Fürstenkrone – Jubiläumsbox 7 – E-Book: 37 - 42

Fürstenkrone
– Jubiläumsbox 7–

E-Book: 37 - 42

Sybille von Sydow
Donata von Hohenbrunn
Silva Werneburg
Myra Myrenburg
Viola Marquardt

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-257-2

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Die Entscheidung des Fürsten Reilingen

Roman von Sybille von Sydow

»Alexa, beste aller Schwestern, nur noch ein einziges Mal!« Georg Prinz von Reilingen zu Monschau sah die schöne junge Frau, auf deren Schreibtischkante er mit einer Hinterbacke balancierte, bittend an. Obwohl sie beim Anblick ihres kleinen Bruders immer wieder weich wurde, versuchte sie, den Ausdruck der Strenge und Unnachgiebigkeit beizubehalten, was ihr bezüglich seiner immer wieder durchbrechenden Spielleidenschaft auch ganz gut gelang.

»Nein, Georgi, dieses Mal wirklich nicht. Du hast hoch und heilig geschworen …«

»Ich weiß, ich weiß, aber irgendwie konnte ich in dieser Situation unmöglich nein sagen … Du weißt doch, wie das manchmal ist.«

»Nein, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass du mir beim Leben unserer Großmutter versprochen hast, solche Stätten nicht mehr zu betreten. Erinnerst du dich vielleicht noch daran?«

Georg hatte schuldbewusst die Augen gesenkt und fuhr mit seinem langen schlanken Zeigefinger langsam die Goldprägung der ledernen Schreibtischeinlage nach.

»Ja doch, du hast ja recht. Aber ich bin mir sicher, dass Großmama trotz meines kleinen Rückfalls munter weiterleben wird. Wenn ich jetzt meinen Schwur erneuere, glaubst du mir dann?«

Er sah sie mit einem Augenaufschlag an, den er seit seinem ersten Lebensjahr drauf hatte und der sie dahinschmelzen ließ. Doch Alexa war entschlossen, eisern zu bleiben.

»Nein, das wirst du dieses Mal schon selber machen müssen. Wie viel ist es denn?«

»Dreitausend, aber ich kann unmöglich zu ihm gehen. Erstens habe ich gleich das Date meines Lebens, und zweitens habe ich ihn erst letzte Woche um einen Zuschuss gebeten. Außerdem kannst du das viel besser als ich.«

»Ach was, wer spielt, sollte auch für seine Schulden einstehen. Was hat er denn gesagt?«

»Genau das.«

»Und warum tust du es dann nicht?«

»Tu ich doch, aber es geht eben nur mit deiner Hilfe.« Dabei grinste er sie so verschämt-verschwörerisch an, dass sie merkte, wie ihr Widerspruch bröckelte. Ein paar Minuten hielt sie noch daran fest, bevor sie endgültig einknickte.

»Okay, ich werde es versuchen. Aber nur, weil ich nachher sowieso noch ein paar Dinge mit Papa besprechen muss, und ich schwöre dir, dass es garantiert das letzte Mal sein wird.«

Die Erleichterung ließ Georgs Gesicht in einem breiten Lachen erstrahlen. Er sprang auf, drückte seine Schwester und gab ihr einen dicken Kuss auf die Wange.

»Lexilein, du bist wirklich unbezahlbar.« Womit die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Alexa seufzte: Ihr Bruder war eindeutig eine große Schwachstelle in ihrem sonst so geordneten Leben.

*

»Ach Gott, ach Gott, jetzt fängt dieser Stress wieder an«, stöhnte Ilse und fing sich dafür einen tadelnden Blick von Lora Baum ein, die in ihrer Funktion als Köchin das gesamte Geschehen in der Küche im Blick hatte. Insgeheim gab sie ihr recht, aber sie war der Meinung, dass sich solche Bemerkungen für ein Dienstmädchen nicht schickten. Lora war noch von altem Schrot und Korn und in ihrer Dienstauffassung ihrer Herrschaft gegenüber viel ergebener als die jungen Dinger von heute.

Immer zu Beginn der Ferien, wenn alle Kinder des Fürsten – allesamt bereits junge Erwachsene – aus all seinen Ehen im Schloss eintrafen, um die freien Wochen hier zu verbringen, erhöhte sich das Arbeitsaufkommen für das Personal um ein Vielfaches, und es ging ein heimliches Stöhnen durch den Gesindetrakt. Gewöhnlich lebten, abgesehen vom Personal, sieben Personen im Schloss, deren Zahl aber in den Ferien mühelos auf zehn bis zwanzig erweitert wurde, je nachdem, wer wen als Gast mitbrachte.

»Was ist, seid ihr so weit? Kann ich servieren? Oben sind schon alle vollzählig.« Servatius, der Butler, steckte seinen Kopf zur Tür herein und bekam von Lora das Signal, dass die Suppe bereits im Speiseaufzug auf dem Weg nach oben sei.

»Husch, husch«, machte er mit einer scheuchenden Handbewegung zu Ilse, die ihm in jüngster Zeit beim Servieren assistieren durfte, um sich damit für höhere Dienste zu qualifizieren. Es gelang ihnen jedes Mal mühelos, vor dem altersschwachen, ächzenden Speiseaufzug den Servierraum zu erreichen, der diskret neben dem Speisesaal lag.

Lautes, lebhaftes Stimmengewirr drang herüber und ließ ahnen, dass jede Menge hungriger Schnäbel zu stopfen waren.

Beim Dessert trat langsam gesättigte Ruhe ein, und Albert Fürst von Reilingen zu Monschau ließ seinen Blick nachdenklich über die Häupter seiner Lieben wandern.

Das also war nun seine Familie. In dem Bestreben, das Familienstatut zu erfüllen und einen Sohn und Erben zu produzieren, war sie ungeplant umfangreich geworden.

Der Grundstein wurde durch seine Ehe mit Sonja gelegt. Sie war überaus attraktiv, zumal auch sie ihm sehr ergeben schien. Sie heirateten, und schon einige Monate nach der Hochzeit überraschte Sonja ihn mit der Kunde, dass sie schwanger sei. Ihr erstes Kind wurde geboren, ein gesundes kräftiges Mädchen: Alexa. Albert war maßlos enttäuscht, denn unlogischerweise hatte er bei der Geburt eines Kindes immer an die Geburt eines Sohnes gedacht. Aber er verzieh seiner Frau und gab ihr eine zweite Chance.

Als dann mit Bianca ein weiteres Mädchen zur Welt kam, war seine Geduld und auch seine Liebe zu Sonja bereits erschöpft. Er wollte mit ihr keinen neuen Versuch mehr wagen und sah die Erfüllung seiner Hoffnung in einer neuen Verbindung.

Obwohl ihm die biologischen Zusammenhänge durchaus bekannt waren, machte er gefühlsmäßig eindeutig die Frau für das Geschlecht des Kindes verantwortlich.

Die Ehe wurde geschieden, und als Sonja kurz darauf einen wohlhabenden Amerikaner ehelichte und mit ihm nach Übersee zog, blieben die beiden Mädchen bei ihm.

Als er Andrea kennen lernte, war er sofort überaus zuversichtlich. Sie war die Tochter eines Grafen und das einzige Mädchen unter fünf Brüdern, was ihn als Beweis männlichen Erzeugerpotentials völlig überzeugte. Andrea war glücklich, dass er sie zur Frau nahm, und Albert schienen die anderen Faktoren wichtiger für eine Ehe als die Liebe. Andrea gebar ihm seine dritte Tochter, Carlotta, und ein Jahr später Diana, die vierte Tochter. Danach beschloss Albert, dass sich die Ehe mit Andrea nicht mehr lohne und er die Zeugung eines Erben wohl mit einer weiteren Frau versuchen müsse.

Auch diese Ehe wurde schnell und unspektakulär und glücklicherweise ohne Anteilnahme der Presse geschieden. Andrea allerdings war nur durch die Überlassung der Töchter zu trösten, was Albert nicht allzu schwer fiel. Später, als sie älter waren, verbrachten sie ihre Ferien auf Schloss Reilingen, verstanden sich gut mit Alexa und Bianca und nahmen alles mit der Selbstverständlichkeit legitimer Nachkommen in Besitz.

Nicht lange nach seiner zweiten Scheidung trat Carla in sein Leben. Eine herbe, nüchterne Frau aus

bes­tem Hause. Sie stimmten darin überein, dass nur männliche Nachkommen den Fortbestand einer Familie sicherten. Das stimmte Albert zuversichtlich. Wenn auch die Frau sich einen Sohn wünschte, so konnte auch nur ein Sohn dabei herauskommen, war seine heimliche Überzeugung.

Für Carla kamen, von der Nachfolgefrage einmal abgesehen, hauptsächlich deshalb nur Söhne in Frage, weil sie sie für gradliniger und unkomplizierter hielt. Mädchen waren ihr zu zickig. Niemand war daher überraschter als Carla, als ihr nach der kurzen, schmerzreichen Entbindung ein Mädchen in den Arm gelegt wurde: Elisa, Alberts fünfte Tochter.

Weil Carla es mit ihrem Wunsch nach einem Sohn ernst zu meinen schien, versuchte er es ein zweites Mal mit ihr. Heraus kam bei diesem Versuch Fiona, seine sechste Tochter.

Damit war auch diese Ehe beendet.

Carla nahm die Kinder mit zu sich, und erst Jahre später, als sie Schwierigkeiten mit ihrem Stiefvater, Carlas zweitem Mann, bekamen, besannen sie sich auf ihren leiblichen Vater und entdeckten die Reize von Schloss Reilingen.

Fürst Alberts Blick glitt an der Reihe seiner schmucken Töchter entlang, und er musste sich eingestehen, dass er durchaus hätte zufrieden sein können, wenn er nicht immer den Begriff der Vaterfreuden mit der Freude an Söhnen gleichgesetzt hätte.

Am Ende der Tafel, ihm genau gegenüber, saß Georg Johannes Albert, Kronprinz von Reilingen zu Monschau, sein einziger männlicher Nachkomme und Erbe. Aber der entsprach so gar nicht den Hoffnungen, die er sich bei seiner Ankunft gemacht hatte …

Wieder gingen die Gedanken des Fürsten zurück in die Vergangenheit. Nach der Trennung von Carla hatte ihn bei dem Gedanken, nie Vater eines Sohnes zu werden, eine tiefe Traurigkeit, fast schon eine Depression, befallen, die ihn eine Zeitlang die trügerische Behaglichkeit von Bars suchen ließ. Hinter einer dieser Theken traf er auf Dolly, eine verständnisvolle, lebensfrohe Bardame mit unendlichem Mitgefühl für ihn und seine verzweifelte Situation. Vor allen Dingen aber hatte sie viel Gefühl für seinen Titel und seinen Status und beides als die Chance ihres Lebens erkannt.

Zwei Monate später eröffnete sie ihm, dass sie einen Sohn von ihm erwarte. Diese Eröffnung belegte sie mit ihrem Mutterpass und einer abgeschlossenen Fruchtwasseruntersuchung, bei der auch das Geschlecht des Fötus einwandfrei festgestellt worden war. Albert war erst entsetzt, sofort danach aber ganz aus dem Häuschen vor Freude. Nur so konnte er sich heute erklären, dass er sofort bereit war, Dollys Vorschlag zu folgen und zu heiraten, damit der lang ersehnte Sohn legitim das Licht dieser Welt erblicken konnte.

Die Ehe war von der ersten Stunde an die zu erwartende Katastrophe. Aber da Albert inzwischen Routine im Beenden von Beziehungen hatte, richtete er ihr recht bald eine luxuriöse Wohnung im Westflügel des Schlosses ein und verbannte sie so aus seinem alltäglichen Blickfeld.

Der Sohn, den Dolly ihm schenkte, war ein blondgelockter Wonneproppen, der mit seiner strahlend sonnigen Art dem ganzen Schloss viel Freude machte.

Georg Johannes Albert war von so unbeschwertem Wesen, dass ihm kein Mensch je böse sein konnte. Als Kind war das ganz entzückend, aber leider musste Albert feststellen, dass sich diese Art bis in sein Erwachsenenalter hinein hielt und er sie heute mit Besorgnis als Leichtsinn und mangelnden Lebensernst bezeichnen musste.

Konnte von diesen Schultern einmal die Last des Schlosses Reilingen und die Verantwortung für das Bankhaus Monschau getragen werden? Er zweifelte von Tag zu Tag mehr daran. Selbst wenn er seinen Sohn noch so hoffnungsfroh betrachtete, konnte er an ihm keine der Eigenschaften entdecken, die für den Erben des Fürstenhauses Reilingen unabdingbar waren. Kein Anzeichen von Verantwortungsbewusstsein, Zuverlässigkeit und Ehrgefühl. Stattdessen nur Oberflächlichkeit, Sorglosigkeit und Vergnügungssucht. Lange Zeit hatte er sich mit Georgs Jugend getröstet und die Hoffnung genährt, dass all seine Erwartungen in ihn sich noch erfüllen würden. Aber wenn er ehrlich war musste er zugeben, dass diese Hoffnung nicht berechtigt war.

Fürst Albert sah über die Länge der Tafel hinweg, wie Georg mit seinen Schwestern lachte und schäkerte. Er verstand sich mit allen gut, und alle liebten ihn, was bedeuteten da schon die Sorgen eines Vaters?

*

Prinzessin Alexa fuhr hoppelnd über die zum Parkplatz umfunktionierte Wiese und lenkte ihren Golf schwungvoll in die letzte freie Lücke.

Hoffentlich kam sie nicht zu spät. Sie hatte Diana versprochen, beim Turnier zu erscheinen, und war wie immer von allem möglichen aufgehalten worden. Während sie ihre Lederjacke vom Rücksitz raffte und anzog, wobei sie den Geruch von Pferden, Heu und Leder einsog, nahm sie wahr, dass eine elegante, sympathische Dame mittleren Alters in ihre Richtung kam.

»War das nicht etwas unverschämt?« Diese Frage war aufgebracht und ganz und gar nicht sympathisch gestellt worden, und Alexa brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass sie an sie gerichtet war.

»Wie bitte?« Sie sah die fremde Frau konsterniert an.

»Stellen Sie sich doch nicht dümmer, als Sie sind. Sie haben uns gerade mit bemerkenswerter Dreistigkeit den Parkplatz weggeschnappt.«

Alexa hatte keine Ahnung, wovon die Frau redete. Während die sich noch erregte, war hinter ihr ein gutaussehender junger Mann aufgetaucht, der Alexa anlachte und sie mit beschwichtigenden Gesten bat, es nicht ernst zu nehmen. Er sah wirklich verdammt gut aus.

»Tut mir wahnsinnig leid, das wollte ich sicher nicht«, stotterte sie, immer noch verständnislos.

»Ist nicht weiter schlimm. Wir haben doch einen sehr schönen Parkplatz, Mutter«, sagte er in beruhigendem Ton und führte die Dame mit einem sanften Griff am Ellenbogen fort.

»Tut mir leid, Moritz, aber du weißt, dass solche Unverschämtheiten ein rotes Tuch für mich sind. Es gibt immer Menschen …« Alles Weitere wurde von der Menge der Turnierbesucher geschluckt, unter die die Beiden sich mischten. Alexa schüttelte den Kopf und sah sich nach dem Arbeitsplatz um, wo sie Diana vermutete. Sie ließ ihre Augen über die zahlreichen Reiter wandern, die ihre Pferde warm ritten, konnte aber ihre Schwester nicht entdecken. Hoffentlich war sie nicht schon dran, dann würde sie ihr das Zuspätkommen nie verzeihen. Diana brauchte immer ihr ganz persönliches Publikum. Wenn sie sich recht erinnerte, wollte sie in zwei Durchgängen starten. Mit Chiaro in der M-Dressur und mit dessen Mutter Chiara in der S-Dressur.

Alexa hatte als Kind immer Angst vor diesen großen Tieren gehabt. Nicht, weil sie so klein gewesen wäre, sondern weil ihre Mutter, die selber unter großen Ängsten litt, sie beim bloßen Anblick eines Pferdes mit unablässigen Warnungen und Schauergeschichten fütterte. Auch später hatte sie nie den Zugang zur Reiterei gefunden, es aber immerhin geschafft, angstfrei mit den Pferden ihrer Schwester umzugehen. Außerdem konnte sie sich der Faszination dieses Sports nie ganz entziehen und begleitete Diana gerne zu Turnieren oder ähnlichen Einsätzen.

Da – dort stand Chiaro und neben ihm an einem steinernen Brunnen Diana, die wie wild an ihrer weißen Reithose herumrieb.

»Irgendwo hat dieser Fressbeutel von Pferd Gras erwischt und mir die ganze grüne Suppe über die Hose gesabbert«, schimpfte sie dabei und nahm das Erscheinen von Alexa als selbstverständlich hin. Die kramte in ihrer Handtasche und holte eine Tube Fleckenmittel heraus, mit dessen Hilfe das Malheur schnell beseitigt war.

»Typisch, immer für alles gerüs­tet, danke dir«, strahlte Diana und schwang sich wieder in den Sattel.

Das Gedränge von Pferden und Reitern auf dem Platz wurde immer dichter und lichtete sich erst, als die ersten Turnierdurchgänge aufgerufen wurden. Auf dem dahinter liegenden Viereck waren die rot-weißen Übungshindernisse der Springreiter zu erkennen. Prinzessin Alexa schlenderte dorthin und sah eine Weile zu. Diana hatte eine nicht zu erklärende Abneigung gegen die Springerei und sprang nur, wenn es sich nicht umgehen ließ. Aber Alexa sah hier ebenso gerne zu wie bei den Dressurreitern. Als sie allerdings ganz in ihrer Nähe die Dame vom Parkplatz wahrnahm, trat sie schnell den Rückzug an und verzog sich in die Halle, in der die Prüfungen stattfanden. Sie hatte keinerlei Lust darauf, noch einmal von ihr angepflaumt zu werden.

Diana gelangte mit Chiaro auf Platz drei und mit seiner Mutter in der noch anspruchsvolleren S-Klasse auf den zweiten Platz. Dennoch war sie wie immer unzufrieden und analysierte die Leistung der Pferde und ihre eigene vor und zurück. Verärgert über sich selber drückte sie Alexa schließlich ihren flachen samtschwarzen Damenzylinder in die Hand.

»Chiaro könnte auch noch viel gelöster gehen. Hast du gesehen, wie er sich immer wieder von den anderen ablenken lässt?« Alexa nickte zwar pflichtschuldig, hatte aber von diesen Feinheiten nicht die geringste Ahnung.

»Immerhin bist du beide Male platziert worden. Das ist doch sehr gut«, wandte sie ein, aber Diana winkte unzufrieden ab.

»Sicher, aber es hätte auch besser sein können. Guck dir mal die Punktierung an«, damit deutete sie mit dem Kinn auf eine große Tafel, auf der unentwegt die errungenen Punkte der teilnehmenden Pferde mit Kreide korrigiert wurden. Die Tabelle sagte Alexa ungefähr so wenig wie die Geometrieauflistungen damals in der Schule.

Chiara tänzelte unruhig hin und her und gab mit lautem Wiehern ihren Artgenossen Antwort, die wie sie von den Aufregungen des Turniergeschehens infiziert waren. Die silberne Rosette des Zweitplatzierten klemmte an dem Stirnriemen des Zaumzeugs und schränkte ihren Blickwinkel ein.

»Sollen wir noch einen Tee trinken, oder willst du gleich nach Hause?«, erkundigte sich Alexa und rieb fröstelnd die Hände aneinander.

»Gute Idee. Ich bringe nur eben das Pferd in den Hänger, dann ist Chiaro auch ruhiger. Kommst du mit, oder treffen wir uns im Versorgungszelt?«

»Wenn du mich nicht brauchst, gehe ich lieber schon mal vor. Wir treffen uns dann an einem der Tische dort.« Alexa drückte sich gern um den Marsch durch die von vielen Pferdehufen aufgematschte Wiese, der feuchte Füße und schmutzige Schuhe einbrachte.

Erstaunlich vielen schien an diesem kühlen Frühsommertag der Sinn nach einem aufwärmenden Getränk zu stehen, denn sie musste sich in eine Menschenschlange einreihen, die sie an Erzählungen ihrer Großmutter aus der Nachkriegszeit denken ließ. Aber es ging zügig voran, und bald balancierte sie mit einem Tablett, auf dem sich Tee, Cola und Kuchen drängten, durch die Reihen.

»Sollen wir uns gemeinsam einen Platz suchen?«

Als sie sich zweifelnd umsah, ob mit dieser Frage sie gemeint war, blickte sie direkt in das lächelnde Gesicht des gutaussehenden Mannes vom Parkplatz. Und er sah immer noch sehr gut aus! Automatisch blickte Alexa sich nach der bissigen Dame um.

»Wo haben Sie denn Ihre Begleitung gelassen?«

»Meine Mutter? Die hat eine Freundin getroffen, was Stunden dauern kann. Ich bin hier nur mit einem Freund verabredet. Er hat an dem Turnier teilgenommen. Und Sie? Nur Hunger?«

Alexa sah seinen Blick auf ihr volles Tablett gerichtet und lachte.

»Nein, ganz so verfressen bin ich auch nicht. Ich warte auf meine Schwester, die hat sich die Stärkung redlich verdient. Sie hat auch mitgemacht. Dressur.«

»Aha«, machte er nur und steuerte zielstrebig den letzten Vierertisch an, wortlos voraussetzend, dass sie mit ihm zusammensitzen würde. Über den Rand ihres Tabletts hinaus registrierte Alexa, dass er nicht nur ein markantes Gesicht hatte, sondern auch noch verdammt gut gebaut war. Mit einem sportlich geschmeidigen Hechtsprung erklärte er den Tisch für besetzt und sah mit einem bedauernden Achselzucken zu, wie ein Paar mittleren Alters enttäuscht wieder abzog.

»Übrigens: Moritz von Salm«, stellte er sich fast förmlich vor, nahm ihr das Tablett aus den Händen und setzte es behutsam auf den Tisch. »Ich wollte mich heute Mittag schon für meine Mutter entschuldigen. Manchmal ist sie, nun ja, etwas unberechenbar. Ich hoffe, Sie verzeihen ihr.«

»War ja nur ein Missverständnis«, winkte Alexa ab und setzte sich hin. Er ließ sich ihr gegenüber nieder und sah sie fragend an. Sein Blick verwirrte sie, und sie hatte keine Ahnung, was er von ihr erwartete.

»Ich würde so gerne wissen, wie sie heißen«, erklärte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Sie lachte erleichtert.

»Ach so, klar: Alexa von Reilingen.«

»Reiten Sie auch?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, soweit bin ich nie gekommen. Als Kind fand ich diese Tiere immer beängstigend groß und hab’ lieber Abstand gehalten. Heute halte ich zwar keinen Abstand mehr, aber ich muss mich auch nicht unbedingt drauf setzen. Ich begleite immer nur meine Schwester. Sie ist die einzige in unserer Familie, die mit Ehrgeiz reitet.«

»Da geht es Ihnen wie mir. Meine Mutter hat mich früher immer gedrängt, aber ich fand die Biester rein kräftemäßig viel zu überlegen für mich. Wenn es hart auf hart kommt, dachte ich, würde ich doch immer den Kürzeren ziehen. So wenig ich als Reiter tauge, so gerne mache ich mich jedoch heute als Begleitung nützlich. Wenigstens ab und zu, wenn ich Zeit habe. Mein Freund Marius, auf den ich hier warte, ist während der Turniersaison fast jedes Wochenende unterwegs.«

Alexa nickte.

»Wie Diana. Sie macht das mit Leidenschaft. Aber ich glaube, die braucht man für so ein zeitintensives Hobby auch. Ich komme nur manchmal mit, weil ich die Atmosphäre mag. Allerdings fürchte ich, dass meine anderen Schwestern, die selber reiten und öfter dabei sind, bei der Arbeit mit den Pferden viel hilfreicher sind.«

»Das klingt nach einer Menge. Wie viele Schwestern haben sie denn?«

»Fünf und einen Bruder.«

»Der Arme«, rutschte es ihm heraus. Alexa lachte.

»Überhaupt nicht. Er ist der Jüngste und von uns allen ohne Ende verwöhnt worden.«

»Und? Hat es ihm gutgetan?«

Alexa überlegte einen Moment ernsthaft, bevor sie antwortete.

»Ich denke schon. Er ist ein sehr fröhlicher Mensch. Haben Sie noch Geschwister?«

Moritz nickte. »Eine Schwester. Sie ist vier Jahre älter als ich und war der Schrecken meiner Kindheit.«

Alexa lachte. »Aha, daher das spontane Mitgefühl mit meinem Bruder. Aber wahrscheinlich ist eine Schwester viel schlimmer als sechs. Was war denn so schrecklich an ihr?«

»Oh, sie war grausam. Außerdem beherrschte Maxi schon als Kind sämtliche Tricks der Weiblichkeit instinktmäßig.« Obwohl es nicht sehr nett klang, sprach aus seinen Augen eine tiefe Zuneigung zu seiner Schwester. Während er von ihr und ihren kindlichen Gemeinheiten erzählte, freute er sich an dem offenen, aufmerksamen Gesicht seines Gegenübers und stellte fest, dass Alexa nur sehr wenig Ähnlichkeit mit seiner Schwester zu haben schien. Wie schön sie war!

Alexa hörte tatsächlich fasziniert zu. Er schilderte sehr anschaulich, und seine Worte ließen ein lebhaftes Bild seiner Kindheit vor ihren Augen entstehen, mit so vielen komischen Momenten, dass sie mehr als einmal in lautes Gelächter ausbrach.

»Was habt ihr denn hier für einen Spaß?«, erkundigte sich eine wohlklingende dunkle Männerstimme, die zu einem Mann Ende zwanzig gehörte, den sein gut sitzendes rotes Jackett und seine schwarzen Reithosen als Springreiter auswies.

»Oh, ich erzähle nur gerade von Maxima.«

»Aha.« Die zweifelnd hochgezogenen Augenbrauen des anderen Mannes verrieten, dass es sich dabei leider wohl nicht um eine Person handelte, die allgemein Anlass zur Erheiterung gab.

»Mein Freund Marius Berger – Alexa von Reilingen«, stellte Moritz vor und schob eine Teetasse über den Tisch, der man ansah, dass sie alles andere als noch heiß war.

»Und, gibt’s keinen Kuchen?«, fragte Marius, nachdem er sich nach dem ersten Schluck seines Tees geschüttelt hatte, und warf begehrliche Blicke auf den Kirschstreusel, der neben Alexa stand. Sie schob den Kuchen neben seinen Tee und lachte.

»Bitte sehr, Leistung braucht Nahrung. Es dauert sicher noch, bis meine Schwester erscheint.«

Der junge Mann biss genussvoll und ohne falsche Zurückhaltung in den Kuchen und bekannte:

»So groß war meine Leistung heute wirklich nicht. Ich hab’ zweimal derbe gepatzt, und das hat entscheidende Punkte gekostet. Außerdem hat Balou einmal gerissen und sich leicht an der Fessel verletzt. Gott sei Dank erst im letzten Durchgang.«

»Wird er pausieren müssen?«

Marius schüttelte kauend den Kopf.

»Bis nächste Woche ist er sicher wieder okay.«

Er blickte auf, unterbrach seine Kaubewegungen und starrte eine blonde Frau mit flotter Kurzhaarfrisur an, die an ihren Tisch getreten war.

»Hallo, da bist du ja. Ich hab’ dich schon überall gesucht.«

Während Alexa sie aufklärte, wer die beiden Herren waren, lag Prinzessin Dianas Blick sehr interessiert auf Moritz, dessen Augen sich nach einer kurzen Begrüßung sofort wieder zu Alexa wandten.

Irgendetwas läuft hier falsch, registrierte Alexas Unterbewusstsein: Das große Interesse aneinander in der falschen Kombination.

»Ich geh mal Kuchen holen«, sagte sie und stand auf. Moritz folgte ihr mit der Erklärung, dass sie diese Last unmöglich alleine tragen könne.

Sie waren fast gleich groß. Moritz überragte Alexa nur um wenige Zentimeter, und als sie dicht neben ihm ging, konnte er schwach den Duft ihres Parfüms wahrnehmen, der ihm in dem Moment als der schönste Duft der Welt erschien. Sie amüsierten sich beide über den Anblick der Bedienung am Kuchenbuffet, die selber wie ein appetitliches Petit Fours wirkte. Selbst bei der Auswahl der Gebäckstücke herrschte ein unglaublicher Gleichklang zwischen ihnen.

Als sie zurückkamen, waren Diana und Marius in eine Diskussion über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Gebissstücke für Pferde vertieft, die sie aber dem Kuchen zuliebe sofort unterbrachen. Sie lachten und alberten herum, als wäre ihre Bekanntschaft bereits Jahre und nicht erst ein paar Minuten alt.

Obwohl sie sich zu viert gut unterhielten, galt Moritz’ Hauptaugenmerk eindeutig Alexa. Diana aber drängte sich immer wieder in Moritz’ Gesichtskreis, wogegen Marius kaum einen Blick von Diana ließ.

Und Alexa? Sie war verwirrt. Seit sie denken konnte, fühlte sie sich als Älteste für alle verantwortlich. Besonders seitdem nach und nach die verschiedenen Mütter abgetreten waren, hatte sie schrittweise die Verantwortung für ihre Geschwister übernommen. Ihr war diese Bereitschaft von Natur aus gegeben, und jemand anderer hatte im Schloss nie zur Verfügung gestanden.

Natürlich hatte sie Dianas Ambitionen bemerkt, und in ihrer Verantwortung als ältere Schwester für die Zufriedenheit der jüngeren wäre es ihr schon aus Gewohnheit nie in den Sinn gekommen, mit ihr in Konkurrenz zu treten. Obwohl ihr mit Moritz von Salm endlich ein Mann begegnet war, der sie interessierte, war sie ohne zu zögern bereit, dieses Interesse im Keim zu ersticken, wenn es Diana glücklich machte.

Diana hingegen hatte Alexas Interesse noch nicht einmal wahrgenommen, so sehr war sie entschlossen, ihre Krallen in dem Objekt ihrer Begierde festzuschlagen. Dass Moritz nicht auf sie zu reagieren schien, hielt sie für Taktik, und es spornte sie mehr an, als dass es sie entmutigte. Außerdem war ihr die Schönheit der Schwester so selbstverständlich, dass sie sie nicht als Konkurrenz wahrnahm, und an der eigenen berauschte sie sich jeden Tag vor dem Spiegel bis zur Ekstase. Diana war von jeher sehr eitel und selbstverliebt gewesen, was ihr zu einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein verholfen hatte.

Mit Marius drehte sich ihr Gespräch ausschließlich um Belange des Reitsports, die sie sachlich und interessiert abhandelte. Bei Moritz hingegen signalisierte Diana persönliches Interesse, das sie hemmungslos mit den gängigen Flirtsignalen untermauerte. Mit mäßigem Erfolg.

Klimperte sie mit den Wimpern, blickte er betreten zur Seite, versuchte sie, ihm tief in die Augen zu sehen, wandte er sich verlegen an Marius oder Alexa. Kam sie ihm näher, rückte er sofort von ihr ab, als würde sie ihn mit einer ansteckenden Krankheit infizieren. Sein Gesichtsausdruck bei diesem Dauerbeschuss drückte nichts als höfliche Langmut aus, und sobald eine noch so kurze Pause entstand, wandte er sich an Alexa.

Plötzlich wurde es draußen um einige Nuancen dunkler, und eine kräftige Windböe blähte das Zeltdach über ihnen auf. Die Pferde auf dem Gelände wurden unruhig, wieherten sich laut Warnungen zu und tänzelten unter ihren Reitern. Kurz darauf öffnete der Himmel abrupt seine Schleusen und schickte sturzbachartigen Regen herab. Die gerade noch umherschlendernden Zuschauer suchten panikartig Zuflucht in dem großen Gastronomiezelt, das sich innerhalb von Minuten bis zum Bersten füllte, und die Reiter sahen zu, dass sie ihre Tiere in Sicherheit brachten. Das Turnier war prüfungsmäßig ohnehin zu Ende, die Siegerehrungen ebenfalls vorbei, und nur der entspannende Smalltalk am Ende eines solchen Ereignisses fiel durch das umgeschlagene Wetter nun buchstäblich ins Wasser.

Marius erhob sich und sah die anderen entschuldigend an.

»Ich fürchte, ich muss mich um Balou kümmern. Er war den ganzen Tag schon nervös, und der trommelnde Regen auf dem Hänger gibt ihm wahrscheinlich den Rest.«

»Oh, ich glaube, ich sollte auch zusehen, dass ich wegkomme, bevor die ganze Wiese aufweicht. Letztes Mal bei so einem Regen hing ich sofort fest. Da konnte mich nur noch ein Traktor rausziehen. Mit zwei Pferden drin hat so ein Hänger gleich ein enormes Gewicht.«

»Soll ich mitkommen?«, bot Alexa an, doch Diana schüttelte den Kopf.

»Lieb von dir, aber ich fürchte, du könntest dann sowieso nicht helfen.«

»Aber ich könnte warten, bis du sicher vom Acker bist. Ich muss doch in dieselbe Richtung.« Marius sah es als selbstverständlich an, Diana zu begleiten.

Irgendwann waren alle vier selbstverständlich zum Du übergegangen, wie es unter Reitern Sitte war.

Diana schlug auch Marius’ Angebot aus, hakte sich schnell bei Moritz unter und informierte die übrigen:

»Es reicht, wenn Moritz zur Sicherheit mitkommt. Er ist groß und stark und weiß bestimmt Rat, wenn ich festhänge, nicht wahr?« Dabei sah sie ihn so auffordernd an, dass er als Mann mit Erziehung gar nicht anders konnte, als ergeben zu nicken. Dafür befreite er seinen Arm schnell von Dianas Zugriff und ging mit einem großen Schritt in Alexas Richtung, die sich schon ihre Lederjacke um die Schultern gelegt hatte und sich in den Strom einreihen wollte, der dem Ausgang zustrebte.

»Kann ich dich morgen Abend zum Essen einladen?«, flüsterte er fragend.

»Ähem, ich weiß nicht …« Alexa sah zögernd zu Diana, die sie mit gereiztem Gesichtsausdruck beobachtete. »Ich bin nicht sicher, ob ich Zeit habe«, wich sie aus.

»Moritz, der Regen wird immer stärker«, drängte Diana.

»Dann gib mir deine Handynummer. Ich ruf dich an«, versicherte er und notierte die geflüsterten Zahlen auf einem blitzschnell hervorgekramten Fetzen Papier. Bevor er sich umdrehte, um widerwillig mit der ungeduldigen Diana das Zelt zu verlassen, legte er kurz seinen Zeigefinger auf Alexas Kinn, und sie blieb, wie verzaubert von dieser kleinen Abschiedsgeste, inmitten der Leute stehen und sah ihm nach.

Beim Einsteigen in ihr Auto stieg wieder der unliebsame Zwischenfall mit Moritz’ Mutter in ihr auf, aber die halbe Fahrt nach Hause gab sie sich den wunderbaren Gefühlen hin, die deren Sohn in ihr erweckt hatte. Die andere Hälfte beschäftigte sie sich damit, wie sie sie unterdrücken konnte. Es war für sie ganz klar, dass sie nie mit ihrer Schwester in Konkurrenz um die Gunst eines Mannes treten würde. Wenn sie auch nur den leisesten Wunsch ihrer Schwester ahnte, und in diesem Fall war es ganz offensichtlich, würde sie zurücktreten. Sie hatte ihre Funktion als Älteste immer schon im Behüten und Beschützen gesehen, nie im Konkurrieren und Wegnehmen.

Keine Sekunde dachte sie darüber nach, warum Diana sich ausgerechnet Moritz in den Kopf setzte, wo doch Marius’ Vorliebe für sie nicht zu übersehen war. Und sie dachte auch nicht an Moritz, der seine Neigungen und Abneigungen mindestens so deutlich gemacht hatte wie Diana.

Falls er tatsächlich anrufen würde, würde sie sich nur ein einziges Mal mit ihm treffen, um zu versuchen, ihm ihren Standpunkt klar zu machen.

*

Die Wiese gab schmatzend unter Dianas und Moritz’ Tritten nach, war aber noch nicht sehr tief vom Regen durchweicht. Obwohl auch schon die Pferdehufe jede Menge Matsch produziert hatten, schafften es die Transportgefährte trotz ihres hohen Gewichts noch mühelos von ihren Standplätzen auf den befestigten Feldweg.

»Na, Gott sei Dank«, seufzte Diana erleichtert, »halb so schlimm. Meistens wird es immer dann schlimm, wenn man gar nichts Böses erwartet. Jetzt hätten wir ja eigentlich noch Zeit, uns ein bisschen zu unterhalten, zumindest könntest du mir eben deine Handy-Nummer aufschreiben. Irgendwo hinten müss­te auch noch eine Flasche Whisky sein, zum Aufwärmen.« Sie hielt Moritz einladend die Tür des Jeeps auf, den das Scharren der unruhigen Pferdehufe im Hänger ganz schön in Bewegung brachte, und sah ihn mit einem Augenaufschlag an, dem auch der strömende Regen nichts von seiner Koketterie nahm. Doch Moritz schüttelte den Kopf.

»Sieh du zu, dass du weg kommst, bevor es doch noch übler wird. Ich muss mich jetzt mal nach meiner Mutter umsehen. Sie sucht mich sicher schon.«

»Na, denn. Vielleicht können wir uns ja mal treffen, Kino oder Essen oder so«, schlug Diana vor und krabbelte hinter das Lenkrad, das viel zu groß für sie wirkte. Moritz hatte bereits den Rückzug angetreten, und seine unbestimmt-ablehnende Antwort konnte man in alle Richtungen auslegen. Dianas lockere Kusshand sah er nur noch aus den Augenwinkeln.

Diana gab Gas. Als sie den asphaltierten Weg erreichte und die Reifen wieder festen Grund hatten, umspielte ein leichtes Lächeln ihren Mund. Sie würde ihn schon noch zu fassen kriegen, auch wenn er sich jetzt noch etwas spröde gab. Graf Moritz hatte ihren Jagdinstinkt geweckt, und diese Jagd machte ihr Spaß. Schließlich trug sie ihren Namen nicht umsonst: Diana – die Göttin der Jagd. Marius war sicher sehr nett, aber viel zu leicht für sie zu haben. Moritz forderte sie heraus, und sie sah darin ein Spiel, das es zu gewinnen galt.

An Alexa verschwendete sie keinen einzigen Gedanken.

*

Albert Fürst von Reilingen betrachtete die ihm offiziell noch immer angetraute Frau mit leicht unwilligem Gesichtsausdruck. Dolly besaß tatsächlich die Dreistigkeit, ihn schon wieder wegen einer Erhöhung ihrer monatlichen Zuwendung anzugehen. Dabei war seine Frau in seinen Augen mehr als überversorgt.

Allein die Rücksicht auf das Kind hatte ihn zu diesem, nun seit Jahren praktizierten Arrangement verleitet. Georg war zum Zeitpunkt ihrer Trennung noch recht klein gewesen und sollte auf keinen Fall unter dem Scheitern der elterlichen Beziehung leiden.

Durch die Weitläufigkeit des Schlosses konnte Dolly in einem entfernteren Flügel eine komfortable Wohnung eingerichtet werden, wo der Fürst nicht mehr mit ihr zusammentraf, sie aber jederzeit für ihren Sohn erreichbar war. In dem zweiten Punkt war seine Rechnung aufgegangen, und Georg konnte seine Mutter immer sehen, sofern sie denn Zeit für ihn hatte. Was den ers­ten Punkt betraf, hatte Dolly, der Hausarbeit und Kochen von jeher zuwider waren, schnell den Entschluss gefasst, sich der Versorgung der Schlossküche und des Personals anzuvertrauen. Das sparte ihr Arbeit und Kosten, hatte zu Fürst Alberts Bedauern aber zur Folge, dass er bei den Mahlzeiten immer damit rechnen musste, auf seine Frau zu treffen. Das geschah leider oft genug und führte ihm jedes Mal vor Augen, wie notwendig die Trennung gewesen war.

Auch jetzt sah er sie an und konnte sich nicht erklären, was er jemals an ihr gefunden hatte. Damals hatte Dolly ihm die Illusion von Wärme und Verständnis gegeben, die er zu diesem Zeitpunkt dringend brauchte, und kurz darauf natürlich die Aussicht auf den so ersehnten Erben. Aber wie hatte er je das ordinäre Äußere und ihre gewöhnliche Sprechweise übersehen können? Die teuersten Couturiers dieser Welt hatten nicht ihr mangelndes Stilgefühl und ihren fehlenden Geschmack ausgleichen können. Heute verstand er das Entsetzen der gesamten Familie, als er Dolly vorgestellt hatte, nur zu gut. Damals war er blind dafür gewesen und nur auf den erwarteten Sohn fixiert.

Sogar als Mutter hatte sie in seinen Augen versagt. Immer hatte sie Gut und Geld und das eigene Wohlergehen vor das des Kindes gestellt. Vielleicht tat er ihr Unrecht, und sie liebte Georg im Rahmen ihrer Möglichkeiten sogar, er selber hatte sich von ihr jedoch immer als Garant von Luxus und Sorglosigkeit missbraucht gefühlt.

»Aber damit kann ich unmöglich auskommen! An allen Ecken und Enden hörst du, dass seit der Euroumstellung alles soviel teurer geworden ist, und von mir verlangst du, dass ich immer noch mit der gleichen Summe auskomme. Das geht einfach nicht, das musst du doch einsehen.«

Dollys Ton war bittender geworden, wobei sie sich auf die Lehne seines Sessels setzte und ihr tief geschnittenes Dekolletee mit den wogenden Brustansätzen in seiner Augenhöhe platzierte. Die Zeiten, wo er für diesen Anblick nahezu alles getan hätte, waren allerdings lange vorüber. Heute waren ihm die ständig wiederkehrenden Bittgänge seiner Frau nur lästig.

»Dann wirst du dich eben ein klein wenig einschränken müssen, meine Liebe. Schließlich verarbeitest du in nur einem Monat das Jahreseinkommen einer vierköpfigen Durchschnittsfamilie, und offen gestanden weiß ich nicht recht, wofür.«

Sie sah ihn derartig erstaunt an, dass er sich zu weiteren Ausführungen genötigt sah.

»Du bist eine einzelne Person, und dieses Geld hast du ausschließlich zu deiner ganz persönlichen Verwendung. Sämtliche Lebenshaltungskosten laufen gesondert. Du wohnst hier im Schloss, hast weder Ausgaben für Heizung, Wasser oder Telefon, und sogar für Essen bräuchtest du nichts auszugeben, wenn du nicht diesen kostspieligen Hang zu Feinschmeckerlokalen hättest. Also nimm es mir bitte nicht übel, wenn ich deine Not nicht so recht nachvollziehen kann.« Er tätschelte begütigend ihr Knie, das auf seiner Sessellehne lag, und versuchte sanft, sie fort zu schieben.

Dolly verzog schmollend den üppigen, rot geschminkten Mund und wickelte dabei in mädchenhafter Manier, die in albernem Gegensatz zu ihrem fortgeschrittenen Alter stand, eine Strähne ihres blonden Haares um ihren Finger.

»Aber, Albert, ich muss doch repräsentieren. Dabei kann ich unmöglich in einem Kleid zweimal auftauchen …«

»Darf ich dich daran erinnern, dass du bereits vor Jahren, genau seit unserer Trennung, von allen offiziellen Verpflichtungen entbunden bist? Deine Garderobe brauchst du also nur für den privaten Rahmen, und das offenbar in einem Umfang, dass der Schreiner letzten Monat den vierten Drei-Meter-Schrank bei dir einbauen musste, wenn die Rechnung, die er mir geschickt hat, stimmt. Wo soll da der Bedarf sein?« Er hatte sie mit einer ärgerlichen Falte zwischen seinen Augenbrauen unterbrochen und war sichtlich nicht gewillt, dieses Thema länger zu verfolgen.

»Aber, Albert, es reicht einfach nicht!«

»Dann musst du dich eben einschränken«, wiederholte er seine Worte mit Bestimmtheit und erhob sich. Wenn sie nicht aufhörte, muss­te wohl notgedrungen er zur Beendigung dieses Gespräches den Raum verlassen.

*

Lora Baum schüttelte bekümmert den Kopf und tauchte das Stück trockenen Streuselkuchen vom Vortag so lange in ihre große Kaffeetasse, bis es sich mit der hellbraunen Flüssigkeit voll gesogen hatte. Dann schob sie es genüsslich in den Mund, wobei sie nicht aufhörte, den Kopf zu schütteln.

»Ich hab’ den Eindruck, dass es der Prinz zur Zeit wieder ganz besonders schlimm treibt«, bemerkte sie mit vollem Mund, und alle in der Runde nickten bestätigend.

»Gestern hab’ ich wieder drei Schuldscheine zwischen seinen Socken gefunden«, gestand Ilse mit rotem Kopf. Sie schämte sich immer, als wäre es ihr eigenes Vergehen, wenn ihr solche Beweise fürstlichen Lotterlebens in die Finger

fielen. Wie alle Frauen im Haus hatte auch Ilse eine heimliche Schwäche für Georg, und alle fühlten sich dem jüngsten Fürstenspross gegenüber immer noch verantwortlich. Schließlich hatten sie ihn gemeinsam großgezogen.

»Der Fürst hat neulich auf der Fahrt nach Baden-Baden mit der Fürstenmutter darüber gesprochen, und beide klangen sehr besorgt«, erzählte Petermann, der Chauffeur.

Es kam nicht oft vor, dass sich das Personal gemeinsam zu einer Mußestunde in der Küche traf, aber wenn, dann genossen sie die Offenheit, mit der sie untereinander sprechen konnten. Ihre Arbeitsverträge und die natürliche Diskretion verpflichteten sie ansonsten zu absolutem Stillschweigen gegenüber Dritten über die Vorkommnisse im fürstlichen Haushalt. Mit neugierigen Lebenspartnern war das nicht immer leicht durchzuhalten und hatte im Laufe der Jahre schon zu der einen oder anderen Kündigung geführt. Servatius, der Butler, war unfreiwillig Zeuge eines Telefonats zwischen dem Fürsten und einem seiner Anwälte geworden, in dem die Möglichkeiten erwogen wurden, den Prinzen in allen Spielkasinos des Landes sperren zu lassen. Aber das behielt er für sich.

»Neulich hatte er ein Mädchen im Auto, die sah aus wie seine Mutter vor zwanzig Jahren, nur in rot«, bemerkte Petermann.

»Fiona hatte diese Woche eine Freundin dabei, die wäre genau sein Typ. Ich dachte mir doch, dass das Ärger geben könnte, aber er hat sie, glaub ich, gar nicht gesehen.«

Damit war der Klatsch auf das ergiebige Terrain von Georgs Frauengeschichten abgeglitten, die besonders der weiblichen Neugier endlosen Stoff boten und im Grunde viel mehr interessierten als seine Spielprobleme.

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