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Stefan Haenni

Brahmsrösi

Fellers zweiter Fall

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Zum Buch

Misstöne Moritz Auf der Maur, Präsident der Thuner Brahms-Gesellschaft, kann es kaum glauben: Ein Unbekannter bietet ihm die Originalpartitur der berühmten „Thuner Sonate“ zum Kauf an. Johannes Brahms hatte das Stück während eines Sommeraufenthalts am Thuner See im Jahre 1886 komponiert. Die Handschriften des Meisters hatten bisher als verschollen gegolten. Allerdings erhalten auch andere Einrichtungen das verlockende „Angebot“: eine Krakauer Bibliothek, das Brahms-Archiv in Lübeck und die Brahmsgesellschaft Baden-Baden. Misstrauisch geworden, beauftragt Auf der Maur den Privatdetektiv Hans-Peter Feller, die Echtheit der Noten zu prüfen. Als der Detektiv kurz darauf um sein Leben bangen muss, sein Schützling Stefan Lüthi spurlos verschwindet und ein Musikerfreund tot aufgefunden wird, gibt es selbst für den schockierten Präsidenten keinen Zweifel mehr, dass die Violinsonate unaufhaltsam zur Violenzsonate mutiert …

Stefan Haenni, geboren 1958 in Thun, studierte an den Universitäten Bern und Fribourg Kunstgeschichte, Psychologie und Pädagogik. Seit 2009 lebt und arbeitet er als freischaffender Autor und Kunstmaler in seiner Geburtsstadt. Haenni publizierte zahlreiche Kriminalgeschichten in thematischen Anthologien. Im Gmeiner-Verlag erschienen seine Kriminalromane »Narrentod«, »Scherbenhaufen«, »Berner Bärendreck« und »Tellspielopfer« sowie der Kurzkrimi-Band »Todlerone«.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Neuausgabe 2022

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Stefan Haenni

ISBN 978-3-8392-3444-0

Widmung

Ich denke nur Musik.
Johannes Brahms

Prolog

»He da! Was soll das?«

Der rohe Klang der eigenen Stimme überrascht m­­ich. Ich töne wie ein Schroter, ein bernischer Gesetzeshüter, entschlossen, die öffentliche Ordnung notfalls auch mit ganzer Überzeugungskraft und halbem Monatslohn zu verteidigen.

Gerade noch habe ich gut gelaunt und einigermaßen breit die Thuner Freienhofbar verlassen. Mit unsich­erem Schritt habe ich die Sinnebrücke überquert. Dabei ist mir lautes Grölen und Lachen aus Richtung Lauitor aufgefallen. Auf der Höhe des Plätzlis neben der Konditorei Reber bietet sich mir danach ein seltsamer Anblick.

Ich bleibe neugierig stehen. Nur das fahle Licht einer mückenumschwirrten Straßenlampe erhellt die nächtliche Szenerie. Am gespenstischen Himmel sehnt sich ein Stück Mond nach seiner ganzen Fülle. Vor einem Musikgeschäft steht ein circa 18-jähriger Bursche mit nacktem Oberkörper und hält zweihändig ein kleines Gerät in Augenhöhe, vermutlich sein Handy. Er filmt eine Gruppe von drei Kollegen, die auf der andern Straßenseite herumlungern. Was haben die vor?

Einer der Jungen stellt einen prallen, kugelrunden Kehrichtsack wie einen Fußball zum Abschuss bereit.

»Nein, warte. Da schleicht eine Karre«, ruft ihm der Filmer zu.

Rasch nähert sich das Scheinwerferlicht eines Autos, das danach schwungvoll in den Verkehrskreisel einschwenkt und Richtung Spital abbiegt.

»Jetzt!«, kommandiert ein schlaksiger Lümmel.

Der designierte Schütze zögert. »Nein, es kommt noch was.«

Ein dunkelblauer Peugeot mit Abblendlicht rollt vorbei.

»So, aber jetzt. Abschuss!«

Unter lautem Johlen fliegt das Paket zehn Meter quer über die Straße einem offenen Kehrichtcontainer entgegen.

»Treffer!«, kommentiert der Handyman trocken.

»Jep!«, meint der Schütze. Seine Kollegen applaudieren.

»Geil. Voll in die Kiste«, rühmt ein anderer und will es auch versuchen.

Ein nächstes Wurfgeschoss wird entwendet und zwischen zwei vorbeifahrenden Autos schwungvoll Richtung Ziel spediert. Das verfehlt es um Haaresbreite. Vermutlich wird dieser Bubenstreich schon morgen auf YouTube zu bestaunen sein. Ich nehme mir vor, genau das zu Hause zu überprüfen.

»Shit, daneben«, tönt der Schütze und fragt hoffnungsvoll: »Hat’s noch einen?

»Da, der Letzte, du Sack.«

Erneutes Gegröle. Kurz darauf durchquert ein Plastikgeschoss in klassischer Wurfparabel die laue Sommer­nacht. Beim Aufprall platzt es an der Außenwand des anvisierten Metallbehälters. Der Kehricht verteilt sich dabei in alle Himmelsrichtungen. Stinkende Küchenabfälle, gepresste PET-Flaschen, zerknüllte Papiere und verbeulte Büchsen übersäen das Trottoir auf einer Länge von drei Metern.

Das ist der Augenblick, in dem ich mit möglichst bedrohlicher Stimme mein »He da!« erschallen lasse. Ich mobilisiere ein Quäntchen Zivilcourage und mische mich ein. Auf die Gefahr hin, die Fresse poliert zu kriegen. Man liest diesbezüglich erschreckende Berichte. Die niederschwellige Aggressionsbereitschaft von Jugendbanden schockiert.

Die überraschten Nachtbuben halten kurz inne und wenden sich zu mir. Leider erkenne ich von hier aus keines ihrer Gesichter. Alle vier tragen Baseballcaps, schräg und tief in die Stirn gerückt. Sie sehen damit ziemlich verwegen aus. Spontan traue ich den Unbekannten Böses zu. Habe ich möglicherweise die gesuchten Täter vor mir, die dem Rathauswirt eine Hauswand vollgesprayt haben?

1

Nur das eine brauche ich jetzt.

Die Muße, auf einer der besonnten Holzbänke an der gemächlich dahinfließenden Aare mein Leibblatt zu lesen. Dabei interessieren mich folgende Fragen: Werden neue Vandalenakte vermeldet? Gibt es frische Graffiti? Sind wieder Denkmäler beschädigt worden? Hat die Bronzeplastik des Fulehung auch noch ihr zweites Horn eingebüßt?

Aufmerksam prüfe ich den Regionalteil des Thuner Tagblatts. Prompt werde ich dabei gestört. Kaum habe ich mich nämlich gesetzt und die Zeitung aufgeschlagen, rattert ein orangefarbener Kleintransporter heran. Wenige Meter von mir entfernt stoppt der kleine Stinker. Es entsteigen ihm zwei blau gewandete Stadtgärtner mit leuchtorangen Beinstulpen. Der eine wirkt behäbig. Er scheint den Vorarbeiter zu mimen, auch vom Alter her. Beim andern dürfte es sich um seinen Lehrling handeln. Noch keine 20, der Stift. Unter langen blonden Stirnfransen lugen sanfte Augen mit einem Blick für zarte Pflänzchen und herbe Unkräuter hervor.

Der Alte greift mit Zeitlupengeschwindigkeit in die rechte Hosentasche, der er ein zerdrücktes Päckli entnimmt. Routiniert klopft er eine Zigi heraus. Es fällt kein Wort. Inzwischen schlendert der Stift unaufgefordert zur Ladefläche, von der er eine Harke und einen Rechen hievt. Wenn er etwas von seinem Chef gelernt hat, so ist es, abgesehen von der eklatanten Gesprächigkeit, zweifellos das atemberaubende Arbeitstempo. Immerhin stellt er mit dem Werkzeug eine grundsätzliche Handlungsbereitschaft in Aussicht. Ich frage mich unweigerlich: Warum gelingt es der minimalistischen Darbietung der beiden Gärtner, mich vom Lesen abzuhalten?

Vielleicht lockt die Lektüre nicht wirklich. Der regionale Blätterwald ist ziemlich ausgedünnt. Er bietet wenig Alternativen. Im Tägu und in der Berner Zeitung finden sich weitgehend dieselben Bünde mit identischen Inhalten. Hans was Heiri, was man liest, falls man mehr als 20 Minuten für eine Gratiszeitung opfert. Ich schlage mit dem Handrücken auf das entfaltete Papier, als gälte es nun ernsthaft, mich den Tagesaktualitäten zuzuwenden.

Da klickt das Feuerzeug des Vorarbeiters. Das kurze, helle Geräusch genügt, mich erneut abzulenken. Warum, zum Henker, kann ich mich heute nicht konzentrieren?

Der Alte hat einen Glimmstängel entzündet. Paffend lehnt er sich gegen die offene Führerkabine. Das eine Bein belastet er als klassisches Standbein. Das übergrätschte Spielbein stützt er lässig mit der Fußspitze ab. Der Vorarbeiter räuspert sich, ohne danach irgendwelche Anweisungen zu husten. Schließlich lässt er einen kompakten Grünen zu Boden fladern. Mit zusammengekniffenen Echsenäuglein mustert der Stadtgärtner seine Umgebung, so als hoffte er, eine grüne Oase ausfindig zu machen. Die befindet sich in Form einer üppig bepflanzten Rabatte auf der Fluchtlinie zwischen ihm und mir. Sie verhindert Blickkontakte durch die Blume. Verwundert blinzelt mich der Gärtner an, als wüsste er, mit wem er es zu tun hat. Nämlich dem stadtbekannten Privatdetektiv, der bereits eine Mörderin überführt hat. Seither kann ich allerdings weder mit nennenswerten Heldentaten prahlen noch sind lohnende Aufträge eingegangen. Abgesehen von der Jagd nach den Schmierfinken. Der Rathauswirt hat mich beauftragt herauszufinden, wer ihm seine Liegenschaft garniert hat.

Bisher ist mir leider kein gescheiter Lösungsansatz eingefallen. Wie soll ich den Nachtbuben auf die Schliche kommen? Ich kenne mich in der Szene überhaupt nicht aus und bin zu alt, um mich unauffällig unter die Kiffer auf der Mühleplatztreppe zu mischen.

Ich müsste meine Ermittlungen auf die Typen vom Weißen Block fokussieren. Würde mich nicht wundern, wenn die Sprayer unter ihnen zu finden wären. Leider begnügt sich mein Auftraggeber nicht mit Vermutungen. Er wünscht, dass ich die nachtaktiven Wand- und Landstreicher inflagranti ertappe. Wie stelle ich das an?

An seiner Hauswand ist das Werk vollbracht. Kein Quadratmeter steht für neue Attacken frei. Dort werde ich die Künstler kaum mehr überraschen. Ich müsste erraten, welche jungfräuliche Fassade als nächstes vollgesabbert werden soll. Das Strättligarchiv? Die Bahnhofunterführung? Das Gerichtsgebäude auf dem Schlossberg?

Fast unmöglich, entsprechende Prognosen zu stellen. Am einfachsten wäre es, die Wand weiß zu übertünchen, um die Schmierfinken erneut zum Sprayen zu animieren. Sodann müsste ich nur noch das Objekt observieren. Allerdings rund um die Uhr.

Der Wirt kann sich für diese Lösung nicht erwärmen. »Identifiziere die Täter und ich renoviere die Fassade. Vorher nicht«, hat er verkündet. Das macht mich ziemlich rat- und mutlos. Huere Schmiererei! Scheiß Auftrag!

Die Gärtner ergreifen das Werkzeug und zwei grüne Plastikkörbe. Sie schlurfen in Richtung Blumenbeet. Ich erwäge zu flüchten, bin aber unentschlossen und bleibe schließlich doch sitzen. Meine Blicke folgen dem blonden Jüngling, der inzwischen den grünen Arbeitskittel abgelegt hat und jetzt ein weißes T-Shirt mit dem karminroten Aufdruck ›Ich bin auch ein Rasenmäher‹ präsentiert.

Der Rasenmäher und sein Boss nähern sich als wankende Silhouetten im Gegenlicht der Morgensonne. Sie wirken wie zwei Außerirdische, die ihr Tagwerk zum Wohl der Menschheit anpacken. Sie werden aber von einer jungen Frau gestoppt. Dafür hat sie, wie ich von meinem Bänklein aus leicht erkenne, zwei plausible Gründe: Erstens steht die Gute mitten im Blumenbeet und zweitens ist sie splitterfasernackt!

Samtblättrige Stiefmütterchen in tiefdunklem Violett und leuchtendem Gelb blühen zu Füßen der jugendlichen Schönheit. Bei der Unbekleideten handelt es sich um eine Bronzestatue. Diese wurde zu Ehren und zur Erinnerung an Johannes Brahms an der Seepromenade in Thun aufgestellt, auf der Wiese zwischen Entenegg und Bächimattpark. Heute bezeichnet man die Örtlichkeiten als Brahmsquai und die Plastik als Brahmsrösi. Warum ausgerechnet ein weiblicher Akt an den deutschen Komponisten erinnern soll, bleibt vorerst ein Geheimnis.

Brahmsrösi hält ihren rechten Arm in der Horizontalen. Die abgewinkelte, offene Handfläche präsentiert sie wie eine Politesse auf der Verkehrsinsel. Angeblich begrüße die Holde den neuen Tag.

»Hallo, Frischling. Ob’s heute was wird mit uns beiden?«

Ganz keck, diese Rösi! Wenngleich: Könnte ihre Haltung nicht auch auf verinnerlichtes Lauschen hindeuten? Vermittelt ihr Gesichtsausdruck aufmerksames Zuhören? Jedenfalls wird die stille Besinnlichkeit auf absurde Weise durch den Verkehrslärm der Hof­stettenstraße beeinträchtigt. Davon kann ich ein Liedlein singen. Meine Wohnung liegt nur einen Steinwurf von hier entfernt.

Den linken Arm hebt die Nackte wie ein Modell in einem Werbespot für rasierte Achselhöhlen. Die Hand liegt lässig am Hinterkopf. Zwei apfelförmige Brüste wölben sich mir wie reifes Mostobst entgegen.

Mit halb geschlossenen Augen und zurückgeneigtem Kopf lächelt Rösi dem Tag entgegen, als käme es ihr nicht wirklich darauf an, was er bringt. Voller Zuversicht, dass sich das Heute als verheißungsvoller Morgen von gestern entpuppt. Sogar der Taubendreck, der über das verzauberte Antlitz rinnt und die ganze Figur von oben bis unten mit weißen Striemen verunstaltet, scheint die Gelassenheit der Schönheit nicht im Geringsten zu beeinträchtigen.

In Sichtweite und Blickrichtung der Figur steht ein Gotteshaus, das Scherzligkirchlein. Ein Haus zum Scherzen? Ein Kirchlein der Heiterkeit? Liegt Rösis Geste eine sakrale Bedeutung zugrunde? Mir ist ihr Handzeichen schon anderswo aufgefallen. Beim Pontifex maximus. So grüßt der germanische Kondomleugner! Immerhin soll er den Muslimen den Gebrauch der Lümmeltüte ans Herz gelegt haben.

Jetzt verlässt ein älterer Mann im dunkelblauen, zweiteiligen Anzug den geteerten Spazierweg und überquert den Rasen. Mit gemessenen Schritten nähert er sich den beiden Stadtgärtnern. Er spricht sie an. Die scheinen sich zu wundern. Leider kann ich nicht hören, was geredet wird. Danach greift der distinguierte Herr in die Innentasche seines Anzugs, holt eine dicke Brieftasche hervor und reicht dem Rasenmäher eine Zwanzigernote. Wird hier gedealt? Gleichen im Rentnerparadies am Thunersee die Junkies den pensionierten Bankern?

Einer abgegriffenen Ledermappe entnimmt der Alte einen weichen Lappen und eine transparente Plastikflasche mit irgendeinem Putzmittel. Beides übergibt er dem Jungen, der umgehend beginnt, damit die Bronzefigur vom Vogeldreck zu befreien.

Ich wundere mich etwas über diese private Initiative. Was liegt dem sonderbaren Mann an der Brahmsrösi? Andrerseits kann die Öffentlichkeit dankbar sein, dass am Aarelauf ein selbstloser Bürger mit ausgeprägtem Ordnungssinn ein paar Fränkli flüssig macht.

2

»Lieben Sie Brahms?«

Mit dieser Frage überrumpelt mich heute Morgen ein gewisser Herr Auf der Maur am Telefon. Noch erstaunter wäre ich nur gewesen, wenn sich Françoise Sagan persönlich aus dem Jenseits gemeldet hätte. Der Anrufer stellt sich als Präsident der Thuner Brahmsgesellschaft vor. Bisher habe ich nichts mit ihm zu tun gehabt. Ich kenne ihn vom Hörensagen: Doktor Moritz Auf der Maur. Er ist meines Wissens mit einem Lehraufrag für Kompositionslehre an der regionalen Musikschule betraut und funktioniert in der hiesigen Kultur- und Musikszene als umtriebiger Initiator. Aber sonst?

Einerseits möchte ihn nicht enttäuschen. Er lebt vermutlich für das Werk des deutschen Komponisten. Andererseits ist mir schleierhaft, was die ungewöhnliche Erkundigung soll. Seit wann interessiert sich Herr Auf der Maur für meinen persönlichen Musikgeschmack?

Er unterbricht mein Sinnieren. »Herr Feller. Wären Sie so freundlich, meine Frage zu beantworten?«

»Ich kenne mich mit Brahms vermutlich zu wenig aus«, versuche ich mich rauszureden.

Der Doktor steigt nicht darauf ein. »Kann man sich denn der Wirkung seines beglückenden Werks entziehen?«

Ich betrachte es nicht als meine primäre Aufgabe, den Präsidenten auf den Boden der disharmonischen Realität zurückzuholen und schweige.

Er insistiert aufs Neue: »Also, frisch heraus, Herr Feller: Lieben Sie Brahms?«

Mist! Ich komme offenbar nicht darum herum, Stellung zu beziehen. »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Herr Auf der Maur. Brahms figuriert in meiner Klassikhitparade nicht auf den Spitzenrängen. Wozu fragen Sie?«

»Sie arbeiten als Privatdetektiv, nicht wahr?«

Ich nicke. Natürlich entgeht das meinem Anrufer.

»Es handelt sich um einen Auftrag«, sagt er und klingt geheimnisvoll.

Meine Neugierde ist jedenfalls geweckt.

»Es ist mir zu Ohren gekommen, dass Sie sich in Sachen Urkunden gut auskennen.«

Ich verhalte mich jeglicher Form von positiver Verstärkung gegenüber grundsätzlich misstrauisch und antworte nur zögerlich. »Ja. Ich kenne mich mit Handschriften etwas aus.«

»Gut. Gerne würde ich mich mit Ihnen unter vier Augen unterhalten. Es handelt sich nämlich um eine delikate Angelegenheit.«

»Delikat tönt mehr nach einer kulinarischen Herausforderung. Eine solche suche ich in der Tat, Herr Auf der Maur.«

Er verdankt meine Bemerkung mit herzhaftem Gelächter. Ein heiterer Mensch. Wird man so, wenn man oft genug Brahms hört?

»Habe ich Sie richtig verstanden? Sie wollen mich als Detektiv engagieren?«

»Richtig. Als was denn sonst, Herr Feller?« Er grölt schon wieder.

Seine Rhetorik empfinde ich eher als Herabsetzung. Immerhin könnte man mich nach wie vor noch als Pä­­dagogen einstellen. Als Privatlehrer für Nachhilfeunterricht in Deutsch und Geschichte. Neben den obligaten Reit-, Tennis- und Geigenstunden, den kostspieligen Shoppingtouren im Bälliz und dem inflationären Versenden von belanglosen SMS wird der Schülerschaft die Erfüllung der Promotionsbedingungen nicht selten prekär. Ein Privatpauker könnte nach dem Rechten sehen. Erfahrungsgemäß mangelt es dem Nachwuchs oft nur an Fleiß und geeigneten Lerntechniken. Nachhilfe wäre keine schlechte Idee. Eben hätte ich noch zur Verfügung gestanden. Ab heute ist das anders.

»Wann und wo wollen wir uns treffen?«, erkundige ich mich.

»Ich richte mich ganz nach Ihnen.«

»In dem Fall schaue ich am besten bei Ihnen zu Hause vorbei. Wo wohnen Sie, Herr Auf der Maur?«

»Ecke Blümlisalpstraße/Ringstraße. Die grüne Jugendstilvilla. Nicht zu verpassen. Sie kennen das Quartier?«

»Selbstverständlich, ich bin Thuner«, entgegne ich mit gespielter Entrüstung. Voreilig. Es existieren eine innere, eine mittlere und eine äußere Ringstraße. Welche ist gemeint? Später erst werde ich meine diesbezügliche Wissenslücke realisieren und darum eine ganze Weile im Seefeld herumirren.

»Ist Ihnen morgen Nachmittag recht? So um 13.30 Uhr zum Tee?«

»Ja, passt.«

»Schön. Ich erwarte Sie, Herr Feller. Seien Sie auf eine Überraschung gefasst!«