Rudolf Thome: Werk und Kontext

Eine Einleitung

»Woody Allen dreht und dreht und dreht. Und macht mich eifersüchtig«,1 twitterte Rudolf Thome am 24. Oktober 2017 anlässlich der gerade begonnenen Dreharbeiten des zum Zeitpunkt der Meldung 81-jährigen US-amerikanischen Filmregisseurs. Im (gar neidischen) Blick des vier Jahre jüngeren Thomes auf den weiterhin produktiven Kollegen und in dem damit verbundenen Offenlegen einer inneren Befindlichkeit stellt sich die Frage nach dem eigenen Werk, dem eigenen Schaffen und Aktivsein, selbst wenn zuvorderst nicht von ihm selbst die Rede ist. Denn auch Thome will drehen und drehen und drehen, will weitermachen, sich mitteilen, gehört und, mehr noch, gesehen werden. Thomes letzter Spielfilm, INS BLAUE,2 feierte 2012 seine Premiere, weitere Projekte, an denen es ohnehin nie mangelte, scheiterten bislang. Thome zog sich auf das Verfassen seiner Autobiografie zurück, auf das Rückschau-Halten, darauf, das (eigene) Leben in eine Form, in ein Narrativ zu bringen.

Thomes Werk allerdings wurde bereits vorher zusammengefasst: Bis auf wenige Ausnahmen liegen seine 28 Langfilme kaufbereit auf DVD vor,3 sein Werk kann komplett digital gestreamt werden.4 Und auch die Literatur schaut auf das Œuvre: Im 2010 von Ulrich Kriest herausgegebenen Band Formen der Liebe5 versammeln sich alte und neue Texte zum und vom Regisseur, kommen er und andere Weggefährten zu Wort. Kriest und seine Autoren erkunden in ihren Beiträgen die oftmals widersprüchlichen Beobachtungen in den Filmen des Regisseurs, beschreiben Thome als einen »Ethnograf(en) des Inlands«6 und attestieren seinen Filmen trotz dieser Zuschreibung immer wieder einen märchenhaften Blick auf die (meist bundesdeutsche) Welt. Jedoch wird der Widerspruch schnell offensichtlich, wenn die Texte Adjektive wie realistisch oder gar magisch benutzen, die zunächst, wenn man Thomes Filme nicht kennt, kaum zueinander passen wollen, gar dichotomisch im harten Gegensatz zueinander stehen.

Kriests Band wie auch die kaum freiwillige Unterbrechung von Thomes filmischem Schaffen werfen durchaus die (alte) Frage auf, wann das Werk eines Künstlers abgeschlossen ist, was Teil von ihm ist, vielleicht gar überhaupt Teil sein kann und was nicht. Doch eingebunden in die Frage nach dem jeweiligen Werk, nach dem einzelnen Film oder dem spezifischen Regisseur, steht die Frage nach dem, was es abseits dieser Instanzen bereichern kann, es leichter kommunizierbar, erklärbar, aber auch analysierbar macht, und somit den Blick für und auf die Kontexte öffnet. Denn ohne diese Kontexte würde sich auch das Werk des Regisseurs drehen und drehen und drehen, und zwar nur um sich selbst, es würde zum eigenen selbstreferenziellen (und damit meist auch geschlossenen) System (ohne Schatten) werden, zum eigenen Genre, das so zwar leichter zu vermitteln ist, jedoch auch dazu neigt, den Blick zu versperren auf jene offenen Fragen und spannenden Reibungen, die sich aus den fehlenden Kontexten ergeben.

Einer dieser Kontexte ist das Eingewobensein der Filme Thomes in die (bundesdeutsche) Filmgeschichte, das Verweisen des einzelnen Films auf eine Vielzahl von anderen Filmen, auf das Kino (aber auch das Fernsehen) als Medium, auf die Zirkulation von Bildern und letztlich auch auf große, schwere Worte wie Gesellschaft und Kultur. Dort, in den 1960er Jahren, wird dieser Kontext konkret, gar politisch, meint das Geschehen hinter der Kamera, noch ehe diese angeworfen wird, meint die Reaktionen der Oberhausener auf »Papas Kino« und die Reaktion der Münchner auf deren Versuch eines Ikonoklasmus des gängigen zeitgenössischen Kinos. Inmitten dieses westeuropäischen Umbruchs der Filmgeschichte spielt die Frage nach den Vorbildern eine große Rolle: Der Blick in die eigene Vergangenheit, der nach diesen möglichen Vorbildern Ausschau hielt, konnte nur im nicht kontaminierten Weimarer Kino fündig werden, der Blick in die zeitgenössische Gegenwart wurde es bei den französischen Nachbarn (und damit auch in deren Blick auf das US-amerikanische Genrekino), die diesen Kampf schon erfolgreich gefochten hatten. Thomes Filme, und durchaus auch die der neuen Münchner Gruppe,7 beziehen Mitte der 1960er Jahre eine Position abseits von Oberhausen, ohne sich jedoch völlig davon lösen zu können, und nehmen gerade in diesem Dazwischen eine Mittlerstelle ein, die zwischen den ernsthaften und auf manche Zeitgenossen vielleicht sogar bieder wirkenden, grauen Bildern des Jungen Deutschen Films und den farbintensiven Produktionen des bundesdeutschen Produzenten- und Unterhaltungskinos eine mögliche Synthese definiert. Hinter der Kamera nahmen Thome, Klaus Lemke und Max Zihlmann all jene Ideen auf, die die Nouvelle Vague den Oberhausenern mit auf den Weg gegeben hatte: die Liebe zum Kino, die zuerst zum Schreiben8 über den Film9 führte und dann zum unstillbaren Drang, diese Liebe umzusetzen, unabhängig von der eigenen Praxiserfahrung oder des permanent fehlenden Budgets. Auch hier: Formen der Liebe noch vor dem eigentlichen Bild.

Thomes Filmschaffen begleitet und formt die bundesdeutsche Filmgeschichte seit Mitte der 1960er Jahre kontinuierlich, und dies obgleich ihm nicht der Erfolg der früheren, wie Alexander Kluge und Edgar Reitz, oder späteren Kollegen, wie Wim Wenders oder Rainer Werner Fassbinder, zuteilwird, was auch immer eine mögliche Erklärung für das Ausbleiben dieses Erfolgs sein könnte. Doch formiert sich (eine mögliche) Filmgeschichte nicht nur aus jenen Produktionen, die hohe Einspielergebnisse vorweisen können oder (und eben nicht und) sich dem Wohlwollen der Kritik gewiss sein können, selbst wenn der maßgebliche Einfluss der Filmkritik(er) auf das Schreiben der Filmgeschichte bis heute erstaunlich groß ist, das eine hoch und das andere niedrig hält. Filmgeschichte findet im Dazwischen statt,10 zwischen den Filmen, zwischen den Künstlern und deren Eingebundensein in die historischen Abläufe und Umbrüche. So fallen in die Schaffenszeit Thomes die Unruhen der 68er-Bewegung, der Terror des Deutschen Herbstes und die Ereignisse der Wiedervereinigung des deutschen Staates, die aufsteigende Konkurrenz des Fernsehens, der Siegeszug des Videorekorders und die Dominanz digitaler Kommunikationsmittel. Zu fragen wäre für Thomes Filme daher nicht, ob seine Filme sich zu dieser Geschichte verhalten, sondern wie, und sei es lediglich ex negativo. Denn auch die Beobachtungen der Alltäglichkeit, wie sie Thome attestiert werden, können nicht aus ihrem Umfeld losgelöst werden, sind niemals ahistorisch, sondern beziehen sich immer auf jene Zeit und jene Welt, in der sie entstehen. Zu behaupten, ein Film wie Thomes LIEBE AUF DEN ERSTEN BLICK (1991) sei kein Wendefilm,11 wäre so nicht nur schlicht, sondern auch schlicht falsch.

Das genaue Hinsehen, ein Merkmal der Reihe Film-Konzepte, bezieht sich hier auch auf die (Film-)Geschichte selbst, die den Rahmen bildet und an die Fragen zu stellen sind.12 Erst diese Fragen lenken somit den Blick auf die Filme selbst und mehr noch auf ihre Bilder – und dies direkt in zweifacher Hinsicht: Wenn Thome selbst, die Filmkritik und der Zuschauer Verbindungen ziehen zur Filmgeschichte, hier Kontexte ausfindig machen und eröffnen, zu Friedrich Wilhelm Murnau,13 zu Howard Hawks, zu Éric Rohmer, zu Jacques Rivette,14 so wäre durchaus zu fragen, was es mit diesen Verweisen auf sich hat, wie die Bezüge auf das Vorhergegangene und das Nachfolgende wirken können und operationalisierbar werden.15 Bleiben sie bloße Behauptung, sind sie ein Mittel der Werbung, um Neues durch Altes zu bewerben, den Liebhaber des einen zum Liebhaber des anderen zu machen, dann haben sie dort ihren Platz und somit ihren Zweck erfüllt. Welche Aussagen über Filmgeschichte können aber getroffen werden, wenn in der Analyse nach dem Bezug der Bilder zueinander gefragt wird, danach, wie sie sich gegenseitig kommentieren, erhellen und in ihrer Zirkulation stützen? Was ergibt sich, wenn diese Vergleiche ernst genommen werden, im Bild, aber auch im zeitgeschichtlichen Kontext? Wie funktioniert der Bezug Thomes auf die Filmgeschichte und wie der Rückgriff der Filmgeschichte auf Thome?16 Bei der Konzeption galt es daher weniger, Thomes Werk in Phasen einzuteilen, über deren Eingrenzung (als Begrenzung verstanden) immer zu verhandeln wäre, sondern die Filme (und die in ihnen zu findenden Motive) an den konkreten historischen Moment und Ort des jeweiligen Films zurückzubinden.

Thomes Befürchtung, aus dem Gedächtnis der Filmgeschichte zu verschwinden,17 geäußert in Serpil Turhans Dokumentation über den Regisseur, RUDOLF THOMEÜBERALL BLUMEN (2016),18 die der persönlichen Stimmung des Rezipienten folgend als optimistisch oder melancholisch gelesen werden kann, muss so entkräftet werden. Dem Fortwirken von Thomes Bildern, und somit auch seiner Filme, kann nachgespürt werden. Man kann Fassbinders LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD (1969) auf Jean-Pierre Melvilles LE SAMOURAÏ (DER EISKALTE ENGEL, 1967) beziehen, doch zwischen ihnen (ent-)steht DETEKTIVE (1969). Schon in ROTE SONNE (1970) fährt Marquard Bohm19 gemeinsam mit Uschi Obermaier einen roten Käfer in den Starnberger See, bevor es ihm Hanns Zischler in Wim Wenders’ IM LAUF DER ZEIT (1976) gleichtut – es schien Mode zu sein,20 kommentiert es Michael Althen im Zusammenschnitt der beiden Szenen in der gemeinsam mit Hans Helmut Prinzler realisierten Dokumentation AUGE IN AUGEEINE DEUTSCHE FILMGESCHICHTE (2008). Bereits in SYSTEM OHNE SCHATTEN (1983) trägt Bruno Ganz einen langen schwarzen Mantel und Schal und blickt einer französischen Schauspielerin21 (Dominique Laffin statt Solveig Dommartin) tief in die Augen, bevor ihn Wenders in DER HIMMEL ÜBER BERLIN (1987) neben Otto Sander auf der Berliner Siegessäule positioniert. Gewiss, dies sind Momentaufnahmen, das Wiederfinden des einen Bildes im Film eines anderen, mögliche Anspielungen, die im besten Fall als Hommage gelten, im schlimmsten als Kopie. Dennoch wird anhand dieser Beispiele deutlich, wie sich Filmgeschichte auch lesen (und konstruieren) lässt, wenn das Spektrum des in den Blick zu nehmenden Gegenstands erweitert wird und sich so etwas wie ein Werkbegriff erst in den Möglichkeiten des Kontexts entfaltet. Nach eben diesen Kontexten möchte der vorliegende Band der Film-Konzepte anhand der Filme und des Schaffens Rudolf Thomes fragen.

So möchte ich neben den Reihenherausgebern der Film-Konzepte wie auch den beitragenden Autoren vor allem Rudolf Thome, Birgit Kohler und Serpil Turhan, Michelle Koch, Yvonne Festl und Annika Schaefer für ihre Zusammenarbeit, Hilfe und Unterstützung bei der Erstellung dieses Hefts danken.

Tobias Haupts

März 2018

1 https://twitter.com/moanafilm14/status/922842112017813504 (letzter Zugriff am 27.11.2017). — 2 Vgl. den Beitrag von Christian Pischel im vorliegenden Heft. — 3 Meist erschienen in der Zweitausendeins Edition Der deutsche Film. — 4 Ausgenommen sind davon bisher nur seine sechs Kurzfilme. Zu finden auf dem Streamingportal des deutschen Films: www.alleskino.de. — 5 Formen der Liebe. Die Filme von Rudolf Thome, hg. von Ulrich Kriest, Marburg 2010. Dieses Heft der Film-Konzepte möchte somit stark an die Vorarbeiten von Kriest und anderen anknüpfen, sie vertiefen und ergänzen. — 6 Ulrich Kriest, »Rudolf Thome. Ein Ethnograf des Inlands«, in: Formen der Liebe. Die Filme von Rudolf Thome, hg. von dems., Marburg 2010, S. 10–28. — 7 Vgl. Enno Patalas, »Die Chance. Neubeginn im deutschen Film?« (1962), in: Provokation der Wirklichkeit. Das Oberhausener Manifest und die Folgen, hg. von Ralph Eue und Lars Henrik Gass, München 2012, S. 19–24. — 8 Zum Schreiben bei Thome vgl. den performativen Beitrag von Ekkehard Knörer im vorliegenden Heft. — 9 Vgl. den Beitrag von Friederike Horstmann im vorliegenden Heft. — 10 Vgl. Lorenz Engell, Sinn und Industrie. Einführung in die Filmgeschichte, Frankfurt am Main u. a. 1992, S. 10. — 11 Vgl. Josef Lederle, »Die Verwandlung. Zu Rudolf Thomes LIEBE AUF DEN ERSTEN BLICK« (1991), in: Formen der Liebe. Die Filme von Rudolf Thome, hg. von Ulrich Kriest, Marburg 2010, S. 150–156, hier S. 151. — 12 Durch die Konzentration auf die Erfolge bei Publikum oder Kritik gleitet ein Teil der deutschen Filmgeschichte ins Abseits, vielleicht gerade in den bereits angesprochenen Raum des Dazwischen, den es gilt, sichtbar zu machen. — 13 Vgl. den Beitrag von Michael Wedel im vorliegenden Heft. — 14 Vgl. den Beitrag von Gerhard Midding im vorliegenden Heft. — 15 Zur sprichwörtlich Nachfolgenden, Joya Thome, vgl. den Beitrag von Annika Schaefer im vorliegenden Heft. — 16 Vgl. dazu den Beitrag von Lukas Foerster im vorliegenden Heft. — 17 RUDOLF THOMEÜBERALL BLUMEN (2016, R: Serpil Turhan). — 18 Vgl. das Interview von Birgit Kohler mit Serpil Turhan im vorliegenden Heft. — 19 Vgl. den Beitrag von Jörg Schöning im vorliegenden Heft. — 20 AUGE IN AUGEEINE DEUTSCHE FILMGESCHICHTE (2008, R: Michael Althen und Hans Helmut Prinzler). Bezeichnenderweise wird zuerst Wenders’ Film und dann Thomes gezeigt. — 21 Zu den Frauen in den Filmen Rudolf Thomes vgl. den Beitrag von Norbert Grob im vorliegenden Heft.

Michael Wedel

Spiegelungen, Übertragungen, Verwandlungen

Thome, Murnau und DIE SONNENGÖTTIN

Konstellationen: Tätigkeiten und Lebensformen

In den Filmen Rudolf Thomes ordnen sich das Reisen, das Schreiben1 (beziehungsweise das Komponieren, Malen, Fotografieren) und das Lieben zu immer wieder anderen Mustern der Anziehung und Abstoßung. DER PHILOSOPH (1989) überführt die einsam schreibende Existenz von Georg Hermes – Autor eines Buchs über Die Liebe zur Weisheit, das sich als Anleitung zum Denken versteht – in eine liebende, die ebenso kenntnisreich wie hingebungsvoll von drei »Göttinnen der Liebe« angeleitet wird. DAS GEHEIMNIS (1995) beginnt mit der um mehrere Wochen verspäteten Rückkehr des Schriftstellers Karlheinz nach Berlin von einem Schreibaufenthalt samt Affäre in Spanien. Beim Eintreffen in der Wohnung muss er feststellen, dass seine Freundin Lydia das Türschloss ausgewechselt hat und nun mit einer Freundin zusammenlebt. Seinen Roman hat er beendet, seine Freundin ist er los. Ihre Freundin wird seine neue. Ob er noch ein Buch schreiben wird, erscheint fraglich.

Auch in anderen Filmen – Beispiele wären der Architekt Martin Berger in BERLIN CHAMISSOPLATZ (1980), der Philosophie-Professor Anton Bogenbauer in FRAU FÄHRT, MANN SCHLÄFT (2004), der Schriftsteller Johannes Kreuzberger in DU HAST GESAGT, DASS DU MICH LIEBST (2006), der Maler Marquard von Polheim in DAS SICHTBARE UND DAS UNSICHTBARE (2007) – hat es den Anschein, dass vor allem die männlichen Protagonisten bei Thome zumeist mit einer im weitesten Sinne künstlerischintellektuellen Tätigkeit ausgestattet werden, diese Tätigkeit im Verlauf der Filme jedoch zunehmend in den Hintergrund rückt und am Ende kaum noch eine Rolle spielt. Wie Ulrich Kriest vermutet, geht es ab einem bestimmten Punkt »wirklich nur darum, dass die Figuren von allen ökonomischen Zwängen befreit ihrer ›education sentimentale‹ folgen können«.2

Vielleicht lassen sich die Tätigkeiten, denen die Figuren Thomes nachgehen, jedoch treffender als Handlungs- und Vorgehensweisen oder (existenzieller) als Teil kreativer Lebensformen begreifen, die einander nicht einfach ablösen, sondern sich kombinieren, bedingen und auf vielfältige Weise ineinander verschlungen sind.3 So lassen die sieben Tage, die in PARADISOSIEBEN TAGE MIT SIEBEN FRAUEN (2000) der Komponist Adam anlässlich seines 60. Geburtstags mit den sieben Frauen seines Lebens (und seinem verlorenen Sohn) an einem abgelegenen Ort in Mecklenburg verbringt, eine Polyfonie von Lebensentwürfen erklingen, deren Dialektik von Dissonanz und Konsonanz für den Zuschauer im Verlauf des Films als biografische Matrix seiner modernistischen Musik erkennbar wird. In PINK (2009) sind es die Vortragsreisen der gleichnamigen Lyrikerin, die sie mit den drei Verehrern, die sie nacheinander heiraten wird, zusammenführen, ihre ersten beiden Ehen aber auch so zerbrechlich machen. Als sich durchdringende modi vivendi erscheinen das Schreiben, das Reisen und das Lieben als Katalysatoren einer Entwicklung, die das eine nicht einfach im linearen Fortschreiten der Handlung durch das andere ersetzt, sondern zum Anstoß nimmt und in verwandelter Form zum Ausdruck bringt. »Der Filmemacher (…) arbeitet nicht nach einem fertigen, in sich abgeschlossenen Modell (wie es ein Drehbuch darstellt), sondern setzt einen Prozess in Gang, dessen Wesen es ist, das, was gemacht werden soll, zu suchen, in dem Modell und Gestalt zusammenfallen, in dem (…) Inhalt und Form eins werden«,4 hat Thome seine Vorgehensweise einmal beschrieben.

Sofern sich dieser Bewegung, von der hier die Rede ist und die vor allem Thomes Spätwerk ab Mitte der 1980er Jahre immer wieder vollzieht, überhaupt eine gemeinsame Richtung unterstellen lässt, so besteht sie zunächst einmal nur darin, die Abstraktion der bloßen Zuschreibung künstlerisch-intellektueller Tätigkeiten an einzelne Figuren in eine Dimension zu überführen, die ihre Bedeutung, ästhetisch verwandelt, »konkret und sinnlich«5 hervortreten lässt.

DIE SONNENGÖTTIN (1993) ist in dieser Hinsicht trügerisch und erhellend zugleich. Der Verlauf der Handlung führt seine beiden Protagonisten – den New Yorker Filmkritiker Richard Todd (John Shinavier), der an einem Buch über den deutschen Stummfilm-Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau schreibt, und Martha (Radhe Schiff), die in Berlin mit schreienden Farben und expressiven Maltechniken experimentiert – von New York und Berlin auf eine griechische Insel und von der Filmgeschichte und der modernen Malerei zurück zu den mythischen Ursprüngen der westlichen Kultur. »Die Suche nach dem Geheimnis einer alten, griechischen Statue führt sie hin zu neuen Gedanken und Gefühlen: zu neuen Geschichten«, resümiert Norbert Grob die Bewegung des Films, um aus ihr den naheliegenden Schluss zu ziehen: »Auf Santorini, in der weißen Stadt Thira und am roten Strand im Süden, geben die beiden ihr altes Leben auf, um sich ganz neu zu finden. Sie lässt ihre Malerei, er vergisst Murnau.«6

Dass die Aufhebung der Tätigkeiten des Schreibens und Malens in die des Reisens und Liebens weniger die ruckartige Bewegung einer Ablösung vollzieht als eine schleichende Modulation von subjektiven Zuständen und mit ihnen verbundenen Praktiken, in denen weder die Arbeit am perfekten Bild verschwunden noch Murnau wirklich vergessen ist, wird von Grob zumindest suggeriert, wenn er die »langen, stummen Szenen«, in denen »die beiden ihre Faszination aneinander« feiern, als »Thomes Hommage auf Murnaus TABU (1931)« versteht: »Sie posiert, schwimmt, singt, tanzt, und er fotografiert sie dabei. Wobei die beiden sich immer nachhaltiger den Stimmen der Natur überlassen – dem Wasser, dem Licht und dem Feuer, den Wellen des Meeres, dem Wechsel von Sonne und Wolken, den wärmenden Flammen, dem wehenden Wind. Plötzlich singt sie in einer Sprache, die sie gar nicht kennt, und tanzt gedankenverloren ums Feuer, als folge sie einem alten Ritual.«7

Deutlich markiert ist hierbei allerdings die Differenz zwischen den Ebenen der filmischen Darstellung und des filmisch Dargestellten, zwischen dem Handeln und Denken der Figuren und ihrer Inszenierung durch den Regisseur: Martha mag die Malerei hinter sich gelassen, Richard Murnau vergessen haben; Thome, für den Murnaus TABU selbst »ein Mythos« und »der schönste Film aller Zeiten«8 ist, inszeniert seine Bilder jedoch jetzt erst Recht im Geiste des verehrten Vorbilds.

Spiegelungen: New York – Berlin

Dass es in DIE SONNENGÖTTIN um ästhetische Modulationen von Gefühlszuständen und subjektiven Wahrnehmungen gehen wird, legt bereits die prägnante Titelsequenz des Films nahe. Richard besucht zusammen mit seiner Mäzenin (Marie Soranno), die ihn beim anschließenden Abendessen mit einem Stipendium für seine Arbeit am Murnau-Buch und die notwendige Forschungsreise nach Berlin ausstatten wird, ein Konzert. Begleitet von zwei Bogenglocken, entlockt ein Musiker (Robert Rutman) mit intensiven, von der Kamera geduldig beobachteten Bewegungen seinem Stahl-Cello fremdartig erscheinende Klänge, die sphärisch nachhallen und in ihren tonalen Mustern fließend ineinander übergehen.

Variationen eines Themas bietet denn auch der erste Teil des Films, der in einer nahezu symmetrischen Spiegelkonstruktion die Situation in Richards New Yorker Appartement mit der in Marthas Berliner Wohnung verschränkt.

Bei Richards Rückkehr vom Abendessen wartet eine junge Frau (Susan Chesler), mit der er eine Woche zuvor eine Nacht verbracht hatte, vor seiner Wohnungstür auf ihn. Er trägt die beim Warten Eingeschlafene in seine Wohnung und legt sie aufs Sofa, stellt die von ihr mitgebrachte Rose in einer Vase auf den Kaminsims und setzt sich dann zum Schreiben an den Schreibtisch. Die junge Frau wacht auf, entkleidet sich und bittet um einen Gutenachtkuss. Sichtlich in seiner Arbeit gestört, kommt er ihrem Wunsch nach einem richtigen Kuss auf den Mund nach, belässt es aber dabei und stellt klar, dass er noch arbeiten müsse und sie jetzt schlafen soll. Als er wieder am Schreibtisch sitzt, ruft Martha an. Zunächst seufzt Richard über die erneute Störung, ist aber erfreut, als er feststellt, dass es Martha ist, und kündigt seinen Besuch in Berlin für die nächste Woche an. Während er im Bildhintergrund mit Martha telefoniert, sehen wir die junge Frau auf dem Sofa, wie sie die Augen aufschlägt und dem Gespräch folgt. Kurz bevor sich Richard von Martha mit einem »I love you« verabschiedet, wechselt die Kameraperspektive und schließt die junge Frau von unserem Blick aus. Nachdem er aufgelegt hat, springt die Perspektive in die vorherige zurück: »Do you call every woman ›baby‹?«, fragt die junge Frau. Man hört Richard wieder seufzen, dann bricht die Szene ab.

Mit der nächsten Einstellung sind wir in Marthas Berliner Atelierwohnung, in der sie ihre auf dem Boden liegenden und an die Wand gelehnten Bilder betrachtet, das Fenster öffnet, als von draußen eine Sirene zu hören ist. Vom Fenster geht sie in den abgegrenzten Schlafbereich des Zimmers, in dem ein junger Mann (Markus Weiß) gerade erwacht. Sie teilt ihm, an den Raumteiler zum offenen Küchen- und Badebereich gelehnt, in knappen Worten mit, dass ihr Freund aus Amerika nach Berlin komme und er deshalb ausziehen müsse. Kurzer stummer Blickwechsel. »Immediately?«, fragt er. »Yes«, sagt sie. Sie müsse jetzt einkaufen, und es wäre schön, wenn er nach ihrer Rückkehr nicht mehr da wäre. Auf seine Bemerkung, sie sei ganz schön hart, folgt ein längerer stummer Blickwechsel, bevor noch geklärt wird, dass er den Schlüssel auf dem Tisch hinterlassen und seine Schallplatten nicht vergessen soll. Eine kurze, halb versöhnliche Umarmung beendet die Szene. Nach ihrer Rückkehr vom Markt findet Martha einen Brief von Franz (denn so heißt der junge Mann), in dem er ihr mitteilt, dass er an seinem Rausschmiss schwer zu knabbern habe, die vier Wochen mit ihr jedoch nicht bereue. Sie zerreißt den Zettel und wirft ihn in den Müll.

Zurück in Richards Appartement in New York. Es ist Morgen. Die junge Frau erwacht auf dem Sofa, geht ins Bad und legt sich dann unbekleidet zu Richard ins Bett, schmiegt sich zärtlich von hinten an. Schnitt und Zeitsprung. Er bucht telefonisch seinen Flug, sie macht das Frühstück. Die junge Frau isst mit großem Appetit, hat lange nichts gegessen. Richard, der erkennt, dass sie mittellos ist, kündigt an, er werde ihr etwas Geld geben und sie könne in seinem Appartement bleiben, bis sie etwas Eigenes gefunden hat. Sie: »If I become a star, I pay you all back. Maybe then you write a book about me, too.«

Wieder in Berlin bei Martha, die am Boden ihres Ateliers an einem archaisch wirkenden Tierporträt malt, dessen Augen noch einen Moment die Kamera zu fixieren scheinen, nachdem sie die Einstellung verlassen hat. In New York fährt Richard mit der jungen Frau, deren Namen wir nicht mehr erfahren werden, im Taxi zum Flughafen. Sie sagt, sie würde für den Rückweg in die Stadt den Bus nehmen und könne ihn abholen, wenn er sie wissen lasse, wann er wieder in New York ankomme. Sie schaut ihn lange an. Er sagt nichts. Bei seiner Ankunft in Berlin erwartet ihn Martha am Flughafen. Sie umarmen sich ausgiebig. Auf dem Weg nach Hause machen sie noch einen Abstecher zum Brandenburger Tor. Sie gehen gemeinsam hindurch und Martha macht die eigenwillige Bemerkung: »The greatest men in all of Europe’s history have walked through this gate. Napoleon, Kaiser Wilhelm, Hitler and Stalin. Shall we go home?«

Die folgenden Szenen in ihrer Wohnung – Martha und Richard in der Badewanne, im Bett, am Frühstückstisch – variieren thematisch das zuvor mit anderen Partnern in ihrer Wohnung und seinem Appartement in New York Gesehene. Wie Mosaiksteine scheinen sie als Liebeshandlungen in die Ellipsen zu passen, die zuvor bewusst gelassen wurden. Mit dem Unterschied, dass Martha und Richard deutlich weniger miteinander zu sprechen brauchen, um einander nahe zu kommen, dafür aus dem Off von Jazzmusik begleitet werden – von einer Saxophon- und einer Pianomelodie sowie von einem Perkussions-Thema, das in einem kurzen szenischen Einschub auch Marthas großflächige Bewegungen beim Malen rhythmisch akzentuiert. Das Gespräch am Frühstückstisch klingt deutlich an die Frühstücksszene in New York an, kaum weniger deutlich markiert es die Differenz zu Marthas Umgang mit Franz, dem ein letztes gemeinsames Frühstück verwehrt geblieben war. Vor allem aber thematisiert das Gespräch den Bezug zwischen dem, was Martha und Richard tun, und dem, was (und wie) sie lieben. Richard spricht davon, dass für ihn mit der Möglichkeit, ein Buch über Murnau zu schreiben, ein Traum wahrgeworden sei, habe er seine Filme doch immer schon geliebt. Er habe intensive Tage vor sich, wolle er doch täglich zwei Murnau-Filme im Archiv sichten. Die Frage, ob sie ihn begleiten wolle, bejaht sie enthusiastisch: Natürlich wolle sie das, sie wolle jede Sekunde, die er in Berlin sei, mit ihm verbringen. Im nächsten Augenblick kommt sie darauf zu sprechen, wie schwierig es anfangs für sie in Berlin gewesen sei. Sie habe sogar mit dem Malen aufgehört. Ob es andere Männer gegeben habe, erkundigt sich Richard. Erst später, erwidert Martha, er sei ihr noch zu nah gewesen. Ob sie sie geliebt habe, fragt er. Sie verneint: »Not like I love you. It was different.«

Worin diese Differenz der Liebe besteht, führt der nächste Teil des Films vor Augen. Er tut dies, indem er die Spiegelkonstruktion langsam auflöst, die Beziehung zwischen Martha und Richard behutsam von den bis dahin vorgegebenen Folien abzieht und in Konstellationen rückt, in denen die – libidinös besetzten – Interessen und Tätigkeiten der Figuren ihren Gefühlen füreinander nicht im Weg stehen und voneinander wegführen, sondern zu ihnen hin. Die Orte, an denen diese Bewegung exemplarisch inszeniert wird, sind das Kino, der Friedhof und das Museum.

Übertragungen: Kino – Friedhof – Museum

Unmittelbar nach Ende der Frühstücksszene begegnen wir Martha und Richard nebeneinander im kleinen, abgedunkelten Archivkino sitzend wieder. Man hört leise das Projektorengeräusch, über ihren Köpfen verläuft der Projektionsstrahl von rechts ins linke Off. Was von der noch unsichtbaren Leinwand an Licht von links in den Raum zurückfällt, hebt die Körper des Paares reliefartig aus dem umgebenden Dunkel hervor. Punktiert von Nahaufnahmen erst Marthas, dann Richards, wie er den Blick von der Leinwand auf Martha wendet, worauf ein langer Close-up Marthas folgt, sehen wir, was sie sehen: die berühmte Tanzszene von Reri und Matahi aus Murnaus TABU. Für Thome ist sie »die schönste Liebesszene, die ich je gesehen hatte«.9 Die expressive und dramatische Schlüsselfunktion, die ihr im Rahmen von Murnaus Film zukommt, hat Thome anlässlich der Murnau-Retrospektive 2003 in Berlin so beschrieben: »TABU besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil heißt ›Das Paradies‹, der zweite Teil ›Das verlorene Paradies‹. In der Eingangssequenz von ›Das Paradies‹ sehen wir, wie die Männer einer abgelegenen kleinen Vul10