1 Das blonde Fräulein von Itteville

Fünfzig Kilometer, stockdunkel, heftiger Regen, nichts zu sehen außer dem schwachen Lichtkegel der Scheinwerfer.

Genau genommen wirkten wir wohl eher bemitleidenswert als lächerlich: wie der Motor röchelte, wie der Citroën auf eiernden Rädern flatterte, wie der Wind am Verdeck rüttelte.

G7 ist nämlich einer der wenigen Kriminalkommissare mit eigenem Wagen, auch wenn es nur ein in allen Fugen knarzender alter Citroën 5CV ist, obendrein in der eintürigen Torpedo-Ausführung.

So etwas wird heute nicht mehr hergestellt. Er ist zugleich eine Missgeburt und ein Wunderwerk. Dauernd hat man das Gefühl, er zerfällt gleich in seine Bestandteile, und doch schnauft er mit sechzig Sachen Steigungen hoch.

Pudelnass waren wir, das Wasser lief uns vom Nacken bis ins Kreuz.

Zu allem Überfluss mussten wir, weil wir uns beide nicht auskannten und hier auf dem Land keine Menschenseele zu sehen war, an jeder Abzweigung anhalten. Dann stieg ich heldenmütig aus, watete durch den Matsch und versuchte, die Beschriftung der Wegweiser zu entziffern.

Es war wirklich stockdunkel. G7 lenkte einen der Scheinwerfer mehr schlecht als recht nach oben und schickte seinen Strahl gen Himmel.

Itteville 2 km …

Wir hatten unsägliche Umwege gemacht. Nur ein Gemüselaster auf dem Weg zu den Pariser Markthallen, den wir gestoppt hatten, hatte uns davor bewahrt, nichts ahnend bis nach Orléans zu fahren.

Endlich waren wir am Ziel. Nun standen wir beide auf der Straße, an einer Kreuzung mitten auf dem Land.

Felder links. Felder rechts. Ein Haus mit ummauertem Garten, ins Grün geduckt. Zwei Straßen kreuzten sich hier, eine davon völlig kaputt.

»Hier muss die Stelle sein, wo etwas passiert ist!«, sagte G7 bedächtig.

Sehenswert, hörenswert, wie er diese Worte

Ich hätte viel gegeben für ein Glas Rum. Als ich gerade zu dem Haus mit den geschlossenen Läden gehen wollte, sah ich am Straßenrand einen kleinen roten Punkt leuchten. Da kam ein Mann, der ein Fahrrad schob. Mit Silbertressen.

»Kriminalpolizei? Ich bin hier der Brigadier … Ich habe Sie schon erwartet.«

Es musste vier Uhr früh sein. Gegen Mitternacht war G7 über einen Vorfall in Itteville informiert worden und hatte mich gefragt, ob ich mitkommen wollte.

»Schauen Sie, da … Ja, diese Reifenspur. Um neun Uhr abends kniete da eine Frau …

Und neben der Frau lag eine Leiche … Der Posthalter kommt vorbei, ein zuverlässiger Mann … Die Frau schreit, er soll die Polizei holen … Er erscheint auf der Wache … Eine halbe Stunde später sind wir an Ort und Stelle … Und dann das!«

Er schaut uns hilflos an.

»Die Frau war noch da … Die Leiche auch …«

Er kommt immer noch nicht zur Sache. Himmel noch mal! Der ist in Regenmantel und Stiefeln, wir nicht!

 

Bevor ich fortfahre, möchte ich mir einen ganz kurzen Einschub erlauben. Ich habe etliche Kriminalromane verfasst. Das hat zu recht engen Beziehungen zur Sûreté Générale und zur Kriminalpolizei geführt. Vor allem aber hat es mir die Freundschaft mit G7 eingebracht, einem Kommissar, der von seinen Kollegen wegen seiner roten Haare so genannt wird, die unweigerlich an die Farbe der Taxis erinnern, die diese Nummer tragen.

Der Name passt gut. G7 ist dreißig. Ich habe schon gesagt, dass er wie ein wohlerzogener junger Mann wirkt, ein wenig schüchtern. Eigentlich eher der Typ Rathausschreiber oder Bürovorsteher beim Notar.

Schlichte Kleidung in möglichst neutralem Grau, unübersehbar Konfektionsware. Darüber ein Regenmantel in dezentem Beige.

Er wird es mir nicht übel nehmen, wenn ich anmerke, dass er nicht wie ein Überflieger wirkt. Diesen Eindruck mochte in jener Nacht auch unser Dorfpolizist gehabt haben, der deshalb auch ausschließlich mich ansprach, ganz so, als wäre mein Begleiter gar nicht in der Lage, ihn zu verstehen.

Ich habe G7 ein Dutzend Male bei Ermittlungen in Paris und auf dem Land begleitet.

»Erzählen Sie keine Geschichten!«

 

Ich werde jetzt erst einmal den Bericht des Brigadiers zusammenfassen, der, von Kommentaren, Einschüben und Witzchen unterbrochen, fast eine Stunde dauerte.

Man stelle sich also vor, wie wir drei an der Straßenkreuzung stehen, bei sintflutartigem Regen und einem Wind, der den kleinen Citroën wegzuwehen droht, dessen Scheinwerferlicht von den himmlischen Wassern schraffiert wird.

Nach Itteville sind es zwei Kilometer. Ballancourt liegt ungefähr vier Kilometer hinter uns. Itteville auf der Hochebene, Ballancourt im Tal, am Ufer der Essonne und ihrer Altwasser.

Das Ganze fünfzig Kilometer von Paris und fünfzehn von Arpajon.

Ein paar Lastwagen fahren des Nachts Gemüse zu den Pariser Markthallen.

Still ist es auf dem Land. Die Bauern sind brave Leute. Das einzige Haus an der Straßenkreuzung ist eine jener schönen alten Villen, die fürs Großbürgertum das bedeuten, was dem Adel die Schlösser sind.

Diese Ruhe kann einen neidisch machen. Es kommt einem so vor, als lebte man in einem solchen Haus im halben Tempo.

Doch der Brigadier berichtet:

»Seit drei oder vier Jahren ist es bewohnt, von einer eigenartigen Person … Das blonde Fräulein, nennt man sie hier in der Gegend … Eine sehr hübsche junge Frau, sehr elegant, die allein lebt und die man kaum je zu Gesicht bekommt … Die Frau vom hiesigen Gärtner, Mère Mathilde, kommt jeden Vormittag und führt ihr den Haushalt …

Und das hat sich abgespielt. Monsieur Tabarot, der Posthalter von Itteville, kam herunter nach Ballancourt, um wie jeden Freitag mit dem Gemeindeschreiber eine Runde Karten zu spielen.

Um halb zehn radelt er zurück, es ist mühsam bei dem Gegenwind. Hundert Meter von dem einsamen Haus entfernt, sieht er auf der Straße schemenhaft Menschen stehen. Er hört die Rufe einer Frau.

Kaum ist er abgestiegen, da stürzt ihm das blonde Fräulein entgegen, mit offenem Haar und das Kleid voller Straßenkot, packt ihn am Arm und schreit wie von Sinnen: ›Schnell! … Verständigen

Der Posthalter ist keiner, der sich unter Zeitdruck setzen lässt, schon gar nicht, wenn es eine Entscheidung zu treffen gilt. Er geht zu dem Mann, der da auf der Straße liegt. Er zögert. Er streckt die Hand aus. Vorsichtig befühlt er die Brust, so wie man einen Hund streichelt, bei dem man nicht sicher ist, ob er gleich beißt.

Der Mann atmet nicht. Ganz steif fühlt er sich an. Im Schein der Fahrradbeleuchtung ist ein Gesicht zu erkennen.

›Das ist ja Doktor Canut!‹

Das blonde Fräulein hat sich wieder neben den Toten gekniet. Sie stöhnt. Sie klagt. Ihr durchnässtes Haar hängt ihr ins Gesicht. Das schwarze Seidenkleid klebt ihr am Leib.

Der Posthalter radelt weiter, verärgert, missgestimmt. Zwei- oder dreimal dreht er sich noch um, dann tritt er mit voller Kraft in die Pedale, plötzlich ängstigt ihn die Dunkelheit um ihn herum, der heulende Wind, die knackenden Äste.

Wie wild klingelt er an der Polizeiwache.

›Schnell! … Ein Verbrechen! … Doktor Canut … An der Kreuzung zum Toten Hengst …‹

So heißt diese Straßenkreuzung nämlich seit vier- oder fünfhundert Jahren – warum, weiß längst niemand mehr.

Die drei Radfahrer kommen an die Kreuzung. Die Umrisse der Frau sind zu erahnen, sie jammert und klagt noch immer.

Nur der Posthalter reißt die Augen auf und stammelt, am Rande der Ohnmacht:

›Das ist er nicht! … Schaut doch!‹

Der Leichnam sieht nun wirklich nicht aus wie Doktor Canut, der ja in der ganzen Gegend bestens bekannt ist. Aber er liegt genau an derselben Stelle! Und er ist wirklich tot! Ein Messer wurde ihm mitten ins Herz gerammt!

Das blonde Fräulein scheint nicht zu begreifen. Sie schaut die Polizisten mit irrem Blick an, wie eine Verrückte.

›Ist jemand dagewesen?‹

›Nein! … Niemand!‹

Die beiden Polizisten fühlen sich nicht viel besser als der Postbeamte. Teilnahmslos verhören sie die junge Frau.

›Ich war zu Hause … Ich habe Schreie gehört … Ich bin hingelaufen, und da habe ich gesehen …‹

›Haben Sie den Mörder gesehen?‹

›Nein!‹

›Und es ist nicht jemand dagewesen, der die Leiche ausgetauscht hat? … Sind Sie die ganze Zeit hiergeblieben?‹

›Sind Sie sicher, dass Sie Doktor Canut richtig erkannt haben? …‹

›Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe!‹

Man muss G7 in einer solchen Lage gesehen haben. Ärgerlich blickt er drein, wie ein Mann, den man gerade übel auf die Schippe nimmt. Er spielt mit seiner Uhrkette, schnäuzt sich die Nase und schaut finster in die Runde.

»Wurde Doktor Canut gefunden?«

»Verdammich! … Ich war natürlich auch schon drauf gekommen, bei ihm zu Hause anzurufen … Und? Der Doktor selbst ging ran … Er war gerade von La Ferté heimgekommen, sechs Kilometer von hier, wohin er zu einer Geburt gerufen worden war …«

»Und er behauptet, keinen Fuß auf die Kreuzung gesetzt zu haben?«

»Verdammich! Der begreift’s einfach nicht … Der Mann ist allseits bekannt, sogar in Paris … ein paar hundert Meter von Itteville hat er eine große Klinik … Zugleich ein Sanatorium … Verstehen Sie? … Er operiert vor allem am Kopf … Aber wenn nötig, hilft er auch den Leuten auf dem Land, wenn es pressiert, zum Beispiel bei einer Geburt …«

»Was haben Sie dann getan?«

»Ich habe in Paris angerufen, um die Kriminalpolizei zu verständigen … Dann habe ich zwei

Unterwegs kam es mir so vor, als bewegte er sich ein wenig … War vielleicht Einbildung … Sie kennen das ja … Man ist nervös … Vor allem nachts … Dann haben wir ihn in der Klinik abgeliefert … Der Doktor war da, im weißen Kittel, er machte gerade Visite …

Das Opfer wurde bei Licht untersucht … Von Person keinem bekannt, männlich, in den Dreißigern, recht gut gekleidet … Tot …

Und dann bin ich hierhergefahren, um auf Sie zu warten, während mein Kollege den Bericht schrieb …«

Und er setzte hinzu:

»Dabei ist der Posthalter einer, der nur Erdbeerlimonade trinkt.«

»Und das blonde Fräulein?«

»Die ist zu Hause … Ich habe Mère Mathilde verständigen lassen, damit sie auf sie aufpasst.«

Der Brigadier, der gegen den Sturm anschreien musste, wurde allmählich heiser.

»Fahren wir zu Doktor Canut!«, sagte G7.

In solchen Augenblicken ist es zum Verrücktwerden. Zehnmal hatten wir den Motor in dieser Nacht wieder zum Laufen gebracht. Und jetzt wollte er nicht mehr anspringen! Ich musste die Kurbel nehmen. Fünf Minuten später war ich

Wir fuhren im Schritttempo und passierten Itteville, wo in den Fenstern der Bauernhöfe allmählich die Lichter angingen.

Die Klinik liegt ein wenig außerhalb, Richtung Arpajon.

Ein helles Bauwerk, umgeben von Mauern, im Park ein paar verstreute Bauten.

Fünf oder sechs Lichter.

Das Auto fuhr laut genug durch das Tor, um alle Kranken zu wecken. Eine Krankenschwester machte uns auf, führte uns in ein hochglanzpoliertes Büro und verkündete:

»Der Doktor kommt gleich.«

Unsere Kleidung begann zu dampfen.

Gleichmäßige Schritte. Ein Mann tritt ein, betrachtet uns, verbeugt sich leicht.

»Kriminalpolizei? … Ich warte schon auf Sie … Ich habe die Zeit inzwischen genutzt und eine kleine Operation vorgenommen …

Nehmen Sie Platz, Messieurs … Wenn Sie mir Fragen stellen möchten …«

Ich gestehe, dass ich nach einer Wunde Ausschau hielt. Ich musterte ihn vom Scheitel bis zur Sohle und fragte mich, wo er wohl getroffen sein konnte.

»Kennen Sie das blonde Fräulein, das an der Kreuzung zum Toten Hengst wohnt? …«

»Wer ist sie?«

»Keine Ahnung … Alles was ich weiß, ist, dass sie vor etwa drei Jahren dort eingezogen ist, nachdem sie zuvor bei mir in der Klinik zu einer Konsultation war … Sie wollte hier stationär aufgenommen werden … Ich glaube nicht, dass ich gegen das Arztgeheimnis verstoße, wenn ich Ihnen verrate, dass sie Angst hatte, dem Wahnsinn zu verfallen … Sie hatte mir von Fällen in ihrer Familie erzählt … Mir fiel auf, dass sie tatsächlich …«

»… verrückt ist?«

»Warten Sie! Nicht verrückt genug, um bei mir aufgenommen zu werden … Aber es steht außer Frage, dass sie zumindest eine Neigung zum …«

»Gestern Abend waren Sie nicht bei Ihr?«

»Nein, nur gestern Morgen …«

»Hatte sie da Anzeichen von …«

»Allenfalls eine gewisse Unruhe …«

»Haben Sie bei ihr zu Hause je einen Mann gesehen?«

»Nein, nie …«

»Kennen Sie jemanden aus ihrem Freundeskreis, aus ihrer Familie?«

»Nein!«

»Um wie viel Uhr haben Sie die Klinik verlassen?«

»Mit dem Auto?«

»Nein! Ich fahre nachts nicht gern Auto, vor allem bei Nässe … Ich habe das Fahrrad genommen.«

Er folgte dem Blick von G7, der von seinen Schuhen bis zum makellosen Hemd wanderte.

»Als ich gegen elf nach Hause kam, habe ich mich natürlich umgezogen, weil ich bis zu den Knien verdreckt und klatschnass war …«

Unsere Kleidung dampfte noch immer.

Und ich betrachtete die hellen, gepflegten Hände von Doktor Canut und die Rosette der Légion d’honneur, ein kleiner roter Farbtupfer auf seinem Revers.

»Eine Entbindung?«

»Die Frau vom Schumacher in La Ferté …«

»Erzählen Sie etwas über den Toten …«

Er machte eine allgemeine Geste.

»Ein Mann um die dreißig, gut gekleidet, gepflegt. Alkoholikerleber. Zahnstatus schlecht. Die Klinge, vermutlich ein schlichtes Küchenmesser, ist zwischen den Schulterblättern eingedrungen, von oben nach unten, und hat das Herz getroffen. Mit sofortiger Todesfolge …«

»Wo ist er jetzt?«

Zwei Finger weisen zum Fenster.

»Wenn Sie gestatten …«

Er drückte einen Klingelknopf. Unverzüglich trat eine Krankenschwester ein.

»Bringen Sie die Herren zu Haus R …«

Und zu uns gewandt:

»Sie entschuldigen mich, dass ich Sie nicht begleite … Ich muss nach meinem Frischoperierten sehen, der noch im Aufwachraum ist … Wir sehen uns später noch?«

»Höchstwahrscheinlich …«

Draußen umfing uns eine fahle Morgendämmerung, die das Unwetter noch dramatischer erscheinen ließ. Die großen Bäume des Parks waren in Aufruhr. Ein abgebrochener Ast lag quer über dem Weg. Düstere Wolken rasten an den Türmchen vorbei.

»Hier entlang, Messieurs …«

Die Krankenschwester hatte sich einen grünlichen Mantel umgehängt, ohne in die Ärmel zu schlüpfen. Der Kies knirschte unter unseren Schritten. Irgendwo muhte eine Kuh.

Es gab fünf solcher Bauten, alle in gehörigem Abstand zueinander. In einem war eine Haushälterin damit beschäftigt, Kaffee zu kochen.

Über einen Pfad ging es bis ans Ende des Parks.

Die Tür knarrte. Ein Luftzug kam uns entgegen, und mit ihm der starke Geruch von nasser Kleidung und Desinfektionsmittel.

Gekalkte Wände. Ein Fenster stand weit offen. Ein Feldbett, bedeckt mit einem blässlichen Laken.

Aber niemand darunter!

»Und der Tote?«

Die Krankenschwester schaute überall nach und murmelte fassungslos:

»Na, so was! … Eben war er noch da!«

Ich weiß nicht, warum mich auf einmal so schauderte. Es kam wohl von dem Luftzug in meiner durchnässten Kleidung, nach dieser Nacht ohne Schlaf.

Keine Spuren auf dem gefliesten Boden. G7 lehnte sich ans Fenster, stieg hinaus und kam zurück mit einem Stückchen Pappe, das sich als eine Fotografie erwies, die im Dreck gelegen hatte.

Ich kam näher, um sie zu betrachten. Sie war ein blondes junges Mädchen von bezaubernder Schönheit und besonders feinen Gesichtszügen, das wehmütig in die Kamera lächelte. Darunter mit Tinte zwei Worte: »Herzlichst, Wanda.«

Der Brigadier, der uns gefolgt war, brummelte etwas vor sich hin. Ich glaubte zu verstehen:

»Na, so was! Wenn sich die Leichen immer so aus dem Staub machen!«

Draußen tuckerte der kleine Citroën vor sich hin – wir hatten vergessen, den Motor abzustellen –, als wollte er am liebsten ganz allein über die graue Straße davonfahren.

Einen tristeren Morgen als diesen habe ich nie erlebt, wie der Wind wehte, wie sich die Bäume bogen, wie die Blätter wirbelten, alles voller Schlamm, und wir drei, der Dorfpolizist, G7 und ich, durchnässt bis auf die Knochen, dampfend, ängstlich bedacht, keine Unruhe zu machen in dieser Krankenhausatmosphäre mit dem beklemmenden Chloroformgeruch.

Nur der Brigadier seufzte:

»Ah! Jetzt eine ordentliche Brotzeit und einen Schoppen Weißen …«

2 Auf der Suche nach den Toten

Ich höre sie noch, die ruhige Stimme von G7 in der stickigen Stille der Klinik. Der Ausdruck »ruhig« ist noch zu schwach. Man hätte denken können, dass wir im Café saßen und schon lange

»Wie schade, dass das hier kein Roman ist …«

Der Brigadier zuckte zusammen und schickte einen strafenden Blick zu dem jungen Mann, der es wagte, unter solchen Umständen von Roman zu sprechen. Und G7 sprach weiter, den Blick auf seine Schuhspitzen gerichtet:

»Weil, in einem Roman hätten wir ein gutes Dutzend mit Händen zu greifender Indizien, die etwas beweisen … Oder?«

Ich antwortete nicht. Nach einer Pause fuhr er fort:

»Zum Beispiel könnten Spritzer von einem bestimmten Schlamm darauf schließen lassen, dass Doktor Canut tatsächlich in La Ferté war zu der Zeit, als der Posthalter ihn an der Kreuzung zum Toten Hengst sah … Ein anderes Indiz würde beweisen, dass das blonde Fräulein das Auswechseln der Leichen nicht bemerkt hat … Dann würde sich die Aufgabe etwa so darstellen: Angenommen, der Doktor war in La Ferté, das Fräulein ist unschuldig, der Posthalter sagt die Wahrheit, und niemand hat den Schuppen betreten, aus dem der andere Leichnam verschwunden ist – berechnen Sie das Alter des Kapitäns … Verzeihung, ich wollte sagen: Rekonstruieren Sie den Tathergang …«

»Nichts leichter als das«, sagte ich, mein Ehrgeiz war erwacht, »es kann gut sein, dass der erste Leichnam nur als Lockvogel diente, um zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Passanten aufmerksam zu machen … Vielleicht handelte es sich gar nicht um einen Leichnam … Und es ist nicht ausgeschlossen, dass genau der Zeitpunkt gewählt wurde, wo bekanntermaßen der Posthalter des Weges kommt …

Da sehen Sie!«

»… dass es einfacher wäre, wenn es sich um einen Roman handelte! Denn hier gibt es, wie bei den meisten realen Kriminalfällen, kaum greifbare Hinweise, und wenn, dann beweisen sie nichts … Nehmen wir an, ich fahre nach La Ferté, um die Wöchnerin und ihre Familie zu verhören … Man wird mir sagen, dass der Doktor zu der und der Stunde gekommen sei … Aber ihre Uhr kann verstellt worden und vor- oder nachgegangen sein … Was den Posthalter angeht, so bin ich geneigt anzunehmen, dass er die Wahrheit sagt … Aber er war auf dem Heimweg in einer furchtbaren Nacht … Er hörte eine Frau schreien … Er war erschrocken über den niedergestreckten Körper … Außer seinem Fahrradscheinwerfer gab es kein Licht … Reichlich genug Gründe, dass er sich getäuscht haben könnte …«

»Vielleicht war es einfach eine Puppe.«

»Vielleicht war es Doktor Canut …«

Gerade in diesem Augenblick stand der Letztgenannte im Türrahmen – wir hatten ihn nicht kommen hören – und sagte mit einer leichten Verbeugung:

»Wenn die Herren erlauben, frühstücken wir zusammen. Meine Frau erwartet uns …«

 

Ein prachtvolles Haus, an dem nichts an eine Klinik erinnerte. Ein geräumiges Esszimmer, im Kamin loderte ein Holzfeuer. Makellose Bedienung.

Und Madame Canut, eine Frau in den Vierzigern, ganz Dame von Welt, hieß uns mit ausgewählt guten Manieren willkommen.

Kurz und gut, das Ambiente eines gut situierten bürgerlichen Familienlebens. Ein gepflegter Stil, von den jüngsten Vorkommnissen so in Andeutungen zu sprechen, als vermiede man die Berührung.

»Dieses Mädchen wirkte immer etwas eigenartig …«, sagte zum Beispiel Madame Canut, »aber ich hätte nie gedacht, dass sie eines Tages in so eine schlimme Sache verwickelt sein könnte …«

Bald darauf verließ Madame Canut das Zimmer.

»Mir bleibt nichts anderes übrig, meine Herren«, sagte der Doktor schließlich, »als Sie vollständig in

Er wirkte ernst, geradezu traurig. Etwas Feierliches lag in seiner Haltung.

»Der Posthalter, ein vortrefflicher Mann, hat geglaubt, mich tot auf der Straße liegen gesehen zu haben … Wie Sie sehen, geht es mir gut, und Ihre Ermittlungen werden ergeben, dass ich zur selben Stunde in La Ferté-Alais war …«

Unwillkürlich musste ich daran denken, was mir G7 vorhin gesagt hatte: Man wird mir sagen, dass der Doktor zu der und der Stunde gekommen sei … Aber was beweist mir, dass ihre Uhr nicht verstellt worden war und vor- oder nachging …

Und wieder begann ich unbewusst, den gut gekleideten und höflichen Mann auf eine Verletzung hin abzusuchen. Mit den Blicken tastete ich seinen Rumpf ab, als wollte ich einen Verband unter der Weste erkennen. Dann betrachtete ich den Kopf …

»Bitte entschuldigen Sie mich, ich muss mich meinen Patienten widmen … Das Wichtigste ist wohl – aber ich brauche Ihnen ja keine Ratschläge zu erteilen –, dass der Leichnam gefunden wird, der zweite, der echte, den ich selber untersucht habe …

G7 blieb schüchtern auf der Stuhlkante sitzen, die Lider gesenkt, bescheiden, scheu, schweigsam.

Man muss sich das lebhaft vorstellen, wie er, als sagte er das Natürlichste, das Banalste von der Welt, die Worte sprach:

»Ich glaube, ich werde nur noch einmal hierherkommen müssen, heute Abend, wenn meine Ermittlungen abgeschlossen sind …«

Dem Brigadier blieb der Mund offen stehen. Dem Doktor huschte der Hauch eines Lächelns über seine glatt rasierten Wangen.

Wenig später waren wir in Itteville. Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Wind trieb noch immer mächtige Wolken vor sich her. Das Dorf war in Aufruhr, denn man hatte mitbekommen, dass etwas geschehen war, aber niemand wusste genau, was. Wo wir auch vorbeikamen, immer regte sich etwas am Fenster hinterm Vorhang. Der Brigadier schlug vor:

»Wollen wir nicht ein Gläschen trinken?«

G7 schien das überhört zu haben. Seine Karre hatte er vor dem Kliniktor geparkt. Wir stiefelten die aufgeweichte Straße hinauf und bogen ab auf den Weg, der zum Toten Hengst führte.

»Glauben Sie wirklich, dass Sie die Ermittlungen bis heute Abend abgeschlossen haben?«

»Keine Ahnung …«

Er zuckte die Achseln und ging weiter, mit gesenktem Blick. Das Korn begann zu sprießen auf den Feldern, die weite Flur, keineswegs in kleine Felder zerstückelt, erstreckte sich rechts von uns ins Unabsehbare. Großflächige landwirtschaftliche Nutzung. Ein Hof war nirgends zu sehen. Eine Scheune gewaltigen Ausmaßes signalisierte beeindruckend die reiche Ernte.

Neben der Scheune eine verrostende Dampfmaschine. Da und dort über die Ebene verstreut landwirtschaftliche Gerätschaften und Traktoren.

Ich zählte wohl zehn Vogelscheuchen, die ab und an den Arm zu uns ausstreckten.

Der Brigadier ertappte mich bei diesem staunenden Blick.

»Das gehört alles den Piquettis, aus Paris … ihnen gehört hier das halbe Land … Allein das Jagdrecht verpachten sie für fünfzigtausend im Jahr … Das zieht sich hinüber bis zu den Weihern von Ballancourt …«

G7 wirkte geistesabwesend. Als wir beim Haus an der Kreuzung ankamen, ging er zum Gartentor und läutete, als wäre das die größte Selbstverständlichkeit.

Minutenlang tat sich nichts.

Schließlich öffnete uns Mère Mathilde, eine ältere kleine Bäuerin in schwarzer Kleidung.

»Wohl die Kriminalpolizei?«, fragte sie genervt.

Am Fuß der Treppe begegneten wir der jungen Frau, die gerade herabkam, wogenden Schrittes, geradezu feierlich.

Sie trug ein eng geschnittenes schwarzes Seidenkleid, das ihre Hüften und Brüste zur Geltung brachte.

Auf dem Kopf ein regelrechter Helm aus leuchtend blondem Haar.

Helle Augen, wie von Tränen ausgewaschen, die uns teilnahmslos anblickten.

Der Zauber begann!

Selten trat mir so deutlich vor Augen, wie distanzlos, wie brutal, wie deplatziert ein kriminalpolizeiliches Verhör ist.

Dabei blieb G7 schüchtern und höflich, allzu höflich.

»Sind Sie Mademoiselle Wanda?«

Sie blickte jeden von uns dreien an und antwortete dann wie auswendig gelernt:

»Ich heiße Marthe Templier …«

»Sag ich ja!«

Ich sagte Zauber. Und was für ein merkwürdiger Zauber. Zuerst war es ein leicht verrücktes Gefühl: Seit dem Augenblick, da ich die junge Frau die Treppe herabkommen sah, hatten sich für mich Wirklichkeit und Einbildung vermischt.

Der Brigadier schnaufte wie ein Mops, und das zeigte mir, dass er genauso nervös war wie ich.

Getreulich notiere ich den Dialog, der sich nun entspann.

»Was taten Sie, als der Doktor gestern Abend Ihr Haus verlassen hatte?«

Ein Augenaufschlag. Ein wässriger Blick hinüber zu G7.

»Morgens war er da …«

»Aber Sie haben einen Schuss gehört?«

»Nein! Nur ein Stöhnen auf der Straße …«

Sie hatte eine sehr gute Haltung. Mir fällt kein besserer Vergleich ein als die hochgewachsenen, gertenschlanken Frauen bei Botticelli.

»Und Sie haben den Doktor erkannt?«

»Gar niemanden habe ich erkannt … Ich habe nur geschrien … Es kam ein Mann, mit dem Fahrrad … Und er fuhr wieder … Ich hatte große Angst … Ich fürchte mich vor dem Tod …«

Das Blau ihrer Augen verschwamm in ein trübes Grau …

»Wer hat den Leichnam ausgetauscht?«

»Den Leichnam ausgetauscht?«, wiederholte sie geistesabwesend.

»Ist niemand in Ihre Nähe gekommen?«

»Die Polizisten, das wissen Sie doch …«

»War der Doktor Ihr Geliebter?«

Mit Blicken ermordete ich G7, aber die junge Frau ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, und ihre Antwort war großartig:

»Welcher Geliebte?«

»Blieb er manchmal länger?«

»Länger?«

Da kam die Haushälterin wie eine Furie aus dem Nachbarzimmer geschossen und rief mit ordinärer Stimme:

»Quälen Sie sie immer noch weiter? Sie wird noch zusammenbrechen. Und wer kümmert sich dann um sie, Sie ja wohl nicht!«

»Hat sie öfter Zusammenbrüche?«

Und Marthe Templier wiederholte:

»Was für Zusammenbrüche?«

Und dieser Hundling von G7 blieb immer noch ruhig und notierte sich dabei noch etwas in ein schmutziges Notizbuch, das er immer bei sich trug!

»Kennen Sie den Toten von heute Nacht?«

»Er ist also tot, nicht wahr?«

»Kennen Sie ihn?«

»Ich weiß nicht … Ich habe ihn nie gesehen … Er

»Aber finden Sie es nicht unheimlich, allein in diesem Haus zu leben …«

Verständnislos blickte sie ihn an.

»Denn Sie waren jede Nacht allein, sogar an den Nachmittagen …«

»Lassen Sie sie doch endlich in Ruhe«, murrte Mère Mathilde, die Hände in die Seiten gestützt. »Wozu soll das denn gut sein, ein armes Fräulein so auszufragen. Sie ist doch wie ein Kind …«

Die junge Frau nahm die Hand von der Stirn und stammelte:

»Mir ist kalt …«

Wir fühlten uns wie drei Folterknechte, und zu ihrer Verteidigung hatte sie nur eine grobschlächtige Bäuerin.

»Wie schade, dass Sie nie Wanda hießen …«

»Ja! Ein schöner Name …«

»Haben Sie einen Ausweis?«

Sie blickte um sich, als suchte sie nach dem, was man von ihr verlangte, und erwiderte mit einem unmerklichen Lächeln:

»Ich glaube kaum … Mathilde …«

Unvermittelt änderte sich ihr Ausdruck. Wie heraufziehende Gewitterwolken, die in Windeseile den ganzen Himmel verdunkeln, breitete sich der Schleier der Angst über sie.

Sie stieß einen heiseren Schrei aus, richtete den Blick auf uns und zugleich durch uns hindurch, wich entsetzt zurück.

»Dumm gelaufen!«, knurrte ich, zu G7 gewandt.

Der saß mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem Sessel. Die ersten Worte, die er sprach, verblüfften mich mehr als alles, was zuvor gewesen war.

»Sagen Sie mal«, rief er dem Dorfpolizisten zu, »könnten Sie mir ein gutes Gewehr besorgen? … Auf der Wache haben Sie doch sicher eines … Dreihundert Meter weit sollte es schon schießen …«

Und zu mir gewandt:

»Sie sind ein ganz guter Schütze, nicht wahr?«

Nebenan schluchzte die verstörte junge Frau in den Armen der Haushälterin.

»Um auf sie zu schießen?«, sagte ich wütend.

Er zuckte die Achseln und forderte den Brigadier mit einem Zeichen auf zu holen, was er von ihm verlangt hatte.

»Sie können sich was drauf zugute halten, dass Sie heute unerträglich sind.«

»Wie spät ist es?«, fiel er mir ins Wort.

»Zehn!«

»Welche Uhrzeit hatte ich dem Doktor genannt, wann die Ermittlungen abgeschlossen wären?«

»Sie haben sich nicht auf eine Uhrzeit festgelegt … Sie haben nur von ›heute Abend‹ gesprochen …«

Ich folgte ihm, schlecht gelaunt und darauf bedacht, ihm meine Missbilligung zu zeigen. Immerhin war er diskret genug, nicht ins Esszimmer einzudringen, wo die junge Frau noch immer schluchzte.