Eingeschneit

Eingeschneit

Verliebte Weihnachten

Birgit Kluger

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

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Über den Autor

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1

Ihr Herz klopfte wie verrückt. Schnell band sie sich den Gurt um, der ihr einen dicken Bauch bescherte. Darin waren mehr als dreißigtausend Dollar versteckt. Geld, das nicht ihr gehörte. Shelley zog den dicken roten Mantel an, setzte sich die große Zipfelmütze auf, die ihre blonden Haare vollständig verdeckte, streifte sich den Bart über und straffte die Schultern. Am liebsten wäre sie hiergeblieben, in der relativen Sicherheit der öffentlichen Toilette, aber das ging nicht. Sie musste verschwinden, und zwar schnell.

Sie öffnete die Tür und spähte vorsichtig hinaus. Weihnachtsmusik tönte ihr entgegen. Der alte Klassiker White Christmas, gesungen von Bing Crosby. Sie liebte diese Musik, jetzt aber hatte sie keine Zeit, in Vorfreude auf die Feiertage zu schwelgen, im Gegenteil. Sie konnte froh sein, wenn sie es heil bis nach Hause schaffte.

In den Gängen des Einkaufszentrums tobte noch immer der vorweihnachtliche Wahnsinn. Einkaufswütige drängten sich aneinander vorbei, zogen Grimassen, wenn sie hinter jemandem feststeckten, der an den Schaufenstern vorbeischlenderte. Die letzten Geschenke mussten besorgt, das Essen geplant und Vorräte eingekauft werden. Hektik lag in der Luft. Für Shelley war das gut, so würde es schwieriger sein, sie zu entdecken. Von den beiden Männern, die, mit Sprechfunk bewaffnet, nach ihr suchten, war zum Glück nichts zu sehen. Sie zog sich die Zipfelmütze tiefer in die Stirn, dann trat sie auf den Flur hinaus und mischte sich unter die Einkaufswütigen.

„Maman, Maman! Le Papa Noël!“ Ein Kind deutete mit seinem Finger auf sie, hüpfte aufgeregt auf und ab und stellte sich ihr in den Weg.

„Est-ce que nous pouvons faire une photo avec vous?“, fragte die dunkelhaarige Frau in dem teuren Pelzmantel, deren Hand der Kleine fest umklammert hielt. Sie sprach französisch, was nicht allzu verwunderlich war, befand sich Lac-Mégantic doch in Quebec. Das Dumme war nur, dass Shelley außer „Merci“ kein einziges französisches Wort kannte.

„Könnten Sie das auf Englisch wiederholen?“, fragte sie höflich, obwohl alles in ihr danach drängte, so schnell wie möglich zu verschwinden. Aber das ging nicht. Der Kleine hatte sich direkt vor ihr aufgebaut und schaute mit großen Augen zu ihr auf. Wenn sie sich jetzt einfach an ihm vorbeidrängte, würde er garantiert ein Riesentheater veranstalten.

„Könnten Sie ein Foto mit uns machen?“, wiederholte seine Mutter auf Englisch.

„Oh. Natürlich. In einer halben Stunde gerne.“ Shelley tat so, als würde sie auf ihre Armbanduhr schauen. Dabei interessierte sie nichts weniger als die Uhrzeit. „Vor dem Fotogeschäft.“ Sie deutete auf den Laden, der ihr im Vorbeigehen aufgefallen war, und versuchte gleichzeitig, sich unauffällig an dem Jungen vorbeizuschieben. Mit den Augen suchte sie den Gang vor sich ab.

„Maman!“ Wie ein Maschinengewehr ratterte der Kleine mehrere französische Wörter herunter. An seiner Miene konnte Shelley ablesen, dass er enttäuscht war. Sah ganz so aus, als hielte er nicht viel von weiblichen Weihnachtsmännern.

Okay. Höchste Zeit, von hier zu verschwinden. Bevor der Junge noch mehr sagen konnte, eilte Shelley im Stechschritt davon. Warum, verdammt noch mal, hatte sie sich auf ein Gespräch eingelassen? Jetzt wusste jeder in einem Hundert-Meter-Radius, dass sich eine Frau, als Weihnachtsmann verkleidet, in dem Einkaufszentrum herumtrieb.

Nur weg von hier. Raus aus dieser Mausefalle, in der man nichts weiter tun musste, als einen Mann an jedem der Eingänge zu postieren, um sie zu schnappen. Mit Mühe verlangsamte sie ihre Schritte wieder. Sie hatte schon genug Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Also versuchte sie möglichst entspannt auf den Ausgang zuzugehen. So als sei sie ein ganz normaler Santa Claus auf dem Weg zu seinem nächsten Fototermin. Trotzdem begann sie unter dem dicken roten Mantel zu schwitzen.

Noch zehn Schritte. Eine Frau kam ihr entgegen, das Handy fest ans Ohr gepresst. Fast wären sie zusammengestoßen, nur ein schneller Schritt zur Seite bewahrte Shelley vor der Kollision. Sie streifte die andere leicht am Arm, murmelte ein „Entschuldigung“ und ging weiter. Shelleys Handy befand sich jetzt in der großen Tasche, die vom Arm der Frau baumelte. Es würde bestimmt eine Weile dauern, bis sie es in dem Ungetüm fand. Shelleys Herzschlag beruhigte sich. Ein wenig. Jetzt würden ihre Verfolger denken, sie befände sich noch immer im Einkaufszentrum. Zumindest wenn sie mit ihrer Vermutung recht hatte und man sie per Handy-Ortung in dem Shoppingcenter gefunden hatte.

Fünf Schritte.

Sie bog um die Ecke, von hier waren es nur ein paar Meter zum Ausgang und von dort zum Parkplatz. Der Security-Mann in der schwarzen Uniform stand seitlich zur Tür. Sein Gesicht den Menschen zugewandt, die, ebenso wie sie, dem Ausgang zustrebten. Sie erkannte ihn. Er gehörte zu Tyrone Danes Leuten. Tyrone war der Mann, dem sie die dreißigtausend Dollar abgenommen hatte.

Verdammt! Shelley kam es vor, als ob der Security-Typ mit seinem Laserblick durch ihren Bart hindurchsehen konnte. Hoffentlich erkannte er nicht, dass unter dem Kostüm eine Frau und kein Mann steckte.

Möglichst langsam ging sie an ihm vorbei, gab ein tiefes „Ho, ho, ho“ von sich und stieß die Tür auf. Und dann war sie draußen. Schneeflocken tanzten in der kalten Luft. Kleine Flocken, kaum größer als Wassertropfen. Trotzdem waren sie nur die ersten Vorboten.


Es schneite. Diese kleinen, fiesen Flocken, die wie Fliegen auf die Windschutzscheibe zuflogen, um dort kleben zu bleiben und dann in dünnen, nassen Streifen nach unten zu rutschen.

Verdammter Schnee.

Blake stellte den Scheibenwischer auf einen schnelleren Modus. Je eher er nach Miami kam und diesem ganzen Weihnachtsrummel entwischen konnte, desto besser. Er atmete einmal tief durch. Die zwei Tage, die er bei seiner Schwester verbracht hatte, waren eine einzige Qual gewesen. Anders als er zelebrierte Tammy die Weihnachtstage ihren Kindern zuliebe. Deshalb verbrachte er jedes Jahr ein paar Tage dort, lieferte die Geschenke ab und fuhr dann mit dem Auto nach Miami. Natürlich ginge es schneller, wenn er fliegen würde, aber er mochte die Fahrt. In den vielen Stunden, die er unterwegs war, konnte er seinen Gedanken nachhängen, Ziele für das neue Jahr formulieren und Strategien entwerfen.

In zwei Tagen würde er in Florida sein, in einem Luxusapartment hoch über der Stadt, und das tun, was er an Weihnachten am liebsten tat. Die Feiertage unter den nicht existierenden Weihnachtsbaum trinken.

Mehr Flocken tanzten durch die Luft. Die Scheibenwischer arbeiteten bereits wie verrückt, trotzdem schafften sie es kaum, die Windschutzscheibe frei zu halten, so dicht wurde der Schneefall. Verdammt. Wenn er eines nicht gebrauchen konnte, dann war es noch mehr von dem Zeug. Eine weiße Weihnacht! Allein der Gedanke ließ Wut in ihm aufsteigen. Dieses blöde Fest war nichts anderes als eine riesige, kommerzielle Geldmaschine. Geschaffen, um möglichst viel zu verdienen und um Menschen, die sich davon nicht beeindrucken ließen, ein schlechtes Gewissen einzureden. Aber nicht mit ihm. Er hatte diese Lüge schon vor langer Zeit durchschaut. Oder, besser gesagt, diese Lüge hatte schon vor langer Zeit die Wahrheit offenbart, die sich darunter verbarg. Es gab keinen gütigen, wohlmeinenden Gott. Genauso wenig wie Harmonie und Liebe zu dieser Zeit in der Luft lagen. Er musste es wissen. Als Scheidungsanwalt hatte er Ende Dezember immer am meisten zu tun.

Eine Figur am Straßenrand materialisierte sich plötzlich aus dem weißen Wirbel.

Klar.

Ein Weihnachtsmann.

Was sonst?

Der Typ ging mit gesenktem Kopf einem mysteriösen Ziel entgegen. Er wirkte müde, was kein Wunder war, denn Lac-Mégantic, die Stadt am Ufer des gleichnamigen Sees, lag bereits hinter ihnen. Wo wollte der Kerl hin? Blake drosselte die Geschwindigkeit. Er war jetzt auf gleicher Höhe mit dem Mann und fuhr im Schritttempo neben ihm her. Alles in Blake drängte ihn dazu, weiterzufahren, aber bei diesem Wetter war es besser, ihn mitzunehmen. Die Temperatur war mittlerweile auf null Grad gesunken. So wie es aussah, würde es noch kälter werden. Auch wenn er Weihnachten nicht mochte, wollte er Santa Claus nicht auf dem Gewissen haben.

„Kann ich Sie mitnehmen?“, fragte er und hoffte inständig, die Antwort möge „Nein“ lauten.

Der Typ schaute auf. Sein Bart bedeckte vollkommen die untere Hälfte seines Gesichts. Die Mütze tief in die Stirn gezogen. Außer großen blauen Augen und einer schmalen Nase konnte man nichts erkennen.

„Nein, danke“, antwortete eine Stimme, die kein bisschen männlich klang.

Santa Claus war eine Frau.

„Wo wollen Sie hin?“ Blake hielt an, obwohl er die erhoffte Antwort erhalten hatte. Es war zu kalt, um jemanden, der nur mit einem triefend nassen Wollmantel bekleidet war, draußen herumlaufen zu lassen. Dahin war die Aussicht auf Ruhe und auf eine Fahrt, während der er ausschließlich seinen eigenen Gedanken nachhängen konnte.

Sie blieb stehen, musterte ihn mit einem misstrauischen Blick. Wahrscheinlich dachte sie, er sei ein Sexualtäter auf der Suche nach einem Opfer. Auf einer Straße, über die alle halbe Stunde ein Auto fuhr. Neben der es normalerweise nie Fußgänger gab.

„Sie sind Amerikaner“, stellte sie fest.

„Ja. Was hat mich verraten? Mein makelloses Englisch?“

„Nein, Ihr Nummernschild.“ Noch immer sah sie ihn mit einem Blick an, der mehr Misstrauen zeigte, als der Situation angemessen war.

„Steigen Sie ein. Ich nehme Sie mit.“ Er legte eine Pause ein. Erst jetzt fiel ihm auf, wie nah er sich an der Grenze zu den USA befand, und sie hörte sich nicht wie eine Einheimische an. „Wollen Sie nach Woburn oder über die Grenze?“

Sie sah ihn an. „Über die Grenze“, sagte sie langsam.

„Und Sie wollten dorthin laufen?“

„Ich hatte keine Pläne.“

„Also los, steigen Sie ein.“

Sie zögerte. Was klug von ihr war, welche Frau würde schon zu einem Fremden ins Auto steigen?

„Warum machen Sie nicht ein Foto von meinem Nummernschild und schicken es an Ihre Freunde? So weiß jeder, dass Sie bei mir sind. Und sollte ich ein Serientäter sein, so wird man mich ziemlich schnell aufspüren. Außerdem gehe ich auch ein Risiko ein. Wer sagt mir, dass Sie nicht auf der Flucht vor der Polizei sind? Schließlich sind Sie zu Fuß auf dem Weg zur Grenze unterwegs.“

Sie sah ihn prüfend an. Blake wusste, dass er nicht wie ein Verbrecher aussah. Die meisten Frauen fanden ihn sogar ziemlich attraktiv. Die Fremde aber, in ihrer roten Mütze und dem riesigen roten Mantel, der sich über einem dicken Bauch spannte, war nicht so leicht zu beeindrucken.

Sie nickte zögerlich. Wahrscheinlich weil der Schneefall stärker wurde und sie erkannte, in was für einer ausweglosen Situation sie sich befand.

„Ich bin keine Verbrecherin.“

„Freut mich zu hören.“

„Ich mache jetzt ein Foto von Ihrem Nummernschild“, verkündete sie und ging nach hinten. Es dauerte eine Weile, doch dann kam sie zur Beifahrertür, öffnete diese und betrachtete den Ledersitz mit einer Abneigung, die sich Blake nicht erklären konnte.

„Ich kann mich da nicht drauf setzen. Ich werde alles ruinieren“, sagte sie und brachte Licht in die Angelegenheit. „Haben Sie eine Decke oder irgendetwas anderes, was man über den Sitz legen kann?“

„Warten Sie einen Augenblick.“ Er stieg aus und stapfte zum Kofferraum. Typisch Frau. Sie saß noch nicht im Wagen und bereitete schon Komplikationen. Zum Glück hatte er nur wenig Gepäck dabei. Einen Koffer und eine Kiste mit sechs Flaschen feinstem Whisky. Es war nicht so, dass er in Florida nicht auch alkoholische Getränke bekommen könnte. Aber dieser Whisky war etwas ganz Besonderes, etwas, das es nicht überall zu kaufen gab. Dahinter, zusammengelegt, befand sich eine alte Wolldecke. Er nahm sie, ging zur Beifahrerseite und breitete sie auf dem Sitz aus. „Hier, das müsste gehen.“

Sie zauderte noch immer.

„Der Mantel ist total durchgeweicht“, sagte sie dann.

„Ziehen Sie ihn aus. Ich lege ihn in den Kofferraum.“

Sie nickte. Noch immer zögerlich, aber sie sah wohl ein, dass es das Beste war, diesen nassen Fetzen loszuwerden. Langsam schälte sie sich aus dem Mantel und reichte ihn Blake.