Fürstenkrone – Staffel 3 – E-Book 21-30

Fürstenkrone
– Staffel 3–

E-Book 21-30

Laura Martens
Melanie Rhoden
Caroline Winter
Iris von Brüggen
Cora von Ilmenau
Dina Kayser
Silva Werneburg

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-262-8

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Neues Glück auf Montblanche

Madeleine Norwich warf einen kurzen Blick auf das kleine Mädchen, das ihr am Schreibtisch gegenübersaß, erhob sich und trat an eines der hohen Fenster, die auf den hinteren Teil des Schlossparks hinausgingen. Ihr Blick glitt zum Pico de Aneto, dem höchsten Berg der Pyrenäen. Selbst von hier aus konnte sie die Gletscher sehen, die weite Teile von ihm bedeckten.

Fröstelnd zog die junge Frau die Schultern zusammen. Trotz des Kachelofens, der erst vor einer halben Stunde von einem der Dienstmädchen nachgeheizt worden war, empfand sie es im Schulzimmer ausgesprochen kühl.

Nicht nur im Schulzimmer war es kühl. Auf Schloss Montblanche, wo sie seit zwei Monaten lebte, wurde es selbst im Sommer, wie sie gehört hatte, niemals richtig warm. Und jetzt war erst April!

»Mademoiselle Madeleine«, wurde die junge Frau aus ihren Gedanken gerissen.

Sie wandte sich um. »Ja, Prinzessin Pauline.« Sie kehrte an den Schreibtisch zurück und beugte sich über das kleine Mädchen. »Das haben Sie ganz wunderbar gemacht«, lobte sie, als sie die beiden Reihen sorgfältig gemalter »M« begutachtete. »Und nun versuchen wir ›Maman‹ zu schreiben.« Sie griff nach dem Übungsblock und zeichnete die Buchstaben vor.

Pauline Prinzessin von Raimont-Lynes griff nach ihrem Stift. »Wann gehen wir in den Park hinunter, Mademoiselle?«, fragte sie und blickte zum Fenster. »Ich mag nicht mehr schreiben. Das ist so schwer.«

»In zwanzig Minuten ist die Schulstunde zu Ende, Pauline«, antwortete die junge Lehrerin. »Haben Sie bitte noch etwas Geduld.« Obwohl sie sich sagte, dass es einfach zu viel von einem fünf­jährigen Kind verlangt war, sich vormittags drei Stunden auf seinen Unterricht zu konzentrieren, durfte sie von dem Plan, den man für die Prinzessin aufgestellt hatte, nicht abweichen. Victor Fürst von Montblanche, der Großvater der Prinzessin, hatte, was die Erziehung seiner Enkelin betraf, strikte Prinzipien, von denen er keinen Millimeter abweichen wollte.

Pauline machte sich gehorsam an ihre Aufgabe. Sie dachte gar nicht daran aufzubegehren. Manchmal erschreckte es Madeleine regelrecht, wie gefügig die Kleine war. Sie benahm sich nur selten wie ein Kind und war stets darauf bedacht, sich niemals schmutzig zu machen. Selbst hier im Schulzimmer trug

sie ein Designerkleidchen mit schwarzen Strumpfhosen und Silberballerinas.

Endlich konnten sie in den Park hinuntergehen. Madeleine hatte sich einen Mantel aus ihrem Zimmer geholt, und auch die kleine Prinzessin trug einen Mantel, dessen Weiß der jungen Frau völlig ungeeignet für ein Kind schien.

Sie wandten sich dem Wildgehege zu, das nahe dem Wald ein ausgedehntes Areal des Parks einnahm. Der Wildhüter, ein großer bärtiger Mann, erwartete sie. Ehrerbietig begrüßte er Prinzessin Pauline. Für Madeleine hatte er nur ein kurzes Nicken übrig.

»Auf dem Hügel sind Steinböcke, Hoheit«, sagte er und reichte Pauline ein eingestelltes Fernglas.

»Und Bären?«, fragte Pauline, während sie durch das Fernglas schaute. »Mein Papa sagt, dass es bei uns auch Bären gibt.«

»Ja, in den Pyrenäen gibt es Braunbären, Hoheit, doch gesehen habe ich in unseren Wäldern noch keinen«, erwiderte der Wildhüter. Er wies zum Himmel hinauf. »Schauen Sie, ein Habichtsadler.«

Pauline richtete ihren Blick nach oben. »Wo fliegt er hin?«, wollte sie wissen.

»Vermutlich fliegt er zu seinem Horst, der sich in den Bergen befinden wird.«

»Kann man den Horst besuchen?«, fragte die Kleine.

»Das kommt darauf an, wo der Adler seinen Horst gebaut hat.« Der Wildhüter lenkte die Aufmerksamkeit des Kindes auf zwei Murmeltiere, die aus ihrem Bau gekommen waren und sich an den Menschen, die sie beobachteten, überhaupt nicht störten. Er gab Pauline ein Päckchen mit Futter, das sie den Tieren zuwerfen konnte.

Den größten Teil des Nachmittags verbrachte Pauline mit ihrem Kindermädchen, einer jungen Spanierin, die sich mit der Prinzessin auf Katalanisch unterhielt, neben Französisch die zweite Landessprache in Montblanche.

Madeleine nutzte die freie Zeit, um sich auf den Unterricht in Familien- und Landeskunde vorzubereiten, den ihre Schülerin am nächsten Vormittag erhalten sollte. Dazu hatte sie vom Bibliothekar einige kopierte und bearbeitete Seiten aus der Familienchronik der Montblanches erhalten.

Um halb fünf wurde Prinzessin Pauline wie jeden Tag zu ihrer Mutter, Elaine Prinzessin von Raimont-Lynes, gebracht, um mit ihr Tee zu trinken. Danach blieb sie gewöhnlich bis zum Abendessen bei ihr, aber an diesem Nachmittag holte Madeleine das kleine Mädchen eine Stunde eher wieder ab. In drei Tagen fand die Hochzeit der jüngs­ten Fürstentochter, Prinzessin Anne Marie, mit dem Bankier Pierre d’Rohan statt, und Paulines Mutter hatte keine Zeit, sich mit ihr zu beschäftigen.

Begleitet von dem Golden Retriever des Fürsten machten sie einen Spaziergang zum Turm der Infantin, der sich auf einem Hügel am Ende des Parks erhob. Bei dem Turm handelte es sich um ein viereckiges, hohes Bauwerk, dessen Dach von acht Säulen getragen wurde. Der Legende nach war hier vor mehreren hundert Jahren eine spanische Prinzessin gefangen gehalten worden.

Der Golden Retriever rannte ihnen voraus die Treppe aus grauen Feldsteinen hinauf, die zum Hügel hinaufführte. Madeleine und die kleine Prinzessin folgten ihm.

Die junge Frau hatte Mühe, die schwere Eichentür aufzuschieben, die den Eingang des Turms versperrte. Sie war schon öfters mit Pauline hier gewesen, da die Kleine gern vom Söller aus über das Hochtal blickte, an dessen Rand Schloss Montblanche lag.

»Du bleibst hier, Jacques«, befahl sie dem Hund, als dieser ihnen zum Söller hinauf folgen wollte.

Mit einem bedauernden Aufseufzen ließ sich der Golden Retriever am Fuß der Treppe nieder.

Im letzten Jahrhundert hatte sich Fürst Gerald, Paulines Urgroßvater, oft in den Turm der Infantin zurückgezogen, um dort in Ruhe seinen Studien nachzugehen, wie er es nannte. Aus diesem Grund gab es hier auch elektrisches Licht, was den Aufgang zum Söller erheblich erleichterte.

Im vierten Stockwerk des Turms befand sich ein großer, luxuriös ausgestatteter Raum. Der obere Teil seiner Wände war mit herrlichen, inzwischen leicht verblassten Fresken und Stuckschnitzereien bedeckt. Sein Fußboden bestand aus einem Mosaik bunter Fliesen, das den Garten Eden darstellte. Das Licht, das durch die schmalen, mit kunstvollen Gittern versehenen Halbbogenfenstern fiel, zauberte regenbogenfarbene Kreise auf die schwere dunkle Seidentapete im unteren Teil der Wände.

Es standen nur wenige Möbelstücke in diesem Zimmer. Ein Himmelbett aus schwarzem Ebenholz mit leichten weißen Vorhängen, ein mit vergoldeten Schnitzereien verzierter Schrank und eine Eichentruhe. Unterhalb des einen Fensters gab es noch einen Schreibtisch mit einem gepolsterten Stuhl. Ihm gegenüber nahm ein bodenlanger Spiegel fast ein Achtel der Wand ein. Er stammte aus dem fünfzehnten Jahrhundert und musste damals ein Vermögen gekostet haben.

Prinzessin Pauline erklomm die Stufen zum Söller.

»Mademoiselle Madeleine!«, rief sie, als sie vor der Tür angekommen war, die ins Freie führte.

Madeleine warf einen letzten Blick in das Turmzimmer, dann folgte sie der Kleinen und entriegelte die Tür.

Pauline drängte sich an ihr vorbei. »Wie schön es hier ist«, meinte sie und drehte sich mit ausgebreiteten Armen im Kreis. »Ich würde gern im Turm wohnen. Hier gefällt es mir besser als im Schloss.«

»Sie würden sich schon bald einsam fühlen, Prinzessin Pauline«, erwiderte die junge Gouvernante, »und ganz sicher würden Sie Ihre Maman und Ihren Papa vermissen.«

Pauline blickte an die Brüstung gelehnt ins Tal hinunter, sorgsam darauf bedacht, ihren Mantel nicht zu beschmutzen. »Sie würde ich auch vermissen, Mademoiselle Made­leine«, sagte sie.

»Das freut mich, Pauline.« Madeleine legte die Hand leicht auf die Schulter des schmächtigen Mädchens. In den vergangenen Wochen war ihr die Kleine ans Herz gewachsen. Mit Bedauern dachte sie daran, dass ihnen nur zwei Jahre blieben, danach würde Pauline ein Internat in England besuchen. Sie, Madeleine, war eingestellt worden, um sie darauf vorzubereiten.

Als die Dämmerung hereinbrach, verließen sie den Turm und kehrten zum Schloss zurück. Vor seinem Portal stand eine schwarze Limousine. Auf der Schlosstreppe hatten sich der Butler, die Hausdame und zwei Dienstmädchen versammelt. Der Chauffeur des Fürsten öffnete gerade die Fondtür des Wagens.

»Onkel Bernard!« Prinzessin Pauline rannte auf den jungen dunkelhaarigen Mann zu, der aus der Limousine stieg. Madeleine schätzte ihn auf etwa sechsundzwanzig, zwei Jahre älter als sie selbst. Er sah ausgesprochen gut aus. Als er das kleine Mädchen mit beiden Armen umfing und hochhob, blitzten im Licht der Parkbeleuchtung seine braunen Augen auf.

»Dann freust du dich also, mich zu sehen, Pauline?«, fragte er und wirbelte die Kleine herum. »Hast du mich etwa vermisst?« Er drückte sie an sich.

»Und wie ich dich vermisst habe, Onkel Bernard.« Pauline schmiegte ihr Gesicht an seine Wange. »Bleibst du lange? Bist du zur Hochzeit von Tante Anne Marie gekommen?«

»Ja«, antwortete er. »Wie lange ich bleibe, kann ich dir allerdings noch nicht sagen. Das kommt darauf an.« Er stellte die Kleine zu Boden und wandte sich Madeleine zu. »Sieh an, ein neues Gesicht auf Montblanche«, meinte er mit einem Lächeln, das Madeleines Herz berührte.

»Das ist meine Gouvernante Mademoiselle Madeleine«, stellte Pauline vor. »Sie ist sehr nett.«

»Nur Mademoiselle Made­leine?« Der junge Mann blickte die junge Frau fragend an.

»Madeleine Norwich«, antwortete sie, ohne seinem Blick auszuweichen.

»Ich bin Bernard von Montblanche, Mademoiselle Norwich.« Er bot ihr die Hand. Noch immer sah er sie an, so, als wollte er ihr Gesicht für alle Zeit in seinem Gedächtnis festhalten. »Norwich, das klingt englisch.«

»Mein Vater war Engländer, Hoheit. Ich bin in London aufgewachsen.«

»Eine wundervolle Stadt«, bemerkte er. »Nun, wir werden uns in den nächsten Tagen noch öfter sehen. Meine Eltern werden bereits auf mich warten.« Er schenkte der jungen Frau ein kurzes Nicken, strich dem Golden Retriever über den Kopf und wandte sich dem Butler und der Hausdame zu, die ihn devot begrüßten.

Mademoiselle hielt Jacques, der dem Prinzen folgen wollte, am Halsband zurück. »Es wird Zeit für Ihr Abendessen, Pauline«, sagte sie.

Die kleine Prinzessin warf einen letzten Blick zu ihrem Onkel, der die Freitreppe hinaufstieg, bevor sie ergeben mit Madeleine mitging. Sie benutzten einen Seiteneingang, der eine direkte Verbindung zu den Kinderzimmern im zweiten Stock des Schlosses besaß. Jacques übergaben sie einem der Diener.

Nach dem Abendessen, das Pauline mit Madeleine im Esszimmer des Kinderbereichs einnahm, kam ihr Kindermädchen, um sie zum Gute-Nacht-Sagen zu ihren Eltern und ihren Großeltern hinunterzubringen.

Madeleine nutzte die Zeit, um sich in ihrem eigenen Zimmer etwas zurechtzumachen. Pauline hatte ihr verraten, dass Prinz Bernard, wenn er sich auf Montblanche aufhielt, abends noch für ein paar Minuten zu ihr kam.

Als wenn du ihn interessieren würdest, dachte sie und warf ihrem Spiegelbild einen spöttischen Blick zu. Dass Prinz Bernard bei seiner Ankunft so nett zu dir gewesen ist, hat nicht das Geringste zu bedeuten. Du bist für ihn nicht mehr als die Gouvernante seiner Nichte. –?Und warum sollte es auch anders sein? Du kannst nicht verlangen, dass sich ein Mann, der so gut aussieht wie er, in dich verliebt.

Sie strich ein letztes Mal mit der Bürste durch ihre langen goldblonden Haare, schlang sie um die Finger der linken Hand und steckte sie auf. Nach kurzem Zögern griff sie nach den Smaragdohrringen, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, und befestigte sie. Noch ein wenig Eau de Cologne und sie war bereit zu einer weiteren Begegnung mit dem Prinzen.

Kurz vor acht ging sie in das Schlafzimmer der kleinen Pauline, um ihr noch eine Geschichte vorzulesen. Pauline lag in ihrem Bett, über dem sich ein Himmel aus blauer, mit goldenen Sternen bestickter Seide spannte. Ihr Kindermädchen hatte ihr gute Nacht gewünscht und sich zurückgezogen.

Madeleine setzte sich zu der Kleinen ans Bett und schlug das Buch auf, das sie mitgebracht hatte. Es enthielt Märchen, die in den Pyrenäen spielten. Sie wollte eben mit einer Geschichte beginnen, als sich nach kurzem Klopfen die Zimmertür öffnete und Prinz Bernard eintrat.

»Darf ich stören?«, fragte er.

»Sie stören nicht, Hoheit.« Made­leine erhob sich.

»Mademoiselle Madeleine liest mir eine Geschichte vor, Onkel Bernard.« Pauline streckte die Arme nach ihrem Onkel aus. »Hat dir Maman erzählt, dass ich auf der Hochzeit von Tante Anne Marie Blumen streuen darf?«

»Hat sie«, erklärte ihr Onkel. Er umarmte die Kleine. »Du hast bestimmt nichts dagegen, wenn ich mir die Geschichte, die Mademoiselle Norwich vorlesen wird, mit dir zusammen anhöre?«

»Nein.« Pauline strahlte.

Er wandte sich Madeleine zu. »Und Sie, sind Sie einverstanden, dass ich zuhöre, Mademoiselle?«

»Selbstverständlich, Hoheit.« Madeleine hoffte, dass ihm ihr Erröten verborgen blieb.

Prinz Bernard setzte sich in den Sessel, der unweit des Bettes stand. »Diese Ohrringe stehen Ihnen übrigens ausgezeichnet, Mademoiselle Norwich.«

»Danke, Hoheit.« Madeleine umfasste etwas fester das Märchenbuch. Ihre Kehle fühlte sich so trocken an, als hätte sie seit Stunden nichts getrunken. Sie atmete tief durch und begann zu lesen. Wider Erwarten gelang es ihr, sich nicht zu verhaspeln.

»Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute«, meinte Bernard Prinz von Montblanche am Ende der Geschichte. Er stand auf. »So heißt es doch bei den meisten Märchen, oder irre ich mich da?« Er beugte sich über seine Nichte und küsste sie auf beide Wangen. »Schlaf gut, Pauline«, wünschte er.

»Du auch, Onkel Bernard.« Pauline gähnte.

Der junge Prinz ging zur Tür, blieb stehen und drehte sich um. »Gute Nacht, Mademoiselle Norwich.«

»Gute Nacht, Hoheit«, sagte Made­leine.

Er nickte ihr zu und ging hinaus.

»Mögen Sie meinen Onkel, Mademoiselle Madeleine?«, erkundigte sich Pauline.

Madeleine stellte das Buch ins Regal zurück. »Ja«, gab sie zu. »Er ist sehr nett.«

»Das ist er.« Die kleine Prinzessin schloss die Augen. Sie schlief bereits, als Madeleine das Licht löschte und leise das Zimmer verließ.

*

Am nächsten Vormittag erschien Bernard Prinz von Montblanche unangemeldet im Schulzimmer. Seine Nichte rutschte von ihrem Stuhl und schlang die Arme um ihn. »Fahren wir mal wieder ans Meer, Onkel Bernard?«, erkundigte sie sich. »Ich war schon so lange nicht mehr am Meer.«

»Gern, Pauline«, erwiderte er. »Mademoiselle Norwich, würden Sie uns gern dorthin begleiten?« Er blickte auf die Uhr, die gegenüber der Tür an der Wand hing. »Wir könnten in einer Stunde fahren.«

»Ich weiß nicht, ob wir den Unterricht so einfach unterbrechen dürfen, Hoheit«, sagte Madeleine verblüfft. »Sollten Sie da nicht erst Ihre Hoheit, Prinzessin Elaine, fragen?«

»Das kann ich sofort erledigen.« Bernard nahm ein Handy aus der Jackettasche und wählte die Nummer seiner ältesten Schwester. »Elaine ist einverstanden«, erklärte er, nachdem er mit der Prinzessin gesprochen hatte. »Sie besteht sogar darauf, dass Sie uns begleiten.« Er verzog das Gesicht. »Irgendwie ist meine Schwester der Meinung, ich würde Pauline nur zu Dummheiten verleiten.«

»Hat Ihre Hoheit Grund dazu?«

»Ja, das hat sie in der Tat.« Der junge Prinz zwinkerte seiner Nichte zu. »Als wir das letzte Mal zusammen ans Meer gefahren sind, hätte sie bei unserer Rückkehr ihre Tochter kaum wiedererkannt. Pauline hatte am Strand mit einigen Kindern herumgetobt und sah dementsprechend aus. Elaine ist fast in Ohnmacht gefallen.« Mit einem geradezu spitzbübischen Grinsen fügte er hinzu. »Es war nicht geplant, dass sie uns begegnet. Das Kindermädchen sollte Pauline umziehen, bevor ihre Mutter sie zu Gesicht bekam. Leider begegnete uns Elaine, als wir uns durch die Hintertür ins Schloss schleichen wollten.« Er legte die Hände auf die Schultern seiner Nichte. »Jedenfalls hatte Pauline ihren Spaß.«

Während Prinzessin Pauline von ihrem Kindermädchen für die Fahrt ans Meer umgezogen wurde, durchforstete Madeleine ihren Kleiderschrank nach etwas Passendem. Was sollte sie anziehen? Durfte sie es wagen, Jeans zu tragen, wenn sie sich in der Begleitung des Prinzen befand? –?Bestimmt nicht! In den letzten Wochen hatte sie feststellen können, wie konservativ sich das Leben auf Schloss Montblanche abspielte.

Die junge Frau entschied sich für einen Jeansrock, der weit über die Knie reichte, ein helles T-Shirt, Jacke und Sandalen. Ihre Haare fass­te sie im Nacken mit einer Spange zusammen.

Prinz Bernard erwartete sie lässig an einen weißen BMW gelehnt vor der Freitreppe. Auch er hatte sich umgezogen und trug nun statt des formellen Anzugs helle Hosen und einen dazu passenden Pullover. Mit einer galanten Geste öffnete er die Fondtür und ließ Pauline in den Kindersitz klettern, bevor er um den Wagen herumeilte, um für Madeleine ebenfalls die Tür zu öffnen.

»Fährt Monsieur Matisse nicht mit?«, fragte die junge Gouvernante. Bisher waren sie stets von einem Bodygard begleitet worden, wenn sie einmal mit Pauline den Bereich des Schlosses verlassen hatte.

»Das ist nicht nötig«, erwiderte Bernard. »Es sei denn, ich reiche Ihnen als Schutz nicht aus.« Er setzte sich hinter das Steuer. »Ich habe schon früher jede Gelegenheit benutzt, um ein Leben abseits des engen Korsetts zu führen, in dem meine Familie gefangen liegt.«

Schon bald lag der Schlosspark hinter ihnen, und sie folgten der Straße, die zur Hauptstadt führte. Kurz vor der Stadt bogen sie zur französischen Grenze ab. Sie fuhren durch dichte Kiefernwälder, die sich mit weiten Wiesen und Weiden abwechselten. Dann lag das Hochtal hinter ihnen, und die Straße führte in Serpentinen zum Meer hinunter.

Sie passierten die Grenze zu Frankreich. Fast unmerklich änderte sich die Vegetation. Sie passierten weite, mit Narzissen bewachsene Wiesen, die wie ein gewaltiges gelbes Meer wirkten. Pauline drückte sich an ihrem Wagenfenster fast das Näschen platt. Während oben in Montblanche die Temperaturen selbst am Tag kaum zehn Grad erreichten, war hier unten längst der Frühling eingekehrt.

Kaum hatte Prinz Bernard die Wagenfenster herabgelassen, hörten sie auch schon das Meer. Das Rauschen der Brandung erfüllte die Luft. Madeleine konnte es kaum noch erwarten, am Wasser entlangzugehen. Es kam ihr vor, als würde sie nach langen Wochen zum ersten Mal den Duft der Freiheit spüren. Dabei arbeitete sie gern auf Schloss Montblanche. Bisher war ihr auch nicht bewusst geworden, was für ein abgeschiedenes Leben sie führte. Sie gehörte weder zur Dienerschaft noch zur fürstlichen Familie. Paulines Eltern und Großeltern hatten in den vergangenen Wochen kaum ein privates Wort mit ihr gewechselt.

Prinz Bernard fuhr auf den Parkplatz einer Gaststätte. »Ich schlage vor, dass wir erst einmal essen gehen«, sagte er. »Hast du Hunger, Pauline?«

»Ja, Onkel Bernard«, erwiderte das kleine Mädchen. »Bekomme ich ein großes Schokoladeneis?«

»Nach dem Essen.« Bernard öffnete für Madeleine den Wagenschlag. »Bitte, Mademoiselle!«

»Danke, Hoheit.« Madeleine stieg aus.

»Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, Mademoiselle Norwich«, sagte er, nachdem er Pauline aus dem Wagen geholfen hatte. »Bitte hören Sie damit auf, mich Hoheit zu nennen. Hier kennt uns niemand. Ich genieße solche Situationen.«

»Und wie soll ich Sie nennen?«

»Schlicht und einfach Bernard«, schlug der junge Prinz vor. »Und wenn Sie erlauben, sage ich Made­leine zu Ihnen.« Er blickte ihr ins Gesicht. »Meinen Sie, wir können es bis zu unserer Rückkehr nach Montblanche so halten?« Mit beiden Händen umfasste er Pauline in der Taille und hob sie hoch. »Das ist ein Geheimnis zwischen Made­leine, dir und mir. Kannst du es für dich behalten?«

Die Kleine nickte. »Großes Ehrenwort, Onkel Bernard«, versicherte sie und schmiegte ihr Gesicht an seine Wange.

Sie suchten sich einen Tisch auf der Terrasse des Restaurants. Madeleine genoss es, wie Bernard den Stuhl für sie rückte, wie er sie behandelte, als wäre sie seinesgleichen. Sie fühlte sich in seiner Gesellschaft ausgesprochen wohl. Bernard war so ganz anders als seine Schwestern. Prinzessin Elaine ließ sie bei jeder Begegnung spüren, wie erhaben sie sich über sie fühlte, und von Prinzessin Anne Marie wurde sie meistens übersehen.

»Wetten, dass man uns für ein junges Ehepaar mit seiner kleinen Tochter hält, Madeleine?«, fragte Bernard von Montblanche während des Essens. Er griff nach seinem Weinglas und trank ihr zu. »Der Gedanke gefällt mir. Ich hätte nichts gegen eine Frau wie Sie an meiner Seite einzuwenden.«

Madeleine verschluckte sich fast an ihrem Wein. »Wenn Ihre Eltern das gehört hätten, würden sie mich auf der Stelle entlassen«, sagte sie errötend.

»Was ein großer Verlust für Montblanche wäre«, meinte er. »Gefällt es Ihnen auf dem Schloss? Lieben Sie Ihre Arbeit?«

»Beides kann ich nur mit ja beantworten.« Madeleine lehnte ihr Besteck an den Tellerrand. »Irgendwie kann ich es noch immer nicht fassen, dass ich diese Stelle bekommen habe. Ich bin über eine englische Agentur nach Montblanche vermittelt worden und musste mich in Ihrer Londoner Botschaft vorstellen.«

»Vermutlich hatten Sie bis dahin noch nie von Montblanche gehört.«

»Gehört schon, aber ich hatte keine Ahnung, dass dieses kleine Land mitten in den Pyrenäen liegt.«

Prinzessin Pauline blickte von ihrem Teller auf. »Bekomme ich mein Eis?«, erkundigte sie sich. »Und danach gehen wir an den Strand hinunter, nicht wahr?« Sie rutschte von ihrem Stuhl und trat an die Terrassenbrüstung. »Darf ich mit den anderen Kindern spielen, Onkel Bernard.« Mit dem ausgestreckten Arm wies sie zu den Kindern, die ausgelassen auf dem Spielplatz unterhalb des Restaurants tobten.

»Selbstverständlich darfst du mit den Kindern spielen«, erlaubte ihr Onkel.

»Das Eis kann ich auch noch später essen«, erklärte die Kleine und rannte die Holzstufen hinunter, die zum Strand führten.

»Pauline kommt viel zu selten mit anderen Kindern zusammen«, meinte Bernard. »Meinen Schwes­tern und mir ist es in unserer Kindheit genauso ergangen. Wir wurden sogar bis zu unserem zwölften Lebensjahr von einem Hauslehrer unterrichtet. Ich bin froh, dass mein Schwager darauf besteht, Pauline schon in zwei Jahren aufs Internat zu schicken. Sie braucht Kinder um sich.«

»Wäre es nicht besser, Pauline würde eine öffentliche Schule in Montblanche besuchen? Ich stelle es mir hart für ein Kind vor, seine Familie nur alle paar Wochen zu sehen.«

»Das dürfte von Kind zu Kind verschieden sein. Ich bin im Internat sehr glücklich gewesen.« Prinz Bernard schaute zu seiner Nichte hinunter, die mit den anderen Kindern fangen spielte. »Natürlich wäre eine öffentliche Schule ideal, wenigstens während der ersten Jahre. So weit wird sich mein Schwager allerdings niemals durchsetzen. Meine Eltern lehnen öffentliche Schulen für Mitglieder unserer Familien strikt ab.«

Nachdem sie noch eine Tasse Kaffee getrunken hatten, gingen sie ebenfalls zum Strand. Prinz Bernard bückte sich, um Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Madeleine tat es ihm gleich. Er nahm ihre Hand und lief mit ihr durch den warmen Sand zum Wasser. Gedankenverloren beobachteten sie, wie sich die Brandung an den vor der Küste liegenden Felsen brach, bevor sie in kleinen Wellen auf den Strand zurollte und ihre bloßen Füße berührte.

»War dieser Ausflug nicht eine gute Idee?«, fragte Bernard nach einer Weile. Er drehte sich halb Pauline zu, die vergnügt zwischen anderen Kindern die Treppe zu einer langen Rutsche hinaufstieg. »Sie hat sich dieses Vergnügen vor der Hochzeit meiner Schwester verdient. Die ganze Hochzeit wird eine höchst zeremonielle Angelegenheit werden.«

»Wir haben Paulines Part schon mehrmals geübt. Morgen ist die Generalprobe.«

Er nickte. »Ich bin überzeugt, Anne Marie wird mit Pierre d’Rohan sehr glücklich werden. Es freut mich von Herzen, dass Anne Marie den Mann heiraten darf, den sie liebt. Elaines Ehe wurde von meinen Eltern arrangiert.« Für einen Moment verdüsterte sich sein Gesicht. »Wenn es nach meinen Eltern ginge, wäre ich auch längst verheiratet. Bisher gibt es sieben Kandidatinnen, die ihrer Meinung nach für mich in Frage kommen. Ich kann mir keine von ihnen als meine zukünftige Gattin vorstellen.«

»Werden diese Kandidatinnen anlässlich der Hochzeit zu Gast auf Schloss Montblanche sein?«

»Jede einzelne von ihnen«, erklärte der junge Prinz sarkastisch. »Man hat mich angewiesen, mich am Samstag einer von ihnen zu erklären.«

»Und werden Sie es tun?«

»Ich denke nicht daran.« Bernard straffte die Schultern. »Ich habe mir fest vorgenommen, mich nicht so einfach verheiraten zu lassen. Schon als Kind habe ich mir gewünscht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Momentan genieße ich noch die relative Freiheit, die ich bei meiner Arbeit für die UN habe.«

Er seufzte auf. »Es ist bedauerlich, dass in Montblanche der Sohn vor der älteren Schwester den Fürstentitel erbt. Ich bin überzeugt, Elaine wäre als Nachfolgerin meines Vaters bedeutend geeigneter als ich. Sie ist zur Landesherrin geboren.« Er lachte. »Wenn man bei Montblanche überhaupt von einem Land sprechen kann. Wir sind um einige Kilometer kleiner als Andorra.«

»Aber bedeutend größer als Monaco«, scherzte Madeleine.

»Dazu gehört nicht viel.« Bernard schloss sie spontan in die Arme. »Es tut gut, sich mit Ihnen zu unterhalten.«

Die junge Frau erstarrte. Sie wuss­te nicht, wie sie sich verhalten sollte. Die wilde Freude, die sie bei Bernards Berührung empfand, erschien ihr unrecht, gleichzeitig genoss sie es, von ihm in den Armen gehalten zu werden.

Bernard ließ sie los. »Bitte verzeihen Sie mir, Madeleine«, bat er. »Obwohl wir uns erst seit gestern kennen, sehe ich eine Freundin in Ihnen. Von meinem Leben in New York her bin ich es gewohnt, manchmal etwas unbedacht zu sein. Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.«

»Danke, dass Sie eine Freundin in mir sehen, Bernard«, antwortete die junge Frau. »Es bedeutet mir viel.«

Er drückte kurz ihre Hand. »Das freut mich.«

Sie holten Pauline, um noch ein Stückchen am Wasser entlangzugehen. Das kleine Mädchen rannte barfuß vor ihnen her. Ab und zu bückte sie sich nach einer schönen Muschel und gab sie ihrem Onkel oder Madeleine zum Aufbewahren. Der Wind zerzauste Paulines dunkle Haare, ihre Augen strahlten vor Vergnügen … So unbeschwert hatte Madeleine die Kleine noch nie gesehen.

Was für ein schöner Tag, dachte sie. Schade, dass er unwiederbringlich seinem Ende entgegenging. Ob sie je wieder Gelegenheit zu so einem zwanglosen Zusammensein mit dem Prinzen haben würde? Spätestens wenn sie vor dem Schloss aus dem Wagen stiegen, würde sich Bernard für sie in »Seine Hoheit« zurückverwandeln.

Pauline rannte zu ihnen und ergriff ihre Hände. »Wann fahren wir das nächste Mal ans Meer?«, erkundigte sie sich.

»Bevor ich nach New York zurückfliege«, antwortete ihr Onkel. »Sollen wir Madeleine wieder mitnehmen?«

»Ja!«, erklärte Pauline strahlend.

»So wie Pauline im Moment aussieht, wird Ihre Schwester mich nicht für eine geeignete Begleiterin ihrer Tochter halten«, gab Made­leine zu bedenken. »Das Kleid Ihrer Nichte ist ziemlich ramponiert.«

Prinz Bernard blieb stehen. »Zum Glück habe ich dieses Mal vorgesorgt«, meinte er. »Paulines Kindermädchen hat mir Sachen zum Umziehen mitgegeben. Es wird für Sie bestimmt nicht schwierig sein, meine Nichte oben im Res­taurant in eine wohlerzogene junge Dame zu verwandeln, die sich weder barfuß am Meer noch wie ein Wildfang auf Kinderspielplätzen herumtreibt.« Er zwinkerte ihr zu. »Elaine wird von unserem wilden Leben nichts erfahren.«

»Sehr beruhigend.« Madeleine ärgerte sich über ihr Erröten. Sie senkte den Blick. »Suchen wir noch ein paar Muscheln, bevor wir nach Hause fahren«, schlug sie vor, um ihre Verlegenheit zu kaschieren.

»Ihr Wunsch ist mir Befehl.« Bernard neigte amüsiert den Kopf. Im nächsten Augenblick forderte er seine Nichte auf, mit ihm durch das seichte Wasser zu rennen.

Madeleine schaute ihnen nach. Was für ein Mann, dachte sie aufseufzend. Selbst die Aussicht auf einen zweiten Ausflug ans Meer konnte sie nicht mit der Tatsache aussöhnen, dass sie für Bernard von Montblanche stets nur die Gouvernante seiner Nichte sein durfte.

*

Am Samstagmorgen klingelte Madeleines Wecker kurz vor sechs. Ein langer, anstrengender Tag wartete auf sie. Der vergangene Tag war schon äußerst aufreibend gewesen. Inzwischen waren die meisten der Hochzeitsgäste auf Montblanche eingetroffen. Man hatte sie im Gäs­teflügel des Schlosses und im zweiten Stock des Hauptgebäudes untergebracht. Die Kinder der Gäste waren auf die Räume um Paulines Bereich verteilt worden. Sie wurden zwar von ihren Nannys betreut, doch die Oberaufsicht hatte Fürstin Charlotte Madeleine übertragen.

Wenige Minuten nachdem sich die junge Frau angezogen hatte, wurde ihr von einem Zimmermädchen das Frühstück gebracht. Auf dem Tablett stand eine Vase mit einer einzelnen gelben Rose. Überrascht hob sie die Augenbrauen.

»Fragen Sie mich nicht, von wem die Rose ist, Mademoiselle Norwich«, sagte das Zimmermädchen. »In der Küche weiß es auch niemand. Die Vase stand mit einem Mal auf Ihrem Tablett.« Sie schenkte Madeleine ein verstehendes Lächeln. »Sie haben bestimmt einen heimlichen Verehrer unter dem Personal.«

»So wird es wohl sein«, erwiderte Madeleine. »Danke, Jeanette.« Sie schenkte sich Kaffee ein. Es gab auf Montblanche nur einen, der ihr die Rose geschenkt haben konnte: Prinz Bernard! Er musste wahnsinnig sein! So lieb diese Geste auch gemeint sein mochte, wenn jemand dahinterkam, würde das ernste Konsequenzen für sie beide haben.

Sie strich sacht über die zarten Blütenblätter. Nie zuvor war ihr eine Rose so schön erschienen. Unwillkürlich lächelte sie. Wen mochte Bernard damit beauftragt haben, die Rose auf ihr Tablett zu stellen? Er selbst konnte es nicht gewesen sein. Vermutlich gab es unter der Dienerschaft ein paar Leute, denen er absolut vertrauen konnte.

Am vergangenen Abend hatte Prinz Bernard es erneut so eingerichtet, dass sie sich im Schlafzimmer seiner Nichte getroffen hatten. Allerdings hatten sie nur ein paar Worte miteinander wechseln können, da er schon nach wenigen Minuten in den Salon zurückkehren musste, um sich zusammen mit seiner Familie den Gästen zu widmen.

Dennoch war er im Begriff, sich die Finger zu verbrennen. Aber warum? Reizte es ihn, ihr den Kopf zu verdrehen? Spielte er mit ihr Katze und Maus? –?Nein, so schätzte sie ihn nicht ein. Sie hielt ihn für einen durch und durch aufrichtigen Mann. Und dennoch, sie war nur die Gouvernante seiner Nichte. Er konnte nicht allen Erns­tes daran denken, mit ihr ein Verhältnis zu beginnen.

Wollte sie das überhaupt? Madeleine war sich da nicht sicher. Sie mochte den jungen Prinzen. Jedes Mal, wenn sie an ihn dachte, begann ihr Herz schneller zu schlagen. Seine Gegenwart berauschte sie, und sie wünschte sich, mehr Zeit mit ihm verbringen zu können. Andererseits würde das ihr Leben sehr kompliziert machen. Sie würden sich nie offen zu ihrer Liebe bekennen können.

War sie wirklich dabei, sich in Bernard von Montblanche zu verlieben? Es konnte auch nur eine Illusion sein, weil er als Einziger hier in ihr einen Menschen sah und nicht nur die junge Frau, die Pauline auf das Internat vorbereiten sollte.

Madeleine riss sich zusammen. Sie hatte keine Zeit, um über Bernard und sich nachzudenken. In aller Eile trank sie ihren Milchkaffee und aß zwei Croissants, dann eilte sie noch einmal ins Bad, um ihr Aussehen zu überprüfen und sich die Hände zu waschen.

Die Kinder saßen in Morgenmänteln an einem langen Tisch, der im Schulraum aufgestellt worden war. Beaufsichtigt von ihren Kindermädchen, nahmen sie dort das Frühstück ein. Pauline fühlte sich zwischen ihnen ausgesprochen wohl. Sie erzählte von dem Tag, den sie mit ihrem Onkel und ihrer Gouvernante am Meer verbracht hatte.

Lange konnten sich die Kinder nicht mit dem Frühstück aufhalten. Ihre Kindermädchen brachten sie in den Raum hinüber, in dem sie angekleidet und frisiert werden sollten. Dazu waren extra zwei Friseurinnen aus der Hauptstadt ins Schloss gekommen.

Die kleinen Mädchen wurden in fast bodenlange roséfarbene Seidenkleider gesteckt und trugen Kränze aus echten Blumen im Haar. Die Jungen waren als Pagen gekleidet. Da sie noch Zeit hatten, übten sie mit einem langen Vorhang, wie sie die Schleppe der Braut tragen sollten. Bei der Generalprobe am Vortag hatte keines der Kinder einen Fehler gemacht.

Pauline und der kleine Alexandre d’Rohan, ein Neffe des Bräutigams, sollten vor der Braut und ihrem Vater durch den Mittelgang der Kathedrale gehen und später vor Braut und Bräutigam Blumen streuen. Sie freuten sich beide auf ihre Aufgabe und konnten es kaum noch erwarten, endlich die Blumenkörbchen zu erhalten.

Um zehn führte Madeleine die Kinder in die mit Blumen geschmückte Schlosshalle hinunter. Da sie mit Prinzessin Pauline meis­tens den Seiteneingang benutzte, hatte sie nicht oft Gelegenheit, sich in der mit Skulpturen und Gemälden aus dem siebzehnten Jahrhundert geschmückten Halle aufzuhalten. So benutzte sie die Gelegenheit, sich in Ruhe umzusehen.

Die Halle reichte über zwei Stockwerke hinauf und war in ihrem unteren Teil mit schwarzem Marmor verkleidet, der rundherum in einem vergoldeten Sims endete. Von der Hallendecke hing ein gewaltiger Kristalllüster herab. Vergoldete Geländer führten entlang der elegant geschwungenen Zwillingstreppen in die oberen Stockwerke. In einer Nische, Madeleine direkt gegenüber, befand sich eine aus Zedernholz geschnitzte Skulptur der Jungfrau Maria. Ihr zu Füßen lag ein Strauß aus goldgelben Rosen. Hatte Prinz Bernard etwa aus diesem Strauß eine Rose gezogen, um sie in einer Vase auf ihr Frühstückstablett stellen zu lassen?

Der Gedanke erschien Made­leine so abwegig, dass sie fast laut aufgelacht hätte. Nur mit Mühe beherrschte sie sich.

Vor der Freitreppe hielt ein blauer Kleinbus mit dem Wappen der Montblanches. Madeleine brachte die Kinder nach draußen und setzte sich mit ihnen in den Bus. Es dauerte ein paar Minuten, bis jedes von ihnen seinen Platz gefunden hatte und angeschnallt war.

Schon am frühen Morgen hatten sich die ersten Schaulustigen vor dem Parktor eingefunden, um einen Blick auf das Brautpaar, die fürstliche Familie und deren Gäste zu erhaschen. Fröhlich winkten sie den Kindern zu, als der Bus an ihnen vorbeifuhr.

Ganz Montblanche schien an diesem Vormittag auf den Beinen zu sein. Fähnchenschwenkend standen die Leute am Straßenrand. Viele von ihnen trugen die alte Landestracht, die nur noch an Festtagen aus den Schränken geholt wurde.

Rund um die Kathedrale hatte die Polizei einen weiten Kreis abgesperrt, damit die Limousinen und Busse ungehindert vorfahren konnten. Überall standen Fernsehteams mit ihren Kameras, die jede Bewegung auf dem Platz festhielten. Die ersten Luftballons stiegen in den Himmel.

Der Bus mit den Kindern und Madeleine hielt seitlich des Gotteshauses. Als sie ausstiegen, riefen ihnen einige der Leute, die hinter der Absperrung standen, etwas zu, doch die junge Frau konnte keine einzelnen Worte verstehen.

Begleitet von Polizeibeamten gelangten sie durch den Seiteneingang der Kathedrale in einen der Nebenräume. Da bis zum Eintreffen des Brautpaars noch fast eine Stunde vergehen würde, hatte sich Madeleine einiges ausgedacht, um die Kinder bis dahin zu unterhalten.

Ab und zu trat sie an die einen Spaltbreit geöffnete Tür, um einen Blick in den Vorraum und auf die Eingangsstufen der Kathedrale zu werfen. Nach und nach trafen ihrem Rang entsprechend die Hochzeitsgäste ein. Jeder Bus, jede Limousine wurde von der Bevölkerung Montblanches mit Jubel begrüßt.

Dieser Jubel steigerte sich fast zu einem Orkan, als die Limousinen mit den Raimont-Lynes, Prinz Bernard, Charlotte Fürstin von Montblanche und Pierre d’Rohan vor der Kathedrale hielten. Von ihrem Platz bei der Tür konnte Madeleine beobachten, wie sich die fürstliche Familie auf den Stufen des Gotteshauses versammelte und den Leuten grüßend zuwinkte, bevor sie den Vorraum betraten.

Nur Minuten später trafen auch Victor Fürst von Montblanche und seine Tochter Anne Marie ein. Auch sie wurden mit frenetischem Jubel begrüßt.

Madeleine führte ihre kleine Schar in den Vorraum, wo sich der Brautzug formierte. Sie sorgte dafür, dass jedes der Kinder seinen Platz einnahm und die Schleppe am Brautkleid der Prinzessin weder zu fest noch zu locker hielt. Gerade noch im letzten Moment konnte sie Prinzessin Pauline und Alexandre d’Rohan davon abhalten, schon jetzt ihre Blumen zu verstreuen.

Die Glocken begannen zu läuten. Vor dem Brautpaar schwangen die Türen auf. »Jetzt«, raunte Made­leine den Kindern zu und trat zurück. Pauline nahm Alexandres Hand und betrat zusammen mit ihm den Mittelgang der Kathedrale.

Madeleine stieg eilig die schmale Treppe hinauf, die in einen winzigen Raum auf der Empore führte. Von hier aus, so hatte man ihr gesagt, hatte vor über zweihundertfünfzig Jahren Elisabeth von Montblanche, die sich nach einem Brand, bei dem sie schwer verletzt worden war, nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigte, durch ein kleines Fens­ter den Gottesdiensten gelauscht.

So leise es ging, öffnete die junge Frau das Fensterchen. Sie hatte den gesamten Innenraum der Kirche im Blickfeld und konnte das Geschehen am Altar so besser verfolgen als die meisten der geladenen Gäste.

Prinzessin Anne Marie und Pierre d’Rohan hatten inzwischen auf einer rotgepolsterten Bank vor dem Altar Platz genommen. Sie hielten einander bei den Händen. Prinzessin Pauline und Alexandre d’Rohan saßen vor den anderen Kindern seitlich von ihnen. Madeleine hoffte, dass sie es schafften, sich während des langen Gottesdienstes still zu verhalten.

Bernard Prinz von Montblanche saß zwischen seinen Eltern und Prinzessin Elaine in der Bank der fürstlichen Familie. Madeleines Blick glitt über die Köpfe der königlichen und fürstlichen Gäste. Sie fragte sich, wer von den jungen Frauen zu den Kandidatinnen gehörte, unter denen sich Bernard seine zukünftige Gattin wählen sollte.

Der weltberühmte Kinderchor von Montblanche sang ein Lied auf Katalanisch, von dem Madeleine kein Wort verstehen konnte. Ich muss unbedingt katalanisch lernen, dachte sie und fragte sich gleich drauf, warum. Sie würde nur zwei Jahre in Montblanche bleiben. Ihr Aufenthalt im Schloss war schließlich nicht für die Ewigkeit gedacht.

Plötzlich wandte Prinz Bernard ein wenig den Kopf und schaute zu ihr hinauf. Erschrocken trat sie zurück. Auch wenn sie sich sicher war, dass er sie von seinem Platz aus nicht sehen konnte, stieg eine brennende Röte in ihre Wangen.

»Wie kann man nur so dumm sein, Madeleine«, schalt sie sich selbst fast lautlos aus. »Nur weil ein Mann nett zu dir ist, bedeutet das noch lange nicht, dass du ihn wirklich interessierst.« Warum sollte sich Prinz Bernard ausgerechnet in sie verlieben? Ein hübsches Gesicht und eine gute Figur reichten wohl kaum aus, um einen Mann wie ihn zu fesseln.

Sie nahm sich den Stuhl, der neben der Tür stand, und setzte sich so vor das Fenster, dass man sie auf keinen Fall von unten sehen konnte. Obwohl sie versuchte, nicht in die Richtung des Prinzen zu schauen, sondern sich auf das Geschehen vor dem Altar zu konzentrieren, wanderte ihr Blick alle paar Minuten zu Bernard. Was hatte sie vor seiner Ankunft für ein ruhiges Leben geführt! Fast wünschte sie sich, der junge Prinz wäre in New York geblieben. Aber nur fast, denn tief in ihrem Herzen wusste Madeleine, die Erinnerung an diesen wundervollen Tag am Meer würde sie bis an ihr Lebensende bewahren.

*

Nach dem Abendessen, das Made­leine zusammen mit den Kindern eingenommen hatte, half sie den Kindermädchen, die Kleinen zu Bett zu bringen. Nach dem langen Tag, der hinter ihnen lag, waren sie so aufgewühlt, dass es ihnen schwerfiel, Ruhe zu finden. So saß sie an diesem Abend auch länger als gewöhnlich am Bett der kleinen Prinzessin.

»Wenn ich einmal heirate, möchte ich auch so ein schönes Kleid wie die Tante Anne Marie tragen«, sagte Pauline. »Und in der Kirche sollen auch so viele Menschen sein wie heute. Und ich wünsche mir viele, viele Rosen und Kinder, die Blumen streuen.« Sie blickte zu ihrer Gouvernante auf. »Bei Ihrer Hochzeit werde ich auch Blumen streuen, Mademoiselle Madeleine.«