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»Schon immer war die Sicherheit der Menschen Erbfeind, jederzeit.«
William Shakespeare


Galgenheck

Zu ahd. Galgo, mhd. Galge: Galgen oder Gestell über einem Schöpfbrunnen zum Heraufziehen eines Eimers. Die große Mehrzahl der Namen erinnert jedoch an die ältere, rechtssprachliche Verwendung – Richtbaum oder Gestell.
Für Galgenheck ergibt das folgende Möglichkeiten:
1. Hecke, Niederwald in der Nähe eines Galgens
2. Gelände am Weg zu einem Galgen (Galgenheck verkürzt aus Galgenheckweg)
3. Fangeinrichtung (Schnappgalgen) für Tiere, z.B. Wölfe an einem Waldrand (aus dem Südhessischen Flurnamenbuch)

Der Tag des Mondes

Danke, danke, danke! Ich hasse euch auch. Ihr Sesselpupser, ihr Wochenendfreaks. Faules Gesindel, aus dem Alltag flüchten, was? Lächerlich. Im Winter in den Fernsehsessel, im Sommer an den Gartengrill. Das ist Leben? Da atmet ihr durch? Euch bis mittags in Laken suhlen, durch Wälder joggen, auf Partys zappeln, das ist Freiheit?

Ihr wollt euch aus der Verantwortung stehlen, schlimmer noch: Ihr wollt nicht denken. Seichtkram, Wohlfühlkultur, Seelenwellness, das wollt ihr, was? Und mich dafür verantwortlich machen, dass ihr das nicht an sieben Tagen die Woche könnt. Mir Namen geben – mistiger Montag, mieser Montag, muffiger Montag.

Dies Lunae, Blödmänner! Das ist Latein. Der Tag der Mondgöttin Luna, Schwester des Sonnengottes und der Morgenröte, ihr Pfeifen. Ich stehe für die Wiederkehr.

Tja, Freunde. Es gibt mich. Ich komme zuverlässig, unausweichlich. Der Inbegriff der Tätigkeit, des Kampfes. Ein bisschen Sportsgeist. Ich bin es, der eurem unbedeutenden Gewusel Struktur gibt, euch zwingt, den Hintern zu lüften. Jaaa, hasst mich ruhig. Ich kehre wieder.

Er lag ganz still. Den Körper an den Stamm des jungen Kirschbaums gepresst, den Blick starr zur Hecke. Die Mulde, die sein Körper ins Gras drückte, war warm, feucht vom Wiesentau.

Morgenmücken taumelten durch Sonnenflecke, Meisen lärmten, stiegen hoch, kehrten im Sturzflug zurück, starteten erneut, kosteten den Himmel.

Er duckte sich tiefer.

Anfangs hatten sie ihn bemerkt, waren höher geflattert, sich in nerviger Vogelsprache Warnungen zurufend. Mit der Geduld des Jägers harrte er aus. Ein schwarz-weißer Stein in einem lärmenden Garten. Die Vögel vergaßen ihn, spielten ihre Flugspiele, jagten auf dem grün schillernden Rasen Käfer und Würmer. Sie trauten sich in die Nähe der Terrasse, erkundeten den natursteingefliesten Boden, hüpften auf den Marmortisch, auf die chromgebürsteten Gartenstühle, huschten zurück zur Hecke. Zu ihm.

Einer von ihnen, besonders jung oder besonders mutig, wagte sich in seine Reichweite.

Im Bruchteil einer Sekunde streckte sich sein Körper, Krallen bohrten sich durch Federn, zogen den sich Windenden heran, angstvolles Flattern ging in den Warnrufen der anderen, im Flügelschlagen und Auseinanderstieben unter.

Ein einziger Biss, der kleine Vogelkörper erschlaffte.

Nicht tot, nur reglos.

Das war das Ärgerliche an den gefiederten Mahlzeiten. Sie wehrten sich kaum, ihre Versuche zu entkommen waren spärlich. Anders als bei den Fellträgern, die mit immer neuen, lächerlichen Fluchten ihre Körper mit Adrenalin vollpumpten und dadurch noch schmackhafter wurden. Die Gefiederten stellten sich tot. Wenn er nicht achtgab, starben sie wirklich. Dann gab es statt einer köstlich zuckenden Hauptspeise nur fades Aas.

Heute hatte er weder Zeit noch Lust, die Meise durch Spiele zu würzen. Er hatte Hunger, war ganz Hunger, war nichts als der wilde Wunsch, den Magen zu füllen, zu beruhigen, warmes Blut zu schmecken, die Zähne in Fleisch zu schlagen, das angenehme Knirschen bröckelnder Knochen zu spüren.

Mit den Pfoten rollte er den Körper ein paar Mal hin und her, mundgerecht. Gierig biss er ins Warme, riss Brocken heraus, spie Unverdauliches beiseite, schlang und schluckte.

Die Vögel beobachteten ihn aus sicherer Höhe.

Als nur noch ein Häufchen Federn, ein paar Hautfetzen übrig waren, verflog der Rausch. Er richtete sich auf, rasterte den Garten, der friedlich im Morgenlicht lag. Er streckte sich, ging gemächlich, fast wiegend, zur Terrasse, legte sich auf die sonnenwarmen Steine, leckte Blut von Kiefer und Schnurrhaaren. Sein Nachtisch, der letzte Leckerbissen, die Erinnerung an das Genossene, ein Echo des Geschmacks, der ihm wohlige Schauer über den muskulösen Rücken jagte.

Die Fliegengittertür öffnete sich, ein Schatten fiel über ihn.

»Weg da! Los, verschwinde. Weg!«

Unangenehme Laute, schrill und hoch. Sein Körper spannte sich. Angriff oder Flucht? Eine Sekunde in der Schwebe. Dann lief er davon.

Lise sah ihm nach. Ihre Beine zitterten. Ein Riesenvieh, schwarz und unheimlich, einfach hier, auf ihrer Terrasse. Der Schreck, so unerwartet in blitzende Augen zu sehen.

Sie atmete tief die Luft, süß von Blüten und frischem Grün. Ein weiterer warmer Tag, ein weiterer schöner Morgen.

Sie schloss die Augen, versuchte sich zurück zu träumen in den einzige Morgen, der zählte, den sie in sich aufbewahrte wie ein Geschenk, ein kostbares Schmuckstück, in den sie zurückkriechen wollte, jedes Mal, wenn es so roch wie heute.

Ein früher Morgen damals, sie mit dem Fahrrad unterwegs. Waren Ferien oder war es vor der Schule? Mit dem Fahrrad den Berg hinunter, den Berg, in dessen Talsohle ihr Elternhaus stand. Ein Morgen, ähnlich wie heute. Die Luft berauschend und voll Verheißung. Auf was? Sie erinnerte sich genau, wie sich das Fahrrad angefühlt hatte, das abwechselnd durch Sonnenflecke und Schatten raste. Der harte Kunststoffsattel zwischen ihren Beinen, die jubelnd die Pedale traten. Pedale, die sich angenehm in den Spann der Fußsohlen bohrten. Geschwindigkeit, Schwe­relosigkeit. Die lauernde Gefahr zu stürzen, die Kontrolle zu verlieren, die sich durch helles Jauchzen Luft machte.

Das Licht. Die grünen Morgenschatten, der überraschende Blitz der Sonne, die Löcher in den Schatten riss, ihn aufsog, ihn vertrieb für einen strahlend blauen Sommertag.

Frisch gewaschene Morgenluft, kühler, satter Duft, der zu Kopf stieg.

Sie war rund, ganz, eine Kugel auf einem Fahrrad.

Nie mehr war dieses Rundsein, Einssein wiedergekehrt. Sie öffnete die Augen.

Eine Hitzewelle ließ ihre Haut glühen und die Luft, eben noch angenehm, wurde zum Gebläse eines Heißluftföhns. Sie stemmte die nackten Füße gegen die Fliesen, tastete die Restkühle, nahm sie in sich auf.

»Dumme, alte Kuh«, murmelte sie und der vertraute Wortklang tröstete. Mit der Zeit war ihr Vorname ihr selbst so fremd geworden, dass sie sich zusammenreißen musste, um bei den seltenen Fragen danach nicht ›Dumme, alte Kuh‹ zu antworten. Aber wer fragte schon nach ihrem Vornamen? Ihr Mann hatte sie ›Maus‹ genannt. Sogar bei der Scheidung.

Noch einmal atmete sie durch. Sie musste den Rasen wässern. Sonst würde er dürr.

Ihre Fußsohlen sehnten sich danach, weiches Gras zu spüren. Dann sah sie die Federn. Eine flaumige Spur im Grün.

»Oh, nein.«

Zögernd setzte sie die Schritte. Direkt unter dem Kirschbaum war der Schlachtplatz. Federn, glänzende Blutstropfen, ein paar Knöchelchen, eine rostrote Darmschlinge.

Über ihr lärmten die Vögel, als sei nichts geschehen. Die Sonne schien auf das erbarmungsvolle Häufchen, das einmal Leben gewesen war.

Sie schluckte, blickte sich um. Da war niemand. Um diese Uhrzeit hatten die Nachbarn die Häuser schon verlassen. Die Autos waren gestartet, die Bewohner in der Stadt, an ihren Arbeitsplätzen, bei ihren Besorgungen.

Eigentlich die schönste Zeit in den Gärten. Keine lärmenden Kinder, keine Rasenmäher, keine Gespräche, kein Motorengebrumme. Aber in diesem Moment hätte sie etwas gegeben für eine menschliche Stimme. Nicht dass sie um Hilfe gebeten hätte. Gott, die Überreste eines toten Vogels entsorgen, damit belästigte man doch niemanden.

Komm, damit wirst du fertig, dumme, alte Kuh.

Von oben konnte Isabell die Kopfhaut durch das feine Haar schimmern sehen. Was tat die Alte-Unten? Automatisch hörte sie die Stimme ihrer Mutter: »Sag nicht ›Alte-Unten‹, das ist Frau Bungert!«

Dabei nannten die sie auch ›Alte-Unten‹, erst gestern Abend. »Die Alte-Unten könnte auch mal wieder den Rasen mähen«, hatte Stalin gemurrt. Der ewige Dorn! Die Alte-Unten hatte den Rasen, die Hecken, den Garten.

Sie wusste, dass Stalin danach gierte. Noch so eine Ecke zum Ackern und Ordnen. Konnte sie sich vorstellen, wie der Garten unter seiner Fuchtel aussehen würde. Gekehrt und übelst geleckt. Da würde es kein Gänseblümchen wagen, den Kopf zu recken und makelloses Smaragdgrün zu stören. Seine Obstbäume wären nicht schief und knorrig, sondern könnten stramm stehen. Nicht, dass die Alte-Unten nicht versuchen würde, ihren Garten zum Exerzieren zu bringen. Das Beet mit den Dreierreihen Begonien war ein echter Schritt. Fror man schon beim Hinsehen. Fast. Die standen nicht richtig. Stalin hätte die mit Zirkel und Richtschnur gepflanzt und jeden Tag kontrolliert. Wehe, wenn eine affige Begonie es wagen würde, drei Zentimeter zur Seite zu wachsen. Würde dem blöden Ding schlecht bekommen. Allein das Beet mit den überhängenden Pflanzen musste ihn jeden Morgen zur Weißglut bringen.

Bei der Vorstellung grinste sie.

Selbst schuld, warum hatten sie die blöde Wohnung auch gekauft? Zweiter Stock, ohne Garten, nur Balkon? Noch dazu in der toten Ecke, in der die Einfamilienvorgärten nur so vor sich hin schimmelten? Sogar zum Einkaufen musste man mit dem Bus. Und der letzte fuhr zwanzigdreizehn. Galgenheck, der Name passte.

Fasziniert sah sie, wie die Alte-Unten mit einem Gartenhandschuh die Teile des toten Viechs auf eine Zeitung schaufelte.

Der Kater war krass. Absoluter Profi. Wie der da gesessen hatte … der Hammer! Über zwanzig Minuten, ohne sich zu bewegen.

Isabell hatte ihn kommen sehen, sich schnell hinter die schmiedeeiserne Balkonbrüstung gekniet, kaum verdeckt vom hochglanzpolierten Oleander ihres Vaters.

Ein Wettkampf, sie gegen den Kater. Wer hielt länger durch? Der Kater natürlich. Zwanzig Minuten auf den Knien waren verdammt lang. Selbst für einen Stillhalteprofi wie sie, ungeschlagene Königin der Reglosigkeit. Immerhin übte sie seit Jahren. Jetzt, mit elf, fand sie sich selbst ganz gut. Kein Meister, okay, aber ganz gut. Im Stehen ging es am besten. Angelehnt an eine Wand hatte sie es schon eine Stunde lang völlig unbeweglich ausgehalten. Nur stehen und schauen.

Nachdem die erste von Mutters Freundinnen sie bemerkt hatte, leise ihre Nachbarin anstieß und mit einem Augenzucken auf die Statue an der Wand wies, war es nur eine Frage von Minuten, bis sie zum Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit wurde. Nur weil sie still an der Wand stand. Nicht rumrannte wie die Halbglatzen, die Stalin dauernd mit »Alter Junge« anblökte. Oder auf dem Sofa zappelte wie Mamas hysterische Schnepfen. Niemand sagte was, klar. Aber alle fragten sich, was mit ihr nicht stimmte. Das konnte sie in den Blicken lesen. Man stand nicht einfach so rum. Dabei war es das Beste. Nach einer Zeit konnte sie spüren, wie sie aus ihrem Körper heraustrat, ihn zurückließ wie eine blöde Hülle. Nutzlos, hässlich. Dann glitten auch die Blicke ab und sie war allein, irgendwo.

Nur das Blinzeln, daran musste sie arbeiten. Das Blinzeln brachte sie immer wieder zurück. Der Kater konnte ohne.

Mit Schwung hievte Katrin die Bettdecken auf das Fensterbrett. Aus den Augenwinkeln sah sie die Kleine von gegenüber. Die war wieder nicht auf Ferienfreizeit.

Ihre Hände glätteten die Decke, zuckten zurück, als sie die restliche Schlafwärme von Manfred spürten, strichen sie mit energischem Druck heraus, als gälte es Bettwanzen zu entfernen.

Die sollten ja so groß wie Apfelkerne sein, hartnäckig, fast nicht zu vertreiben. Ein kurzes Schaudern, dann wandte sie sich wieder ihren Aufgaben zu.

Drei Schritte ins Zimmer, auf dem Sessel zusammengeknüllt Manfreds Unterhose, das Hemd, die Socken. Sie packte alles mit festem Griff, hielt die Wäsche von ihrem Körper entfernt, damit der Geruch, diese leicht säuerliche Anwesenheitsspur von Manfred, sich nicht an sie heftete, trug das Bündel ins Bad und ließ es erleichtert in den Korb für Schmutzwäsche fallen. Donnerstag waschen, Freitag bügeln. Diese Woche wenig Wäsche wegen der Ferienfreizeit. Dafür umso mehr, wenn die Mädchen zurückkämen.

Sie griff die bereit liegenden Gummihandschuhe, den Schwamm. Zwei Tropfen Scheuermilch in seine blauen Eingeweide, den Wasserhahn nach oben und mit kreisenden Bewegungen durch das Waschbecken, über die Armaturen, in den Ablauf. Mit einem Fensterleder nachpoliert und noch schnell über den Spiegel gewischt. Drei Schritte zur Dusche, den Sprühschaum abschussbereit.

Ob die Mädchen Spaß hatten? Bestimmt hatten sie den. Der Bauernhof lag wie gemalt in seiner Talsohle. Sie war begeistert gewesen, als sie ihn mit Manfred besichtigt hatte. Mit den Hühnern raus, Stall ausmisten, Tiere versorgen, Gänse füttern, reiten … Kindheit, die sie nie gehabt hatte.

Mit dem Fensterleder über die Glasscheiben der Dusche, ein wenig WC-frisch in die Toilette, fertig.

Oberes Stockwerk fast abgehakt. Die Zimmer der Mädchen hatte sie schon, gleich nach der Abreise in der Morgendämmerung.

Befriedigt sah sie sich im blitzenden Bad um, zog sich die Gummihandschuhe von den Händen, legte sie griffbereit auf das Regal. Für morgen. Zurück ins Schlafzimmer, die Decken kurz geschüttelt und geklopft, dann wieder auf die Matratzen.

Die Kleine von Gegenüber. Was tat die in den Ferien? Ganz allein. Ob die in Sommerurlaub fuhren? Üppig hatten die es nicht, auch wenn sie das gern vertuscht hätten. Aber sie kannte die Anzeichen. Altes Auto, nur die Wohnung, kein Haus, so wie ihres.

Überhaupt, diese Reihenhäuser mit den Eigentumswohnungen verschandelten den ganzen Galgenheck. »Ich sag dir, Katrin, das ist eine Wertminderung für das ganze Wohngebiet. Und für unser Haus«, hatte Manfred erklärt. Gut, die Reihenhäuser waren nur zweistöckig, die Wohnungen geräumig, bestimmt nicht billig. Aber kein Vergleich mit den Bungalows oder satteldachbewehrten Häusern in ausgiebigen Grünflächen. In die popligen Reihenhausgärten passte noch nicht mal ein Teich. Höchstens ein kleiner, handtuchgroßer, wie ihn sich die Lehmanns jetzt zugelegt hatten.

Und dann die ganze Nachbarschaft einladen, um so ein triefiges Wasserloch vorzustellen, als wäre es die Debütantin beim Opernball. Dabei war es höchstens die Tochter der Putzhilfe. Mit Sekt! Bei einem nachbarlichen Gartenfest gab es Bier und Wein. Am besten ein Fässchen, das machte den Männern Spaß. Und man grillte. Keine Antipasti auf großen Tellern.

Die Lehmanns waren noch jung, wussten es nicht besser. Sie alle hatten den Versuch mit freundlich hochgezogenen Augenbrauen toleriert. Alle waren gekommen, neugierig, wie es in den Häuschen aussah. Das war der Grund. Außerdem war es gutnachbarschaftlich. Auch mit Reihenhäuschen.

Als Nächstes die Küche. Routine, das Treppengeländer des Tages. »Routine ist das Treppengeländer des Tages«, predigte Manfred den Mädchen. Wenn man die Dinge immer zur gleichen Zeit und in der gleichen Reihenfolge tat, vergingen die Stunden wie im Flug. Der Tag hatte Struktur, Sinn.

Mit gleichförmigen Strichen fuhr das Spültuch über die Anrichte, wischte Krümel in die hohle Hand. Der Treteimer schluckte bereitwillig unsichtbaren Schmutz. Ein zweites Tuch, um über seinen chromglänzenden Deckel zu wischen, ein drittes, um den Esstisch mit Öl zu massieren, sein Holz zum Glänzen zu bringen. Die Spülmaschine surrte.

Getrennte Schlafzimmer hatten die Lehmanns. Keine Kinder. Vielleicht deswegen. Ihr Tag sei so »getaktet«, hatte Anja Lehmann erklärt, dass sie »einen Raum für sich« brauche.

»Getaktet«, auch so ein Wort.

»Die bringen es zu was, glaub mir«, hatte Manfred abends gesagt. Mit Mitte zwanzig schon eine Eigentumswohnung in einer guten Gegend, immerhin. Lange würden die nicht in dem albernen Häuschen bleiben.

Ein Schatten fiel über die weiß glänzende Arbeitsplatte. Sie hob den Blick. Erstarrte. Grünes Schillern aus Augenschlitzen. Ihr Magen krampfte. Ganz von unten stieg das Schreien hoch. Wie Magma wurde es aus ihr herausgeschleudert, ohne Kontrolle, schrill und schmerzhaft. Sie stand in der Küche und schrie.

Unbarmherzig stach die Nachmittagssonne durch die Windschutzscheibe, blendete ihn, bohrte sich in seine Schläfen, zwang Schweißperlen auf die Stirn. Die weit geöffneten Seitenfenster wehten den Gestank von Abgasen, heißem Teer und stehender, schon hundertmal geatmeter, hundertmal durch Abgasfilter gejagter Luft in den Wagen.

»Verdammter Idiot! Faaahr!« Aber sein Vordermann machte keine Anstalten, saß hinterm Steuer und pennte. Nur Schwachköpfe unterwegs, Fahranfänger, Büromumien, zu doof zum Reagieren.

Entnervt lehnte Ralf sich im Sitz zurück. Die Schweißperlen rannen über seine Brust, sammelten sich auf seinem Rücken, tränkten sein Hemd.

Dem Typen in der Werkstatt würde er was erzählen! Heute Morgen hatte ihn diese Scheißklimaanlage schockgefroren und jetzt wurde er gebraten. Mistkarre! Und noch nicht mal abbezahlt. Die Kiste einfach vor der Bank abstellen, die Tür zuknallen, schreien: Hier. Gehört eh euch! Das wär’s. Ging das da vorne vielleicht mal weiter? Wollten die Penner hier übernachten?

Der Druck auf seine Schläfen wurde stärker. Schweiß sammelte sich um seinen Hosengürtel, in seinen Leisten. Mann, da war er ja zu Fuß schneller.

Verzweifelt schloss er die Augen. Riss sie wieder auf, um die Weiterfahrt nicht zu versäumen.

Na endlich. Jetzt tat sich was. Das wurde auch Zeit. Er schaltete in den zweiten Gang, den dritten. Nur aus der Innenstadt raus, dem Feierabendverkehr entfliehen.

Er setzte den Blinker. Noch den Berg hoch, dann – oh Mann, die Bungert. Hatte er ganz vergessen. Stand schon wieder verloren an der Ecke. Scharf trat er auf die Bremse, öffnete die Wagentür: »Na, bei dem Wetter ist zu Fuß gehen auch nichts, was?«

»Ach, Herr Krumeck, das ist nett, ich meine, dass Sie extra halten, ich hatte schon Sorge, dass Sie vorbei sind.«

Umständlich kletterte sie in den Wagen, zupfte ihren dämlichen Rock nach unten, als wolle er ihre Beine sehen. Na, danke!

»Schwül, was?« Dämlich, aber was sollte er schon mit ihr reden?

»Ja. Wenn man steht, also länger, das ist schon warm.«

Er warf ihr einen Blick zu, bemerkte, dass sie weiter an ihrem Rock herum zupfte, zu ihm sah, schnell den Kopf senkte.

»Haben Sie gewartet?«

»Nein. Also, nicht dass Sie zu spät wären. Bitte, das meine ich nicht. Und das bisschen Warten …«

»Wie lange haben Sie gewartet?«

»Es ist nur – also unsere Dienstpläne sind geändert. Und da bin ich jetzt immer schon um drei fertig und …«

Er biss sich auf die Lippe, schaltete in den zweiten Gang zurück, rollte an den Straßenrand.

»Das hätte ich nicht sagen sollen. Wo es doch so nett ist, dass Sie mich mitnehmen und Ihre Frau extra alles arrangiert hat und …«

»Seit wann ist Ihr Dienstplan geändert?«

Verdammt, jetzt sah sie aus, als würde sie gleich das Heulen anfangen. Aber das musste er klären. Stand da in der Gluthitze und wartete eine Dreiviertelstunde auf ihn, dabei wäre sie in zehn Minuten den verdammten Berg hochgekraucht gewesen.

Alles nur, weil Petra es mal wieder nicht lassen konnte zu organisieren, sich in alles einzumischen …

»Seit zwei Monaten«, kam es leise vom Beifahrersitz.

Wieder schloss er die Augen. Seit zwei Monaten stand das arme Hascherl jeden Tag eine Dreiviertelstunde rum und wartete, dass er sie den blöden Berg hochkutschierte. Weil Petra es so beschlossen hatte. »Ihr könnt doch zusammen fahren. Die arme Frau Bungert schleppt sich immer den Berg hoch und du fährst doch sowieso …«

Er erinnerte sich an die schwachen Proteste, sie laufe gerne, das bisschen Berg, Bewegung tue ihr gut. Keine Chance. Wenn Petra etwas beschlossen hatte, gab es kein Entrinnen. Für niemanden.

Er räusperte sich. »Warum haben Sie mir das denn nicht gesagt?«

»Ich … ich wollte keine Umstände machen.«

Er sah ihren Fingern zu, die einen Faden aus dem Rock zupften, ihn zwirbelten und kneteten. Lange, schmale Finger mit ovalen Nägeln. Mädchenfinger, unbeholfen und irgendwie rührend. Sein Blick suchte ihr gesenktes Gesicht, streifte die blonden Härchen, die sich, von Hitze und Feuchtigkeit gekringelt, hinter ihr Ohr schmiegten. Entdeckte den schmalen Nasenrücken, auf dem ein paar vereinzelte Sommersprossen glänzten.

Schnell wandte er den Blick, starrte nach vorne auf die sonnensilberne Straße, die sich nach oben wand.

»Frau Bungert, Sie müssen nicht auf mich warten.«

»Aber Ihre Frau …«

Scheiß auf Petra, scheiß auf die Verpflichtungen, den ganzen Kram. Aber das sagte er nicht.

»Wir sagen ihr nichts, einverstanden? Sie gehen einfach nach Hause. Und wenn ich Sie unterwegs sehe, na, dann halte ich an. In Ordnung?«

Er spürte ihr Nicken, mehr als er es sah, schaltete in den Ersten und fuhr an. Schweigend krochen sie den Berg hoch, schweigend hielt er vor ihrem Haus. Sie zögerte, wandte sich, die Hand schon am Griff, ihm zu: »Danke.«

Sie schlüpfte aus dem Wagen. Nicht umständlich, sondern befreit. Ihm dämmerte, dass sie diese gemeinsamen Fahrten hasste. Genau wie er.

Mit schwingendem Rock bog sie in den kleinen Pflasterweg, der zu ihrem Reihenhaus führte. Kurz bevor sie um die Ecke verschwand, drehte sie sich nochmals um, hob zögernd die Hand und lächelte. Verwundert lächelte er zurück.

»Ach Schatz, da bist du ja. Wie war dein Tag? Hier war was los, sag ich dir. Heute Morgen ist Katrin ausgetickt. Sie hat die ganze Nachbarschaft zusammengeschrien. Ich hab gedacht, sie wird ermordet. Mindestens. Dabei hat sie sich nur vor einer streunenden Katze erschreckt. Ein Aufstand, sag ich dir. Übrigens hab ich Kay versprochen, dass er das Auto haben kann. Er will zu einem Freund. Du brauchst es doch heute nicht, oder? Geh schnell duschen, Katrin und Manfred kommen gleich vorbei. Das schöne Wetter müssen wir nutzen, wer weiß, wie lange es hält. Im Radio haben sie wieder ein Tief gemeldet. Ach ja, such doch bitte den Wein raus, ich hab was Kaltes gerichtet und …«

Ralf starrte auf den rot gemalten Mund, der Worte erbrach. Sein von der Hitze lahmgelegtes Gehirn erfasste nur langsam den Sinn. Reizworte wie ›Auto, Katze, Gäste‹ blieben zusammenhanglos. Er blinzelte auf den sich bewegenden Mund, auf die kleine, energische Frau, so flammend wie das Papageienkleid, das sich unvorteilhaft um ihre Polster spannte, auf die kräftige Hand mit den breiten Fingern, die den Wasserschlauch hielt und effizient auf die Beete um die Terrasse zielte. Er wusste, dass keine Antwort von ihm erwartet wurde. Er nickte und nutzte eine Sprechpause, um ins Haus zu fliehen.

Auf der Treppe kam ihm Kay entgegen. »Mama sagt, ich kann das Auto kriegen. Bin schon mal weg.« Leichtfüßig sprang sein Sohn an ihm vorbei. Kurz darauf wurde der Wagen gestartet.

Er blieb im kühlen Treppenhaus stehen, starrte auf die geschlossene Haustür. Nach einer Weile schüttelte er seine Lähmung ab, schleppte sich mit müden Tritten nach oben. Er zog sich das schweißnasse Hemd vom Körper, stellte sich ans Badezimmerfenster und sah mit leerem Blick in den Garten.

Petra bückte sich zum neu gesetzten Salbei. Eine Kräuterschnecke, die fehlte. Aber die müsste gemauert werden. Dazu konnte sie Ralf nicht bewegen. Der Arme. Müde hatte er ausgesehen.

Gefiel ihm nicht, dass heute Nachmittag Katrin und Manfred kamen. Egal, würde ihm guttun. Ralf hatte zu wenig Kontakt, kapselte sich ab. Männer und Kommunikation, pah! Ohne sie würde er im Garten hocken und mit Petunien Gedanken tauschen. Nein, das war schon richtig, ihn immer mal rauszureißen. Er wurde alt.

Die Pigmentflecke auf seinen Händen, graue Schläfen, Falten um seine Augen … Sicher, er hatte noch die Figur von früher. Im Gegensatz zu ihr. Aber die Haut hatte sich verändert. Schlaffer, ohne Spannkraft, so als würde sich das Fleisch langsam zurückziehen, die Haut zu groß für den Körper, etwas Fahles schlich sich in die Schlankheit. Besser, dicker zu werden. Zumindest straff war sie immer noch.

Ralf schlief nicht mehr ein nach dem Sex. Die wohlige Abgespanntheit, das Vergessen, das Tierische, das ihr immer so gefallen hatte, verschwand. Merkwürdig, dass Frauen sich über das postkoitale Einschlafen ihrer Männer beschwerten. Sie hatte das immer gemocht, es war beruhigend, etwas, das sie hervorrufen konnte, diese Entspannung. Aber er schlief nicht mehr. Lag stumm und bewegungslos neben ihr. Wann hatten sie das letzte Mal miteinander geschlafen? Wie immer viel zu lange her. Immer öfter viel zu lange her. Vielleicht am Wochenende? Das war wichtig. Eine Ehe ohne Sex war gefährdet. Wenigstens einen Quickie, auch wenn sie sich früher darüber lustig gemacht hatte. Jetzt war sie fast dankbar für die kurzen Minuten der Intimität. Auch wenn es manchmal schmerzte. Sie musste wieder zum Gynäkologen, die Salbe ging zur Neige. Das hatte ihr niemand erzählt. Hitzewallungen, Stimmungsschwankungen, das ja. Aber Schmerzen? Das war unfair.

Was war das denn?

Die Katzenminze. Völlig platt gedrückt. Die Blüten geknickt … Verdammt. Sie griff nach den gebrochenen Stängeln.

Staude des Jahres, pah! Kein Wunder, dass die nicht kam, wenn sie in den Boden gedrückt wurde … Oh nein, alle Blüten abgebrochen.

Mit fahrigen Bewegungen versuchte sie die niedergedrückten Pflanzen aufzurichten, befreite sie von der Erde, die in Klumpen um die zarten Blätter hing, knipste gebrochene Teile ab. Da war nichts mehr zu retten. Seufzend richtete sie sich auf – und sah direkt in zwei braune Augen, die sie forschend beobachteten.

»Das war Satan.«

Angestrengt runzelte sie die Brauen. Was redete das Mädchen? »Ach?«

»Das ist Katzenminze!«, erklärte die Kleine, ohne sie aus dem Blick zu lassen.

»Was du nicht sagst.« Gott, warum war sie nur so gereizt? Sie atmete durch: »Isabell, was machst du hier?«

Statt einer Erklärung zog sich Isabell an der Mauer hoch, bis sie oben zu sitzen kam, und ließ die Beine in ihren Garten baumeln.

»Das ist eine Natursteinmauer. Die ist nicht zum Klettern. Abgesehen davon kann man runterfallen.«

»Die Katzenminze ist doch kaputt.«

»Ja und?«

Langsam, als rede sie zu einer Schwachsinnigen, erklärte das Nachbarmädchen: »Wenn ich runterfalle und in der Minze lande, ist doch egal. Die ist kaputt.«

Petra sog tief die Luft ein. »Darum geht es nicht. Ich möchte einfach nicht, dass du auf unserer Mauer kletterst.«

»Warum möchtest du das nicht?«

Jetzt reichte es. Was bildete sich das kleine Biest ein? Wieso sollte sie Rede und Antwort stehen?

»Ich will das nicht und fertig!« Das Biest starrte auf sie herunter, direkt unheimlich. Vielleicht war sie nicht ganz normal? Hatte sie schon öfters gedacht, wenn sie das Mädchen reglos irgendwo herumstehen sah. Mädchen! Gut, dass sie Jungs hatte, mit Mädchen gab es nur Ärger, vor allem in der Pubertät. Entweder sie heulten los oder wurden cool wie ein Eisschrank. Ihre Söhne waren anders, hatten eigentlich nie Ärger gemacht. Und ihr Kay … der war etwas ganz Besonderes.

Wie immer, wenn sie an ihren Ältesten dachte, wurde ihr warm ums Herz. Aber bevor sie sich Tagträumen über seine Zukunft hingeben konnte, kam ungerührt von oben: »Ich tu doch nix.«

»Ich sag deinen Eltern Bescheid!«

»Mach doch.«

Petra schnappte nach Luft. Diese Kröte! Unfassbar.

Hinter ihr tönte es: »Hallöchen Popöchen. Na? Kleiner Disput unter Nachbarn?«

Ertappt drehte sie sich um und spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Manfred, das breite Gesicht zu einem Grinsen verzogen, hielt ihr eine Flasche Wein entgegen.

»Ach, die schöne Minze. Was ist denn da passiert?«, schloss Katrin an.

Petra brauchte eine Sekunde, um auf souveräne Gastgeberin umzuschalten. »Schön, dass ihr da seid. Ralf duscht noch.«

»Das hat jemand mit Absicht gemacht«, erklärte Katrin, den Blick hypnotisiert auf den niedergedrückten Busch gerichtet.

»Das war Satan«, kam es von der Mauer.

»Ein Satan war das bestimmt«, sagte Manfred und wischte sich mit der Hand über den Nacken.

»Quatsch! Ist doch Katzenminze, also für Katzen. Das gefällt Satan.«

Von Katrin kam ein leises Quieken. »Meinst du etwa das schwarze Mistvieh, das mich heute Morgen erschreckt hat? Ist das deine Katze?«

»Ich nenn ihn nur so, der gehört keinem, der ist galaktisch.«