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ISBN 978-3-7117-2063-4
eISBN 978-3-7117-5383-0
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Stefan Peters, geboren 1967, studierte Publizistik und war als Journalist tätig, arbeitet nun als freier Kameramann und als Systemischer Coach in Wien. 2017 erschien sein erster Roman »Erstbezug« im Picus Verlag, 2018 erscheint »Strenge Rechnung«.
ROMAN
PICUS VERLAG WIEN
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Es war seine Tochter, die ihn fand.
Das monotone Motorengeräusch hatte sie neugierig gemacht. Obwohl sie beide Tore der Doppelgarage hochgeklappt hatte, war die Luft drinnen noch immer mit betäubenden Dämpfen gesättigt. Die Halbwüchsige machte ein paar zögerliche Schritte zum Wagen und versuchte, hinter der spiegelnden Scheibe etwas zu erkennen. Als sie im nächsten Moment panisch die Fahrertür aufriss, setzte ihr Denken aus und sie fühlte eine Ohnmacht nahen. Ob das vom Kohlenmonoxid kam oder davon, dass hinter dem Steuer zusammengesunken ihr Vater saß, erfasste sie schon nicht mehr.
Das Einzige, das sie erfasste, war, dass Rudolf Springer in seinen Jaguar ein- und aus dem Leben ausgestiegen war.
Gefesselt vom Anblick des toten Körpers, einem Anblick, auf den sie ihre vierzehn Lebensjahre nicht vorbereitet hatten, registrierte das Mädchen nicht den Staubsaugerschlauch, der vom Auspuffrohr des Wagens ins hintere Seitenfenster führte. Sie achtete nicht auf die Lebensgefahr, in der sie selbst schwebte – nur langsam durchdrang der frische Sauerstoff von draußen die Abgase des Sechszylinders, der noch immer auf Standgas lief. Damals, in den Siebzigern, war er der Dienstwagen des Kanzlers gewesen: monströs, mitternachtsblau und staatstragend. Ein Insignium der Macht, Springers persönliches Totem.
Und jetzt sein Totenbett.
Im Zustand benebelten Schwebens entging der Aufmerksamkeit seiner Tochter auch das dreiblättrige Kleeblatt, das auf dem Beifahrersitz lag. Hätte sie es gesehen, hätte sie genau hingesehen, ihr wäre aufgefallen, dass es sich dabei um einen Glücksklee handelte. Einen Glücksklee, dem ein Blatt fehlte.
»Ihr seid die Elite!«
Michael Bogner hatte keine Ahnung, was der Typ damit meinte. Sie hatten ihn und fünf seiner Kollegen vom Beraterteam in den Gruppenraum vergattert. Dorthin, wo sonst die Arbeitslosen gesagt bekamen, was sie hier erwartete. Es gab keine Erklärungen. Keine Andeutungen. Nichts.
Jetzt saßen sie zu sechst auf harten blauen Plastikstühlen in Reih und Glied, praktisch Frontalunterricht. Es war Freitagmittag. Einer von ihnen schielte verstohlen auf die Uhr. Das Wochenende versprach die letzten Badetage dieses Sommers.
Bogner sah sich um. Sein Team zählte zwölf Köpfe. Wo waren die anderen?
Ihnen gegenüber saß Pani, die Projektleiterin. Hinter dem Tisch, auf dem sich sonst die Mappen stapelten, die sie den Leuten bei Kursbeginn in die Hand drückten. Hoch aufgerichtet, die kurzen Haare hinter die Ohren gescheitelt, wirkte sie wie eine strenge Oberlehrerin, die aufpasste, dass keiner aus der Reihe tanzte.
Nicht, dass das notwendig gewesen wäre. Denn die Blicke von Bogner und den anderen Beratern ruhten auf einem groß gewachsenen Mann, der neben ihr stand. Er hatte die Figur einer Colaflasche, und sein leicht nach vorn geneigter Kopf ließ eine Halbglatze über einem knallroten Cholerikergesicht erstrahlen. Der Mann hieß Steinhauser und war, wenn Bogner das richtig verstanden hatte, sein Chef.
Der Oberboss. Den er bisher nur flüchtig vom Hörensagen gekannt hatte.
Pleased to meet you!, dachte Bogner.
»Ihr. Seid. Die. Elite!«, rief der Mann nochmals markig in den Raum. Er hieb auf jedes Wort, als wollte er es einzeln in den Teppichboden rammen. Die neu ernannte Elite zog den Kopf ein und fragte sich im Stillen, ob das eine gute Nachricht war. Auf diese Art den bisher gesichtslosen Chef des Instituts kennenzulernen, in dem Bogner und die anderen versuchten, für Arbeitslose neue Jobs zu finden, war schon beunruhigend genug. Was der elitären Erhebung folgte, war allerdings noch viel beunruhigender.
Pani, die wohl nur sehr oberflächlich wusste, worum es hier ging, versteifte sich zusehends, als der Boss nach und nach die Katze aus dem Sack ließ. Und Bogner begann zu verstehen. Die Geheimniskrämerei. Das Gesicht von Pani. Dass der große Mann nicht mit Good News angerückt war.
Dabei war der Job, den sie hier für das Arbeitsamt machten, auch so schon mühsam genug. Und meistens nicht erfolgreich, jedenfalls nicht in den Augen der Leute, die das Budget verteilten und dafür hübsche Zahlen in der Arbeitslosenstatistik sehen wollten. Was nicht so sehr an Bogner und seinen Kollegen lag. Sie kriegten vom Arbeitsamt hauptsächlich diejenigen zugeteilt, denen man schon von Weitem ansah, dass sie unvermittelbar waren.
Die Leichen.
Alte und Kranke waren es, Kriminelle und Säufer, dazu Leute, deren Bildungslaufbahn nach der Grundschule geendet hatte. Sie schickten ihnen Männer, die kein Wort Deutsch konnten und Frauen, die keinen Schritt ohne ihren Mann machen durften. Inschallah!
Der Auftrag war ebenso klar wie unrealistisch: Bringt sie zurück ins Arbeitsleben!
Alle zwei Wochen saßen sie dann eine Stunde lang bei ihrem Berater, redeten über Geld, Drogen, ihre Krankheiten und manchmal sogar über den nächsten Job. Sie radebrechten, schwiegen vielsprachig, bettelten, drohten und weinten. Manche kamen mit Süßigkeiten, Schnaps und Blumen daher. Die Präsente landeten dann in der Teeküche der Berater, der Asservatenkammer für nutzlose Bestechungsversuche.
Dass doch immer wieder einer einen Job fand oder wenigstens einen Schritt vorankam, war entweder Zufall oder eine Sache des Vertrauens. Vertrauen, ein zartes Pflänzchen, das nur hinter verschlossenen Türen und unter vier Augen gedieh.
Und genau das war der Haken an Steinhausers Marschbefehl.
Die Elite sollte nämlich, so lautete die Anweisung, ab sofort zwei Kunden, wie das beim Arbeitsamt hieß, gleichzeitig beraten. Anders würde sich das mit den vielen Leuten nicht ausgehen.
Ob sie einen Zusatzauftrag bekommen hätten, wollte Konecny, die neben Bogner saß, wissen.
»Nicht direkt«, gab Steinhauser nach einer längeren Pause zurück. Beschwichtigend streckte er die Arme vor, wie ein Dirigent beim Pianissimo. Was aber nur zur Folge hatte, dass sein silbergrauer Anzug hektische Falten warf.
»Als kostenbewusstes Unternehmen«, sagte er dann, »haben wir unsere Ausgabenstruktur von einer externen Prüfstelle auf Punkt und Komma analysieren lassen. Dabei hat sich leider gezeigt, dass die Personalkosten stärker angestiegen sind als veranschlagt war. Wie ihr wisst«, er seufzte, »können wir dem Auftraggeber nur weiterverrechnen, was wir in der Projektkalkulation vor …« Steinhauser sah fragend zu Pani. Sie hob drei Finger.
»… vor drei Jahren angeboten haben.«
Man habe es sich nicht leicht gemacht, fuhr er fort. Habe an allen Ecken und Enden gespart. Aber jetzt sei der Punkt erreicht, an dem schmerzliche Einschnitte unvermeidbar waren, leider.
Bogner fielen Gerüchte ein, die ein paar Monate zuvor in der Teeküche kursiert waren. Gerüchte, in denen die Rede von einer Bildungsreise war, die sich die Geschäftsführung samt Entourage gegönnt hatte. Zwei Wochen USA, Las Vegas inklusive. Ob daran etwas Wahres war, wusste er nicht. Er wusste nur, dass er es ihnen zutraute. Bogner fragte sich, wie die sogenannte externe Prüfstelle die Reise bewertet hätte. Vorausgesetzt, sie hatte den Posten überhaupt zu Gesicht bekommen.
»Kurz gesagt«, schloss Steinhauser jetzt, »haben wir uns schweren Herzens zu einer längst notwendigen Anpassung des Personalstands entschlossen. Anwesende sind davon übrigens nicht betroffen.« Er bleckte die Zähne. Was aussehen sollte, als lächelte er.
Feuer am Dach also, dachte Bogner. Es hatte keine Vorzeichen gegeben, dass eine Kündigungswelle im Anrollen war. Genau das hatte aber der Chef gerade in Managementsprech verkündet. Bogner dachte an die Kollegen. Die anderen, die Nicht-Elite. Wo waren sie? Hatte man ihnen schon den blauen Brief in die Hand gedrückt? Oder waren sie in ein letztes unbeschwertes Wochenende aufgebrochen, während er und die anderen in eine Konspiration hineingezogen wurden?
Das alte Spiel, dachte Bogner bitter. Gleiche Arbeit, halbe Mannschaft. Doppelter Reibach für den Chef.
Er sah wieder zu Pani. Die krümmte sich, wurde gewissermaßen eins mit dem Tisch und ging hinter einer Haarsträhne in Deckung, die ihr ins Gesicht gefallen war. Ihr Blick irrlichterte vom Hosenbein Steinhausers über ihre ineinander verknoteten Finger hin zu den Fenstern und weiter hinaus zur grauen Fassade eines Gemeindebaus auf der anderen Straßenseite. Trotzdem spürte sie, dass die Blicke ihrer Leute ungläubig auf ihr ruhten. Als hätte sie sie verraten. Als wäre es ihre Idee gewesen. Als hätte sie etwas davon gewusst. Nichts davon war der Fall.
Bogner sah in die Runde. Sah, dass er nicht der Einzige war, der zerrissen war zwischen Erleichterung und Wut. Erleichterung, weil es nicht sie getroffen hatte. Und Wut, weil ihre Arbeit endgültig zu einem Feigenblatt für die Statistik geworden war. Doch was konnten sie schon tun? Widersprechen, geschlossen ablehnen? Höchst unwahrscheinlich, in den Sozialberufen waren sie das Kämpfen nicht gewohnt. Und wenn doch? Bogner versank in einen revolutionären Tagtraum.
So dauerte es einige Zeit, bis Steinhausers Worte sein Bewusstsein erreichten. Es ging um die Abrechnung seiner Arbeitszeit. In Zukunft würden für jede Beratungsstunde zwei Kunden ihre Anwesenheit unterschreiben statt bisher nur einer.
»Uns ist klar, dass wir euch einiges abverlangen«, gab der Chef zu. »Aber wir sehen eure Leistung, und wir honorieren sie. Mit einer monatlichen Prämie.« Er nannte eine Summe.
Bogner rechnete grob im Kopf. Die Prämie betrug ungefähr ein Fünftel seines Gehalts. Den Rest streifte wohl die Geschäftsführung ein.
Klarer Fall von Ultimatumspiel, dachte er. In der Spieltheorie gab es ein Experiment, in dem es um die Frage ging, bis zu welcher Grenze eine bestimmte Summe ungerecht aufgeteilt werden konnte, bis einer der Mitspieler seine Zustimmung verweigerte. Trat dieser Fall ein, ging die gesamte Summe zurück an die Bank.
Die Bank, das war in dem Fall das Arbeitsamt. Bogner hatte das Experiment einige Male in Seminaren durchgeführt, damals, vor über fünfzehn Jahren, als er noch Jungtrainer mit unverbrauchten Idealen war. Jetzt erlebte er es erstmals als Mitspieler. Steinhauser pokerte hoch. Er vertraute offenbar darauf, dass die Berater mitspielten. Dass ihnen ein Krümel vom Kuchen lieber war als gar nichts.
Das System war interessant ausgedacht. Legal war es nicht einmal annähernd. Das Arbeitsamt würde ein Exempel statuieren, wenn es davon Wind kriegte.
Was nicht geschehen würde. Weil jeder dichthielt. Er und seine Kollegen standen am einzigen Futtertrog, den ihr Beruf hergab. Die Aufträge fürs Arbeitsamt waren exklusiv, so, dass alle Institute um einen Monopolkunden schwirrten.
Und trotzdem.
Beschiss!, dachte Bogner. Völliger Beschiss. Am Arbeitsamt. Am Kunden. An ihm selbst. Das auch.
Immerhin wusste er jetzt, was er sich unter Elite vorzustellen hatte. Wenn er diesen Raum verließ, war aus einem Berater ein Komplize geworden.
Erstmals hatten die Tricks, die beim Geschäft mit den Arbeitslosen zum Einsatz kamen, bis zu ihm durchgeschlagen. Dass bei der Auftragsvergabe gemauschelt und frisiert wurde, was das Zeug hielt, das wusste er.
Bogner war kein Idiot.
Immer wieder hatte ihm die Personalchefin Packen von Formularen zur Unterschrift in die Hand gedrückt. Weil er einer von denen war, die sie für so ziemlich jedes Projekt einreichen konnten. Weil er als Berater Bonuspunkte brachte. Die gab es für alles Mögliche. Für sein Studium und seine Praxisstunden. Für die Erfahrung mit allen Sorten von Arbeitslosen. Er hatte mit verwahrlosten Jugendlichen gearbeitet und mit den Alten, die die Zeit bis zur Pension bei ihm absaßen. Er spielte die Klaviatur von Bewerbung und Ausbildung in allen Tonarten.
Deshalb stand seit Jahren sein Name auf den Listen für alle Projekte, die das Arbeitsamt ausschrieb. Bekamen sie für mehr als eines den Zuschlag, dann nahmen sie eben jemand anderen. Wer tatsächlich das Seminar hielt oder am Beratungstisch saß, interessierte keinen Menschen.
Freude hatte Bogner keine damit. Doch er hatte sich daran gewöhnt, so wie man sich an einen Gelsenstich gewöhnt, der manchmal juckt, meist aber nicht. Die wirklich unsauberen Geschäfte waren bisher über seinen Kopf hinweggezogen wie üble Ausdünstungen, die der Wind über den Sumpf wehte.
Aber diesmal war es anders.
Diesmal erwarteten sie von ihm, offen mitzutricksen. Zwei Einzelberatungen in Stereo – und er in der Mitte. Kein Vertrauen, keine Ergebnisse. So tun als ob, mehr war nicht gefragt.
Ein Projektor warf jetzt Zahlen an die Wand. Zahlen über Zahlen, Menschen über Menschen, kommentiert vom Geschäftsführer, der monoton herunterleierte, was ohnehin jeder lesen konnte.
Nach der dritten Kolonne, einschläfernd wie ihre Vorgängerinnen, verpasste Bogner den Anschluss und driftete ab. In seinem Kopf nahm eine Erinnerung Form an.
Ein altes Bild. Seine Kindheit auf dem Land, wo er und seine Klassenkameraden regelmäßig in die Kirche vergattert wurden. Zur Beichte. Eine Show um Schuld und Sühne und einen Gott, vor dem man sich nach Kräften zu fürchten hatte. Da saßen sie auf der Kirchenbank vor dem Beichtstuhl aufgefädelt und handelten mit Sünden. Sie tauschten ihr Jausenbrot gegen eine gute Idee, eine lächerliche kleine Verfehlung, bei der der Pfarrer nicht allzu fuchtig wurde drinnen im dunklen Holzkobel mit den Schnitzereien, die mit Hölle und Fegefeuer drohten.
Ungehorsam. Irgendwas mit Ungehorsam kam immer gut an. Drei Vaterunser und die Bilanz stand wieder auf null.
Bogner hatte gerade große Lust auf Ungehorsam. Gegen den Chef, der sich genau dieses eine Mal aus seinem Büro in der Innenstadt hinausbequemt hatte in den glanzlosen Fünfzehnten, in den hässlichen Gruppenraum mit seinen brummenden Neonlampen und dem versifften Boden aus graubraunen Nadelfilzfliesen. Er war sozusagen herabgestiegen, um ihnen einen Auftrag zu geben, den keiner mit halbwegs gutem Gewissen erledigen konnte.
Bogner hatte noch sehr viel mehr Lust auf Ungehorsam gegen Pani, die so tat, als ob sie all das nichts anging. In seiner Faust zerknitterte das Papier, auf dem er vorgehabt hatte, Notizen zu machen. Vorher.
Als er noch nicht gewusst hatte, was die Besprechung ergeben würde. Als er noch glaubte, dass … Was hatte er eigentlich geglaubt? Dass der Chef seine Arbeit loben würde und die seiner Kollegen?
Ach was! Sozialromantischer Kitsch! Das glaubten nicht einmal die Praktikantinnen, die manchmal hereinschneiten und nach spätestens drei Tagen eine Bruchlandung auf der harten Piste des Sozialgeschäfts hinlegten.
Es gab ein ungeschriebenes Gesetz in seiner Branche, eine streng pragmatische Realverfassung. Sie regelte das, was zu tun war, um trotz der Bedingungen, unter denen sie hier arbeiteten, insgesamt etwas Sinnvolles zu machen.
Das Arbeitsamt wollte Berichte? Er schrieb welche. Der Kunde war vom nächsten Job Lichtjahre entfernt? Er berechnete das Lichtjahr neu. Das Arbeitsamt schickte einen Psycho? Bogner hielt ihn bei Laune und machte das Mögliche. So einfach war das.
Bis jetzt.
Bogner musste reden. Mit Pani. Über den Ungehorsam. As soon as possible.
»Verdammt, Bianca! Was soll das? Ich meine, ich kann ja nicht …«
Bogner wechselte Standbein und Spielbein und machte mit weit ausgestreckten Armen eine hilflose Geste, die alles einschloss, vom unsittlichen Auftrag Steinhausers über die plötzliche Kündigung seiner Kollegen bis zu dem Umstand, dass Pani, die für den Haufen verantwortlich war, seelenruhig zusah, wie alles vor die Hunde ging.
Dass er überhaupt in ihrem Büro stand, keine zwei Schritte von der Tür entfernt auf halbem Rückzug, war schon drei Schritte mehr, als er sich noch heute Morgen hätte vorstellen können.
Heute Morgen, das war lange her. Als das pragmatische Gesetz noch seine Gültigkeit besaß. Als noch Frieden herrschte in seinem kleinen Land.
Es war die nackte Angst, die ihn antrieb, auf Konfrontation zu gehen. Die Angst davor, dass sich alles auflösen könnte. Das alles, was er mit seinen Armen gerade zu umschließen versuchte.
Sie waren ein eingeschworenes Team, ein Dutzend bunt zusammengewürfelte Männer und Frauen. Die Bruchlinien ihres Lebens hatten sie schussfest gemacht, wenn es sozial ans Eingemachte ging. Nichts, was ihnen hier begegnete, konnte sie noch aus der Ruhe bringen.
Gemeinsam hatten sie vor zwei Jahren die alte Fabrik im fünfzehnten Wiener Bezirk bezogen. Es war eine Arbeitergegend, die ärmste des ganzen Landes. Halb verfallene Häuser aus der Gründerzeit lehnten an gesichtslosen Gemeindebauten aus den sechziger Jahren. Vereinzelte Hinterhofwerkstätten zeugten vom früheren kleinbürgerlichen Leben der Vororte. Hier wohnte, wer woanders nichts fand.
Die Fabrik aber, in der einmal Schuhpaste und dann Waschmittel produziert worden war, stand irgendwie unpassend in der freudlosen Gasse. Aufrecht. Sie hatten daraus einen Ort gemacht, wo Arbeitslose als Menschen behandelt wurden und nicht als Beratungsfälle.
Natürlich fand kein Kunde freiwillig seinen Weg zu ihnen. Das war nie der Fall, nicht, wenn das Arbeitsamt dahintersteckte. Die wiesen zu, und wer nicht hinging, verlor das Arbeitslosengeld.
Hier aber, in der alten Fabrik, versuchten sie, den Zwang vergessen zu machen. Sie halfen, wem zu helfen war. Wer nichts von ihnen brauchte, bekam Diskretion. Das war das Mindeste, was sie tun konnten.
Obwohl Pani von Anfang an mit dabei war, war sie doch ein Fremdkörper geblieben, eine Vorgesetzte, abgeschottet hinter der gläsernen Wand ihres Büros im ersten Stock. Bitte nicht berühren.
Noch weniger als den anderen war es Bogner gelungen, mit ihr warm zu werden. Wenn er an ihrem Zimmer vorbeikam, sah er sie meist über einem Wust aneinandergeklebter Blätter sitzen, auf denen Zahlen wuselten. Eine Buchhalterin, dachte er immer wieder, eine Zahlenreiterin.
Bogner mochte keine Zahlen. Sie machten ihm Angst, weil sie sich in seinem Hirn zu abstrakten Schlingen verdrehten, in denen er sich immer schon verheddert hatte.
Hoch hatte er ihr bisher angerechnet, dass sie ihn und die anderen wenigstens nicht bei der Arbeit störte. Sich nie einmischte. Was sie auch diesmal nicht getan hatte.
Jetzt, wo es nötig gewesen wäre.
Nicht, dass Bogner großartig darüber nachgedacht hatte, bevor er bei ihr hereingeplatzt war. Er war kein Betriebsrat oder so was. Der Betriebsrat war weit weg. Er saß seine dienstfrei gestellte Zeit in der Zentrale ab, Schoßhund des Geschäftsführers, wie es hieß.
Es war nur die alte Sache mit der Sicherung. Die manchmal durchbrannte, heiß und ohne Vorwarnung. Ihretwegen hatte Bogner Jobs geschmissen und Beziehungen beendet. Wenn der Faden schmolz, mietete er die erste Bruchbude, die ihm der Makler vorführte oder tat alles, um sich um Kopf und Kragen zu reden.
Wie jetzt.
Seinen wenigen Besuchen in Panis Büro war bisher immer ein Anruf von ihr vorausgegangen. Sie brauchte Zahlen von ihm, Zahlen von Jobvermittlungen, Zahlen, mit denen das Arbeitsamt statistische Fieberkurven zeichnete. Er lieferte. Und vergaß auf der Stelle.
Aber diesmal hatte es ihn hergetrieben. Er konnte nicht anders. Wieder einmal war die Sicherung geschmolzen.
Bogner hatte kein sonderliches Gespür für Menschen. Dafür konnte er das Gras wachsen hören. Er war der Letzte, der merkte, was in seinem Gegenüber vorging. Und der Erste, dem auffiel, wenn eine Situation in Schieflage geriet. Was gerade der Fall war.
»Verstehst du nicht, Bianca? Was sich der Steinhauser da vorstellt – das geht sich nicht aus!« Bogner keuchte vor Aufregung.
»Weißt du was?« Pani stützte die Ellbogen so energisch auf ihre Papiere, dass die Quartalsstatistik ins Rutschen kam und die Abrechnung des Büromaterials unter sich begrub.
»Ich geb dir einen guten Rat, gratis und steuerfrei: Freu dich einfach, dass du auf der richtigen Seite bist. Bei denen, die bleiben. Weil – so klar war das nicht bei dir.«
Sie fixierte ihn von unten her über den Rand ihrer Lesebrille. Bogners Elan verrauchte augenblicklich. Er begann sich zu fragen, was er hier zu suchen hatte.
»Die Entscheidungen sind getroffen«, fuhr sie fort und ihre Stimme gewann an Schärfe.
Bogner wich einen halben Schritt zurück.
»Und ob dir das gefällt oder nicht, ist mir ehrlich gesagt egal. Ich habe mich um anderes zu kümmern als um deine Befindlichkeiten. Oder um die von sonst wem.«
»Aber …«
»Nichts aber! Was willst du noch? Du kriegst mehr Geld für die gleiche Zeit. Denk drüber nach, reg dich ab, mach deine Arbeit und geh mir nicht auf die Nerven!«
»Und die Kunden?«
»Die Kunden? Kommen und gehen. Wie bisher. Nur zu zweit.« Pani spreizte Zeige- und Mittelfinger. Es sah aus wie Victory. Sie lehnte sich zurück und brachte die Quartalsstatistik in Position.
»Aber das Arbeitsamt …?«
»Was soll damit sein?« Ihre Stimme war jetzt Chili, extrascharf.
»Ich meine, der Auftrag. Ist da nicht …?«
»Erstens: Hast du irgendwann das Konzept gelesen, ha?« Pani kniff die Augen zusammen. In ihre Stirn grub sich eine senkrechte Doppelfalte, was ihr etwas Wölfisches verlieh. »Nein, hast du nicht. Hat keiner hier, ich weiß. Zweitens: das Beraterhandbuch. Schon eines Blickes gewürdigt? Und drittens: dein Dienstvertrag. Einsatz je nach Erfordernis, so steht’s drin. Wie wär’s, ihn noch einmal durchzulesen? Sinnerfassend, diesmal.«
Peng! Bogner erstarrte. Natürlich hatte er die Papiere bekommen, damals. Hatte sie gelocht und in einen dicken Ordner geheftet, wo sie seitdem vor sich hin gilbten. Natürlich hatte er keine einzige Zeile davon gelesen. Wozu auch? Wo doch ohnehin alles war wie immer.
Vor vielen Jahren war er zu einem Projekt für das Arbeitsamt angetreten und sein Chef hatte ihn gefragt: »Weißt du, was du tust?« Er hatte bejaht. »Dann tu’s.« Das war der übliche Auftrag, noch genauer wollte es keiner wissen.
»Du hast keinen blassen Dunst, oder?« Pani beugte sich vor. »Ich schlage vor, dass du das nächste Mal nachsiehst, was wir hier eigentlich machen, bevor du mich bei der Arbeit störst.« Die Strähne fiel ihr wieder vors Gesicht, sie wischte sie wütend zur Seite. »Nur zur Info«, fasste sie zusammen: »Was der Steinhauser gesagt hat, ist eine Dienstanweisung und durch Konzept, Handbuch und Dienstvertrag vollständig gedeckt.«
Sie streckte ihm drei Finger entgegen. »Und jetzt geh. Geh auf ein Bier. Oder sonst was. Aber geh.«
Die Audienz war beendet.
Bogner brauchte zwei Zigaretten im Innenhof der Fabrik, um sich so weit zu beruhigen, dass er wieder klar denken konnte. Er stand im Schatten des Flugdachs, das sich über den hinteren Teil des Hofes spannte und seinem Büro das Licht nahm. Jenseits der Dachkante, wo die pralle Sonne den Asphalt zum Glühen brachte, flimmerte die Luft. Badewetter.
Bogner trat einen Schritt zurück, tiefer ins Halbdunkel. Das war sein Leo, der Fluchtpunkt, an dem sie ihn nicht fangen durften. Wie damals, als sie Kinder gewesen waren. Als er einer von denen gewesen war, die sich nie weiter als ein paar Schritte vom schützenden Baum, der Straßenlaterne entfernten, die sie als Leo bestimmt hatten. Weil er zu langsam war. Und zu feig, um sich dem Spott auszusetzen, der mit dieser Langsamkeit einherging. Hierher kam er, wenn er denken wollte. Oder eben flüchten. Vor den Stinkern, die ungewaschen und versoffen die Luft seines Büros verpesteten. Vor der bleiernen Schwere der Raunzer, die noch den letzten Funken Lebensfreude aufsogen wie ein schwarzes Loch. Und vor Pani, die er nur so lange ertrug, wie er keine Notiz von ihr nahm. Und sie von ihm.
Als sie mit ihrem Projekt in die Fabrik gezogen waren, hatte er sich den Raum im Erdgeschoß am Ende eines langes Ganges gewünscht. Keiner hatte Einspruch erhoben, es gab genügend freundliche, hellere Zimmer im Haus. Das Büro mit dem hohen Deckengewölbe war riesig, abgeschieden und im Sommer kühl. Was ihm das Wichtigste war, denn er schwitzte leicht und viel. Die rohen Ziegelwände aus der Zeit, als hier noch Maschinen ratterten, verliehen dem Raum ein loftartiges Flair.
Hier beriet er die Kunden am runden Tisch, hier schoss er von seinen Leuten und denen der Kollegen Fotos für die Lebensläufe. Einrichten, ein Dutzend Bilder mit dem Serienauslöser, die besten auswählen, zehn Minuten Photoshop, fertig, Rauchpause. Wie früher, in einem anderen Leben, als unterbeschäftigter Pressefotograf. Ein Leben, mit dem er schon vor gut zwanzig Jahren abgeschlossen hatte, nachdem ihm klar geworden war, dass er es nie in die Spitzenliga schaffen würde. Nun, Unterbeschäftigung dürfte wohl in nächster Zeit nicht sein Problem werden.
Bogner dämpfte die zweite Zigarette aus und betrat das Haus durch den Hintereingang. Kühle Luft umfing ihn und er wurde ruhiger. Es war endgültig still geworden in der alten Fabrik. Keine Schritte mehr auf den Gängen, kein surrender Kopierer, keine Türen, die ins Schloss fielen. Wochenende.
Er hätte schon längst weg sein sollen, gemeinsam mit den Kollegen und den übrigen Wienern die U-Bahnen füllen und die Straßen verstopfen. Wochenende. Alles rennet, rettet, flüchtet. In die Schwimmbäder, auf die Donauinsel, aufs Land.
Menschen, viele Menschen. Das, was er gerade nicht ertrug. Was er, genau genommen, noch nie ertragen hatte. Was, wenn er da draußen einen Kollegen getroffen hätte? Einen von der Elite, oder noch schlimmer, einen von den anderen? Denen die Assistentin die Kündigung in die Hand gedrückt hatte, vorhin, als er mit denen, die bleiben durften, den Sermon Steinhausers über sich ergehen ließ.
Mit ihnen reden? Undenkbar. Es gab nichts zu sagen. Da schwieg er lieber, blieb in seinem Leo, blieb als Letzter übrig. In Bogners Büro hing ein großer, in einen silbernen Rahmen gefasster Spiegel, offiziell für die Bewerbungsfotos. Diesmal brauchte er ihn für den anderen Zweck.
Als Ansprechpartner. Für heikle Fälle.
Bogner sah in den Spiegel. Schnitt eine Grimasse. Lächelte. Sein Spiegelbild lächelte zurück. Wenig überzeugend. Es war die Falte über der Nasenwurzel. Die gekommen war, um zu bleiben. Sollte sie, der Rest war okay, für Ende vierzig. Das schmale Gesicht und die grau melierten, immer noch dichten Haare, zu denen ihn die Frauen manchmal beglückwünschten. Die, von denen er nichts wollte. Die anderen wollten nichts von ihm.
Ein mittelgroßer Mann sah ihn an, ein Mann, der wesentlich sportlicher aussah, als er war, dabei leidlich hübsch als Folge der Abwesenheit auffälliger Deformationen.
Bogner gab das Lächeln auf. Und jetzt?, fragte er stumm sein Spiegelbild. Bleiben oder gehen? Die Warnung von Pani war deutlich gewesen. Er hatte kein Erbrecht auf den Job.
Nicht er. Nicht in dieser Zeit, in der der Arbeitsmarkt ein Lehrstück von Darwin in Reinkultur geworden war. It’s a jungle out there. Ihm schoss die Titelmelodie einer alten Fernsehserie durch den Kopf. Ein Typ, nicht von dieser Welt, genial, aber alles andere als alltagstauglich. Bogner hatte ihn geliebt. Damals. Als er noch fernsah.
Was würde sein Held jetzt tun? Aufgeben oder kämpfen? Oder … oder was?
Sie hatten ihm das Messer an die Brust gesetzt. Spielte er mit, machte er sich mitschuldig. Pani hatte behauptet, dass alles wasserdicht war. Und wenn schon! Davon wurde es auch nicht … Nicht was? Nicht sauberer? Nicht anständiger. Er hatte die Wahl. Spielte er nicht mit, dann würde ein anderer an seine Stelle treten. Einer, der nicht so viel nachdachte. Da konnte er gleich bleiben, wo er war.
Außerdem war da noch das Geld. Bogner kalkulierte. Er brauchte nicht viel. Da war seine kleine Wohnung. Keine Kredite, keine Kinder. Kein großspuriger Lebensstil. Bogner war über die Jahre zum Albtraum der Werbewirtschaft geworden. Nach und nach waren die Kanäle versickert, auf denen ihn die Verlockungen des Habenwollens erreichten. Die Prospekte, die Werbespots, die Banner und Wühlkörbe voller Sonderangebote. Sie gingen ihn nichts an. Er war konsumblind geworden.
Da war nur noch eine Sache. Das Kino. Dreimal die Woche ging er hin, mindestens. Das würde er sich aufzeichnen können, im Wortsinn. Wenn er erst arbeitslos war. Das Arbeitsamt würde ihn so lange drangsalieren, bis er bei einem anderen Projekt unterschrieb, für das sie ihm auch keinen Cent mehr zahlten als den Kollektivlohn.
Bogner wandte sich von seinem Spiegelbild ab und ging zum Schreibtisch. Lange saß er dort, das Kinn auf die Handflächen gestützt. Als er schließlich aufstand, hatte er seinen Entschluss gefasst. Er würde bleiben. Und das System verändern. Von innen.
Er wusste nur noch nicht wie.
Pani war wie versteinert an ihrem Schreibtisch sitzen geblieben, so, wie Bogner sie verlassen hatte.
Sie war erschüttert. Er hatte seinen Finger in jede einzelne Wunde gelegt, die ihr Steinhausers Auftritt zugefügt hatte. Wofür sie ihren Untergebenen aus tiefstem Herzen hasste, noch einen Deut mehr als den Boss. Steinhauser hatte sie ihren Leuten praktisch zum Fraß vorgeworfen. Hatte sie blöd sterben lassen, nichts im Vorfeld herausgerückt und sie dann vor vollendete Tatsachen gestellt, quasi nackt vor ihrem Team.
Steinhauser, du feige fette Sau!
Aber er war der Boss, da konnte sie nichts machen. Und sie war der Puffer, der Prellbock zwischen oben und unten. Dafür bekam sie ihr Gehalt. Das, wie sie wusste, aus so vielen Kostenstellen zusammengestückelt war, dass keiner nachvollziehen konnte, woher genau das Geld kam. Am wenigsten das Arbeitsamt. Womit der Zweck der Zahlenakrobatik erfüllt war.
Zahlenakrobatik. Das war ihr Revier. Der Grund, warum gerade sie an genau dieser Stelle saß.
Pani fühlte sich unbehaglich. Der Angriff von Bogner war so schnell, so unerwartet gekommen, dass sie hatte improvisieren müssen. Sie hatte keine Ahnung, ob das, was Steinhauser verkündet hatte, durch irgendwelche Verträge auch nur halbwegs gedeckt war. Also hatte sie aus vollen Rohren geschossen, hatte ihrem Mitarbeiter Papiere um die Ohren gehaut, von denen sie wusste, dass keiner sie je gelesen hatte. Sie hoffte, dass Bogner sie nicht herauskramen und überprüfen würde.
Würde er? Wohl kaum.
Sie schob die Lesebrille auf die Nase und wandte sich ihrer Quartalsstatistik zu. Doch die Tabellen und Zahlen verschwammen vor ihren Augen, und das, obwohl sie vor einem halben Jahr endlich Einsicht in ihre Altersweitsicht bekommen und sich die Brille zugelegt hatte. Nach einigen Minuten kapitulierte Pani. Das würde heute nichts mehr werden. Die Statistik musste bis nach dem Wochenende warten. Was Bogner betraf, lag die Sache anders. Sie hielt es zwar für nicht sehr wahrscheinlich, dass er es wagen würde, am Montag nochmals bei ihr aufzukreuzen. Wenn aber doch, dann wollte sie gerüstet sein. Sie faltete die geklebten Zettel zusammen, schob sie an den Rand des Tisches und klickte sich durch die Ordner auf ihrem Computerbildschirm.
Der Drucker surrte, spuckte Blatt um Blatt aus, einen dicken Packen. Pani sah auf die Uhr. Überstunden. Niemand, der auf sie wartete. Noch nicht. Als sie die Konzepte, das Handbuch und sicherheitshalber auch noch Bogners Dienstvertrag endlich durchgearbeitet hatte, standen die Wiener in den Schwimmbädern längst Schlange bei den Sanitätern, um ihre Sonnenbrände, Sonnenstiche, Bienenstiche und anderen Kollateralschäden verarzten zu lassen.
Ein zufriedenes Lächeln umspielte Panis knabenhaftes Gesicht. Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. In ihren Schultergelenken knackte es, während die Spannung von ihr abfiel. Es ging sich aus, haarscharf, aber doch. Wenn man den maximalen Spielraum gerade noch einhielt. Bogner und wer immer sie sonst noch nerven wollte, konnte ihr mit seinen Befindlichkeiten den Buckel runterrutschen.
Pani schaltete den Rechner aus.
Feierabend.
»Habt ihr gehört? Der Springer ist tot. Selbstmord. Ein Wahnsinn!« Steinhauser schnaufte vor mühsam unterdrückter Sensationslust. Sein Gesicht changierte farblich zwischen Himbeere und Weichsel, die Adern über seinen Wangenknochen pulsten wie Baustellenlaternen. Vor zwei Stunden war der Anruf gekommen. Er hatte sofort eine Versammlung einberufen. Roter Alarm.
Sie saßen im Gastgarten eines alten Ausflugslokals auf dem Wilhelminenberg, dort, wo Ottakring, der sechzehnte Bezirk, nahtlos in die sanfte Hügellandschaft des Wienerwalds überging. Hinter ihnen erhob sich die pseudo-älplerische Interpretation eines zu groß geratenen Forsthauses, zu dem die Wiener wochenends mit ihren Porsches und Range Rovers auf einen teuer erkauften Happen Landleben pilgerten. Vor dem Gastgarten fiel steil eine Böschung ab, auf der, als wäre das Urmeer erst kürzlich trockengefallen, ein abgewrackter Fischkutter schräg auf Grund lag. Weit darunter, dort, wo einst die Tethys wogte, verschwamm müde glänzend wie angelaufenes Silber die Stadt im sommerlichen Dunst. Der Garten war spärlich besetzt. Ein junges Liebespaar in Bürokleidung, das sich aneinanderklammerte, als könnte der andere jederzeit spurlos verschwinden. Zwei alte Damen, die ihre Stühle nebeneinander ausgerichtet hatten und wortlos auf die Stadt hinunterstarrten. Die Luft stand. Kein Hauch durchwehte die Blätter der alten Kastanienbäume, die schon Generationen von Ausflüglern Schatten gespendet hatten. Von Zeit zu Zeit knirschte Kies, wenn die Kellnerin ein paar Schritte weit aus dem Haus trat, um nach dem Rechten zu sehen. Die Gruppe am Rand des Gartens war unter sich.
»Ist nicht wahr, oder?« Querfeld starrte Steinhauser vom anderen Ende des Tisches her ungläubig an. Als kein Dementi folgte, kam Bewegung in ihn. »Springer, du Vollidiot! Putzt sich einfach …« Der dürre Mann mit dem Raubvogelgesicht senkte den Kopf und zog mit der Faust ruckartig an einem unsichtbaren Strick über seinem Nacken. »Na, andererseits …« Er zuckte die Schultern, als er daran dachte, dass im Mittelburgenland, wo er herkam, Selbstmord als natürliche Todesart galt.
»Trottelhaftes Timing!«, mischte sich Losch ein. Der bullige Mittvierziger fuhr sich mit der Hand durch die schüttere Igelfrisur, während seine Nase vor Aufregung in unkontrollierte Zuckungen geriet. »Lässt uns blöd sterben.« Er verstummte, als ihm bewusst wurde, was er gerade gesagt hatte.
»Nix Strick!«, korrigierte Steinhauser. »Mit dem Auto hat er’s gemacht, klassischer Fall von Auspuff, sanft, wahrscheinlich Liebesdrama. Obwohl, der Springer und die Liebe …? Also eher nein. Ach, was weiß ich! Vollidiot, jedenfalls!« Er beugte sich vor und wollte nach der Wasserkaraffe und einem der Trinkgläser greifen, die mitten auf dem Tisch standen.
»Stopp!«
Seine Hand zuckte zurück.
»Aus jetzt, die Herren! Wie wär’s mit ein bisschen Pietät? Nihil nisi bene, wenn’s geht.« Die Frau zog die Nase kraus. Ein Rudel Sommersprossen ballte sich zu einem centgroßen rostbraunen Fleck minimalistischer Kriegsbemalung.
»Ein wertvoller Kollege, ein guter Freund, ein großer Verlust. So weit, so klar. Was uns betrifft: dumme Sache, zugegeben. Aber was soll’s? Shit happens.«
Sie schüttelte ihren Kopf und eine Mähne aus dichten blonden Locken umflatterte ihr Gesicht. Es war eins der seltenen Frauengesichter, in dem, obwohl sie die Fünfzig überschritten hatte, immer noch die Züge des Mädchens steckten, das sie einmal gewesen war. Es war das Gesicht einer Porzellanpuppe, fein geschnitten – und ebenso hart.
»Bedauerlich, aber nicht zu ändern«, beendete sie den Nekrolog und sah in die Runde. Drei Männer sahen verunsichert zurück.
»Und?«, brach endlich einer von ihnen das Schweigen. Es war Querfeld. Der Raubvogel. Seine bleiche Glatze kontrastierte glänzend mit Steinhauser, dessen Gesichtsfarbe inzwischen an gekochten Hummer grenzte.
»Wie sollen wir jetzt weitermachen«, dachte der Rotgesichtige laut, »jetzt, wo Springer, ah, ausgefallen ist. Lassen wir’s bleiben?«
»Spinnst du?«, fauchte sie ihn an. »Ihr sitzt alle in einem Boot. Also wir. Und was macht man da?«
»Na was?« Er sah wieder nach der Karaffe. Die inzwischen außerhalb seiner Reichweite vor Querfeld stand. Steinhauser schluckte und räusperte sich.
»Schneller rudern«, blaffte sie ihn an. »Das macht man.«
Sie hatte recht. Einer war über Bord gegangen. Doch soweit die vier die Situation beurteilen konnten, sah es nicht so aus, als hätte ein Außenstehender die Schieflage bemerkt, in die sie geraten waren. Noch konnte es gut gehen. Wenn sie nicht die Nerven verloren. Wenn sie den Claim diskret neu absteckten.
Die drei Männer hatten sich, zusammen mit dem jüngst verblichenen Springer, auf ein riskantes Spiel mit gegenseitiger Abhängigkeit eingelassen. Tatsächlich hatte das Ganze auf einem Boot begonnen. Genau vier Wochen war es jetzt her, das alljährliche Symposion der Erwachsenenbildung, wie es offiziell hieß. Die Sommerspiele, wie sie es in der Branche nannten. Drei frühsommerliche Junitage am Neusiedler See, wo jeder mit jedem soff, jeder mit jedem schlief und jeder versuchte, jeden auszuhorchen.
Dort waren sie zusammengekommen, als Mannschaft bei einer Jux-Regatta. Vier Wirtschaftskapitäne, vier Männer, die es gewohnt waren, Return on Investment einzufahren. Die Auftragslage war unerfreulich, darüber waren sie sich einig. Die Budgets, die das Arbeitsamt auf die Branche verteilte, schrumpften Jahr für Jahr. Gleichzeitig wuchsen die Anforderungen ins Unermessliche. Sie empfanden das in selbem Maße als unverschämt wie geschäftsschädigend. Grund genug, um neue Felder aufzutun, die noch nicht von allen anderen beackert wurden. Der heimische Markt war bis auf den letzten Millimeter ausgereizt. Da ging nichts mehr.
Was noch ging, das war der Osten, hungrig nach Anschluss zum großen, freien Markt. Wozu war Europa schon gut, wenn nicht, um Geschäfte zu machen? Sie würden schon dafür sorgen, dass das größte Stück auf ihrem Teller landete.
Erst war es nur ein Gedankenspiel gewesen, um Möglichkeiten, die sich allmählich zu Wahrscheinlichkeiten verdichteten. Die Hemmungen, noch einen Schritt weiterzudenken, sanken mit dem Pegel des Single Malt, den einer von ihnen mit an Bord genommen hatte.
Wild und rauchig war die bernsteinfarbene Flüssigkeit durch ihre Kehlen geronnen. Sie erzählte vom harten Leben auf einer ausgesetzten Insel und vom Mut, den die Männer dort brauchten, um etwas zu erreichen.
Als die vier schließlich anlegten, stand der Plan fest. Kaum eine Woche später hatten sie ihre Mitspielerin gefunden, die Torwächterin der Geldflüsse. Die Männer wussten genug über sie, um sie mit sanftem Druck ins Boot zu holen. Es würde sich auszahlen. Für alle.
Wenn sie jetzt nicht die Nerven verloren. Wenn sie jetzt ruderten wie noch nie.
Als sie aufbrachen, warf Querfeld noch einen letzten Blick von oben auf die Stadt. Von oben. Eine Perspektive, die ihm gefiel. Im Augenwinkel nahm er den Kutter wahr. Schieflage. Er beschloss, das nicht als Omen zu nehmen.
Sie trafen sich im Kleinen Café, einem winzigen Lokal auf dem Franziskanerplatz, mitten in der Wiener Altstadt. Pani hatte es für das Treffen ausgesucht. Sie mochte das Café, das ein Schauspieler in den siebziger Jahren als Sammel- und Labestation für Künstler gegründet hatte. Dabei sah es aus, als hätte es mindestens zwei Weltkriege unverändert überlebt.
Draußen vor dem Lokal, wo auf dem gepflasterten Platz ein Brunnen plätscherte, war sie einmal Zeugin einer rührenden Szene geworden. Am Nachbartisch machte gerade ein Paar lautstark Schluss, als ein Geiger um die Ecke bog und sich vor dem Tisch der beiden aufbaute. Nach zehn Minuten Herz und Schmerz aus der Violine verstummte das Paar und brach auf. Gemeinsam.
Pani war heute nicht da, um Schluss zu machen. Im Gegenteil. Sie hatte ein Date. Ein Blind Date. Wieder einmal. Wieder im Kleinen Café, das eng war und voll wie immer. In dem sie bei Bedarf untertauchen konnte. Sich unsichtbar machen. Wenn es nötig war.
Es war nicht ihre Idee gewesen. Das Abonnement für die Partnerbörse war ein Geburtstagsgeschenk. Um die Kleine endlich unter die Haube zu bringen. Hatten ihre Schwestern gesagt. Weil sechsundvierzig. Was jetzt auch wieder fast ein Jahr her war.
Pani hatte säuerlich gelächelt und sich bedankt. Dann hatte sie nachgesehen, was so ein Abonnement kostete. Sie beschloss, es zu nutzen. Wo sie es schon einmal hatte.
Seitdem waren ihr am Franziskanerplatz gut ein Dutzend Männer über den Weg gelaufen. Und sie hatte kapiert, wozu das Internet gut war. Die Typen, die sie traf, waren so unvermittelbar wie die Arbeitslosen, mit denen ihre Berater zu tun hatten. Muttersöhnchen waren dabei, Aufschneider und Alkoholiker, Freaks, Nerds und Hygienetotalverweigerer ebenso wie Frischverlassene auf der Suche nach Florence Nightingale. Pani fühlte sich wie die Teilnehmerin einer bizarren Castingshow.
Das heutige Date hatte sie eigentlich absagen wollen. Nach den Auftritten von Steinhauser und Bogner stand ihr der Sinn nach Rückzug, nach einem langen einsamen Abend, zu Hause auf der Couch. Nur sie und das verflucht schwierige Samurai-Sudoku, an dem sie seit fast einer Woche verzweifelte.
Niemanden sehen, niemanden hören, mit niemandem sprechen. Jedenfalls mit niemandem, der etwas von ihr wollte. Und alle wollten sie was von ihr.
Andererseits … Der Typ von heute hatte Potenzial, war klug, originell und für einen Mann halbwegs empfindsam. Jedenfalls waren das die Mails, die er ihr geschickt hatte. Paul.
Paul fiel weder in die Kategorie Schnösel noch ins tragische Fach. Und wenn sein Profilbild halbwegs aktuell war und noch dazu wirklich ihn zeigte, dann war der Knabe sogar was fürs Auge. Intelligentes Gesicht, schwarze Haare, schwarzes T-Shirt, schwarzes Sakko.
Er war auf die Minute pünktlich gewesen. Sie hatte ihn sofort erkannt, hätte ihn auch ohne Bild erkannt. Es gab den gewissen Blind-Date-Blick. Und Paul hatte ihn draufgehabt, als er vor einer Dreiviertelstunde hereingekommen war.
Seitdem war Pani wie auf glühenden Kohlen auf ihrem Stuhl hin und her gerutscht. Keine Frage, Paul war okay. Auf den ersten Blick. War der vom Foto, und noch dazu gewaschen. Das gab Bonuspunkte.
Der Rest war ein Reinfall. Denn Paul dozierte. Ganz gleich, worum es ging. Er wusste alles, und er wusste es besser. Das war gut, wenn man so einen bei einer Runde Trivial Pursuit im Team hatte. In jeder anderen Situation war der Mann unerträglich.
Pani beschloss, der Sache ein schnelles Ende zu bereiten. Sie lehnte sich über den schmalen Marmortisch, an dem sie saßen, und schob ihre Weingläser beiseite. Es entstand eine Schneise. Pani sah ihm tief in die Augen und Paul verstummte für einen Moment.
»Hab ich dir eigentlich schon erzählt«, fragte sie sotto voce, und Paul rückte näher, »dass ich einmal Programmiererin für das Statistische Zentralamt war?«
»Ah!«, machte er, ansatzweise enttäuscht. Was hast du erwartet? Liebesschwüre?