Hrsg. C. Erpenbeck


Morde zwischen Rhein und Themse


Krimi-Sammelband


enthält die Bücher

Rita Maria Janaczek: Das Klavier, die Stimme und der Tod

Peter Splitt: Mordinstinkt

Martina Schäfer: Der Wessex-Dolch


Machandel Verlag Charlotte Erpenbeck

Cover: C.Erpenbeck / Coverquelle: shutterstock.com

Haselünne 2018

ISBN 978-3-95959-127-0


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Rita Maria Janaczek



Das Klavier, die Stimme und der Tod



Kriminalroman




Ich danke

meiner Familie,

Antje und Agnes

für ihre Unterstützung.


Druck Dezember 2006

Ebook 2011 

Machandel Verlag Charlotte Erpenbeck, Haselünne
Cover-Collage: Mira Lindorm, mit Motiven von
Pindyurin Vasily/Peter Kim/ williammpark /www.shutterstock,com


1. Kapitel


Am Freitag den 21. März wurde Gerd Brauer entlassen. Bevor sich das große Stahltor öffnete, bekam er sein persönliches Hab und Gut sowie etwas Kleingeld ausgehändigt. Dann war er in Freiheit. Fast kam es ihm wie ein Wunder vor, auch wenn es hier draußen niemand gab, der auf ihn wartete oder gekommen war, um ihn abzuholen. Und trotzdem traf ihn seine Entlassung nicht unvorbereitet. Seit der positiven Nachricht des Direktors hatte er intensiv überlegt, wohin er gehen, beziehungsweise was er mit seinem neuen Leben anfangen würde. Zurück in die Eifel wollte er nicht. Auf ein­mal war ihm Bad Neuenahr in den Sinn gekommen. Der Name klang gut, irgendwie nach Spielcasino und reichen Da­men. Aber Bad Neuenahr war auch nicht gerade billig. Er würde sich etwas einfallen lassen müssen. Darin war er gut. Er besaß eine lebendige Fantasie.

Also war er mit seinem schwarzen Seesack in ein Taxi ge­stiegen und hatte sich direkt in das Zentrum von Bad Neue­nahr chauffieren lassen. Sein Ziel war das Carpe Diem, ein Café-Bistro in der Telegrafenstraße, von dem man ihm er­zählt hatte. Wann hatte er zum letzten Mal einen ordentlichen Cappuccino getrunken? Er konnte sich kaum noch daran er­innern. Etwas verlegen betrat er das Café, fand einen Fenster­platz und setzte sich. Die Bedienung kam und fragte nach seinen Wünschen. Sie trug einen kurzen Rock und hatte schöne Beine. Als er seinen Blick hob, bemerkte er ihre süße Stupsnase.

Na, die wär was für den Anfang, dachte er und bestellte sich das langersehnte Getränk. Er beobachtete die Menschen draußen auf der Straße. Sie nahmen keinerlei Notiz von ihm und eilten an seinem Fenster vorbei.

Wie komme ich jetzt bloß an eine geeignete Unterkunft?, dachte er.

Am Südhang, dort wo die feinen Klinken lagen, gab es eine Menge Appartementhäuser. Zum Teil handelte es sich um Ferienappartements, allerdings wohnte hier auch das Krankenhauspersonal. Er hatte mal eine Zeit gehabt, als er auf junge Krankenschwestern stand. Das hatte ihm Gelegen­heit genug gegeben, zu merken, dass man dort ziemlich an­onym agieren konnte. Die Idee war gar nicht schlecht. Er blieb noch einen Augenblick vor dem Fenster sitzen und schlürfte genüsslich seinen Cappuccino. Danach zahlte er und verließ das Café.

Er schlenderte durch die Innenstadt und sah sich die Aus­lagen der Geschäfte an. Alles war so verdammt teuer gewor­den, oder war es der Euro, an den er sich erst noch gewöh­nen musste? Immerhin hatte es zu jener Zeit, als man ihn verknackt hatte, noch die gute, alte D-Mark gegeben. Über die kleine Ahrbrücke gelangte er zum Kurpark von Bad Neue­nahr. Mehrere Plakate dort priesen eine Heinz-Erhard-Imitati­on für den Abend an. Man versprach den Leuten ein sehr un­terhaltsames Programm. Er lachte. Mal was anderes. Viel­leicht schaue ich mir den Typen sogar an.

Gegenüber vom Kurpark lag der Steigenberger Hof mit dem ehrwürdigen Spielcasino. Was für ein Ambiente! Ein kurzes Stück danach, nur wenig den Berg hinaus, sah er be­reits die Hinweisschilder und Parkrichtlinien der Kliniken vor sich. Dahinter lagen die Appartementhäuser. Lässig ging er daran vorbei und prüfte unauffällig die Eingangstüren. Wenn ich wenigstens etwas für ein, zwei Nächte finden könnte, dachte er. Das würde mir schon verdammt weiterhelfen.

Haus Nummer 1 und 3 waren verschlossen, aber bei der Nummer 5 hatte er Glück. Die Eingangstür war nur ange­lehnt. Er sah sich um, aber niemand achtete auf ihn, als er eintrat.

Zuerst die Briefkästen überprüfen, befahl er sich selbst, und genau das tat er auch.

Bingo! Im dritten Stock war ein Briefkasten vollgestopft mit Briefen und Werbung! Das sah ganz nach der Post von mehreren Tagen aus. Vermutlich war der Bewohner verreist, oder er lag sogar in einer der Kliniken.

Brauer schaute auf das kleine Schild mit dem Namen Kon­rad Hendges. Das war einfach zu merken. Und da war noch eine brauchbare Information. An der Tür, die zum Keller führte, hing der Reinigungsplan des Treppenhauses. Herr Hendges war erst in der kommenden Woche dran. Das passte ihm gut!

Er stieg in den Aufzug und fuhr hinauf in den dritten Stock. Hier gab es drei Appartements. Er fand das Klingel­schild mit dem Namen Hendges. Wie gut, dass wir hier in Deutschland sind. Hier hat wenigstens noch alles seine Ord­nung.

Die Tür aufzubekommen war schwieriger, als er es sich zu­nächst vorgestellt hatte. Ich darf keine unnötigen Geräusche verursachen, hämmerte er sich immer wieder ein, während er mit ungeduldigen Fingern an dem Schloss her­umhantierte. Schließlich sprang die Tür auf. Die kleine Me­tallkette war nun wirklich überhaupt kein Hindernis mehr für ihn. Er betrat die Wohnung und schaute sich um.

An den Wänden hingen Fotos. Sie zeigten einen Mann in den Fünfzigern. Einige davon waren irgendwo in den Bergen aufgenommen worden. Anscheinend besaß er einen älteren, knallroten Audi 80. Mehrere Fotos zeigten ihn mit solch ei­nem Wagen. Fotos, die Frau und Kinder zeigten, fand er kei­ne.

Volltreffer! Das hätte besser gar nicht passen können. Hier werde ich mich ungestört ein paar Tage einquartieren können. Mensch, hab ich vielleicht ein Glück. Jetzt noch schnell ein paar Dinge einkaufen, und dann mach ich´s mir so richtig gemütlich. Mensch, ein Appartement für mich ganz allein, ich kann´s noch gar nicht richtig glauben. Ver­gnügt schob er die Kette vor, steckte etwas Papier zwischen Schloss und Türrahmen und drückte die Tür zu. Sachte nur, auf keinen Fall fest. So würde er sie nachher ganz leicht wie­der aufbekommen. Er summte eine Melodie und ging hin­über zum Edeka. Der kleine Supermarkt befand sich in ei­nem Mini-Center, direkt neben der Ahrtal-Klinik, und beher­bergte unter anderem einen DM-Markt, eine Dönerbude und eine Eisdiele.

Als er wieder zurückkam, fühlte er sich schon fast wie zu Hause. Pfeifend packte er die Tüten vom Supermarkt aus und räumte seine Einkäufe ein. Das neue Türschloss sowie mehrere Bierflaschen ließ er gleich auf dem Küchentisch ste­hen. Er war rundum mit sich zufrieden. Dieses Appartement war ganz nach seinem Geschmack und die erste Bleibe seit Jahren, die er ganz für sich alleine hatte. Sicher, es war nicht sehr groß, aber mehr als die wenigen Möbelstücke, mit de­nen es eingerichtet war, brauchte er auch nicht. Er hatte sowieso nur eine Schlafstelle mit Bad gewollt. Ein eigenes Bad, das war ihm sehr wichtig, nachdem er jahrelang die Aus­dünste der anderen hatte erdulden müssen. Dass dieses Ap­partement auch noch über eine kleine Küche verfügte, war zusätzliches Glück. Natürlich nichts Dauerhaftes, aber er musste ja auch nur für eine Weile untertauchen, bis er sich eine neue Identität verschafft hatte.

Zunächst allerdings, musste er sich noch um ein paar Din­ge kümmern. Dazu gehörten an erster Stelle seine roten Haa­re. Die musste er unbedingt loswerden. Rote Haare waren viel zu auffällig. Im DM-Markt hatte er sich ein Haarfärbemit­tel in mittelbrauner Farbe besorgt. Jetzt würde er sich erst einmal die Haare färben.

Er öffnete eine der Bierflasche, nahm einen kräftigen Schluck, dann stellte er sie zu den anderen in den Kühl­schrank. Die Wohnung war das Tüpfelchen auf dem i, aber auch sonst war Bad Neuenahr für seine Bedürfnisse genau das richtige. Zum einen lag die Stadt nur wenige Kilometer südwestlich von Oberwinter. Damit wohnte er nahe genug, um die Leute im Yachthafen beobachten zu können, aber weit genug entfernt von seinem alten Leben in der Vulkanei­fel. Es war sehr unwahrscheinlich, dass man ihn hier erken­nen würde. Die roten Haare mussten trotzdem verschwin­den.

Er erinnerte sich an den kleinen Stadt-Bahnhof. Bereits zu seiner Zeit hatte es dort Lebensmittelgeschäfte, schummrige Bars und eine Reihe gemütlicher Kneipen gegeben. Wenn sich dort nicht allzu viel verändert hatte, würde er sich in den Kneipen ohne Schwierigkeiten unbemerkt unter die Gäs­te mischen können. Wie das lief, wusste er. Innerhalb einer Woche würde er irgendwo Stammgast sein und dann würde niemand danach fragen, woher er kam, oder was er in Bad Neuenahr zu suchen hatte. Er wäre einfach nur ein Gast, so wie all die anderen auch. Was seinen Lebensunterhalt anging, nun, er würde sich hier und da nützlich machen, vor allem im Yachthafen am Rhein. Mit Booten kannte er sich aus. Er überlegte, ob er zuerst etwas essen sollte, entschied sich je­doch dagegen. Seine Haare waren wichtiger. Zuerst würde er sie färben, dann würde er essen. Draußen ging eine Horde schnatternder Mittvierzigerinnen vorbei. Er sah ihnen durch das Fenster nach. Sie steuerten geradewegs auf eine Kneipe schräg gegenüber zu. Das war durchaus nichts Ungewöhnli­ches. Das Ahrtal gehörte zu den bevorzugten Wochenendzie­len unzähliger Kegelklubs, die nicht bis Bad Hönningen wei­terfahren wollten. Wann bin ich zum letzten Mal mit einer Frau zusammen gewesen?, fragte er sich. Das musste vor langer, langer Zeit in der Eifel gewesen sein.

Aber vielleicht war ja schon heute die Nacht der Nächte? Er begann wieder zu pfeifen und eilte mit dem Haarfärbemit­tel ins Badezimmer. Warum auch nicht? Die heutige Nacht konnte tatsächlich die Nacht seines Lebens werden.

Zwei Stunden später war nicht nur das Türschloss ausge­tauscht, sondern auch sein neues Aussehen fertig. Er stand vor dem Spiegel im Badezimmer und begutachtete das Er­gebnis. Seine Haare waren jetzt mittelbraun. Es stand ihm gut, wie er fand. Und seine Figur war immer noch ganz an­sehnlich. Tja, der Anstaltsport war manchmal doch zu etwas nützlich. Wie ein Eifel-Hinterwäldler wirkte er jedenfalls nicht mehr. Im Gegenteil, sein Spiegelbild kam ihm sogar fast südländisch vor. Und die Frauen standen doch auf solche Typen, oder etwa nicht?


Wenige Stunden später schlenderte er in das Nachtcafé Apfelbaum und setzte sich in die Nähe zweier Damen, die Cocktails tranken und in ein Gespräch vertieft waren. Wäh­rend er sich ein Bier bestellte, hörte er sie miteinander schwatzen.

„Und da habe ich ihm gesagt, den alten Kahn bekommst du doch nie und nimmer mehr flott ...“

„Bin ganz deiner Meinung, Melanie.“ Die andere Frau nickte heftig mit dem Kopf. „Adrian und seine Flausen.“

„Und wie läuft es so bei dir, Andrea?“

„Ich kann mich wirklich nicht beklagen. Ich meine, ich habe einen Job, der mir Spaß macht, ein eigenes Auto, eine eigene Wohnung und brauche eigentlich niemanden der mir Vorschriften macht.“ Sie warf ihre blonden Haare über die Schultern und inhalierte den Rauch ihrer Zigarette.

„Leo, machst du Andrea noch einen Cuba Libre auf meine Rechnung?“, rief ihre Begleiterin dem Wirt zu.

„Kommt sofort“, erwiderte der Wirt, der gerade ein Bier zapfte und es auf den Tresen stellte.

Während der Wirt ein Glas polierte, trank Brauer einen Schluck und tat so, als verfolge er die Quizsendung im Fern­seher links oben über der Bar. Dort wurde gerade die nächs­te Frage eingeblendet.

Auch die beiden Damen drehten sich zum Fernseher hin.

„Das wär’s doch“, sagte Brauer zum Wirt und achtete streng darauf, dass er den beiden Damen nicht zu viel Auf­merksamkeit schenkte. „Mal eben so ’ne Million gewinnen. Glauben Sie, er schafft es?“

„Keine Ahnung. Ist noch zu früh, um etwas zu sagen.“ Der Wirt blickte einen Moment lang ebenfalls auf den Bildschirm, dann wandte er sich wieder seinem Gast zu.

„Noch ein Bier?“

„Gern. Und für die Damen ebenfalls ein Getränk!“

„Oh, das ist aber nett von ihnen, vielen Dank“, sagte Mela­nie.

„Kein Problem, wenn wir uns schon zusammen das Quiz ansehen, nicht wahr?“ Zum ersten Mal drehte er sich zu ih­nen um und lächelte ungezwungen.

„Genau. Auf die Million“, sagte Andrea und beugte sich leicht vor, um ihn besser in Augenschein nehmen zu können.

„So eine Menge Kohle.“ Sie kicherte.

„Schscht!“ Melanie flüsterte ihr etwas ins Ohr.

„Wie heißen sie eigentlich?“ fragte Andrea ihren spendier­freudigen Gönner.

Er zögerte einen Moment. Dann erinnerte er sich an den Namen, den er sich zurechtgelegt hatte.

„Konrad. Konrad Hendges. Conny für meine Freunde.“

„Hey Conny, was, glauben Sie, wird er mit der Million ma­chen, falls er gewinnt?“

„Sei doch still, Andrea. Er bekommt ja einen ganz falschen Eindruck von dir.“

„Warum, nur weil mich die Vorstellung einer Million ...“

„Andrea, Schluss jetzt!“ Melanie lachte ein wenig verlegen.„Sie müssen ihr Verhalten entschuldigen Konrad. Meine Freundin redet gern und manchmal auch ein bisschen viel.“

„Wie wär’s mit einem Snack für Zwischendurch?“, fragte er und gab dem Wirt ein Zeichen. Dieser zeigte auf hübsch an­gerichtete Teller mit kleinen mundgerechten Frikadellen, Kä­sehäppchen und Antipasti in einer Vitrine.

„Gern“, ließ Andrea verlauten, während Melanie gleichzeitig ein „Ist doch nicht nötig!“ hervorbrachte.

Er orderte einen Teller. „Ich lade sie ein, meine Damen. Feiern wir meinen ersten Tag in Bad Neuenahr.“

„Oh, sie sind neu in der Stadt?“, fragte Melanie neugierig.

„Heute Morgen angekommen.“

„Und woher kommen sie?“

Konrad überlegte. Jetzt bloß keinen Fehler machen.

„Aus Frankfurt.“

Er wusste nicht, warum ihm gerade diese Großstadt einge­fallen war, aber es klang gut.

„Oh, von wo denn genau? Meine Mutter lebt auch in Frankfurt. In Zeilsheim“, sagte Melanie. Er überging ihre Fra­ge.

„Sehen Sie mal. Jetzt hat er schon zehntausend Euro ge­wonnen.“ Konrad hob sein Glas.

„Prost auf die nächsten zehntausend.“

„Prost“, erwiderten die Frauen.

Fünf Quizfragen weiter wusste er alles über Andrea, was er wissen wollte:


1. Sie lebte allein.

2. Sie hatte keine Familie in der Stadt.

3. Sie besaß eine eigene Boutique.

4. Sie hatte sich gerade von ihrem Freund getrennt.

5. Sie besaß kein gesundes Misstrauen

6. Sie war schüchtern, obwohl sie den Mund ganz schön

voll nahm.

7. Sie war genau der Typ Frau den er gesucht hatte.


Natürlich würde er vorsichtig vorgehen. Heute Abend würde er nur den großen Kavalier spielen. Er würde einen guten Moment abpassen und Andrea zu einem Date einla­den. Vielleicht ins Theater oder zu einem schönen Essen. Ir­gendetwas, das Eindruck hinterlassen würde. Er musste sich Zeit lassen, durfte sich nicht verzetteln. Zu ihrem Date würde er sie von zu Hause abholen und dort auch wieder abliefern. Er hatte sich im Griff, wenn es notwendig war, er würde nicht mit in ihre Wohnung gehen. Er musste auf Nummer Si­cher gehen. Warten, bis er Stammkunde im Apfelbaum war, kein Fremder mehr, kein Einzelgänger. Das Wichtigste war seine neue Identität. Sie würde es ihm ermöglichen, seinen Zielen nachzugehen, ohne Verdacht zu erregen. Und dann würde er Informationen verbreiten, die man in Bad Neue­nahr und Umgebung akzeptieren musste.




3. Kapitel



Konrad lag auf der Schlafcouch in dem kleinen Appartement und versuchte, Ordnung in seine Pläne zu bringen. Er musste über vieles nachdenken. Es war nicht so einfach, wie­der ein eigenständiges Leben zu führen. Gott sei Dank hatte er schnell im Yachthafen von Oberwinter Arbeit gefunden, auch wenn es zunächst nur Aushilfsjobs waren. Die Arbeit an den Booten machte ihm Spaß, und die meist gutbetuchten Eigentümer hatten sehr schnell gemerkt, was sie an ihm hat­ten. Er kannte sich aus und war immer zur Stelle, wenn man ihn brauchte. So war es auch bei den Ackermanns gewesen. Das Ehepaar war gerade zu einem Segeltörn auf die Kanaren aufgebrochen, mit einem alten Segler, den sie mit seiner Hil­fe wieder aufgebaut hatten. So eine Seereise, nun ja, die hät­te ihm auch gefallen können. Adrian Ackermann war Schrift­steller. Wow! Das war nun ganz sicher ein Beruf, mit dem man jede Menge scharfe Frauen aufreißen konnte. Außerdem redete der Kerl gerne und viel. Durch den würde er sicher noch so manchen gutbezahlten Auftrag bekommen.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er nur noch eine gute Stunde Zeit hatte, um zu duschen, sich umzuziehen und Andrea abzuholen. In den vergangenen Wochen waren sie mehrfach miteinander ausgegangen. Bad Neuenahr hatte diesbezüglich eine Menge zu bieten. Andrea war zurückhal­tend, aber stets freundlich zu ihm gewesen. Er hatte sie durchschaut, jedoch von Anfang an so getan, als wäre er ein echter Gentleman. Heute Abend würden sie zusammen essen, danach ins Kino gehen, und wer weiß, vielleicht würde sich sogar mehr ergeben. Er hätte bestimmt nichts da­gegen einzuwenden. Gut gelaunt ging er ins Badezimmer und drehte die Dusche auf. Oh ja, natürlich hatte er einen Plan ausgearbeitet. Für alle Fälle sozusagen. Das Abendessen war nur der Anfang. Sie sollte glauben, dass er es ernst mit ihr meinte. Frauen wie Andrea konnte er gut einschätzen.

Sie hatte das richtige Alter. Ende dreißig, alleinstehend und wohlhabend. Dazu etwas konservativ und zurückhal­tend, außer wenn sie getrunken hatte. Er erinnerte sich an den ersten Abend, als er sie und Melanie Ackermann im Ap­felbaum getroffen hatte. Sie machte zwar auf unabhängig, aber das war nur ihre Schale und Balsam für ihr Ego. Im In­neren sehnte sie sich nach einer festen Beziehung. Er konnte sich gut vorstellen, dass sie trotz ihres Alters noch immer noch von einem echten Märchenprinzen träumte.

Konrad grinste hämisch über das ganze Gesicht, als er sich unter die Dusche stellte.

Vielleicht werde ich ja bald ihr Prinz sein. Ein Glücks­prinz sozusagen. Er war sich sicher, dass er schon bald mit ihr zusammenziehen würde, eine Vorstellung, die ihm außer­ordentlich gut gefiel. Das konnte seine Vorteile haben, mit ei­ner richtigen Frau, gutem Essen und etwas fürs Bett. Eben das volle bürgerliche Programm, denn das war absolut unver­meidlich für seine Tarnung. Wenigstens für eine Zeitlang.

Andrea hatte bislang nur am Rande mitgekriegt, dass er mit Booten zu tun hatte. Sie war vertrauensselig genug, ihm zu glauben, dass er geschäftlich öfters unterwegs war. Er brauchte gewisse Auszeiten, denn er spürte es wieder. Ganz tief in ihm drin fing es an zu brodeln. Diesmal würde er sich äußerst klug verhalten. Er hatte vorausgeplant. Noch einmal würde ihm niemand auf die Schliche kommen. Sein Ausse­hen und seinen Namen hatte er bereits verändert. Das hatte er aus den Krimis, die er sich immer im Fernsehen anschau­te. Und die mussten ja schließlich wissen, wie man so etwas machte.

Erst vor kurzem hatte in der Zeitung ein Bericht über sei­ne Anstalt gestanden. Das neue Gesetz aus Straßburg hatte für mächtig viel Unruhe in der Bevölkerung gesorgt. Und wie sich die Leute aufregten! Er hatte sich jede Zeitung zum The­ma gekauft, die er bekommen konnte, alle Berichte gelesen. Und es hatte ihn fasziniert, was er über die Ängste anderer in den Zeitungen las, wusste er doch, dass er der Einzige war, der die genauen Fakten kannte. Über seinen neusten Coup hatten sie natürlich noch nichts geschrieben.

Er hatte in dem Appartement des Alten einen Kalender ge­funden, in dem eine ganz bestimmte Woche rot unterstri­chen war. Bei genauerem Hinsehen war es exakt die Woche gewesen, in der er sich Zugang zu dem Appartement ver­schaffen hatte. Die Wohnung lag ideal. Er gedachte sie durch­aus auch zukünftig als Basis für seine Aktivitäten zu benut­zen. Aufgrund des Kalenders wusste er wann der Eigentümer zurückkehren würde, und hatte sich einen Plan ausgedacht. An besagtem Tag hatte er sich auf die Lauer gelegt. Den roten Audi 80 konnte er gar nicht übersehen. Wer fuhr heutzutage noch solch einen Wagen? Er hatte die erstbeste Gelegenheit genutzt, die sich ihm bot, und war hinten in den Wagen geklettert, als der Mann kurz ausgestiegen und ins Haus gegangen war. Drinnen hatte er sich hinter die Sitze gedrückt und war erst aufgetaucht, als sich der Wagen bereits wieder auf der Telegrafenstraße befand. Der Alte hatte vielleicht Augen gemacht, als er ihn im Rückspiegel entdeckte! Mehr noch, als er die Klinge seines Messers an seinem Hals spürte. Danach war der Mann widerstandslos seinen Anweisungen gefolgt und auf die A61 gefahren. Scheinbar freundlich hatte er ihn gebeten, an einem verwaisten Rastplatz anzuhalten. Dort hatte Konrad ihn erstochen, ohne große Umstände.

Der Rest war ein Kinderspiel für ihn gewesen. Er hatte den Alten in eine Decke gewickelt und in den Kofferraum auf eine Plastikplane gepackt. Er wollte die durch die Blutungen hervorgerufene Verschmutzung und Geruchsbelästigung so gering wie möglich halten. Schließlich beabsichtigte er, den Wagen noch eine Zeitlang zu benutzen. Danach war er in al­ler Seelenruhe in Richtung Eifel gefahren und hatte ihn ent­sorgt. Für so etwas war die Eifel gut. Dort gab es Wälder und einsame Plätze ohne Ende. Sie boten genügend Platz, um eine Leiche zu verstecken.

Am 1. Mai war es dann wieder passiert, ohne das er die Ak­tion groß geplant hätte. Ausgerechnet am Tag der Arbeit, dachte er und grinste. Er war mit Andrea tanzen gewesen, als er die Frau bemerkt hatte. Sie war nicht mehr ganz jung ge­wesen, aber dafür umso flotter angezogen. Kurzer Rock, Ny­lons und Stiefel mit hohen Absätzen, so wie er es liebte. Au­genscheinlich war sie auf ein Abenteuer aus. Vielleicht eine grüne Witwe, oder einfach nur liebeshungrig, dachte er. Aber das Problem war Andrea, daran kam er nicht vorbei. Ach was, hatte er gedacht, ich fahre nachher, wenn ich Andrea nach Hause gebracht habe, nochmals hier vorbei, und wenn die Alte dann noch da ist, dann ist sie dran.

Kurz nach Mitternacht wollte Andrea nach Hause, weil sie am nächsten Tag wieder arbeiten musste. Er brachte sie bis vor ihre Haustür und verabschiedete sich artig von ihr. Danach fuhr er schnurstracks zurück zu dem Tanzlokal. Mit jedem Meter, den er hinter sich brachte, spürte er, wie Adrenalin in seinen Körper gepumpt wurde und seine Pulsfrequenz stetig anstieg. Zunächst konnte er die Frau nirgendwo entdecken, doch dann, als er gerade aufgeben und zurück zu seinem Apartment fahren wollte, sah er, wie sie in ihr Auto einstieg. Allein. Der Abend war wohl kein Erfolg für sie gewesen. Er folgte ihr in gebührendem Abstand und sah, wie sie den Wagen in eine Hauseinfahrt lenkte. Zu seinem Glück stand das Haus allein und etwas abseits von der Landstraße. Er sah kein Risiko. Die Frau stieg aus und ging rasch in Richtung der Außentreppe. Er spürte eine genüssliche Nervosität, als er bremste, in die Einfahrt bog, direkt hinter ihrem Wagen hielt und nach dem Messer griff. Sofort riss er die Tür auf und spurtete los. Noch bevor die Frau überhaupt begriffen hatte, was geschah, war er bei ihr gewesen und hatte auf sie eingestochen. Natürlich nur dorthin, wo es sie nicht gleich umbrachte. Der Blutverlust war ihm egal, solange sie nur noch lebte, wenn er sie in sein Versteck brachte. Ein bisschen mehr Spaß mit ihr wollte er schon noch haben. Schließlich hatte er ein Jahrzehnt auf diesen Augenblick gewartet.

Durch den Blutverlust verlor sie das Bewusstsein. Das war ihm recht. Wie schon den Alten zuvor, steckte er auch sie ein­fach in den Kofferraum des Audis und brachte sie an einen si­cheren Ort. Es war ein hervorragendes Versteck, wie er fand. Kein Wunder, schließlich hatte er es doch mit größter Sorg­falt ausgesucht.

Allein bei dem Gedanken an den Abend, ihr Stöhnen, an das quellende Blut, das im Schein der Türlampe fast schwarz ausgesehen hatte, überlief es ihn heiß. Er leckte sich über die Lippen, drehte dann das Wasser ab und trat fröhlich aus der Dusche.

Er fühlte sich wie neu geboren, konzentriert und willens­stark. Er schaltete den Radiowecker ein und rasierte sich summend vor dem Spiegel über dem Waschbecken. Wish you were here …

Danach zog er sich an, ließ die Tür ins Schloss fallen und rannte die Treppe hinunter. Zuerst seine Verabredung mit Andrea, und danach vielleicht noch ...

Nun ja, das Spiel konnte beginnen.




Samstag, 9. März

 

Gütiger Himmel! Der Blick auf die Uhr zwang Beverly, den Tag im Zeitraffer zu starten. Sie hatte verschlafen, ihr Kopf hämmerte. Sie steckte ihr Haar hoch, hetzte unter die Dusche und ärgerte sich. Es war ihr am Vorabend schwer gefallen einfach abzuschalten. Sie hatte sich bis weit nach Mitternacht von Musik und Rotwein einlullen lassen, bevor sie in ihr Bett gekrochen war. Jetzt bekam sie die Quittung. Das Schlafzimmer sah aus, als sei eine Bombe eingeschlagen. Sie griff die nächstbesten Jeans und einen schwarzen Pulli und spülte eine Kopfschmerztablette mit etwas Orangensaft hinunter. Das Frühstück musste ausfallen. Unwillkürlich kam ihr Miller in den Sinn.

Als Beverly den Yard betrat, war sie beinahe fünfzehn Minuten zu spät. Sie fuhr mit dem Aufzug hinauf, hastete den Korridor entlang, und stürmte ohne zu klopfen in Whitefields Büro, wo sie direkt an der Tür mit dem attraktivsten Mann zusammenstieß, der ihr seit Sands begegnet war. „Tut...mir...leid“, stammelte sie, und wich dem Blick seiner tiefblauen Augen aus.
„Ich werde es überleben“, antwortete er scheinbar ungerührt.
Beverlys Magen schien mit einer Kanne viel zu heißen Tees gefüllt.

„Habt ihr schon angefangen?“, versuchte sie wie beiläufig zu klingen. Sie setzte sich auf einen der freien Stühle und bemühte sich, locker zu wirken. Sands hatte sofort bemerkt, was in ihr vorging. Sie konnte es ihm ansehen, während er mit völlig gelassener Miene ihren Blick taxierte. Dir entgeht wohl gar nichts. Sie warf einen finsteren Blick zurück, und er lächelte.

„Endlich … wir können weitermachen“, raunzte Whitefield.

„Das ist Daniel Fleming, Psychologe. Vertretung für Victor Watermann.“ Allister rückte seinen Stuhl zurecht und ließ sein altbekanntes Räuspern hören. „Fleming arbeitet seit 1987 am Institut für Verhaltensforschung … forensische Psychologie, sie wissen schon.“ Er schaute kurz in die Runde und hob dann wieder an. „Fleming, Sie können Ihren Marsch durch die verschiedenen Bereiche antreten. Stanton, zeigen Sie ihm alles … aber zügig. Wenn Sie durch sind, wird Sergeant Evans Ihnen ein paar Takte zu unserem Fall sagen.“

Beverly sah den Neuling an. Tja, Evans. Hättest du das nur vorher gewusst. Dann wärst du hier nicht wie ein Altkleiderständer aufgelaufen.

„Schwul“, raunte Miller nachdem Fleming das Büro verlassen hatte.

„Unsere Ermittlungen stecken fest. Die Spuren der Tatverdächtigen …“ Whitefield runzelte die Stirn; mit der rechten Hand hob er eine Mappe vom Tisch auf. „St. Williams scheint untergetaucht zu sein. Na ja, vielleicht unter anderem Namen. Dieser Daniel Harwood … ich denke mal, dass die Behörden ihn geschützt haben … damit er Ruhe hat. Damit die Pflegefamilie nicht belästigt wird. Sie wissen schon.“ Whitefield wirkte abgearbeitet, sein graues Haar war im Neonlicht beinahe weiß. Seine Wangen hingen schlaff herab, die Falten um seinen Mund schienen sich in den letzten Tagen noch tiefer eingegraben zu haben. Zwei ungelöste Fälle und die Tatsache, dass es vor zwanzig Monaten einen riesigen Pressetumult gegeben hatte, das musste wie ein Felsbrocken auf ihm lasten. „Ich will Informationen über jedes wichtige Detail, und das sofort. Und ich will Ergebnisse, verdammt noch mal.“ Alle im Raum sahen den Superintendent an. Es war eindeutig, dass er Druck von oben bekommen hatte und unschwer zu erkennen, dass er ihn jetzt ungefiltert an das Ermittlerteam weitergab. B

everly seufzte leise. Was sonst sollte er auch tun? Sie waren, von Miller vielleicht abgesehen, alle motiviert an diesen Fall herangegangen, aber der Stillstand zehrte an den Reserven.

„Ran jetzt“, hob Whitefield ein letztes Mal an.

Niemand sprach ein Wort, als sie sein Büro verließen.

 

„Nun“, begann Daniel Fleming, „dann bringen Sie mich mal auf den neuesten Stand der Dinge.“ Der Psychologe hatte sich Beverly gegenüber hingesetzt; sie war fasziniert von seiner Ausstrahlung. Niemals vorher hatte sie solche Augen gesehen, strahlend aber dennoch voller Melancholie. Sein dunkelblondes Haar war kurz geschnitten und ein wenig verwuschelt. Es gab seinem Äußeren etwas Verwegenes. Seine Gesichtszüge waren wie das Werk eines Bildhauers, klassisch schön. Vermutlich war sein dunkler Anzug maßgeschneidert. Doch eines gefiel Beverly besonders gut an diesem Mann: Er trug keinen Ring.

„Wir ermitteln in zwei Mordfällen. … Die Recherchen haben uns bis ins Jahr 1963 zurückgebracht.“ Beverly berichtete über alle Anhaltspunkte, die bisher von den Kollegen zusammengetragen wurden, legte die Ergebnisse der Gerichtsmedizin vor, zeigte Fotos der Opfer. Sie erläuterte die Vermutungen, die hinsichtlich der möglichen Täter aufgekommen waren, und begründete das Für und Wider ihrer Theorien. Fleming lauschte ihren Ausführungen und immer wieder fühlte sich Beverly von seinem Blick seltsam berührt. „Inzwischen sind wir an einem Punkt angekommen, der nicht mehr viel hergibt“, schloss sie und schaute ihn abwartend an.

Er zog die Augenbrauen hoch und atmete hörbar ein. Rein optisch, befand Beverly, war dieser Mann ein Volltreffer. Ob er Victor auch fachlich das Wasser reichen konnte, das bezweifelte sie. Allein beim Klang des Wortes Institut, schwebte Beverly der Gedanke an staubtrockene Theorie im Kopf, nichts, das mit der Realität zu tun hatte. Außerdem hatte er, das stand für sie von vornherein fest, keinen blassen Schimmer von Polizeiarbeit, von den Strukturen und den ungeschriebenen Gesetzen. Victor würde zurück sein, bevor sich dieser Fleming überhaupt halbwegs eingearbeitet hatte.
„Sie warten aber jetzt nicht darauf, dass ich hier auf der Stelle den ultimativen Geistesblitz liefere?“, holte er sie aus ihren Gedanken.

Sie lächelte. „Was sonst?“

„Ein wenig Einarbeitungszeit müssen Sie mir zubilligen.“

„War ein Scherz!“

„Sie arbeiten schon länger hier?“ „Ja“, sie hielt kurz inne, „es sind inzwischen vier Jahre.“

„Sie wirken ziemlich abgeklärt“, stellte er fest und fixierte sie mit seinen dunklen Augen.

„Das war kein Kompliment.“ Sie konnte keine Reaktion in seiner Mimik lesen, spürte gerade deshalb das Bedürfnis sich zu erklären. „Das ist Selbstschutz. Das müssten Sie doch wissen!“

„Ja, in der Tat. Kann ich die Unterlagen noch einmal in Ruhe durchsehen?“

Beverly stapelte die Dossiers und reichte sie ihm. Er schob sich eine Lesebrille auf die Nase; sie betrachtete ihn. Die Vorstellung, ihm die Brille wieder abzunehmen, um ihn zu küssen. … aber warum hatte sie plötzlich das wirklich alberne Gefühl, sie würde Sands betrügen? Sie seufzte.

 

Sie ließ Fleming in dem kleinen Büro allein, weil er sich entschieden hatte, die Akten gleich hier und auf der Stelle durchzuarbeiten. Verdammt, wieso kam sie von dem Gedanken an Sands nicht los? Er war verheiratet. Er hatte ihr nicht ein einziges Mal einen Anlass zu der Hoffnung gegeben, sie hätte eine Chance bei ihm. Und du, Evans, bist trotzdem hoffnungslos in ihn... Vergiss es endlich! Ja, sie wollte einen Mann an ihrer Seite, aber einen Mann der ihre Gefühle erwiderte. War nicht gerade Sands derjenige, der diese Sehnsucht nie erfüllen würde? Warum übte er einen so unwiderstehlichen Reiz auf sie aus? Wenn sie ernsthaft daran dachte, eine überlebensfähige Beziehung mit einem anderen Mann einzugehen, dann musste sie lernen, die Gefühle für Harold Sands endlich hinter sich zu lassen. Ihr Privatleben hatte sich auf Belanglosigkeiten reduziert, sie arbeitete lieber, als sich der Einsamkeit ihrer Wohnung zu stellen, als sich dort mit der Frage zu beschäftigen, warum sie sich immer die falschen Männer aussuchte. Wollte sie ernsthaft so weitermachen? Es hätte so einfach sein können. Sie brauchte es nur zuzulassen.

 

Es war Dienstschluss; das Unbehagen, das sich in Form des Wochenendes genähert hatte, war jetzt unabwendbar da. Beverly hatte ihrer Mutter versprochen, dieses Wochenende bei ihr in Aldermaston zu verbringen, aber sie bereute es schon jetzt. Während sie ihre Reisetasche packte, grübelte sie über passende Ausreden nach, vielleicht sollte sie sich einfach krank ins Bett legen. Sie schminkte sich und sah dabei das Schuldbewusstsein in den grünen Augen. Sie hatte versprochen zu kommen, ihre Mutter hatte Geburtstag.

Aldermaston war ein kleiner Ort, etwa fünfzig Kilometer westlich von London. Sie erinnerte sich daran, wie frei sie sich gefühlt hatte, als sie die provinzielle Enge endlich hatte verlassen können. Besonders heute spürte sie, wie bedrückend es war, dorthin zurückzukehren. Stell dich nicht so an, Beverly, es ist ja nur für eine Nacht. Sie warf die Tasche in den Wagen und machte sich im verebbenden Tageslicht auf den Weg. Sie verließ die beleuchteten Straßen und fuhr hinaus in die Dunkelheit. Was hatte dieser Fleming gesagt? Abgeklärt? Pah, was wusste er denn schon von ihr? Ja, sie war froh, wenn es ihr gelang, die grausamen Bilder verdrängen zu können, wenn sie nicht ständig darüber nachdenken musste. Sie war froh darüber, wenn sie einen kühlen Kopf bewahren konnte. Kühl, nicht kalt, denn es war immer noch die Bereitschaft da, Mitgefühl zuzulassen. Zumindest sich selbst gegenüber konnte sie zugeben, dass es oft wehtat. Was wusste schon dieser Daniel Fleming!

Peggy Brown war eine hagere, hochgewachsene Frau Anfang vierzig, deren verkniffener schmaler Mund und die restlos weggezupften Augenbrauen sie wesentlich älter wirken ließen. Ihre blassgrünen Augen wirkten tonlos und matt, das kurze rote Haar kräuselte sich wie eine Pudelfrisur um das blasse Gesicht. Sie trug einen geblümten Rock, der die Knie bedeckte, dazu eine schlichte weiße Bluse. Förmlich reichte sie Beverly die Hand, ihre schmalen Lippen versuchten ein Lächeln. „Hallo Bevy-Baby, immer noch solo?“ „Hallo, Peggy.“ Beverly schob sich mit ihrer Tasche durch den engen Flur und stellte sie auf die Treppe. „Wo ist Mum?“ „In der Küche, wie immer.“ Peggy drängte sich an ihrer jüngeren Schwester vorbei und öffnete die abgeblätterte weiße Tür an der Stirnseite des Flures. „Mum, Bevy ist da.“

Mrs. Evans hätte nicht leugnen können, dass Peggy ihre Tochter war. Sie war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Mit Beverly hatte sie, wenn man von den kupferroten Haaren und den grünen Augen einmal absah, nichts gemein. Melinda Evans Statur war von Arbeit gebückt, ihr Gesicht von Falten durchzogen und genauso verkniffen wie das ihrer ältesten Tochter. Ein Großteil ihres kurzgeschnittenen Haares war ergraut. Sie drehte sich zu Beverly um. „Hallo, Kind. Bring deine Sachen rauf.“ Wortkarg wie sie war, wandte sie sich wieder dem Herd zu.

Da ist sie wieder, dachte Beverly. Mums Angst, … Mums Angst vor Peggys Missgunst.


Das Gästezimmer war einmal Beverlys Zimmer gewesen, doch nichts erinnerte mehr daran. Peggy hatte jegliche Erinnerung an ihre jüngere Schwester aus diesem Raum verbannt. Eine Schlafcouch, ein Kleiderschrank und ein Sessel waren die einzigen Möbel. Der weiß geflieste Boden, die hellblauen schlichten Vorhänge und die weiße Tapete gaben dem Raum etwas Kaltes. Es war nichts vorbereitet. Peggy zeigte ihr wieder einmal deutlich, was sie vom Besuch ihrer Halbschwester hielt. Beverly zog die Schlafcouch auseinander. Sie nahm die Bettwäsche aus dem Schrank, um die Decke zu beziehen, die zusammengeknautscht auf dem Schrank gelegen hatte. Es war ja nur für eine Nacht. Sie blickte aus dem Fenster und sah Peggy mit einer Taschenlampe über den Hof zum Hühnerstall gehen.

Es könnte alles ganz normal sein, es könnte sogar schön sein, ohne diese ständige und sinnlose Eifersucht. Ja, genau das ist es, diese Eifersucht macht alles kaputt. Beverly ging hinunter in die Küche. Was immer ihre Mutter da zusammenbraute, es duftete köstlich. „Wie geht’s dir, Mum?“ Sie schob Melinda ein kleines Bündel Geldscheine in die Schürzentasche und streichelte ihr unsicher über den Rücken. „Das gibst du nur für dich aus, Mum, kauf dir irgendwas Schönes, ja?“

Mrs. Evans blickte auf. „Bevy, du weißt, dass ich nichts brauche. Peggy und Robert sorgen für mich.“

„Ich will, dass du es nimmst, Mum. Kauf dir was Schönes zum Anziehen, irgendwas, nur für dich.“

„Die Küche bräuchte einen neuen Anstrich, Farbe könnte ich kaufen.“ Beverly seufzte.

„Hier sind die Eier, Mum“, Peggy hielt kurz inne, ihr argwöhnischer Blick sprang zwischen den beiden Frauen hin und her,.

„Bevy, du hast ihr doch nicht schon wieder Geld gegeben“, sagte sie vorwurfsvoll.

Melinda senkte schuldbewusst den Kopf.

„Du kümmerst dich auch sonst nicht um Mum, also lass das! Sie hat alles, was sie braucht.“

„Peggy, das ist unfair! Du weißt, dass ich nicht ständig von London rüberkommen kann; ich bin ja auch dankbar, dass ihr bei Mum wohnt und sie nicht allein ist. Aber wirf mir das nicht ständig vor. Du wolltest schließlich nie von hier weg!“

„Ach, Kinder, müsst ihr euch denn immer streiten?“

Peggy rümpfte die Nase, sie verließ mit einem Stapel Teller in den Händen die Küche. „Ich decke den Tisch, Robert wird gleich kommen, und Tante Rebecca ist sicher auch schon im Anmarsch.“


Robert Brown kam pünktlich von der Schicht. Er war Maschinenführer in einer Fabrik in Reading. Nachdem er sich frisch gemacht und umgezogen hatte, gesellte er sich zu ihnen.

Robert und Peggy hatten gleich nach Beverlys Auszug geheiratet und das Haus umgebaut. Beverly war es damals so vorgekommen, als habe Peggy nur darauf gewartet, ihre Schwester endlich loszuwerden. Das war nun schon fast zehn Jahre her. Robert war ein etwas untersetzter Mann, aber seine lebhaften runden Augen strahlten mit einer Selbstverständlichkeit, dass es jeden ansteckte. Sein glattes dunkelblondes Haar war sauber gescheitelt, seine rundlichen Wangen glühten. „Hallo, da ist ja meine allerliebste Schwägerin.“ Er riss sie an sich und drückte sie mit solcher Inbrunst, dass sie glaubte, ihre Rippen würden zu splittern anfangen.

„Hey, Robert. Lass meine Knochen heil.“

„Ja, ja, die Evans-Frauen. Irgendwie hat man nie richtig was in den Armen.“ Er grinste.

Beverly war sich sicher, dass Robert es nur mit ihrer knurrigen Schwester aushielt, weil er alles mit Gelassenheit nahm und selbst ihre Spitzen mit Humor ertrug. Sie mochte ihn. Er strahlte die Herzlichkeit aus, die Peggy fehlte, er brachte Wärme in dieses Haus. Es war schön zu sehen, wie nett er mit seiner Schwiegermutter umging. Es war erstaunlich, wie er es immer wieder schaffte, Peggy trotz ihrer Launen um den kleinen Finger zu wickeln. Er war der ideale Mann für sie, optimistisch, locker und leidensfähig.

Er setzte sich und blickte erwartungsvoll über den gedeckten Tisch. „Na, was gibt es denn Gutes?“

„Kannst du immer nur ans Essen denken, Robert?“, erwiderte Peggy gereizt.

„Ans Essen, ans Kochen und an dich“, lachte er.

„Hör auf damit. Bevy, setz dich da rüber. Wo bleibt Tante Rebecca? Kann sie denn nie pünktlich sein? Sie hat es sicher vergessen. Oder sie treibt sich wieder rum.“ Es klingelte, als Peggy sich gerade gesetzt hatte. Sie stand mit einem wütenden Schnauben wieder auf.

„Ich kann hingehen“, warf Beverly ein, aber Peggy schob sich an ihr vorbei. „Nein, du nicht!“

Rebecca war zwei Jahre älter als ihre Schwägerin, aber im Gegensatz zu Melinda sah man ihr das Alter nicht an. Sie war trotz ihrer dreiundsechzig Jahre ein Hingucker, modisch gekleidet, dezent geschminkt, immer perfekt frisiert. Tante Rebecca war Dauergesprächsstoff in Aldermaston. Beverly wusste, dass ihre Schwester diese Tatsache peinlich fand. Peggy war der Ansicht, dass Rebecca sich völlig daneben benahm, weil sie immer wieder dem einen oder anderen Witwer der Stadt den Kopf verdrehte.

Rebecca verlor keine Zeit und stürmte auf Beverly zu. „Wie lange habe ich dich nicht mehr gesehen? Mein Gott, Beverly, schön wie die Venus.“

„Danke, ich gebe das Kompliment unverändert an dich zurück. Wie geht es dir?“

„Bestens. Ich bin frisch verliebt.“ Rebecca setzte sich neben Robert und puffte ihm mit dem Ellenbogen in die Seite.

Er lachte. „Hilfe, diese scharfe Tante baggert mich immer an.“

Peggys Ausdruck war wie versteinert.

Rebecca nestelte in ihrer Handtasche und zog ein kleines Päckchen hervor. „Schwesterherz, für dich.“

„Wir wollten diese Schenkerei doch sein lassen“, mäkelte Peggy.

„Du vielleicht. Was ich tue, musst du mir schon selbst überlassen. Ich bin schließlich alt genug“, konstatierte Rebecca ruhig.

„Ja, vor allem alt.“

Robert warf seiner Frau einen wütenden Blick zu, aber Rebecca lächelte beschwichtigend. „Was manchmal von Vorteil ist, weil man im Alter viele Dinge nicht mehr so verkniffen sieht.“

„Wenn du das Lotterleben meinst, über das sich alle das Maul zerreißen!“

„Peggy!“ Robert war aufgesprungen; Beverly hatte ihn noch nie mit einem solch unbeherrschten Gesichtsausdruck gesehen. Rebecca zog ihn am Ärmel zurück auf seinen Stuhl. „Liebe Nichte. Wir sollten das klären, bevor wir deiner Mutter den Geburtstag verderben. Merke dir bitte: Es ist ganz allein meine Sache, wie ich mein Leben lebe, solange ich niemandem damit schade. Wenn die so genannten Leute darüber tratschen wollen, so sollen sie es meinetwegen tun. Es lässt mich kalt, weil es mit der Wahrheit wenig gemein hat. Wenn du allerdings glaubst, Peggy, ich würde dir schaden, weil ich die Familie dadurch in den Schmutz ziehe, dann kannst du allen gern sagen, dass du mit deiner Tante nichts zu schaffen hast.“ Sie nahm ihr Glas und prostete allen zu. „Gegen das Gerede kann ich dir übrigens Ohrstöpsel empfehlen. Lasst uns jetzt trinken, auf Melinda Evans und die einundsechzig Jahre, die sie auf dieser Erde weilt.“

Sie stießen an und tranken, während Peggy mit hochrotem Kopf hastig das Zimmer verließ.

„Ja, du hast Recht“, keifte sie, bevor sie die Tür zuschlug, „du und Bevy, ihr seid wirklich eine Schande für die ganze Familie.“

 


4. Kapitel



Die Frau hatte keine Ahnung, ob es Tag war oder Nacht. Sie wusste nur, dass viel Zeit vergangen war, doch wie lange er sie bereits eingesperrt hatte, das wusste sie nicht. Der Klang seiner Schritte auf der Treppe ließ sie erzittern. Sie rollte sich wie eine Schnecke in einer Ecke zusammen, aber es half ihr nichts. Wie immer trug er eine Taschenlampe bei sich und fand sie auf der Stelle.

Das Licht war viel zu hell. Ihre Augen brannten. Sie blin­zelte einmal, zweimal, aber es wurde nicht besser. Schützend hielt sie eine Hand vor ihre Augen.

„Trink!“, befahl ihr seine Stimme hinter dem Licht. Kannte sie den Mann? Sie konnte sich nicht erinnern. Eine Plastikfla­sche wurde ihr an den Mund gesetzt.

„Trink“, sagte die Stimme wieder. Gierig ließ sie das Wasser in ihre trockene, geschwollene Kehle laufen. Es schmerzte beim Schlucken. Überhaupt schmerzte ihr Körper überall und ihr war schwindelig. Dazu dröhnte ihr Kopf wie ein Kraftwerk. Dieser verdammte Irre, was hatte der überhaupt mit ihr gemacht? Sie erinnerte sich nur an Schmerzen, an et­was Hartes, Glänzendes, dass sie getroffen hatte. Und an ihre Angst.

Langsam öffnete sie die Lider, blickte blinzelnd ins Licht und rieb sich mit einer langsamen Bewegung die Augen. Sie sah alles verschwommen, aber da bewegte sich etwas Dunkles auf sie zu. Erneut wischte sie sich die Augen. Jetzt konnte sie ein paar schwarze Stiefel erkennen. Der Mann stand jetzt direkt vor ihr. Die Taschenlampe in seiner Linken blendete sie noch immer, aber jetzt erkannte sie, dass er et­was Glitzerndes in seiner rechten Hand hielt. Erschrocken fuhr sie zurück und prallte mit dem Rücken gegen eine Wand. Etwas zerrte zugleich mit klirrendem Geräusch an ih­rem Bein. Ihr Blick irrte zu ihrem Fuß. Eine metallene Fessel lag um ihren Knöchel. Daran befestigt war eine schwere Ket­te aus Stahlgliedern.

Angekettet wie ein Tier hat er mich, schoss es ihr durch den Kopf. Und plötzlich passten Schmerz, Kette, Dunkelheit und der harte Boden, auf dem sie hockte, auf schreckliche Weise zusammen. Und sie erinnerte sich.

Die Erinnerung kam langsam zurück, wie ein Puzzle, das sich nach und nach zusammenfügte. Sie hatte sich besonders hübsch gemacht und war zum Tanzen gefahren. Schließlich ging alle Welt zum Tanz in den Mai. Gerne hätte sie eine net­te Bekanntschaft gemacht, aber es hatte sich nichts ergeben. Also war sie allein nach Hause gefahren. Da war die dunkle Straße, die sich unten am Fluss entlang schlängelte. Die grel­len Scheinwerfer, die wie aus dem Nichts hinter ihr auftauch­ten und sie so blendeten, dass ihre Heimfahrt zu einer Odys­see wurde. Ihr erleichterter Blick in den Rückspiegel, als sie in ihre Einfahrt einbog und für einen Moment geglaubt hatte, ihren Verfolger los zu sein. Beunruhigt, wie sie war, hatte sie ihren Wagen in der Einfahrt geparkt und war hastig die Vor­dertreppe ihres schmalen, zweistöckigen Häuschens hinauf­gestiegen. Sie erinnerte sich, wie die Bewegungsmelder zu beiden Seiten der Veranda reagiert und die Fassade des Hau­ses angestrahlt hatten. Plötzlich war das Scheinwerferlicht wieder da gewesen, und sie hatte hinter sich den Motor ersterben gehört, und dann war er irgendwie auch schon vor ihr gestanden. Ein maskierter Mann mit einem Messer. Und er hatte auf sie eingestochen, immer und immer wieder. Da­bei muss sie ihr Bewusstsein verloren haben. Der Rest war Schmerz und Dunkelheit und Gedanken. Oh Gott, das kann nicht geschehen sein! Aber es war geschehen. Sie schrie auf und rief verzweifelt um Hilfe. Aber es war niemand da. We­nigstens niemand, der ihr zu Hilfe kommen würde.

Nur mit Mühe konnte sie sich wieder zur Ruhe zwingen. Ihr ganzer Körper zitterte. Es war kalt. Erst jetzt registrierte sie, dass sie vollkommen nackt war. Ihr Verlies roch dumpf, unangenehm. Sie konnte den Geruch nicht richtig zuordnen. Irgendwie feucht. Jenseits des Lichtkegels der Taschenlampe schienen die Wände auf sie zuzukriechen. Sie hatte das Ge­fühl, dass ihr die Luft wegblieb. Sie öffnete den Mund, wollte schreien, jedoch schien plötzlich ihr Mund wie auch ihr gan­zer Körper nicht mehr auf Befehle zu reagieren.

„Versuch’s erst gar nicht noch mal“, sagte seine kalte Stim­me. „Hier hört dich sowieso niemand.“

Sie blinzelte, versuchte mehr von ihm zu erkennen. Was sie sah, war eine schwarze Hose, ein schwarzes Hemd und ein Gesicht, das von einer schwarzen Maske verdeckt wurde. Feigling, huschte ihr ein Gedanke durch den Kopf. Sie kämpfte damit, ihrer Zunge ein paar Worte zu befehlen.

„Was ... was wollen Sie von mir ...?“

Der Schnitt kam schnell und unerwartet. Ungläubig starrte sie auf das Blut, das an ihrem Oberschenkel herunterlief. Auf dem Boden vermischte es sich mit vielen weiteren dunklen Flecken. Sie starrte darauf. Langsam begriff sie. Es war ihr Blut. Die Schmerzen, die sie am ganzen Körper spürte und die sie den einzelnen Wunden nicht einmal mehr zuordnen konnte. Re­signation machte sich in ihr breit. In diesem Drecksloch von einem Gefängnis würde es für sie kein Mitleid, kein Pardon geben.

Während sie den Kopf an der kalten Wand abstützte, spür­te sie, wie der Metallring in ihren Knöchel schnitt.

Ich darf nicht aufgeben, sagte sie sich. Bloß das nicht. Das Schwein darf nicht gewinnen.

Erneut blinzelte sie in das grelle Licht der Taschenlampe. Ihr Peiniger stand stumm da stand und beobachtete sie.

„W...“ Sie wollte etwas sagen, doch ihre Stimme gehorch­te ihr nicht mehr. Sie schluckte und versuchte es nochmals.

„Warum tun Sie mir das an? Bitte lassen Sie ...“ Ihre Stim­me brach wieder weg. Ihre Zunge fühlte sich schwer und pel­zig an. Das Schwein sagte immer noch kein Wort. Er beob­achtete sie weiter. Ab und zu konnte sie seinen schweren Atem hören.

Dann beugte er sich wieder zu ihr herab. Sie wimmerte in Erwartung eines weiteren Stichs. Doch diesmal griff er nach ihrer Halskette. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie die Kette noch trug. Er zerrte und nestelte an dem Verschluss.

„Nein, bitte nicht die Kette“, wollte sie sagen. „Es ist ein Erbstück meiner Großmutter!“ Aber bevor sie auch nur ein Wort aus ihrer Kehle hervorquetschen konnte, hatte er sich bereits von ihr abgewandt. Der Lichtkegel wanderte von ihr weg, der Mann ging zur Treppe und stieg hinauf. Ein Schlüs­sel rasselte. Dann war sie wieder in völliger Dunkelheit.