokultur gefüllten Bodentöpfen. Viele kleine Pauschalangebote lockten für wenig Geld in ansprechende Fernen, nach Marokko, Kuba, in die Türkei. An und für sich hatte Pavel nichts gegen diese Art von Reisen, im Gegenteil, er war sogar der Auffassung, dass man gerade dadurch erst auf eine ganz eigene Weise etwas über das jeweilige Land und seine Kultur lernen konnte, besser womöglich als durch individuelles Reisen. Drei Sterne, Pool, Animation, wer sich solchem aussetzte, erlebte gewissermaßen das Authentische insofern, als es radikal negiert wurde. Man musste dazu lediglich für sich ableiten, inwiefern es negiert wurde, und schon erschien das Originale, das Echte, wie die ungesprochenen Worte eines Romans. Trotz allen Fernwehs war es auffällig kühl im Laden, so dass Pavel sich umgehend an ihren Tisch setzte und sagte, hallo. Ich möchte mich wegen einer Reisemöglichkeit erkundigen. Die Beraterin ihm gegenüber war einige Jahre jünger als er, eine südländische Schönheit mit ansprechendem Körper und dennoch seltsam traurigem Blick. Eine versteckte Traurigkeit, denn auch ihre Augen ruhten auf kleinen Lachbeutelchen, die jedoch offenbar nur wenig gefüllt zu sein schienen. Sie trug ihr Haar offen und die Armbanduhr an der Innenseite ihres Handgelenkes, wie Pavel sehen konnte, weil ihre Arme unbekleidet waren. Genau wie Inanna. Das Mädchen hatte bei allem sehr übersichtlich gewirkt und ihr Gesicht hatte einen sanftmütigen Ausdruck und das gefiel ihm sehr an ihr. Wohin soll’s denn gehen?, fragte sie beiläufig und sah ihn dann erst an. Ähm, ich … äh, möchte nach … Stavanger. Ja, nach Stavanger. Bitte hin und zurück. Die Beraterin überlegte, das ist doch in Norwegen, oder? Woraufhin Pavel entgegnete, ja, genau. Da muss ich hin. Hab’ da geschäftlich zu tun, wissen Sie. Die Frau nickte und sagte, das geht auf jeden Fall nicht direkt. Wir haben hier Flüge nach Oslo oder Bergen und von dort aus müssten Sie dann mit einem Inlandflieger weiter … Wann wollen Sie denn reisen? Wie schön sie das gefragt hat, dachte Pavel und sah ihr, vielleicht ein wenig zu lange, dabei zu, wie sie fleißig einige Daten in ihren PC tippte, und betrachtete dabei versonnen ihr Handgelenk. Das ist eigentlich nicht wichtig, antwortete er, was sie verdutzt einhalten ließ. Aber Sie müssen doch wissen, wann Sie da hin wollen, nach Stavanger, sagte sie mit ratloser Stimme, woraufhin Pavel entgegnete, ja, das stimmt wohl. Aber wichtig ist das trotz allem nicht. Wichtig ist nur, dass ich da hinkomme … Wollen Sie sich über mich lustig machen, oder was?, fragte sie, nun ungehalten. Nein, Gott bewahre, beschwichtig­te Pavel sie, das nicht, ich glaube, ich wollte einfach nur für einen Augenblick nicht alleine sein. Sie lächelte vorsichtig und fragte, also wollen Sie gar nicht wirklich nach Stavanger? Was Pavel veranlasste zu sagen, doch, schon. Sonst wäre ich ja nicht hier … Aber nett, dass wir uns mal kennen gelernt haben, schloss er, ganz ehrlich. Und jetzt Tschüss. Sie haben bestimmt Besseres zu tun, als sich von einem wie mir die Zeit stehlen zu lassen. Verlegen schüttelte seine Beraterin den Kopf, noch als Pavel das Reisebüro längst wieder verlassen hatte.

Und jetzt so etwas. Seinen Unterlagen zufolge kam Inanna Alraies aus Syrien und war fünfundzwanzig Jahre alt. Nach dem Unterricht holte ihr Mann sie mit dem Auto ab. Er hatte ein kantiges Fußballer­gesicht, kurze Locken und war offenbar einige Jahre älter als seine Frau. Als sein silberner Astra den Parkplatz verlassen hatte, im Fond lugte ein kleiner Junge aus dem Fenster, stand Pavel da, einige Schneeflocken schwebten wie belanglose Flusen umher, sah ihnen nach und bemerkte auf einmal ein flaues Gefühl im Magen. Zunächst schob er es darauf, dass er in letzter Zeit sehr wenig und sehr unregelmäßig gegessen hatte, doch das war es offenbar nicht.

Er ging mit einem unbestimmten Gefühl die Straße zum Bahnhof hinab, als ihn auf einmal vor einer Bäckerei eine ältere Frau mit einem in Papier eingewickelten Stück Kuchen oder Teilchen in der Hand ansprach und ihn fragte, welches Sternzeichen er sei. Anfangs erschien ihm dieses Gespräch erfreulich, denn Pavel fand es als Lehrer immer sehr nützlich, mit anderen Menschen zu sprechen. So, so, sagte die Frau, dann sind sie ganz bestimmt ein Choleriker. Mein Mann war auch so. Immer mit dem Kopf durch die Wand. Ich bin kein Choleriker, entgegnete Pavel etwas aufgebracht, denn ihm schwante augenblicklich, dass hier etwas stattzufinden begann, das er die Alltagshypnose nannte, vor allem Frauen bedienten sich ihrer. Die Tragik bei dieser Form von Kommunikation bestand für Pavel darin, dass er mit beliebigen Eigenschaften konfrontiert wurde, die er aus welchen geheimen Gründen auch immer umgehend ausspielen musste. Nun also der Choleriker. Er konnte ihm nicht entgehen, denn offenbar projizierte die Frau irgendetwas in ihn hinein, für das er sich selbst nicht hielt. Ja, ja, sagte sie, mein Mann hatte einen Herzklappenfehler, da müssen Sie aber aufpassen, junger Mann. Mein Sohn war auch so einer wie sie, auch so ein Leisetreter. Schauen sie mal hier. Sie begann Fotos zu zeigen. Er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er wollte auch immer mit dem Kopf durch die Wand, hat nur gesehen, was er sehen wollte, verstehen Sie? Hat nie auf seine Mutter gehört, und dann haben sie ihm Drogen angedreht und er ist Auto gefahren … Die Frau hielt inne, als müsse sie in diesem Moment einen noch immer ungeweinten Rest von Weinen unterdrücken … Ich finde, Sie haben Ähnlichkeit mit meinem Sohn, finden Sie nicht auch? Sie müssen wirklich aufpassen, junger Mann, das kann böse enden, ich sehe das an Ihren Augen … Jetzt lassen Sie mich bitte in Ruhe!, donnerte Pavel (ganz der Choleriker), ich habe noch zu tun! Wütend ließ er die Dame stehen und ging seiner Wege. Doch ihm war nicht ganz wohl bei der Sache, denn diese Begebenheit schien Ausdruck einer archetypischen Situation zu sein, die er spontan die Kassandrasituation nannte, die warnende Vettel begegnete dem hochmütigen Jüngling, der klassischerweise nichts von ihren Ahnungen wissen wollte und sich blindlings in eine schicksalhafte Katastrophe stürzte. Die Prophezeiung hing ihm nun wie ein ärgerlich unter dem Schuh pappender Kaugummi an und drohte, auch die nachfolgenden Wahrnehmungen durch Furcht vor ihrer Erfüllung zu beeinträchtigen. Man müsste ein Fernsehformat entwickeln, tröstete Pavel sich, so ähnlich wie Big Brother, wo Menschen, die andere auf solche und ähnliche Weise belästigten, in eine Art Lager gesteckt wurden und sich dort unter dem ewig wachenden Auge des Zuschauers fortan gegenseitig belästigen mussten. Um seine aufgewühlte Seele (aufgewühlt sogar im wörtlichen Sinne, denn der Ausdruck Seele hing, wie Pavel wusste, von seinem Ursprung her mit dem Wort See zusammen: nicht zufällig hatten germanische Stämme dort ihre Toten bestattet) zu beruhigen, überlegte er sich eine Definition für Belästigung. So etwas half ihm in der Regel dabei, sich nach einer Irritation wieder besser auf sich selbst konzentrieren zu können. Und in diesem Fall waren die Methode und ihr Gegenstand sogar Ausdruck ein und derselben Sache! Pavel dachte sich, Belästigung, das war, jemanden mit einer Last zu versehen, eine Störung der Seelenruhe durch den Zwang zur Fremdkonzentration, also die Nötigung, sich mit von außen angetragenen Dingen zu beschäftigen, ohne sich eigentlich mit ihnen beschäftigen zu wollen, bei gleichzeitigem Verlust der inneren Beschaulichkeit. Dem Ganzen lag offenbar ein psychischer Mechanismus zugrunde. Um dieses Phänomen für sein phantasiertes Fernsehformat eingrenzen zu können, überlegte Pavel sich Beispiele für andere konkrete Belästigungen. Ein unaufhörliches Räuspern in der S-Bahn etwa, das jemand in der Gegenwart des Belästigten vornahm und das diesem die ständige Aufmerksamkeit auf den Belästigenden zumutete, fiel ihm ein, oder jemand, der in einer engen Warteschlange vor einem stand und einen Rucksack auf dem Rücken trug, mit dem er sich unkoordiniert hin und her bewegte, so dass der Rucksack auf diese Weise immer wieder zu einem anstößigen Element wurde, auch das wohlbekannte miteinbeziehende Gespräch Dritter während eines Lektüreversuches, ebenfalls in der S-Bahn, Menschen sprachen, und man konnte nicht anders, als sich auf ihre Worte anstelle der gedruckten zu konzentrieren, die Steigerung dieses Falls bestünde dann noch darin, dass jemand viertes dabei versuchte, bei einem mitzulesen, vor allem Zeitungsleser waren davon betroffen; auch ganz allgemein summende oder zappelnde Mitmenschen wirkten belästigend, vor allem lärmende Schulkinder, Zeitgenossen, die über längere Zeit hinweg immer wieder dasselbe monotone Geräusch erzeugten, ein gleiches Klappern oder Schaben etwa, oder Menschen, die einen immer genau dann mit einem Gespräch festzuhalten versuchten, wenn man selbst dafür keine Zeit oder daran kein Interesse hatte. Begeistert fielen Pavel noch viele weitere Beispiele ein, doch insgesamt, so schloss er für sich, stellte die Belästigung als solche offenbar immer einen Kontrast dar zur Einfalt der Selbstgenügsamkeit. Und weil ihr somit eine Verhältnismäßigkeit zugrunde lag, könnte man sie mit guten Gründen möglicherweise sogar zu einer Kunstform erheben. Doch was immer er auch noch weiter dazu dachte, Pavel wurde trotz seines respektablen Versuchs, sich zu konzentrieren, den Eindruck nicht los, dass die Begegnung mit der Alten eine über den Augenblick hinaus liegende Bedeutung für ihn haben sollte. Warum nur, dachte er, fiel es ihm denn so schwer, diesen Menschen nicht einfach ihr Bedürfnis zu befriedigen und recht zu geben? Denn vielleicht war das Ausspielen-Müssen am Ende doch nichts weiter als ein sozialer Mechanismus zur gegenseitigen Wunscherfüllung, mal diente man dem Menschen und mal bekam man den Menschen gezeigt, den man sehen mochte, ein Verhalten allerdings, so gestand er sich ein, das seinem eigenen manchmal drängenden Wunsch nach vollendeter Fremdheit leider deutlich widersprach.

Endlich in der S-Bahn sitzend sah Pavel auf dem vielgleisigen Gelände der Bahnhofsausfahrt inmitten der eingeschneiten Masten und Kabel und der wie verlassen zwischen Grafittimauern abgestellten Wagen und Waggons ein altes Bahnwärterhäuschen. Es war ihm zuvor noch nie aufgefallen, doch jetzt, da er es im langsamen Vorbeifahren betrachtete, erinnerte es ihn an eine bei all ihrer Künstlichkeit dennoch seltsam schönere Vergangenheit. Die Spielzeugeisenbahn im Keller, dort standen auch solche Häuschen, und immer wenn man damit spielte, dann war die Welt für eine Weile wieder genau dieselbe, die sie immer war, denn in der Kindheit gab es offenbar keine Veränderungen. Häuschen waren es, wie sie sich auch in den alten Heinz-Erhard-Filmen fanden, Orte der überschaubaren Gemütlichkeit, und dieses Haus hier schien eines von ihnen zu sein. Wie gerne würde ich da wohnen, dachte Pavel, wie gerne wäre ich ein Plastikmännchen, das da immerzu am Fenster steht und die Blumen gießt.

Während seiner Heimfahrt nach Bochum, wo er seine kleine Wohnung hatte, die nicht mehr als eine Behausung war (denn als allein lebender Mann hatte er nur wenige, einfache Ansprüche an sein Leben), verstärkte sich allerdings dieses klamme Gefühl, das ihn die ganze Zeit über schon bedrückte, und zu Hause angekommen legte Pavel sich zitternd vor innerer Kälte gleich ins Bett, seine Gedanken aber schienen davon unberührt oder, im Gegenteil, geradezu intensiviert, denn fiebernd dachte er an Inanna, stellte sich vor, wie sie sich zu ihm legte, sich an ihn schmiegte, ihr weicher Busen an seiner kalten Brust, ihr Gefühl mit dem seinen verschmelzend, stellte sich vor, wie sie sich küssten, zärtlich und tastend, es fühlte sich an wie wirklich, da schellte plötzlich das Telefon.

Pavel blieb sekundenlang schwer und reglos liegen, doch weil das Schellen trotzdem nicht aufhörte, bemühte er sich schließlich, denn womöglich war der Anruf wichtig, aus seinen Kissen und Decken aufzustehen und seinen schwankenden Körper zum Telefon im Nebenzimmer zu bewegen. Dabei stieß er gegen den Türrahmen und fiel beinahe hin, wobei sein Magen zu kollabieren drohte, wankte wie ein Betrunkener zum Hörer und nahm ab. Es war seine Mutter. Ich wollte nur fragen, wie es dir geht, sagte sie, von selber rufst du ja nicht an, aber das kennt man ja von dir. Ach, es geht, log Pavel. Bist du krank?, fragte seine Mutter, deine Stimme klingt so belegt. Ja, ein bisschen, gestand er, denn es fiel ihm noch immer schwer, ihr etwas anderes zu sagen als die Wahrheit (deshalb telefonierten sie auch so selten, von Besuchen ganz zu schweigen). Was hast du denn?, fragte sie weiter. Naja, ich glaub’ so eine Magen-Darm-Geschichte, das geht ja gerade rum ... Da musst du Iberogast nehmen, die Frau Raschkowitz hat das auch gerade, und sie sagt, das hilft gut, empfahl seine Mutter und fügte hinzu, ist rein pflanzlich. Hast du eine Apotheke in der Nähe? Dann geh doch am besten mal da hin, ein bisschen frische Luft tut auch immer ganz gut, und heiße Zitrone. Ach, ich weiß nicht, sagte Pavel müde, so schlimm ist das ja nicht. Nein, mach das mal, empfahl seine Mutter, das Geld geben wir dir dann schon dafür. Aber Mutter ..., entgegnete er entrüstet, ... jaja, sagte seine Mutter, ich weiß, du kannst das selber bezahlen. Du kannst ja immer alles selber. Darum geht’s doch gar nicht, erwiderte Pavel und merkte, dass er ärgerlich wurde, doch seine Mutter fuhr ihm dazwischen, oder weißt du was, dein Vater und ich, wir kommen nachher mal vorbei. Seine Erschöpfung ließ ihm in diesem Moment keine Kraft mehr zur Gegenwehr, deshalb sagte er nur, ach, das ist lieb von euch, und weil ihm im selben Moment deutlich wurde, wie unaufgeräumt seine Wohnung war, ungespültes Geschirr mehrerer Tage stapelte sich zwischen schimmeligen Essensresten, ein überquellender Mülleimer, die tischtennisballgroßen Staubflusen in den Ecken an den Wänden, der klebrige Fußboden, auf dem es sich aufgrund unzähliger Krümel mittlerweile wie auf einem Kiesweg ging, die leeren Wasser- und Weinflaschen überall, kurz eine Wohnung, in die er im Grunde niemanden – und am allerwenigsten seine Mutter – hinein lassen konnte, wollte er noch anheben zu sagen, macht euch doch wegen mir keine Umstände, doch da war es bereits zu spät. Nein, nein, leg dich mal hin, wir kommen gleich vorbei, beschloss seine Mutter.

Nachdem sie aufgelegt hatte, fühlte Pavel sich schlagartig wach und genötigt, wenigstens grob aufzuräumen. Von Gelsenkirchen, wo seine Eltern noch immer wohnten, nach Bochum war es nicht allzu weit, eine gute halbe Stunde, dann wären sie da. Mit Schweißperlen auf der Stirn eilte Pavel zu seiner Abstellkammer, um den Staubsauger zu holen, um den Wischeimer zu holen, um WC-Reiniger zu holen, als er sich plötzlich fontänenartig über den Esstisch erbrach. Entsetzt und gleichzeitig mit der Heiterkeit des Hoffnungslosen schleppte er sich dennoch weiter, verbissen wie ein bereits Angeschossener im Visier. Er versuchte noch ein wenig hier und da zu werkeln, stand minutenlang wie betäubt herum und musste aber schließlich einsehen, dass er weder die nötige Zeit noch überhaupt genügend Kraft besaß, um seiner Wohnung wenigstens den Anschein einer vorbildlichen Haushaltsführung zu geben. Ermattet und von inneren Krämpfen geschüttelt legte er sich schließlich wieder zurück ins Bett und harrte angespannt der Dinge. Wie hieß doch gleich das Zeug, das ich kaufen soll, überlegte er und rief sich die Worte seiner Mutter ins Gedächtnis zurück, da musst du Oxymoron nehmen … Pavel grinste trotz seiner erheblichen Körperschwäche, das wäre ja lustig, dachte er, ein Medikament, das nach einem stilistischen Mittel benannt ist.

Die Kirchturmuhr draußen schlug gerade fünf. Kurz darauf rasselte auch die Wohnzimmeruhr seiner Vermieter, Herr und Frau Feldhaus, wie gewohnt erst drei Mal und dann, nach einigem Zögern, so als merke sie ihr Versehen, noch weitere zwei Mal. Immer war es so, dass sie nicht durchgängig schlug, sondern nach einer kurzen Pause den einen oder anderen noch fehlenden Schlag nachholte, und Pavel dachte, eines Tages breche ich da unten ein und schmeiß das blöde Ding aus dem Fenster. Kurz darauf begann sein Vermieterehepaar sich wie gewohnt derart lautstark zu streiten, dass man es durch die Wände hindurch hören konnte. Wäre es nicht etwas zutiefst Bedauerliches, hätte man meinen können, einer Folge von Ekel Alfred beizuwohnen, denn genau in diesem Ton blaffte sein Vermieter gerade, Eeeerika, du hast ’se ja wohl nicht mehr alle, geh’ mir jetzt bloß weg mit datt … Mehr konnte Pavel leider, so sehr er sich auch bemühte, nicht verstehen, doch das war eigentlich auch nicht wichtig, denn die Gespräche seines Vermieterehepaars liefen immer sehr ähnlich ab. Ein bisschen wie das Hörverstehen im Unterricht, dachte Pavel. Da musste er seinen Leuten auch immerzu dieselben Dialoge vorspielen. Vielleicht könnte er die beiden da unten ja mal auf Band aufnehmen, überlegte er, authentisches Deutsch, das war wichtig, dass Migranten auch so etwas kennen lernten.

Exakt eine halbe Stunde später, während der Pavel sich verschiedene mögliche Dialoge sowohl zwischen seinem Vermieterehepaar als auch zwischen seiner Mutter und sich selbst ausgemalt hatte, Rechtfertigungen ihr gegenüber, er habe doch immer so wenig Zeit, so schlimm sei das doch gar nicht mit der Wohnung, es gäbe schließlich Wichtigeres als andauernd zu putzen, respektive möglicher Entgegnungen ihrerseits, schellte es an der Tür, es waren seine Eltern.

Die Mutter, eine kleine flinke Erscheinung mit gepflegter kinnlanger Frisur, randloser Brille und bis hin zu ihrem farblich abgestimmten Schmuck elegant gekleidet, zeigte, noch bevor sie sich überhaupt begrüßen konnten, ihre Maske bodenloser Verbitterung. Mein Gott, Junge, wie sieht das denn hier aus, sagte sie und Pavel spürte ihre Tränen, noch bevor sie zu weinen begann. Der Vater legte schützend seinen Arm um ihre Schulter und schüttelte beipflichtend seinen Kopf. Pfleg dich doch ein bisschen mehr, sagte er nur und drückte Pavel das Medikament in die Hand. Hier. Davon musst du vierzig Tropfen nehmen, empfahl er, mach das am besten gleich jetzt und dann leg dich ins Bett, du siehst ja schlimm aus.

Pavel tat wie ihm geheißen, bei allem nun eigentlich doch ganz froh, dass seine Eltern hier waren. Normalerweise war er erwachsen, doch im Augenblick konnte er für einige Stunden wieder wie ein Kind sein, und das tat ihm gut. Sein Vater riet ihm zu einer Rollkur, er solle sich alle fünf Minuten, er schaue auf die Uhr, um neunzig Grad drehen, am besten beginne er auf dem Bauch. Während Pavel so dalag, hörte er, wie seine Mutter die Wohnung aufräumte. Die gleichmäßigen Geräusche des klappernden Geschirrs beruhigten ihn, ebenso das Brummen des Staubsaugers. So war es früher gewesen, als er noch zuhause gewohnt hatte, nichts hatte sich eigentlich geändert.

Der Vater, ein sportlich altersloser Mensch mit weißem Haar, setzte sich nach einer Weile zu ihm ans Bett und die Männer sprachen über Pavels Arbeit, wie es denn so gehe und ob er denn zur Zeit eine Freundin habe. Der kriegt nie eine Freundin, rief seine Mutter aus dem Hintergrund, so wie das hier aussieht. So einen wollen die Mädchen nicht. Um nicht wütend zu werden, dachte Pavel wieder an Inanna. Das stimmt, sagte sein Vater, die meisten Mädchen können mit so etwas nichts anfangen. Achtzig Prozent der Mädchen sind ganz normal, Exoten gibt es nur ganz wenige. Wenn du ein Mädchen haben willst, dann musst du auch ein bisschen normal werden. Musst dich mehr pflegen. Stell dir mal vor, ein Mädchen ist hier in der Wohnung ... Die würde gleich wieder gehen, rief seine Mutter aus dem Hintergrund, es war, dachte Pavel betrübt, ein bisschen wie mit der Wohnzimmeruhr seiner Vermieter. Erst sagte sein Vater etwas und dann setzte seine Mutter noch etwas hinzu, um die Gesamtinformation zu vervollständigen. Aber ich will doch gar nicht irgendein achtzigprozentiges Mädchen, entgegnete er hilflos und dachte an Inanna, überhaupt, wovon reden wir hier eigentlich, das ist doch alles völlig abstrakt ... Merk dir, rief seine Mutter, während sie den Wischeimer in der Toilette ausgoss, nur in einem gepflegten Körper steckt ein gepflegter Geist. Ja, das merk’ ich mir, murmelte Pavel lakonisch.

Nachdem seine Eltern gegangen waren, sah Pavel sich in seiner Wohnung um. Wie aus dem Ei gepellt, dachte er, genau so würde die Wohnung meiner Mutter aussehen. Selbst die Wäsche hatte sie mitgenommen und gesagt, dann hast du doch mal einen Grund uns zu besuchen. Er hatte sie gewähren lassen, denn am Ende war er sehr müde gewesen und froh, nun endlich wieder allein zu sein. Mittlerweile war es acht, wie ihm die zeitversetzten Uhren in seiner Umgebung einhämmerten. Und ebenso rasch wie am Nachmittag legte er sich auch nun wieder ins Bett. Glücklichweise dauerte Magen-Darm nicht allzu lange, sagte er sich, morgen musste er auf jeden Fall zur Arbeit gehen, denn er konnte sich weder einen Verdienstausfall leisten noch sich vorstellen, einen ganzen Tag lang Inanna nicht zu sehen.