Leni Behrendt – Jubiläumsbox 8 – E-Book: 41 - 46

Leni Behrendt
– Jubiläumsbox 8–

E-Book: 41 - 46

Leni Behrendt

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-282-4

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Ein Schicksalsweg durch Dornen

Die unermeßlichen Leiden einer jungen Mutter

Roman von Leni Behrendt

Ein Lied vergnügt vor sich hin trällernd, hastete ein junges Mädchen die Treppen eines großen Mietshauses zum zweiten Stockwerk empor und klingelte an der linken Etagentür Sturm, worauf diese schleunigst geöffnet wurde.

»Tag, Mutti!«

»Guten Tag, mein Kind. Nun, bist du versetzt?«

»Wie man’s nimmt.«

Die Büchertasche flog mit kühnem Schwung auf einen Haken in der Flurgarderobe, Mantel nebst Mütze folgten nach; und dann wurden vor dem Spiegel die hellen Locken sorgfältig geordnet. So wenig Zeit sich die hübsche Kleine genommen hatte, Mappe sowie Kleidungsstücke an Ort und Stelle zu bringen, um so mehr verschwendete sie auf ihre kecke Frisur. Erst als jedes Löckchen gefällig lag, gab sie sich zufrieden.

Währenddessen tat die Mutter den Mantel über einen

Bügel und sah dann ungeduldig zu dem eitlen Töchterlein hinüber.

»Laß schon ab, Ebba, das ist doch jetzt nicht so wichtig. Gib mir lieber dein Zeugnis.«

»Nimm es doch«, war die patzige Antwort. »Oben in der Tasche liegt es.«

Einen Seufzer unterdrückend, griff die Mutter nach dem weißen Blatt und trat damit aus dem dämmerigen Korridor in das Wohnzimmer, das von der Frühlingssonne überflutet war. Dort faltete sie den nachlässig geknickten Bogen auseinander und sah dann betroffen auf die fettgedruckten Lettern.

»Ebba, komm doch einmal her.«

Die Gerufene geruhte zu erscheinen, warf sich in einen Sessel und sah die Mutter kampfbereit an.

»Ich lese hier Abgangszeugnis – was hat das zu bedeuten?«

»Daß ich der abscheulichen Schule Valet gesagt habe«, wurde schnippisch erwidert.

»Ohne mich vorher gefragt zu haben?«

»Natürlich. «

»So natürlich ist das durchaus nicht, mein Kind. Es ist doch nie die Rede gewesen, daß du jetzt schon die Schule verlassen solltest. Wie kannst du nun so eigenmächtig handeln und ohne meine Erlaubnis einfach abgehen?«

»Weil ich sonst zum zweiten Male sitzengeblieben wäre«, eröffnete die Tochter, von dem ernsten Ton der Mutter ungerührt.

»Trotz der Nachhilfestunden, Ebba?«

»Jawohl – trotzdem. Mach bitte ein anderes Gesicht, Mutti. Mit dieser Trauermiene fällst du mir ganz gehörig auf die Nerven. Freue dich lieber mit mir, daß ich der Zwangsanstalt entronnen bin. Nicht mehr auszuhalten war es mit den Paukern! Was willst du überhaupt? Ich habe doch eine abgeschlossene Schulbildung. Das Abgangszeugnis ist gar nicht so schlecht.«

»Es ist gerade genügend. Willst du nicht doch versuchen, mein Kind, bis zum Abitur weiterzulernen?«

»Auf keinen Fall!« wehrte sich das Mädchen entschieden. »Das würde noch drei bis vier Jahre dauern. Bis dahin bin ich einundzwanzig. Wozu brauche ich überhaupt das Abitur? Studieren könnte ich sowieso nicht, weil wir das Geld dazu nicht haben. Weißt du, was ich am liebsten werden möchte?«

»Nun?«

»Schauspielerin oder Mannequin. Paßt dir das etwa nicht, weil du ein Gesicht machst, als hättest du in eine Zitrone gebissen«, schloß sie ironisch. »Geht das deinen altmodischen Ansichten zuwider?«

»Ich wüßt nicht, daß ich solche hätte«, entgegnete die Mutter trocken. »Wäre dir das Zeug zu einem der Berufe gegeben, dann würde ich deinen Entschluß gewiß billigen.«

»Wieso soll ich das nicht haben! Bin ich nicht etwa hübsch genug?«

»Mit dem Hübschsein allein ist es nicht getan, Ebba, obgleich es in den Berufen eine gute Chance gibt. Aber nebenbei gehört dazu noch Ernst, mühsame Arbeit und große Ausdauer, daß du die nicht besitzt, hast du leider oft genug bewiesen. Daß eine Schülerin zwei Jahre in einer Klasse bleiben muß, das kommt vor. Wenn sie jedoch im zweiten Jahr dasselbe Pensum durchnimmt, außerdem Nachhilfestunden erhält und dennoch sitzenbleibt – dann ist sie entweder dumm oder faul. Da ersteres nicht der Fall ist, steht das andere fest. Deshalb hat es keinen Zweck, daß du weiter zur Schule gehst. Komme mir aber später nicht mit Vorwürfen, wenn du bei der Berufswahl auf Schwierigkeiten stoßen solltest. Mit dem Abitur stände dir jeder Beruf offen, mit diesem Abschluß nur bedingt.«

»Wenn du bloß nicht immer so unken wolltest, Mutti! Anstatt daß du mir Mut zusprichst, wie es sich für eine Mutter gehört, malst du schwarz auf schwarz. Sei doch froh, daß ich dir von der Tasche komme. Täglich stöhnst du mir vor, wie knapp das Geld bei uns ist. Das habe ich nun satt bis zum Halse. Am besten ist, ich heirate, damit ich endlich aus dieser Misere herauskomme.«

»Heiraten – mit siebzehn Jahren?« fragte die Mutter recht ironisch.

»Warum denn nicht? Du warst ja auch erst knapp achtzehn, als du es tatest«, wurde ihr keck vorgehalten, dem die Frau denn auch nicht entgegentreten konnte. Schweigend faltete sie das Zeugnis zusammen, legte es auf den Tisch und ging dann nach der Küche, um das Mittagessen zu bereiten.

Ebba griff nach einem Apfel, warf sich auf die Couch und verzehrte die Frucht mit Behagen. Endlich hatte sie es geschafft, endlich war sie der verhaßten Schule entronnen! Bei dieser überraschenden Eröffnung hatte sich die Alte vernünftiger angestellt, als zu befürchten war. Keine Tränen, keine Klagen, nur mäßige Vorwürfe. Bloß ein misepetriges Gesicht und wehleidige Seufzer. Na ja, daran war sie gewöhnt, das machte ihr absolut nichts aus.

Nachdem der Apfel verspeist war, ging Ebba nach ihrem Stübchen, das mit seinen Schleiflackmöbeln und buntseidenen Polstern einen allerliebsten Eindruck machte. Vor den geöffneten Fenstern, durch die die Sonne hineinlachte, blähten sich duftige Gardinen. Der zartfarbene Teppich ergänzte das Bild trauter Behaglichkeit.

Das alles jedoch sah Ebba nicht, daran war sie gewöhnt.

»Wie gern möcht ich heute abend zu der Feier gehen, die für die Schulentlassenen veranstaltet wird. Doch die Freude ist mir wieder einmal nicht vergönnt«, seufzte das Mädchen bei Tisch herzzerbrechend.

»Warum denn?« fragte die Mutter erstaunt.

»Weil ich nichts Passendes anzuziehen habe.«

»Du hast doch das neue Kleid.«

»Das armselige Fähnchen, das du mir zuammengeschneidert hast? Damit würde ich von den eleganten Toiletten gut abstechen. Ach, wenn ich doch das entzückende Festkleidchen haben könnte, das ich heute im Schaufester eines Modenhauses sah! Ich konnte mich von dem duftigen Anblick kaum losreißen, das Herz hat mir armen Aschenbrödel ordentlich weh getan. Das ist aber auch etwas ganz Bezauberndes. Und gar nicht teuer, nur siebzig Mark. Einfach wie geschenkt. Was meinst du, Muttilein, kann ich das Kleid wohl haben?«

»Ebba, mein liebes Kind, sei doch vernünftig!« bat die Mutter eindringlich. »Du weißt doch, daß wir sparen müssen und …«

»Sparen – nur immer sparen«, brauste das Mädchen auf. »Wenn ich das schon höre! Du hast doch Geld zurückgelegt.«

»Das unantastbar ist, Ebba. Du mußt bedenken, daß deine Berufsausbildung viel Geld kosten wird. Außerdem mußt du einen neuen Wintermantel haben und manches andere mehr.«

»Daß ihr alten Leute das ewige Vorsorgen nicht lassen könnt! Zuerst haben wir einmal Frühling. Bis zum Winter kann ich längst tot sein. Mutti, gib deinem Herzen einen Stoß – ja?«

Schmeichelnd wurde Mechthild umhalst. Und die Frau, die ihrem geliebten Kinde nur schwer einen Wunsch abschlagen konnte, wurde wankend.

Die Kleine hatte ja recht; sie mußte wirklich auf vieles verzichten, was ihren Freundinnen, die durchweg gutsituierte Eltern hatten, selbstverständlich war.

»Ist gut«, entschied sie rasch. »Du kannst dir das Kleid holen.«

»Na also, Mutti, das ist doch ein Wort! Solltest mal sehen, wie schön deine Tochter heute sein wird. Ach, was werde ich tanzen! Das tue ich doch für mein Leben gern! Am liebsten möchte ich ja Tänzerin werden, aber dazu hätte ich schon längst mit der Ausbildung beginnen müssen. Aber macht nichts, ich werde auch so auf meine Kosten kommen. Nun ich die greuliche Schule hinter mir habe, fängt für mich das Leben an. Und das werde ich genießen, darauf kannst du dich verlassen.«

O ja, davon war die Mutter überzeugt. Oftmals wurde ihr bange um ihr Kind, in dem ein so gieriger Lebenshunger steckte.

Von ihr hatte sie den bestimmt nicht. Sie war in dem Alter ganz anders gewesen.

»Nun rück raus mit dem Mammon«, unterbrach die Tochter ihre Betrachtungen. »Ich will mich jetzt in Trab setzen. Bis das Geschäft geöffnet wird, bummele ich noch ein wenig durch die Frühlingssonne. Ich will den ersten Tag meiner Freiheit nach Herzenslust genießen.«

Gleich darauf hielt sie einen Hunderter in der Hand, den sie nonchalant, als ob sie über Millionen verfügte, in die Manteltasche steckte.

»Verliere das Geld nur nicht«, mahnte die Mutter ängstlich. »Dreißig Mark bekomme ich davon wieder.«

»Wird gemacht, Mutsch. Gehab dich wohl.«

Die Korridortür krachte hinter ihr zu, und ebenso vergnügt vor sich hin trällernd, wie sie vor einigen Stunden die Treppe hinaufgestürmt war, so sprang sie diese jetzt hinunter, während die Mutter sich daran machte, das Mittagsgeschirr abzuwaschen und die kleine Küche blitzblank zu kriegen. Daß dieses eigentlich der Tochter zukam, daran dachte sie nicht, weil sie nicht daran gewöhnt war, daß diese ihr im Haushalt half.

Daß die Tochter ihr für so viel rührende Liebe und Nachsicht keinen Dank wußte, nahm Mechthild als selbstverständlich hin. Auch für deren freche, rücksichtslose Art hatte sie erstens eine Entschuldigung. Lieber Himmel, das siebzehnjährige Kind war eben noch unbedacht, das durfte man als Mutter nicht tragisch nehmen.

*

Es war schon um die Abendbrotzeit, als Ebba endlich von ihrem Einkauf zurückkehrte.

»Denk mal, Mutti, ich habe das Kleid für sechzig Mark bekommen«, sprudelte sie, kaum daß sie das Zimmer betreten hatte, hervor. »Dafür bin ich gleich beim Friseur gewesen und habe mir Dauerwellen legen lassen; denn zu einem Kleid gehört auch ein gutfrisierter Kopf, nicht wahr? – Und schau mal die süßen Schuhchen. Die habe ich mir auch gekauft. Schick, was?«

»Dann hast du mir kein Geld mehr zurückgebracht?« fragte die Mutter erschrocken.

»Woher denn?« Das Mädchen warf die Lippen trotzig auf. »Ich habe sowieso schon alles halb geschenkt gekriegt, sonst hätte der lumpige Hunderter bestimmt nicht gereicht.«

Diese Unverfrorenheit war denn doch selbst dieser nachsichtigen Mutter zuviel. Es klang recht willig, als sie sagte: »Ich habe dir nur siebzig Mark bewilligt, Ebba. Du weißt ganz genau, wie schwer es mir fiel, dir diese zu

geben. Ich muß mich sowieso schon

einrichten an allen Ecken und Enden…«

»Um Himmels willen, fang bloß nicht wieder an zu jaulen!« Ebba hielt sich ungezogen die Ohren zu. »Es ist fürchterlich, daß du mir jede Freude verderben mußt!«

Damit ergriff sie die gekauften Sachen und rannte nach ihrem Zimmer, um sich für das Fest zu schmücken.

Als sie das getan, drehte sie sich vor dem Spiegel und berauschte sich an ihrem Anblick. Sie war sehr mit sich zufrieden und konnte es auch.

Die lichte Seide des Kleides umbauschte den schmiegsamen Körper. Blütenzart hoben sich Hals und Arme aus dem Spitzengeriesel. Die Augen blitzten in dem bildhübschen, kecken Gesicht, das die hellen Locken kokett umrahmte. Die Friseuse, die diese hervorgezaubert, hatte außerdem für geschminkte Lippen und rotlackierte Fingernägel gesorgt.

Nachdem sie sich genügend an ihrem Anblick berauscht, ging sie in das Wohnzimmer, wo die Mutter mit dem Abendessen auf sie wartete. Doch dafür hatte Ebba jetzt keinen Sinn.

»Nun, Mutti, bin ich schön?« Sie drehte sich wie ein geübtes Mannequin und sah mit Genugtuung, wie es in den Mutteraugen stolz aufleuchtete. »Du mußt doch wohl sagen, daß dieses Gewand mit den Fähnchen, die du mir zum Teil zurechtgeschneidert hast, nicht zu vergleichen ist. Endlich habe ich mal etwas Fesches auf dem Leibe. Und schau mal die Schuhe…«.

Die Mutter kam zu keiner Antwort, denn die Flurglocke schlug an. Neugierig lugte Ebba durch den Türspalt und sah einen hochgewachsenen Herrn, der sich soeben über die Hand ihrer »alten Dame« neigte. Hörte eine sonore Stimme sagen: »So sehr überrascht Sie mein Anblick, Mechthild, daß Sie völlig verstummt sind?«

»Ist das ein Wunder, wenn ich Sie irgendwo in der Weltgeschichte glaubte und Sie plötzlich vor mir stehen? Kommen Sie bitte weiter.«

Mit großen Augen sah das Mädchen auf den Herrn, der sich vor ihr verbeugte und dann Mechthild fragend ansah. – »Ist das etwa die kleine Ebba?«

»Ganz recht.«

»Potz Blitz, Mädchen, wie hast du dich verändert! Ich glaubte einen ungelenken Backfisch vorzufinden und stehe statt dessen einer entzückenden jungen Dame gegenüber. Kennst du mich noch?«

»Natürlich.« Die Augen blitzten ihn kokett an.

»Muß ich noch Onkel sagen, Holger?«

»Darauf lege ich keinen Wert«, schmunzelte der Mann.

»Ich bin wie manches eitle Fräulein, das sein Alter ängstlich verschweigt. Doch wo willst du hin, daß du dich so in Gala geworfen hast?«

»Zum Fest.«

»Ohne Mutti?«

»Natürlich. Alte Damen haben da nichts zu suchen.«

»So – deine Mutter ist eine alte Dame?« fragte er amüsiert, worauf sie ihn erstaunt ansah.

»Was denn sonst? Mütter von erwachsenen Töchtern sind immer alt. Doch schau mich mal an – bin ich nicht schön?« Sie drehte sich kokett vor ihm, in dessen Mundwinkeln es verräterisch zuckte, während seine Augen todernst blieben.

»Sehr schön. Da werden die Herren wohl ihr Herz festhalten müssen, damit sie es nicht an so viel Schönheit verlieren.«

»Dann halte das deine nur auch fest.« Sie lächelte vielsagend. »Du kommst mir nämlich ganz wie ein Feinschmecker vor. So jung habe ich dich übrigens gar nicht in Erinnerung. Siehst fabelhaft aus. Der Mann mit den grauen Schläfen. So was wirkt verheerend auf Mädchenherzen.«

»Ebba!« rief die Mutter entsetzt. »Was führst du für eine Sprache?«

Die Tochter sah sie mitleidig an und meinte dann mit nachsichtigem Lächeln: »Arme Glucke, die es nicht begreifen kann, daß ihr Küken flügge geworden ist. Aber was ich fragen wollte, Holger: Du bist doch mit deinem Auto hier?«

»Ja.«

»Herrlich! Dann kannst du mich zum Festsaal fahren, ja? Kinder, das wird heute ganz groß! Meine Freundinnen werden Augen machen, wenn ich per Auto anbrause. Es ist doch passabel?«

»Ich nehme an.«

»Natürlich, du bist ja auch reich. Das sieht man schon an deiner ganzen Aufmachung. Fabelhaft elegant! Ganz große Klasse. Da kann ich aber mit dir angeben. Gnädig werde ich dich meinen Freundinnen vorführen – aber tanzen mußt du mit mir allein.«

»Du willst mich in den Ballsaal schleifen?« fragte er lachend.

»Ehrensache! Die Bande, die immer so großartig tut, soll vor Neid zerspringen. Halt, bald hätte ich es vergessen! Du mußt mir deine Kette geben, Mutti, und das süße Armband dazu. Fabelhaft wird sich der kostbare Schmuck bei meiner eleganten Toilette ausnehmen. – Nun gib schon!« Sie stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf, als die Mutter zögerte. Schweigend entfernte diese sich und brachte das gewünschte Geschmeide, nach dem Ebba gierig griff.

Die kostbaren Steine des Anhängers an der Platinkette blitzten an dem weißen Hals der Trägerin, schwer hing das goldene Armband an dem zarten Gelenk.

»Welch ein herrlicher Schmuck«, flüsterte der Mann. »Wohl ein Erbstück, Mechthild?«

»Ja, es stammt von meiner Mutter. Gib nur acht, Ebba, damit du ihn nicht verlierst.«

Sie ging nach dem Korridor und holte den Mantel, in den das Mädchen maulend schlüpfte.

»Schäbig genug. Aber was soll man machen, wenn man nichts anderes hat? Wie gräßlich ist es doch, arm zu sein! Nun komm, Holger, es ist allerhöchste Zeit.«

Damit schob sie ihren Arm unter den seinen und zog ihn mit sich fort. Sie hatte keinen Blick für die Mutter, die ihr traurig nachsah.

*

Während Mechthild die Küche aufräumte, umspielte ein bitteres Lächeln ihren Mund. Ebba hatte ja so recht! Sie war mit ihren sechsunddreißig Jahren bereits eine alte Frau – alt und müde. Sie war immer ein braves Haushuhn gewesen und würde es bleiben bis an ihr Lebensende…

Ihr waren alle Jugendfreuden verschlossen gewesen. Während andere Mädchen ihres Alters sich unbeschwert vergnügten bei Flirt und Sport, mußte sie den Rollstuhl der Mutter schieben. Wenn sie am Abend Tanzkurse besuchten, mußte sie am Bett der verbitterten Frau sitzen, ihr Wehklagen und Jammern geduldig mit anhören.

Als die Mutter dann starb, war sie gerade achtzehn Jahre alt geworden und von Herzen froh, als kurz darauf Doktor Runard, ein höherer Gerichtsbeamter, sie zur Frau begehrte. Wohl war er dreißig Jahre älter als sie, aber immer noch ein lebenslustiger Mann, der es mit jedem Jungen aufnehmen konnte. Dazu besaß er eine gut eingerichtete Wohnung – seine Frau war vor einem Jahr gestorben und ein auskömmliches Gehalt. Also war sie, die nach dem Tode der Mutter allein stand bei ihm gut aufgehoben.

Sie wurde sogar nach einjähriger

Ehe Mutter, was sie unsagbar beglückte.

Ihr Mann liebte sie so, wie ein Ichmensch seine Frau lieben kann. Verwöhnte sie sogar auf seine Art, hielt es jedoch für selbstverständlich, daß sie sich seinem herrischen Willen fügte und seine Launen ohne Murren ertrug genauso, wie es ihre Mutter als selbstverständlich angesehen hatte.

Arg wurde es, als sich ein Gallenleiden bei Runard einstellte, das ihn zwang, sich frühzeitig pensionieren zu lassen. Ohne Beschäftigung, sich selbst und anderen zur Last, lebte er unzufrieden dahin.

Und gerade in dieser Zeit gebar Mechthild ihr zweites Töchterchen, ein sehr schwächliches Geschöpf, das ihr vom ersten Schrei an nur Sorge machte. Der verdrießliche Vater beachtete sein zweites Kind überhaupt nicht, sein Vorzug blieb Ebba, die ihm ganz und gar ähnlich sah. Er verwöhnte das ohnehin schon egoistische Mädchen maßlos, erfüllte ihm jeden Willen.

So konnte es kommen, daß die kleine Tyrannin das Haus beherrschte. Dem Vater gehorchte sie widerwillig, der Mutter überhaupt nicht.

Das alles machte Mechthild das Leben bitter schwer. Dazu noch das ungemein zarte zweitgeborene Töchterchen, dessen kleines Leben jeden Tag verlöschen konnte. Es gab Stunden, wo sie schier verzweifeln wollte. So ging es zwei Jahre, dann starb das Kind – und wenige Wochen darauf erlag der Kranke seinem Leiden.

Nun stand Mechthild mit ihrer Ältesten allein da, die sich über den Tod des Vaters wie toll gebärdete. Von der anstrengenden Pflege der Dahingeschiedenen zermürbt, hätte die zarte Frau der sorgfältigsten Pflege bedürft. Statt dessen mußte sie ihr bisheriges Leben in eine ganz andere Bahn lenken, mußte die große Wohnung auflösen und eine kleinere dafür mieten, die sie auch jetzt noch innehatte.

Und dann kam noch etwas, dem sie zuerst ratlos gegenüberstand. Es stellten sich Gläubiger ein, von denen ihr Mann Geld geliehen hatte. Und da sie mit ihm in Gütergemeinschaft gelebt, mußte sie für die Schulden aufkommen, deren es nicht wenige waren.

Also lieh sie sich von einer wohlhabenden Freundin zu hohen Zinsen Geld, um nur die rücksichtslosen Gläubiger abzufinden, verkaufte alle überflüssigen Möbel und richtete sich eine Dreizimmerwohnung, allerdings recht behaglich, ein. Nun zahlte sie schon seit Jahren monatlich hundert Mark von ihrer Witwenpension ab und mußte sich daher sehr einschränken. Fünf Jahre zahlte sie nun schon daran. Nun noch einige Monate, dann hatte sie es geschafft. Gott sei Dank!

Jetzt blieb »nur« das Problem Ebba. Die Schule war bei ihr ein Kapitel für sich. Obwohl Ebba das Lernen nicht schwerfiel, kam sie immer nur mit knapper Not durch die Klassen. Mußte recht oft sogar Nachhilfestunden nehmen. Daß sie diese mehr als einmal schwänzte, das wußte die Mutter natürlich nicht. Sie wußte überhaupt vieles nicht, was die Tochter tat.

Einfluß hatte Mechthild auf die selbstherrliche kleine Person ja nie besessen, weil der Gatte ihrer Erziehung ständig entgegengearbeitet. Und als ihr diese bei der damals Zwölfjährigen allein zufiel, konnte sie noch kaum etwas nachholen, was solang versäumt worden war. Eine straffere Hand als die der gütigen Mutter hätte da vielleicht noch etwas ausrichten können. Daher trug sich Mechthild eine Zeitlang ernstlich mit dem Gedanken, ihrem eigenwilligen Kinde einen zweiten Vater zu geben, und zwar den Großkaufmann Holger Hadebrandt, den sie durch Zufall kennenlernte. Als sie nämlich vor ungefähr drei Jahren an einem Wintertag das Haus, in dem sie wohnte, betreten wollte, sah sie eine Dame aus dem Geschäft, das nebenan lag, kommen und auf dem glatten Weg ausgleiten. Gefällig, wie Mechthild stets war, eilte sie hinzu, um der Unbekannten aufzuhelfen. Dabei stöhnte diese vor Schmerzen, weil sie sich den Fuß verletzt hatte.

»Um Gott, gnädige Frau, das ist ja furchtbar«, sagte Mechthild erschrocken. »Vielleicht können wir ganz langsam in den Laden nebenan gehen, von dem aus ich fernmündlich ein Auto bestellen werde, das Sie nach Hause bringt. Stützen Sie sich nur tüchtig auf mich, ich halte es aus.«

»Danke, liebes Kind, Sie sind sehr gütig. Wenn ich mich an Ihnen festhalten kann, ist der Schmerz erträglich. Mein Auto muß nämlich jeden Augenblick hier sein. Der Chauffeur ist nur zum Tanken gefahren, während ich meine Einkäufe machte.«

Und tatsächlich kam der Wagen schon wenige Minuten später. Der Chauffeur brachte seine Herrin mit Mechthilds Hilfe so unauffällig und geschickt im Auto unter, daß die Straßenpassanten nichts davon merkten, sondern achtlos vorübergingen. Mechthild wollte sich verabschieden, doch die Dame hielt sie zurück.

»Machen Sie das Maß Ihrer Güte voll, mein liebes Kind. Steigen Sie bitte mit ein, damit ich mich an Sie lehnen kann.«

Dazu war die junge Frau gern bereit. Sie leistete der Verletzten Hilfestellung. So gut es gehen wollte. Bald war eine Villa erreicht, die ein wenig außerhalb der Stadt lag. Der Chauffeur eilte in das schmucke Gebäude und kam gleich darauf mit einem Herrn wieder, der hastig den Schlag aufriß.

»Muttchen, was machst du bloß für Sachen!« sagte er erschrocken. »Komm, leg deine Arme um meinen Hals, dann werde ich dich tragen, so behutsam ich nur kann.«

Während die Dame der Aufforderung ihres Sohnes nachkam, schlüpfte Mechthild von der anderen Seite aus dem Auto und eilte auf schnellstem Wege nach Hause. Sie hatte am anderen Tage den Vorfall bereits vergessen und war überrascht, als sie auf ein Klingelzeichen die Korridortür öffnete und der Sohn der Verletzten, der sie gestern Hilfe geleistet, vor ihr stand und sich höflich verneigte.

»Verzeihung«, sagte eine

dunkle, klangvolle Stimme, die sich sofort in ihr Ohr schmeichelte. »Sind Sie die Dame, die meine Mutter gestern so gütigst betreut hat?«

»Ja. Es geschah von Herzen gern.«

»Darf ich mich bei Ihnen bedanken?«

»Wenn es sein muß«, lächelte sie ihr anmutiges Lächeln, das ihr rasch viele Herzen gewann. »Wollen Sie bitte nähertreten.«

»Wenn ich darf, mit Vergnügen.«

Bevor er im Zimmer den ihm angewiesenen Platz nahm, stellte er sich vor:

»Holger Hadebrandt.«

»Und ich heiße Mechthild Runard. Wie geht’s Ihrer Frau Mutter?«

»Danke – besser, als zu befürchten war. Sie ist nur recht unzufrieden, daß ihre gütige Helferin sich davongeschlichen hat, ohne ihren Dank entgegenzunehmen. Daher beschwor sie mich, Sie unter allen Umständen ausfindig zu machen, gnädige Frau. Allein, das schien nicht so einfach. Wohl konnte meine Mutter Ihr Aussehen beschreiben, doch das war sehr wenig, um Sie in dieser nicht so kleine Stadt zu finden. Zum Glück hatte Mutter bemerkt, welches Haus Sie betreten wollten. Also bin ich nach dem Geschäft gegangen, vor dem der kleinen Unfall geschah, beschrieb dort Ihr Äußeres, man wies mich hierher – und da bin ich«, schloß er mit seinem warmen Lachen.

Während er sprach, hatte Mechthild ihn unauffällig betrachtet. Keine alltägliche Erscheinung. Ziemlich hochgewachsen und recht schlank, mit einem rassigen Gesicht. Augen blaugrau und seine Haare von einem satten Blond. Dazu mit der unauffälligen Eleganz eines gutsituierten Menschen gekleidet.

Aber auch er hatte ihr Bild diskret in sich aufgenommen. Ergebnis: Die Gestalt über mittelgroß, Gesicht fein geschnitten, Augen groß, von einem leuchtenden Blau, Haare kastanienbraun, mit einem metallischen Glanz. Über allem lag ein Hauch von Vornehmheit, trotz der sehr einfachen Kleidung. Und das Lächeln – ja, das war einfach bezaubernd. Es umschmeichelte Kopf und Herz.

»Aber ich bitte Sie, Herr Hadebrandt«, lächelte sie ihn an. »Die Mühe, die mein Auffinden Ihnen gemacht hat, war doch unnötig. Was ich gestern getan habe, war einfachste Menschenpflicht.«

»Gewiß, gnädige Frau. Aber wird Sie dieser Pflicht genügen, das ist ausschlaggebend. Deshalb müssen Sie sich auch meiner Mutter und meinen Dank gefallen lassen. Darf ich Sie bitten, ihr den Gefallen zu tun und sie heute zu besuchen? Oder wäre Ihr Gatte dagegen?«

»Ich bin seit zwei Jahren Witwe, Herr Hadebrandt. Habe nur eine vierzehnjährige Tochter.«

»Wie ist denn das möglich, gnädige Frau?« fragte er verblüfft. »Wann haben Sie denn geheiratet?«

»Mit achtzehn Jahren«, lächelte sie amüsiert. »Mit neunzehn war ich bereits Mutter.«

»Immer noch erstaunlich, gnädige Frau. Sie sehen so jung aus, daß ich Sie ohne weiteres für ein junges Mädchen gehalten hätte, wenn der Geschäftsinhaber nebenan Sie nicht als Frau Runard bezeichnete.«

»Machen Sie oft solche Komplimente«, fragte sie leicht errötend, und er lachte.

»Bewahre! Ich mache Ihnen ja auch kein Kompliment, ich stelle nur ganz sachlich eine Tatsache fest. – Doch wie ist es, gnädige Frau, darf meine Mutter Sie heute nachmittag zu einer Tasse Kaffee erwarten? Die Ärmste, die nun an den Diwan gefesselt ist, langweilt sich sträflich. Daher täte ein gemütlicher Plausch ihr gut.«

»Wenn es nicht unbescheiden ist, dann komme ich gern«, entgegnete Mechthild einfach.

»Herzlichen Dank! Und bringen Sie auch Ihr Töchterlein mit.«

*

Mit dem Tage begann für Mechthild die glücklichste Zeit ihres Lebens. Als sie das Hadebrandt-Haus betrat, fühlte sie sich sofort darin heimisch. Seine feudale Umgebung, die vornehme Art seiner Bewohner nahmen sie immer mehr gefangen. Es verging kaum ein Tag, wo sie und Ebba dieses traute Heim nicht aufsuchten und es sich darin gut sein ließen. Auch dann, als Frau Hadebrandt schon längst wieder munter einherging.

Sie und ihr Sohn kannten nun die Vergangenheit Mechthilds. Die ihr karge Freude, doch um so mehr Trübsal

und Sorge gebracht. Frau Hadebrandt machte kein Hehl daraus, daß dieses feine, bescheidene Menschenkind ihr Herz besaß vom ersten Sehen an. Sie zeigte es ihr durch mütterliche Herzlichkeit.

Die menschenkundige Frau hat auch Ebba sofort durchschaut. Versuchte in feinfühliger Art, erzieherisch auf das eigenwillige Mädchen einzuwirken. Allein, viel Erfolg hatte sie nicht zu verzeichnen. Die verkehrte Erziehung von seiten des Vaters machte sich immer mehr bemerkbar.

Mechthild zuliebe ertrug sie deren hochfahrende, rücksichtslose Tochter mit Geduld. Denn sie hatte schon längst gemerkt, daß die sonst so vernünftig denkende Frau in bezug auf ihr geliebtes Kind außerordentlich empfindlich war. Und kränken wollte sie das ihr so liebe Menschenkind gewiß nicht.

Mit Rührung sah sie, wie dieses förmlich auflebte. Wie es von Tag zu Tag immer glücklicher und froher wurde. Wie ein jungfrohes Lachen sich immer mehr hervorwagte. Damit schmeichelte es sich von Tag zu Tag mehr und mehr in ihr mütterliches Herz.

Und noch einem gefiel die jetzt so jung gewordene, zur vollen Schönheit erblühte Mechthild: Holger Hadebrandt. Doch er hütete sich, das dieser sensiblen Frau offen zu zeigen, bevor seine Zeit gekommen war. Langsam und behutsam ging er bei seinem Werben um sie vor, Schritt um Schritt.

Nach einigen Wochen war er dann soweit, daß sie ihn beim Vornamen nannte und ihm für ihre Person das gleiche Recht einräumte. Frau Hadebrandt wurde für sie die geliebte Tante Anne.

Ebbas Gunst zu gewinnen war für Holger schon schwerer. Zwar ließ sie sich gnädig seine onkelhafte Herzlichkeit, seine kleinen Geschenke gefallen, stand ihm dabei jedoch ablehnend gegenüber. Denn zum ersten Mal im Leben mußte dieses egoistische Geschöpf erfahren, daß es nicht Hauptperson war, daß die Mutter hier an erster Stelle stand. Und das war etwas, das es absolut nicht vertragen konnte.

So ging es ein Vierteljahr, dann glaubte Holger Mechthilds Liebe sicher zu sein. Also bat er sie eines Tages, seine Frau zu werden, wozu sie mit glücklicher Freude bereit war.

Allein, Ebba sträubte sich mit leidenschaftlicher Heftigkeit dagegen, einen Stiefvater zu bekommen. Sie wollte keinen haben – nein – nein – nein! Damit sie das fünfte Rad am Wagen würde. Überhaupt dann, wenn sich später Kinder einstellten. Auf keinen Fall dürfe die Mutter heiraten – sonst ginge sie ins Wasser!

Kein flehendes Bitten, kein gütiges Zureden Mechthilds half – sie beharrte auf ihrem Starrsinn. Und als diese dann unwillig wurde, rannte sie in ihr Zimmer und schloß sich ein.

Die Mutter ließ sie gewähren. Vielleicht kam das vertrotzte Kind so eher zur Vernunft. Sie machte ihre Einkäufe, und als sie wiederkam – war Ebba fort.

Eine bebende Angst packte sie. Hatte das unglückselige Kind nicht gedroht, ins Wasser zu gehen? Wenn es diese Drohung, die sie nicht ernst genommen, nun wahr gemacht hätte?

In ihrer furchtbaren Not lief Mechthild von einer Freundin Ebbas zur anderen, hoffend, daß diese dort vorgesprochen hätte. Stieß jedoch bei drei Stellen auf verneinenden Bescheid, was ihre Verzweiflung ins Grenzenlose steigerte.

Doch Doritt Wentruck konnte ihr Bescheid geben. Ja, Ebba wäre bei ihr gewesen, vollständig aufgelöst in Jammern. Sie könnte es nicht ertragen, durch einen Stiefvater die geliebte Mutter zu verlieren. In den Schloßteich wollte sie gehen, das hatte sie immer wieder versichert.

Gejagt vor Angst, rannte die Mutter davon. Achtete nicht darauf, daß der Regen sie völlig durchnäßte. Dazu begann es bereits zu dunkeln.

»Barmherziger Gott, gib mir mein Kind wieder betete sie in ihrer Not. »Auf alles persönliche Glück will ich verzichten – gib mir nur mein geliebtes Kind wieder! «

Endlich fand sie dann Ebba an einer entlegenen Stelle des Teiches. Zusammengekauert hockte sie im Ufergebüsch. Ebenso naß wie die Mutter, mit vom Weinen verschwollenem Gesicht, in den Augen ein aufsässiges Funkeln.

»Geh doch – geh nur zu deinem Holger!« schrie sie der Mutter entgegen. »Was gehe ich dich noch an? Du hast ja ihn! Ach, wenn mein geliebter Papa wüßte, wie man sein Goldkind zurückstößt.«

Die Mutter kniete bei ihrem Kind. Versprach ihm in ihrer Herzensnot alles, worauf dieses egoistische Geschöpf lauerte. Und erst als die Mutter ihm hoch und heilig versprach, Holger Hadebrandt nicht zu heiraten, ließ es sich gnädig dazu herab, mit nach Hause zu gehen. War froh über Schnupfen und Halsschmerzen, die der Regen gebracht, und sah mit Genugtuung, wie dieses Unwohlsein die Sorge der Mutter noch vermehrte.

Die Nacht verbrachte Mechthild fast schlaflos. Sie schlich immer wieder an das Bett der Tochter, die wohl leicht fieberte, dabei jedoch friedlich schlief.

Am nächsten Morgen erklärte sie Holger Hadebrandt in einem langen Brief, warum sie seine Werbung nicht annehmen konnte. Sie hoffte dabei auf sein volles Verständnis – das jedoch ausblieb. Tagelang wartete sie auf sein Kommen oder doch wenigstens auf einen Brief doch nichts, alles blieb stumm. Später erfuhr sie dann duch Zufall, daß er ins Ausland gereist wäre, wo er geschäftliche Beziehungen hatte.

Und so endete ihr Traum vom Glück, der ja auch viel zu köstlich gewesen war, um Wahrheit werden zu können. Nach wie vor lebte sie nur für ihr Kind, sich immer wieder einredend, daß dieses nur allein das wahre Glück einer Mutter ausmachte.

Länger als ein Jahr hörte sie nichts mehr von Holger Hadebrandt. Und gerade als sie mit einer Grippe zu Bett lag, wollte er sie besuchen. Ebba, die ihm die Tür öffnete, erklärte kurz, daß die Mutter hohes Fieber hätte – und so ging er denn wieder. Schickte der Kranken einen Strauß rosa Nelken und wünschte auf einem beiliegenden Kärtchen gute Besserung. Und als Mechthild dann wieder aufstehen konnte, hatte er bereits wieder eine Geschäftsreise angetreten.

Auch über seinem zweiten Kommen, das nach geraumer Zeit erfolgte, schwebte ein Unglücksstern. Da war Mechthild mit Ebba während der Schulferien verreist. Als sie nach Hause zurückkehrte, fand sie im Briefkasten seine Visitenkarte mit einem Gruß.

Drei Jahre waren nun vergangen, seitdem sie ihn das letzte Mal gesehen. Zum dritten Male war er gekommen.

Und nun?

Nun hatte die eigene Tochter ihr den noch immer geliebten Mann entführt. Warum auch nicht? Ebba war ein lachendes, lebenssprühendes Geschöpf und sie eine alte, müde Frau, trotz ihrer sechsunddreißig Jahre.

*

Mechthild schrak zusammen, als die Flurglocke anschlug. Als sie die Tür öffnete, stand der Ersehnte vor ihr. Und bei seinem Anblick fühlte die eben noch so müde Frau, wie jung ihr Herz doch war – jung und heiß.

»Sind Sie nicht auf dem Fest geblieben?« fragte sie, ängstlich bemüht, die jubelnde Freude in der Stimme nicht hören zu lassen. Beglückt horchte sie dann auf sein warmes, frohes Lachen.

»Bei dem Grünzeug? Ich bitte Sie, Mechthild, das ist doch nichts für einen Mann von achtunddreißig Jahren! Wohl habe ich der darauf erpichten Ebba den Gefallen getan, mich ihren Freundinnen zu zeigen, aber bei der ersten besten Gelegenheit bin ich auf und davon. Darf ich noch ein Stündchen bei Ihnen bleiben?«

»Wenn meine Gesellschaft Ihnen nicht zu trist ist, von Herzen gern.«

»Welch sonderbare Annahme! Sie ist direkt eine Beleidigung für Sie und auch für mich. Darf ich mir erlauben?«

Er überreichte ihr einige auserlesene schöne Frühlingsblüten und eine papierumhüllte Schachtel, welche die Bonbonniere ahnen ließ. Verlegen nahm sie beides in Empfang und bat ihn ins Wohnzimmer, wo er in der gemütlichen Sesselecke Platz nahm. Während sie die Blumen in eine Vase tat und sie mit Wasser versorgte, sah er sich mit frohen Augen in dem traulichen Gemach um.

»Wie schön es hier ist. So traute Behaglichkeit versteht nur ein Mensch wie Sie zu schaffen, Mechthild.«

»Das sagt der Mann einer so feudalen Behausung«, lachte sie herzlich. »Aber so trocken können wir unmöglich sitzen. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«

»Wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht, dann gern.«

»So müssen Sie mich ein Weilchen entschuldigen.«

Damit verließ sie das Zimmer und kam nach erstaunlich kurzer Zeit mit der Teekanne und einem Teller voll belegter Brotschnitten wieder. Rasch breitete sie eine gestickte Decke über den niederen Tisch, stellte ihr bestes Porzellan darauf und goß den duftenden Trank in die hauchfeinen Schalen. Schweigend schaute er dabei auf ihre geschickt hantierenden Hände, die trotz aller Hausfrauenarbeit so peinlich gepflegt waren.

»Ich bitte, tüchtig zuzulangen«, forderte sie ihn auf, indem sie ihm gegenüber Platz nahm. »Wenn ich gewußt hätte, daß Sie zurückkommen würden, hätte ich für einen festlicheren Imbiß gesorgt.«

»So haben Sie tatsächlich angenommen, daß ich auf dem Fest bleiben würde?«

»Warum nicht. Das ist ganz bestimmt viel amüsanter, als hier bei einer alten Frau zu sitzen.«

»Geschmacksache«, entgegnete er trocken. »Übrigens – alte Frau. Wollen Sie mich mit dieser unerhörten Bezeichnung herausfordern, das Gegenteil zu versichern?«

»Bewahre!« Sie hob abwehrend die Hände. »Sehen Sie mich genau an – dann werden Sie mir recht geben.«

»Habe ich bereits getan und wollte Sie schon fragen, wie Sie es eigentlich anfangen, so fabelhaft jung auszusehen. Es will mir sogar scheinen, als wären Sie in den drei Jahren, da wir uns nicht sahen, jünger statt älter geworden.«

»Ist das ein galanter Mann!« lachte sie hellauf. »Doch lassen wir das! Erzählen Sie lieber, wo überall Sie sich in den verflossenen drei Jahren herumgetrieben haben. «

»Herumgetrieben ist gut: Mit kurzen Unterbrechungen war ich im Ausland, wo es für mich viel zu tun gab. Aber es hat sich glänzend gelohnt. Auf der letzten Reise begleitete mich sogar mein Mutterchen, und wir wären noch nicht nach Hause zurückgekehrt, wenn ein trauriger Anlaß uns nicht dazu gezwungen hätte. Mein Bruder, der vor zwei Jahren starb, hinterließ eine Witwe mit zwei kleinen Kindern. Nun ist auch die Frau ihrem Herzleiden erlegen, so daß die Kleinen jetzt völlig verwaist sind. Als die erschütternde Todesnachricht meine Mutter und mich erreichte, traten wir sofort die Heimreise an, kamen jedoch zur Beisetzung zu spät. Eine Schwester der Verstorbenen hatte sich indes der verlassenen Kinder angenommen, wo sie unter deren eigenen Kindern das sozusagen fünfte Rad am Wagen waren. Meine Mutter nahm Ihre Enkelchen sofort zu sich. Sie betreut sie in rührender Weise. Sie kann ihnen trotz aller Liebe jedoch nicht die Mutter ersetzen, nach der sie noch immer jammern. Ist das nicht traurig, Mechthild?«

»Ja«, entgegnete sie leise. »Es ist immer traurig, wenn Kinder die Mutter verlieren. Ich wüßte nicht, was Ebba ohne mich anfangen sollte. Darum fürchte ich mich vor dem Sterben.«

»Nun, das dürfte doch wohl noch eine Weile Zeit haben. Oder sind Sie krank, daß Sie solche Gedanken hegen müssen?«

»Gottlob nicht. Aber wenn man in ständiger Sorge lebt wie ich, dann zählen die Jahre doppelt.

Nein. Ich komme mit dem, was mir zur Verfügung steht, ganz gut aus. Nur um Ebba sorge ich mich, daß sie so ganz anders ist, als ich mir meine Tochter immer gewünscht habe, damit habe ich mich längst abgefunden wie der Herrgott sie mir gab, damit muß ich zufrieden sein. Ich liebe mein Kind so, wie es ist; denn ich bin ja auch nicht ohne Fehler. Auch daß man junge Menschenkinder nicht immer nur bevormunden, sondern ihnen eine Freiheit lassen muß, damit sie sich individuell entwickeln können, habe ich mir zur Richtschnur gemacht.

Sehen Sie, Holger, es war immer mein Wunsch, daß Ebba ihr Abitur machen sollte, damit sie jeden Beruf ergreifen kann. Sie war auch damit einverstanden. Wenn sie in der Schule nicht ganz mitkam, nahm sie Nachhilfestunden. – Und heute kam sie nun ganz unerwartet mit dem Abgangszeugnis von Untersekunda nach Hause. Damit hat sie meine ganzen Hoffnungen zunichte gemacht. Ich weiß nicht, was ich mit ihr machen soll.«

Nachdenklich war der Mann ihren Worten gefolgt. Nun fragte er sachlich: »Hat Ebba sich das Abgangszeugnis ausstellen lassen, ohne vorher Ihre Einwilligung einzuholen?«

»Ja.«

»Und das dulden Sie, Mechthild?«

»Es bleibt mir ja nichts anderes übrig«, sagte die Frau leise. »Wenn ich sie zwinge, die Schule weiter zu besuchen, dann würde sie aus Opposition nicht lernen und letzten Endes doch abgehen müssen.«

»Da haben Sie recht. Zwingen können Sie Ebba natürlich nicht. Aber ihr gründlich ins Gewissen reden.«

»Habe ich bereits getan, doch sie blieb allen Vernunftsgründen unzugänglich. Augenblicklich hat sie den Wunsch, Schauspielerin oder Mannequin zu werden. Eignen würde sie sich schon dazu. Nur weiß ich nicht, ob sie die Ausdauer hat, sich in einem der schwierigen Berufe durchzusetzen. Ach, Holger, wie schwer ist es doch, bei seinem Kinde immer allein entscheiden zu müssen!«

Er wollte schon antworten, daß sie es ja hätte besser haben können, schwieg jedoch, durch Erfahrung klug geworden. Nach dem, was sich vor drei Jahren zugetragen, mußte er äußerste Vorsicht walten lassen.

Wohl konnte er ihr den Rat geben, die widerspenstige Tochter energischer anzufassen, allein, der würde kein Gehör finden. Würde höchstens Mechthilds Mutterstolz verletzen. Denn anscheinend war diese in ihre Ebba immer noch vernarrt, woraus diese berechnende kleine Person rücksichtslos ihren Nutzen zog.

Er hatte das Mädchen, das er drei Jahre aus den Augen verloren, heute nur eine Stunde lang beobachten können. Was er feststellen mußte, war Frühreife, hochgradige Eitelkeit und prahlerische Überschätzung des eigenen Ichs. Daher der Hang, sich rücksichtslos überall in den Vordergrund zu drängen und niemand neben sich gelten zu lassen.

Arme Mechthild, vielleicht ist die Sorge, die du dir jetzt um dein Kind machst, eine Nichtigkeit gegen die, die es dir noch machen würde!

Ja, was sollte er sagen? Es ist immer ein ziemlich undankbares Beginnen, sich in die Angelegenheiten anderer zu mischen – und hier schon ganz besonders, weil die Mutter nur tat, was die Tochter wollte, und daher seine Ratschläge nicht befolgen würde.

»Sie sind ja so schweigsam, Holger«, riß Mechthilds weiche Stimme ihn aus seiner Nachdenklichkeit. »Ist es Ihnen lästig, daß ich Sie mit meinen Sorgen behellige?«