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Eulenspiegel Verlag – eine Marke der
Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

ISBN E-Book: 978-3-359-50083-4

ISBN Buch: 978-3-359-01382-2

1. Auflage 2018

© Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin unter Verwendung eines Fotos von picture alliance/dpa-Zentralbild

www.eulenspiegel.com

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Inhalt

Dreigroschenoper und höhere Beträge

»Na, Frau Troegner, ham’se was gelernt?«

Bohnern, Steppen, Kranfahren

Fernsehen wie im Leben, Leben wie im Fernsehen …

Permanent trendresistent

Brecht, Brot und Spüle

Beim nächsten Mal wird’s schöner

Der fliehende Hollaender

Ziemlich beste Freundinnen?

Fasse dich kurz!

Erotisches zur Nacht

Im Bett mit dem Westen

Der deutsche Film verfolgt mich

Der überforderte Hoffnungsträger

Kleider machen Leute

Wer schön sein will, muss leiden …

Der Mensch sollte nicht gesünder leben, als ihm guttut

Michael vom Humannplatz

Das grüne Waschbecken

»Wähle 3, 3, 3 auf dem Telefon …«

Totgesagte leben länger!

Ende gut – alles gut?

Verletzungen per Zungenschlag

»Kunst und Karriere, Kalau«

Dreigroschenoper und
höhere Beträge

Wenn man heute zu nächtlicher Stunde über die Warschauer Brücke am S-Bahnhof Warschauer Straße vorbeischlendert, tut man gut daran, eine Warnung der Berliner Polizei zu beherzigen: Dort sollen Leute unterwegs sein, die unsere Nähe suchen. Und irgendwie ist es wunderbar, von einer Gruppe junger, fröhlicher Menschen umgeben zu sein, die uns mit südländischem Temperament zu ausgelassenem Tanz mitreißen. Ja, man will kein Spießer sein und tanzt einfach mit. Aber wenn der Tanz vorbei ist, sind die fröhlichen Leute plötzlich verschwunden; das Gleiche gilt dann für die eine oder andere Hand- oder Brieftasche oder für Armbanduhren im höheren Preissegment. Wir sind auf den sogenannten Antanztrick hereingefallen!

Ermahnungen der Polizei ergehen aus gutem Grund, und die Polizei kann gar nichts dafür, dass die Schlussfolgerungen, die wir daraus ziehen sollen, mitunter etwas bizarr klingen: Vorsicht vor fröhlichen Menschen! (Antanztrick) Vorsicht vor Menschen, die an unserer Tür klingeln und am Rande des körperlichen Zusammenbruchs um ein Glas Wasser bitten! (Glas-Wasser-Trick) Vorsicht vor Menschen, die uns mit Eis oder ähnlichem bekleckert haben und den Fleck säubern wollen! (Beschmutzertrick) Vorsicht vor Menschen, die uns in einem Gartenlokal Zettel auf den Tisch legen! (Abdecktrick) Und immer so weiter.

In meiner Jugend las ich Stefan Zweigs Novelle »Unvermutete Bekanntschaft mit einem Handwerk«. Darin wird die Arbeit eines Taschendiebs beobachtet.

Wenn man jung und unerfahren ist, glaubt man: das könnte mir doch nie passieren! Ebenso abwegig ist die Vorstellung, Opfer eines Trickbetrügers zu werden. Doch genau diese Selbsttäuschung ist für den Tricktäter schon die halbe Miete.

Ich empfing diese Lehre fürs Leben im Mai 1986 bei einem Gastspiel des Berliner Ensembles in Spanien.

Wir waren mit der »Dreigroschenoper« und dem »Kaukasischen Kreidekreis« in Barcelona und freuten uns auf das Mittelmeer, auf Picasso, Miró, Antonio Gaudí und die Sagrada Familia. Unser Hotel lag in einer Parallelstraße der Ramblas, der großen Flaniermeile, die zum alten Hafen führt und von prächtigen Bäumen gesäumt ist. Die etwas weniger feine Straße, in der unser Hotel stand, war nicht von Bäumen gesäumt, sondern von Prostituierten: auf der einen Straßenseite standen die jungen Mädchen, auf der anderen die etwas erfahreneren Kräfte.

So elende Gestalten wie in diesem Hafenviertel hatte noch nie leibhaftig gesehen. Ich weiß noch, wie erschrocken ich war. Unser chilenischer Kollege Alejandro Quintana erklärte uns, dass wir mitten im Bordellviertel von Barcelona wohnten. Der Grund leuchtete jedem ein: hier waren die Hotels nicht ganz so teuer. Die Künstleragentur der DDR musste auf die Preise achten. Alejandro empfahl uns, in dieser Gegend besonders auf uns zu achten. Wir wunderten uns: er wusste doch, dass wir das Geld zusammenhalten mussten, weshalb sich meines Wissens keiner meiner Kollegen mehr als nur einen Blick in blue spanish eyes leisten konnte.

Eben darum, meinte Alejandro, sollten die Männer aufmerksam sein und keine der Damen näher an sich herantreten lassen. Sie wären nämlich von Jugend an sehr geübt, den Herren mit einer Hand kräftig zwischen die Beine zu greifen und ihnen dabei mit der anderen die Geldbörse aus der Gesäßtasche zu ziehen.

Diesen doppelten Schmerz vor Augen, hatten unsere Herren Alejandros Rat tief verinnerlicht. Sie trugen ihre Geldbörsen an anderen Körperstellen und waren immer in Habachtstellung vor sich nähernden Frauen.

Unser erster Nachmittagsspaziergang führte uns zu der sich noch immer im Bau befindenden Kirche Sagrada Familia, begonnen von Antonio Gaudi im Jahre 1882. Auf dem Weg dorthin wurden wir durch eine ältere, folkloristisch gekleidete Frau mit einem großen Nelkenstrauß förmlich bedrängt. Sie hielt uns eine Nelke entgegen und jammerte fortwährend: »Una peseta, una Peseta.« Nelken, noch dazu rote, sind für Leute meiner Herkunft eigentlich besetzt: sie waren zum internationalen Frauentag am 8. März meist die einzig greifbaren Schnittblumen (gern nett mit rieselndem Asparagus überreicht) und standen außerdem für den 1. Mai, den Kampf- und Feiertag der Werktätigen. Nelken in Barcelona waren da natürlich etwas ganz Anderes, aber unsere kleine Gruppe war auf dem Weg zur Vorstellung, und wir versuchten, die Frau freundlich abzuwimmeln. Damit sie uns in Ruhe ließ, wollte ich ihr eine Pesete geben. Doch sie zeigte auf meinen Kollegen: »Vati zahlen, Vati zahlen.« Unwillig zerrte »Vati« – mein Kollege – seine gut versteckte Geldbörse heraus und suchte nach einer Pesete. Das dauerte eine Weile, es war ja ungewohntes Geld. Die alte Frau trat an ihn heran, griff mit zwei spitzen Fingern in seine Börse, nahm eine Pesete heraus, zeigte sie vor, überreichte die Nelke und verschwand.

Erst später, wir hatten in einem Straßencafé etwas getrunken und wollten bezahlen, stellte der Kollege fest, alle seine Geldscheine waren verschwunden. Die Frau hatte wohl mit zwei Fingern die Pesete genommen, mit den anderen drei Fingern aber blitzschnell aus dem Nebenfach alle Scheine gezogen.

Das war die teuerste Nelke seines Lebens.

Die Blumenfee im gehobenen Lebensalter war im Zweitberuf eine gut ausgebildete Taschendiebin und wir waren auf den »Nelkentrick« hereingefallen.

So schlichen wir wie eine geschlagene Kompanie weiter zu unserer abendlichen Vorstellung. Unterwegs trafen wir auf Kollegen. Schon aus der Entfernung riefen sie uns zu: »Passt bloß auf, hier laufen Frauen rum mit dem Nelkentrick …!«

»Ist schon passiert!«, konnten wir erwidern.

Nahe unseres Spielorts kamen wir an einer Kirche vorbei, auf deren Treppenstufen ein Bettler saß. Mit einem zerdrückten Kaffeebecher in Hand bat er zitternd um Geld. In dem Moment, als wir ihn passierten, begannen die Kirchenglocken zu läuten. Es war 18 Uhr. Der Bettler stand auf, griff nach einer Tüte, die neben ihm lag, und verschwand in einem Gebüsch. Als er das Gebüsch wieder verließ, war er umgezogen und schlenderte sauber und adrett gekleidet frohen Mutes der untergehenden Sonne und seinem verdienten Feierabend-Vino entgegen.

Diesen Trick kannten wir, allerdings nur aus der »Dreigroschenoper«. Eigentlich waren wir Leute vom Fach! Uneigentlich natürlich ganz und gar nicht.

Unser Spielort war eine ehemaligen Markthalle, »Mercat de les flors«, was uns sonderbar erschien. Über eine Nachnutzung von historischen (Industrie)-Gebäuden hatten wir uns zu dieser Zeit noch keine Gedanken gemacht. Heute, dreißig Jahre später, sind ja auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR alte, seit Jahren leerstehende Fabrikhallen angesagte »hippe locations«.

1986 in Barcelona waren es die Kartenpreise, die bestimmte Bevölkerungsschichten von vornherein vom Kunsterlebnis in der Markthalle ausschlossen.

Zu Beginn der ersten Vorstellung war unsere Verwunderung groß, als wir mitten in der »Moritat von Mackie Messer« rhythmische Schläge an die Türen der Markthalle hörten, und das so laut, dass man Mühe hatte, den Takt zu halten. Als zu den immer lauter werdenden Schlägen auch noch Rufe skandiert wurden, musste die Vorstellung unterbrochen werden.

Der erfreuliche Grund der unerfreulichen Störung wurde klar: Draußen vor den Türen standen Hunderte Studenten der umliegenden Theater- und Schauspielinstitute und begehrten Einlass. Sie wollten mit eigenen Ohren hören, wenn Mackie Messer die Frage aufwarf: »Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank!«, die Frage, die heute noch viel größere Aktualität hat als damals vor dreißig Jahren!

Schneller als im Stück auf der Bühne wurde deshalb im wirklichen Leben der Ruf nach der Polizei laut, in diesem Falle aber nicht der von London, sondern der Guardia civil von Barcelona. Leute polizeilich zu verfolgen, weil sie ein Theaterstück sehen wollten, das ging uns gegen unser soziales Gewissen!

Unser damaliger Intendant Manfred Wekwerth und der Spanisch sprechende Kollege Alejandro Quintana traten vor den Theatervorhang und wandten sich an die Zuschauer: Wenn die Studenten durch einen Polizeieinsatz vertrieben würden, werde das Berliner Ensemble nicht weiterspielen, aber wenn man ein wenig zusammenrücke, könnten auch die Leute draußen vor der Tür noch Platz finden … Das Haus war ohnehin ausverkauft, dem Veranstalter entging also nichts.

Und siehe da: die Zuschauer rückten wirklich zusammen, und die Studenten saßen bald mit im Pu­blikum.

Es gab sie, die Solidarität – zumindest im Theaterpublikum.

Brecht lässt im Stück Herrn Peachum die Bibel zitieren: »Gib, so wird dir gegeben.« Dieser Satz hatte für die Zuschauer eine andere Dimension bekommen: die Wohlhabenden im Parkett gaben den weniger Wohlhabenden ab und demokratisierten so den Kunstgenuss. Das hätte Brecht gefallen, ich bin mir ganz sicher.

Getragen von einer Art Euphorie spielten wir die Vorstellung und wurden mit einem furiosen Beifall entschädigt – für alle Trickbetrügereien, denen wir auch später noch begegnen sollten.

NS

Die Kirche Sagrada Familia soll anlässlich des hundertsten Todestages von Antonio Gaudi im Jahr 2026 fertiggestellt sein. In Hinblick auf die Fertigstellung des BER, des Willy-Brandt-Flughafens in Berlin-Schönefeld, müssen die Bauherren bis zum hundertsten Todestag des Namensgebers im Jahr 2092 also keine vorschnellen Entscheidungen treffen.

»Na, Frau Troegner, ham’se was gelernt?«

Das Telefon klingelt, ich gehe ran und ein bekannter Moderator des MDR ist höchstpersönlich am anderen Ende der Leitung. Er schwärmt mir die Ohren voll, was ich doch für eine tolle Schauspielerin sei.

Als Berlinerin kann ich mit so viel Lobhudelei nicht allzu viel anfangen und werde skeptisch: Was will er denn? Er ruft mich doch nicht an, um mir zu erklären, wie großartig ich bin?

Und dann rückt er mit seinem Anliegen heraus, es ginge um eine seiner nächsten Sendungen, bei der er mich gern als Gast dabei hätte – Thema: Ernährungs- und Fitnessprogramme.

Mir sträubten sich sofort die Haare. Themen, meine Konfektionsgröße betreffend, hatte ich im wahrsten Sinne des Wortes »satt«. An Kollegen und Kolleginnen hatte ich schon studieren können, wie man mit einem persönlichen Thema gleich quer durch die deutsche Fernsehlandschaft surft. Das konnte ein Alkoholproblem sein, Drogenerfahrung, der Jungbrunnen, im Großväteralter noch einmal Vater zu werden, oder eben Leben mit der eigenen »gewichtigen« Persönlichkeit.

Zu diesem Problemkreis hatte ich schon einige Sendungen absolviert. In einer rbb-TV-Talkshow platzierte man mich neben einem stadtbekannten greisen Playboy, der als ersten Beitrag zu dieser Sendung den Satz: »Dicke Frauen sind für mich das Allerletzte« beisteuerte. Der Moderator ließ diesen Satz unkommentiert stehen. Vielleicht tat ihm der uralte Mann, der dort mit zwei etwa sechzig Jahre jüngeren »Barbiepuppen« als Begleitstützhilfe erschienen war, einfach genauso leid wie mir. Nach dieser Sendung hatte ich beschlossen, die Opferrolle abzugeben.

»Nein«, sagte ich zu dem Moderator, »tut mir leid, dieses Thema ist für mich in Talkshows durch. Ich möchte in Ihrer Sendung nicht schon wieder auf der Anklagebank sitzen.«

»Aber Frau Troegner«, er war beinahe empört, dass ich ihm so etwas zutraute, »ich verspreche Ihnen hoch und heilig, das wird nicht geschehen.«

Als er nicht aufhörte zu betteln, sagte ich meine Mitwirkung zu.

Die Sendung beginnt und ist auch sehr interessant. Eine Ernährungswissenschaftlerin erörtert, dass es Menschen gebe, die sehr sensibel seien und für ihr eigenes seelisches Wohlbefinden um sich herum »einen dickeren Panzer« bräuchten. Das geht mir runter wie Öl, und ich nehme diese Erklärung gern für mich in Anspruch. Natürlich hat die Redaktion auch das lebende Gegenbeispiel eingeladen, eine Frau, die ihr Körpergewicht um dramatisch viele Kilos reduziert hat. Um dieses Gewicht zu verdeutlichen, stehen zwei Wassereimer im Studio. Ausführlich wird sie befragt, wie es ihr gelungen sei, diese Traummaße zu erreichen. Alle sind beeindruckt und zollen der Frau einen respektvollen Beifall. Flugs vor dem Abspann wendet sich der MDR-Moderator noch einmal mir zu: »Na, Frau Troegner – ham’se was gelernt?«

Bevor ich Luft hole, läuft schon der Abspann-Jingle.

War das hinterhältig? Oder war es der journalistisch hilflose Versuch, die Sendung kultiviert zu Ende zu bringen? Es wird sein Geheimnis bleiben.

Zumindest hat seine einprägsame Abschlussfrage bei mir bewirkt, dass ich es jetzt anderen überlasse, das weite Feld der Diät- und Fitnessprogramme zu besprechen.

Allerdings muss ich zugeben, manchmal nagt der Zweifel an meinem Entschluss. Habe ich doch vor einiger Zeit tatsächlich (etwas) abgenommen. Da hätte ich doch zum Werbeträger eines Diätprodukts werden können! Hätte behaupten können, meinen Gewichtsverlust einzig und allein diesem Wundermittel zu verdanken, und unglückliche dicke Frauen, die sich von Medien permanent einreden lassen, »nur ein schlanker Mensch ist schön«, zum Kauf des Produkts animiert. Damit würden sie einen Beitrag leisten, der »Abnehm-Industrie« Arbeitsplätze zu sichern. Und auch mein Kontostand würde klettern … Aber dafür bin ich nicht gemacht.

Ich habe gelernt: Die Natur ist vielfältig. Es gibt schwarze, weiße, gelbe Menschen. Es gibt lange und kurze Menschen. Kurz- und weitsichtigere Menschen. Warum soll es nicht schlankere und dickere Menschen geben?

»Genieße das Leben, du hast nur das eine!«, sagt ein Sprichwort, und »Wer nicht genießt, wird ungenießbar«, ein anderes.

Meinen Genuss am Essen will ich nicht verbergen, und ich halte es auch nicht für eine Tugend, beim Genuss ein schlechtes Gewissen zu haben.

Bei einem herrlichen Gänsebraten mit Rotkohl und Thüringer Klößen sagte vor einiger Zeit mein welt­erfahrenes männliches Vis-à-Vis: »Mit dir gehe ich gern essen. Es macht Spaß, mal eine Frau zu sehen, die im Essen nicht herumstochert und auf ihrem Teller nichts aussortiert. Für die Deutschen«, fuhr er fort, »ist Essen immer ein Problem, entweder denken sie, es macht dick, oder sie fürchten, es ist krebserregend.«

Da konnte ich mein Vis-à-Vis beruhigen, denn meine diversen Erfahrungen aus etlichen Talk-Shows brachten mir die gleiche Erleuchtung, die auch schon Mark Twain vor vielen, vielen Jahren hatte: »Man kann die Erkenntnisse der Medizin auf eine knappe Formel bringen: Wasser mäßig genossen ist unschädlich.«

Und damit hatte mein Begleiter auch was gelernt und legte mir höchst zufrieden einen zweiten Kloß auf den Teller.