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Kati Naumann

Mit Illustrationen von Silvia Baroncelli

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KOSMOS

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„Bahn frei, Kartoffelbrei!“, dröhnte es blechern aus dem kaputten Regenrohr vor dem Haus Nummer 12 in der Marktstraße. Annika, die gerade auf den Klingelknopf an der Tür drücken wollte, drehte sich neugierig um. War das eben die Stimme ihrer allerbesten Freundin Tilli gewesen?

Tilli wohnte nämlich in dem Fachwerkhaus mit den krummen Balken und dem löchrigen Dach. Das Regenrohr war auch schon seit einer ganzen Weile kaputt. Es endete ein Stück über dem Gehweg, mitten an der Hauswand. Annika bückte sich und linste neugierig in die Öffnung hinein. Sie hätte zu gern herausgefunden, was das zu bedeuten hatte. Plötzlich rumpelte es von oben und im nächsten Moment klatschte ihr eine volle Ladung Wasser entgegen. Annika quiekte wie ein Meerschweinchen und hüpfte erschrocken zurück. Was war denn jetzt los? Wo kam bei strahlendem Sonnenschein dieser Regenguss her?

„Ach, du dicker Ochsenfrosch!“, ertönte es von oben.

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Über das Fensterbrett im Dachgeschoss reckte sich ein Kopf mit dunklen Kringellocken. Das war die elfjährige Tilli Hupf. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und wedelte erschrocken mit den Händen. Es sah aus, als ob sie gleich losflattern wollte. Das silberne Glücksarmband an ihrem Handgelenk klimperte dabei. Heute brachte es ihr aber kein Glück. Da hatte sie so eine tolle Erfindung gemacht und nun war ausgerechnet ihre allerbeste Freundin in die Schusslinie geraten. Und wer war schuld? Natürlich Jacob. Wie immer. Jacob war Tillis kleiner Bruder. Er sollte eigentlich unten Schmiere stehen und aufpassen. Aber Jacob machte nie das, was Tilli wollte.

„Annika!“, brüllte Tilli nun nach unten. „Ich hab doch extra gerufen: ‚Bahn frei, Kartoffelbrei!‘“

„Wo kommt denn das ganze Wasser her?“, schrie Annika zurück und wischte sich ein paar nasse Haarsträhnen aus den Augen.

Im Nachbarhaus wummerte jemand wütend an die Wand. Das war Frau Wurstmayr. Sie beschwerte sich immer, wenn es bei den Hupfs laut wurde.

Deshalb rief Tilli jetzt in das obere Ende der Regenrinne hinein. Annika musste ihr Ohr fest an das Blechrohr drücken, damit sie unten Folgendes hören konnte: „Das wird meine spezielle Erfindung! Komm hoch, dann erklär ich’s dir!“

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Der Summer neben der Tür brummte. Annika drückte die Klinke herunter und stieg die Treppe hoch. Das machte sie jeden Morgen, denn dann holte sie Tilli zur Schule ab. Allerdings hinterließ Annika sonst keine nassen Spuren auf jeder Stufe. Auch ihre Schuhe quietschten sonst nicht. Und ihre langen, blonden Haare waren normalerweise schön glatt gekämmt und sahen nicht wie Sauerkraut aus – zumal Annika Sauerkraut doch nicht ausstehen konnte! Zum Glück war wenigstens ihr Schulrucksack trocken geblieben.

Annika stapfte an der Erdgeschosswohnung vom alten Herrn Brömmel vorbei, der dort mit seinem Kater Käsebein lebte. Dann kam Tillis Wohnung, aber dort war Tilli nicht. Wie hätte sie sonst oben zum Dachfenster herausgucken können? Also stieg Annika noch weiter hinauf, bis zum Dachgeschoss.

Tilli wartete schon vor der Tür. Sie war blank geputzt und fix und fertig für die Schule. Ihre kringeligen Locken hatte sie mit Haargummis und Spangen gebändigt. Die Schultasche lehnte gepackt im Flur. Tilli hatte ihren Lieblingsrock angezogen. Wenn sie sich damit drehte, sah das einfach umwerfend aus. Trotz der Wärme trug sie Leggins darunter. So konnte sie überall hochklettern, ohne dass die Jungs, die unten standen, etwas zum Gucken und Lästern hatten.

Annika sah weniger blank geputzt aus, eher wie eine Meerjungfrau auf dem Trockenen. Tilli zeigte entsetzt auf Annikas Hose. Annika guckte an sich herunter. Auf den Dielen unter ihr bildete sich ein Pfützchen. Es sah aus, als wäre ihr ein Missgeschick passiert. Obwohl Annikas Zustand also eine Katastrophe war, fühlte Tilli, wie ein Kichern in ihrem Bauch kitzelte und unbedingt herauswollte. Als Annika zu lachen anfing, prustete auch Tilli los.

Im Dachgeschoss war Tilli am liebsten, denn dort wohnte ihre Großmutter, Mona Tingel. Sie ließ sich von Tilli aber lieber „Moma“ nennen. Sie fand, Großmutter klang nach falschen Zähnen, die man nachts rausnehmen und in ein Wasserglas legen musste. Und sie war doch noch sehr flott mit ihren rot gefärbten Haaren, den großen Ohrringen und den bunten Flattergewändern. Zusammen mit Moma erfand Tilli immer die tollsten Sachen. Am liebsten hätte Annika mit Tilli getauscht, damit sie auch so eine tolle Oma bekam. Allerdings hätte sie dann auch Tillis kleinen Bruder bekommen und den wollte sie nicht!

In Momas Küche waren die Wände in Tillis Lieblingsfarbe Rot gestrichen und sahen so appetitlich aus wie Tomatensuppe. Außerdem duftete es herrlich nach den Kräutern, die zum Trocknen von der Decke hingen.

Moma winkte fröhlich zur Begrüßung. Sie wunderte sich kein bisschen, dass Annika klatschnass war. Wer wie Moma als junges Mädchen beim Hippie-Festival in Woodstock gewesen war, der wunderte sich über gar nichts mehr.

„Sind die Muffins fertig?“, fragte Tilli aufgeregt.

„Alles bereit“, versicherte Moma.

Es waren natürlich keine normalen Muffins, sondern ganz spezielle. Das lag daran, dass Moma die stolze Besitzerin des Schulcafés „Pustekuchen“ war und ständig neue Rezepte ausprobierte.

Das wusste auch Annika und deshalb fragte sie neugierig: „Was sind denn das für Muffins?“

Tilli machte ein geheimnisvolles Gesicht und sagte: „Ja-oder-Nein-Muffins. Für die erste Stunde bei Frau Rosenblatt. Weil wir uns doch immer so schwer entscheiden können.“

„Das ist prima!“, freute sich Annika und hätte am liebsten gleich gekostet.

„Tilli? Wo bleibst du denn?“, tönte es plötzlich durch das Treppenhaus. „Es ist Zeit für die Schule!“

Das war Vera Hupf, Tillis Mama. Sie entdeckte plötzlich die nassen Spuren.

„Hallo?“, fragte sie. „Ist hier ein Frosch die Treppe raufgehüpft?“

Tillis kleiner Bruder Jacob stapfte neugierig den Tapsen hinterher. Auch seine Mutter folgte ihnen. Am Ende der Spur fanden sie aber keinen Frosch, sondern die patschnasse Annika.

„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte Tillis Mama entsetzt. „Bist du in den Murmelbach gefallen?“

Der kleine Bach floss hinter dem Haus entlang und transportierte manchmal Briefschiffchen von Tilli zu Annika.

„Daran ist nur Dumbo schuld!“, rief Tilli.

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Immer wenn sie sich über ihren kleinen Bruder ärgerte, sagte sie Dumbo zu ihm, wegen seiner großen Ohren.

„Nenn deinen Bruder nicht immer Dumbo!“, schimpfte Tillis Mama.

„Ich wollte nicht bloß Schmiere stehen“, maulte Jacob. „Ich wollte eben auch mal die Rohrpost erfinden!“

„Geht aber nicht. Weil ich sie schon erfunden habe“, sagte Tilli und stöhnte. Andere große Erfinder mussten sich bestimmt nicht mit kleinen Brüdern herumschlagen.

„Die Rohrpost hat keiner von euch erfunden“, widersprach Vera Hupf. „Die gibt es doch schon lange.“

„Aber keine Muffin-Rohrpost“, sagte Tilli. „Und Jacob sollte aufpassen, dass keiner druntersteht!“

„Worunter sollte keiner stehen?“, fragte ihre Mama, die überhaupt nichts begriff.

Tilli seufzte. So war das immer. Große Genies wurden nur sehr selten von ihren Eltern verstanden.

„Unter dem Regenrohr“, sagte sie mit der Stimme, mit der sie Jacob sonst erklärte, wie man Schnürsenkel bindet. Das vergaß er nämlich ständig.

Die ganze Familie lief zum Küchenfenster und sah hinaus. Hinter Momas Kräutertöpfen ging die Dachrinne entlang. An deren Ende gähnte eine Öffnung. Das war das Regenrohr, das nach unten führte. Eigentlich sollte es das Wasser in die Kanalisation leiten. Aber weil Familie Hupf keinen Kredit für eine Reparatur bekommen hatte, endete es eben an der Hauswand.

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Jacob sagte trotzig: „Ich werde die Erfindung mal testen.“

Er zog einen kleinen Kiesel aus seiner Hosentasche und ließ ihn in das Loch plumpsen. Einen Moment später klackerte es unten auf dem Gehweg.

„Und das müsst ihr euch jetzt mit Muffins vorstellen“, sagte Tilli. „Geht auch mit Obstpralinchen und Apfelringen. Das wird natürlich alles gut verpackt“, stellte sie noch klar.

Annika begriff sofort, wofür die Erfindung gedacht war. Sie rief: „Was für eine Superidee! Wenn wir unten im Garten sind, brauchen wir nicht immer hochzulaufen, wenn wir was naschen wollen!“

„Genau“, bestätigte Tilli. „Dann können wir Moma ein Klopfzeichen geben und schon saust der Nachschub durch die Muffin-Rohrpost direkt aus Momas Küche runter zu uns.“

Jeden Nachmittag bekamen die Kinder nämlich die übrig gebliebenen Naschereien aus dem Schulcafé „Pustekuchen“. Moma packte dann zwei Tüten mit gebuttertem Popcorn oder getrockneten Birnenstücken zusammen, manchmal waren es auch Minibrezeln oder Süßkartoffelchips. Aber während Jacob den Inhalt seiner Tüte ganz allein verputzte, futterte seine Schwester ihn immer zusammen mit Annika. Die beiden teilten sich nämlich alles. Und wenn sie in ihrem Geheimversteck im Garten saßen, knusperten sich die Leckereien aus dem Schulcafé weg wie nichts.

„Eins verstehe ich trotzdem nicht“, sagte Vera Hupf. „Was hat das alles damit zu tun, dass Annika klatschnass ist?“

Tilli erklärte: „Ist doch ganz klar! Bevor wir was durch das Regenrohr schicken können, mussten wir es natürlich erstmal ordentlich durchspülen.“

Moma stimmte ihr zu: „Oder soll ich die Essenspäckchen etwa in eine schmutzige Dachrinne werfen?“

„Du wolltest diesen Unsinn mitmachen?“ Vera Hupf sah ihre Mutter streng an. „Wie alt bist du? Fünf?“

Darauf antwortete Moma natürlich nicht, denn sie sprach niemals über ihr Alter.

„Ich versteh das nicht“, schimpfte Mama Hupf. „Kaum hat Tilli eine verrückte Idee, machst du sofort mit.“ Aber das war doch gerade das Tolle an Moma! Sie war immer für verrückte Ideen zu haben! Moma glaubte einfach an Tillis Ideen. Vielleicht war die Muffin-Rohrpost noch nicht ganz ausgereift. Sie brauchten noch Transportkapseln, in denen sie die Muffins verschicken konnten. Abgesehen davon war es aber eine prima Idee.

Tillis Mama wollte nichts davon hören. Sie sagte nur: „Schnell, Tilli, gib Annika ein paar trockene Sachen von dir. Und dann ab mit euch in die Schule!“

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Als die beiden Freundinnen kurze Zeit später aus dem Haus kamen, hatte Annika ein paar trockene Turnschuhe von Tilli an. Ihre nassen Haare waren wie bei Tilli mit einem Gummi zusammengebunden. Außerdem trug Annika nun auch einen Rock mit Leggins darunter.

Die beiden liefen am Haus von Frau Wurstmayr vorbei und schon befanden sie sich auf dem kleinen Platz vor der Schule. Tilli hatte nämlich den kürzesten Schulweg der Welt.

„Was meinst du?“, fragte Annika und drehte sich einmal um sich selbst. „Ob Robo meine Sachen gefallen? Also ich meine natürlich deine.“

Tilli musste lachen. „Er wird dich für meinen Zwilling halten!“, kicherte sie.

„Ja!“, rief Annika. „Man könnte uns glatt verwechseln.“

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Der einzige Unterschied zwischen ihnen war, dass Tilli den Karton balancierte, in dem die Ja-oder-Nein-Muffins lagen. Und natürlich dass Tilli braune Haare hatte, Annika aber blond war. Doch das fiel gar nicht auf, wenn man nicht genau hinsah.

Die Freundinnen blieben vor dem „Pustekuchen“ stehen. Es befand sich in einem Anbau vor der Schule. Die Rollläden waren noch heruntergelassen, es öffnete nämlich erst zur großen Pause. Auf der Tafel davor stand mit bunter Kreide und in Momas schönster Schnörkelschrift: Heute Melonen-Sorbet und Himbeer-Eistee.

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Plötzlich drängte sich Moma an ihnen vorbei und schloss die Tür zum Schulcafé auf. Ihr Gesicht war rot vor Ärger.

„Was ist denn passiert?“, fragte Tilli verwundert.