SÖREN KITTEL

AN GUTEN TAGEN SIEHST DU DEN NORDEN

SÜDKOREA ZWISCHEN GEISTERN UND GLASFASSADEN

1. Auflage 2016

2. Auflage 2018

© 2016 DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung: Herburg Weiland, München

Titelfoto: Tim Clayton/Offset.com

Karte: Gerald Konopik, DuMont Reisekartografie

Karten und Fotos Innenteil: Sören Kittel

eISBN 978-3-6164-9156-1

www.dumontreise.de

Für »Gin«

INHALT

Die Stadt

Kapitel 1        Von Berlin ins »Berlin«

Kapitel 2        Der Aufstieg

Kapitel 3        Herr Yang erklärt die Stadt

Kapitel 4        Ein Fluss, der teilt und verbindet

Kapitel 5        »Heidi Kang wird nicht gefoltert«

Kapitel 6        Dogderella, der Vermittler

Kapitel 7        Ecke Hamilton, nachts um vier

Kapitel 8        Das »Petit Han« in Hongdae

Kapitel 9        Sterben auf Probe

Der Westen

Kapitel 10       Die Stadt der Zukunft

Kapitel 11       Der Traum im Topfhotel

Kapitel 12       Der Regenbogen aus Beton

Kapitel 13       Im Korea-Disneyland

Kapitel 14       Der Mai, der nie vergeht

Der Süden

Kapitel 15       Arirang und die Tür im Wasser

Kapitel 16       Gespräch mit dem Nichts

Kapitel 17       Die Endstation

Kapitel 18       Der Schlächter von Uiryeong

Kapitel 19       Das Monster in uns

Der Osten

Kapitel 20       Sky, Show und Liebe

Kapitel 21       Kein Platz für »Yolo«

Kapitel 22       Korea als Gefühlserinnerung

Kapitel 23       Im Phallus-Park

Kapitel 24       Die Alpen in Asien

Kapitel 25       Erinnerungen an den Norden

Der Abschied

Kapitel 26       Wind, Frauen und Han auf Jeju

Karte

Über den Autor

DIE STADT

Kapitel

1

Von Berlin ins »Berlin«

HAN (TRAURIGKEIT)

Es muss mit »Berlin« beginnen. Genauer: Mit dem »Berlin«. Und es muss mit einem Rausch beginnen. Nicht nur, weil Korea ein Land ist, in dem sehr viele Menschen sehr oft betrunken sind, sondern weil dieser erste Rausch im »Berlin« am Anfang von vielem steht. Wir haben uns angeschrien im »Berlin«, wir haben uns umarmt und getanzt, wir haben immer wieder koreanische Eigenheiten verhandelt und uns versichert, was normal ist und was nicht. Die maskenhaften Gesichter in den U-Bahnen! Warum zeigt hier keiner seine Gefühle? Oder warum fällt nur uns das auf? Ganz spät haben wir uns leise gefragt, warum wir hier sind. Die Antwort war oft: weil es weit weg ist.

Den Hügel hinauf, die Holztreppe zu der Bar hinunter, so begann der Anfang meiner Beziehung zu Seoul, dieser Stadt, deren Name klingt wie ein Gong, zumindest dann, wenn man diese Silbe ganz tief ausspricht: Seoulllll. Ich laufe also an diesem Nachmittag an der Bar vorbei, an deren Eingang weiß auf pink »Berlin« steht. Ich bin müde, es ist mein zweiter Tag in Seoul und ich hatte meiner Heimatredaktion angeboten, verschiedene Berlin-Orte zu besuchen. Die deutsche Hauptstadt – so meine These – ist in Seoul beliebt, gilt als hip wegen all der Clubs und wegen der Berliner Mauer. Es heißt, Berliner verstehen das mit der Teilung einer Nation, geteilte Stadt, geteilte Halbinsel. Die Liste von Orten wurde schnell lang: Es gibt den »Berlin-Platz« mit echtem Mauerstück im Zentrum der Stadt, ein Restaurant »Bärlin« mit Buddy Bär (im Hauptmann-von-Köpenick-Look) und Currywurst für umgerechnet 17 Euro. Im Studentenviertel steht eine Bierkneipe, die den Namen in drei koreanischen Silben schreibt: »Be-Le-Lin«. Aber es gibt sie nur einmal, diese Bar im berüchtigten Stadtteil Itaewon, wo das Nachtleben nie aufhört, wo die leben, die Fremdsprachen sprechen: das »Berlin«. Mein erstes Ziel.

Es ist Mai 2013. Ich betrete jetlag-blinzelnd die Bar und frage nach dem Inhaber. Der ist da, hat Zeit und setzt sich mit mir auf die Terrasse. Er ist Kanadier, Darrell heißt er, 46 Jahre alt. Er war noch nie in der Stadt Berlin. Er sagt abweisend, dass es keinen Grund gab, seine Bar so zu nennen, nur dass er penibel auf ihre Sauberkeit achte, fast preußisch in seiner Art. Es gibt keine Hinweise auf Deutschland, nirgendwo auch nur einen Fernsehturm, nichts Deutsches auf der Speisekarte, bis auf das »Paulaner«. Er wirkt gereizt. Was will dieser müde Deutsche, der ständig gähnt? Das Interview fällt kurz aus. »Koreaner mögen Deutschland«, sagt er, »und Berlin hat einfach ein cooles Image hier.« Na dann.

Ein bisschen stolz ist er doch auf seine kleine Kneipe: Das »Berlin« war der erste Laden auf dem Hügel. »Hier gab es nur Gras und alte, schlecht isolierte Betonklötze.« Er erzählt, wie er vor 16 Jahren hierher kam, die Terrasse gebaut hat. »Koreaner denken nicht daran, die Aussicht zu nutzen.« Ihm fällt ein, wie er sich mit den koreanischen Behörden gestritten hatte, weil er Ausländer ist, wie er der älteren Nachbarin eine Flasche Wein und Kuchen anbot, weil die Eröffnung etwas zu laut wurde. Er sagt, dass für uns normale Restaurantsitten hier nicht gelten: Wie er auf Servietten achtet, die man nicht aus einem Spender zupfen muss, oder darauf, dass Gäste auch wirklich am Tisch bedient werden – ohne erst laut durch den Gastraum zu rufen, wie sonst in Korea. Wie er sich freut, jedes Mal, wenn er die Fenster öffnen kann, im Frühling und Herbst. Der Sommer sei zu heiß, der Winter zu kalt. Dabei denken seine Freunde immer, er lebe doch in Asien, da müsse es warm sein. Er schimpft: Dieses Korea!

Ich erzähle ihm von meinem Stipendium, das mich hier nach Südkorea brachte. Drei Monate lang soll ich für meine Zeitung berichten, Geschichten über Samsung-Telefone, LG-Fernseher, und vielleicht treffe ich ein paar Nordkoreaner. Kennt er welche? »Viel Glück«, sagt er nur. Da fällt mir das Mauerstück in meiner Tasche ein. Ich hatte 30 Stück mit nach Seoul genommen, weil es in Korea üblich ist, Geschenke mitzubringen. Auch zu Interviews. Es sind diese bemalten Betonstücke, die schon lange kein Berliner mehr für echte historische Objekte hält. Aber es gibt ein Zertifikat und einen Stempel, und das DDR-Wappen ist auch darauf. Ich gebe Darrell das erste Mauerstück. Er freut sich überschwänglich. Er redet etwas von »Ehrenplatz« und plötzlich ertönt eine Sirene.

Darrell sagt, das habe er schon lange nicht mehr gehört. Das Heulen kommt aus allen Richtungen. Die Autos auf der Straßenkreuzung unten vor der Terrasse bleiben stehen. »Für eine Viertelstunde darf in Seoul niemand auf die Straße«, sagt er. So lange dauere diese Übung. Fußgänger müssen stehenbleiben – oder in einen U-Bahn-Schacht laufen. Denn diese sind 100 Meter tief, sie sind gleichzeitig Luftschutzbunker. Plötzlich wird mir klar, dass Nordkorea wirklich nur 40 Kilometer von dieser Terrasse entfernt ist. Direkt vor dem Fenster ist über die Straße ein Bogen gespannt, blau und metallfarben. Darauf stehen die Worte: »Welcome to Korea«.

Es ist eine ernste Zeit, als ich zum ersten Mal in Südkorea bin. Nordkorea hat damit gedroht, Seoul »in ein Flammenmeer« zu verwandeln. Kim Jong-Un hat gerade sein erstes Jahr als Diktator hinter sich, es gibt Meldungen, dass er einige alte Kader hat verschwinden lassen. Er hat neue Atomtests angekündigt, angeblich droht wieder eine Dürre und außerdem ist der Frühling auch die Zeit des Jahres, in der die Truppen des Südens zusammen mit den USA Militärübungen an der Grenze des 38. Breitengrades durchführen. Der Norden reagiert gewohnt aggressiv auf diese Übungen.

Meine Gastgeberfamilie hat wegen all dieser Meldungen einen Notfallrucksack gepackt und neben den Eingang gestellt. Darin ist Wasser, eine Decke, etwas Nahrung und Medikamente. All das erinnert mich daran, dass Südkorea und Nordkorea offiziell nur einen Friedensvertrag unterschrieben haben. War diese Instabilität auch ein Grund, zu kommen? Ein Beinahe-Abenteuer schon allein durch das Leben hier?

Ich erzähle Darrell von dem Notfall-Rucksack und er winkt nur ab. Weil die Sirenen so laut sind, muss er laut werden.

»Das geht seit Jahren so!«

Nichts werde sich hier verändern.

»Nichts! Hier kommt kein Krieg mehr, auch keine Wiedervereinigung! Das geht immer so weiter! Glaub mir, ich schaue schon eine Weile zu!«

Wir blicken einen Augenblick stumm auf die Straße und hören die lauten Töne der Sirene. Ich denke daran, dass das natürlich auch ein Grund ist, warum ich hier bin. Mit den Mauerstücken und so. Ich möchte sie gern noch einmal erleben, diese Wiedervereinigung: Menschen, die auf den Straßen tanzen, Familien und Fremde, die einander nach Jahren erstmals wiedersehen und umarmen. Ich war zehn, als die Berliner Mauer fiel und meine Eltern mich aus Dresden mitnahmen nach Westberlin. Mein erster Radiowecker und mein erster Döner. Wahnsinn.

Auch das erzähle ich Darrell und plötzlich, trotz der Sirenen, schert ein Auto aus und fährt langsam über die Kreuzung. »Der hatte keine Geduld mehr«, ruft Darrell und lacht. Ihm gefällt es, wenn Koreaner sich einmal nicht an die Regeln halten, wenn sie ausscheren. Es gibt hier in Korea ein Sprichwort: Wenn ein Nagel herausschaut, kommt ein Hammer und haut drauf. Darrell spricht von Konfuzius und er fragt mich, ob ich noch Zeit habe. Er wolle eine Flasche Wein öffnen, es sei zwar noch Nachmittag, aber ein koreanischer Freund warte auf der Dachterrasse. Sie haben sich lange nicht gesehen. Ich könne ja bleiben …

Und so wurde aus dieser etwas halbherzigen Recherche und halbherzigen Einladung ein sehr langer Abend. Ich lerne »Gin« kennen und durch ihn meine ersten koreanischen Freunde. Er heißt eigentlich anders, hat einen poetischen koreanischen Vornamen. Aber alle rufen ihn »Gin«. Er sagt: »Ich mag einfach Gin.« Zum Beispiel im Martini-Glas mit einer Olive an einem Spieß. Irgendwann rief Darrell: »Champagner!«

Einer am Tisch war sterbenskrank, einer hasste die Welt und einer wurde von der Liebe seines Lebens verlassen. Jeder hatte Grund zum Weinen, aber vor allem wurde an diesem Abend viel geraucht und gelacht. »Liebe des Lebens – das gibt es nicht!« – »Mach erst mal die Chemotherapie!« – »Die Glatze wird Dir ganz gut stehen!«– »Mit dem Hass auf das Leben ist das wie mit der Liebe des Lebens.« Und überhaupt: »Mehr Champagner, Dschuseoo!« Dschuseo heißt »bitte«.

Gin war es, der dann zuerst von Han sprach, einem Gefühl, das – so heißt es – nur Koreaner verstehen können. Gin sagt, es beschreibe eine Form von universeller Traurigkeit, die sich nie auflösen werde. Er sagt auf Englisch: »Never ever«. Einige sagen, es gehört zur DNA der Koreaner. Gin nennt einige Beispiele: Es sei »wie eine Rache, die man niemals vollziehen darf« oder »wie ein Knoten, der sich niemals lösen wird«. Dieses Gefühl sei so stark für Koreaner, dass einige dafür auch sterben. Man sagt dann, sie seien an Han gestorben. Aber es steckt eben auch Hoffnung in Han, weil man nicht allein ist in dem Leiden. Alle Koreaner teilen es. Han ist es, das sie zu Tausenden gegen die Regierung protestieren lässt, und ich bin mir sicher, es ist auch wegen Han, wenn Südkoreaner manchmal spontan weinen, während sie von Nordkorea sprechen.

Von der Dachterrasse aus wird der Blick auf alles leichter: Im Süden der Fluss, der auch ausgerechnet »Han« heißt, und die Hochhäuser von Gangnam, der Stadtteil aus dem notorischen YouTube-Hit. Dort die Bäume, die keinen Park anzeigen, sondern die US-Army-Base, über 20 000 Soldaten sind noch hier stationiert, gleich gegenüber, auf der anderen Straßenseite. Und im Norden auf einem Hügel der Namsan-Turm, der abends blau leuchtet, zumindest dann, wenn die Feinstaubbelastung unter 45 Mikrogramm liegt. Das meinen Koreaner wirklich so. Der Turm leuchtet also meistens, das ist beruhigend – und trotzdem hat er es doch aus irgendeinem Grund nie zur Weltberühmtheit geschafft hat. »Weil er hässlich ist!«, ruft Gin in die Nacht. »Dieses ganze Land ist unmöglich!« ruft Darrell. Ich grinse nur, denke an das Buch, dass ich zur Vorbereitung gelesen hatte – »Korea, das unmögliche Land« – und freue mich, dass der Turm ein bisschen wie der Fernsehturm am Alexanderplatz aussieht, dass dieser Raum hier wirklich »Berlin« heißt. Dass man gleichzeitig weit weg (in dem Land hinter Nordkorea) und im Zentrum (mitten in der Hauptstadt) sein kann.

Im Flugzeug hatte ich im Seoul-Reiseführer die Umschlagkarte aufgeklappt. Itaewon lag genau im Knick. In der Mitte der Mitte. Da bin ich also, im Zentrum Seouls, einer 25-Millionen-Metropole, eingeklemmt zwischen einem Berg mit blauem Turm und einem sehr breiten Fluss. Zwischen Nordkorea und dem Pazifik. Zwischen dem Riesen China und dem viel populärerem Japan: Sushi, Mangas. Doch hier mit »Gin« und Darrell auf der Dachterrasse fühlt es sich an, wie in Watte gepackt zu sein und vor allem: genau zur richtigen Zeit am besten Ort. Liegt es am Rausch und am Jetlag, dass ich mich schon am zweiten Tag in Seoul nicht mehr fremd fühle? Ich sage an diesem Abend häufig den Namen – der übersetzt nur »Hauptstadt« bedeutet – vor mich hin: Seoulllll.

Gonggggg.

Dann löscht der Turm sein Licht und es ist Mitternacht. Bald darauf stolpere ich die Holztreppe hinauf, den Hügel hinunter, einen anderen hinauf. Welcome to Itaewon. Ich schrieb tatsächlich einen Text über die »Berlin«-Orte in der Stadt. Er erschien in einer Sonntagszeitung. Im Flugzeug nach Seoul liest der deutsche DJ Sven Väth den Text und will deshalb spontan Platten auflegen im »Berlin«. Und so stehen wir eine Woche später wieder in der Bar mit 100 Deutschen. Und von da an immer wieder.

Hier schrieb ich viele Texte, schaute dabei auf die Straße, und hier feierte ich meinen Abschied nach den drei Monaten und sagte damals allen, die da waren, dass ich wohl zurückkehren werde. Es war das Jahr, in dem alle zum Hit »Get Lucky« tanzten. Und in dem trotzdem das Han spürbar in der Luft lag.

ZWEI JAHRE SPÄTER

Ich sitze auf meiner eigenen Dachterrasse in Seoul, natürlich zwischen Turm und Fluss, es ist Frühsommer. Ich wohne seit neun Monaten hier, gleich kommen die Gäste für einen Abend mit Blick auf den Turm, keine Exzesse mehr. Das Dach liegt ganz oben auf einem Hügel, am Horizont eine Reihe von Hochhäusern, in denen gerade die Lichter angehen, wie Sterne an einem waagerechten Ersatzhimmel. Die Hubschrauberlandeplätze leuchten blau, der Namsan-Turm nebenan leuchtet heute pink, was heißt das für den Feinstaub? Die ersten Klimaanlagen laufen sich warm und bilden zusammen mit den Autos und der Musik aus dem nahen Itaewon das leise Grundrauschen des Sommers in der Stadt. Es hat wieder Probleme mit dem Norden gegeben. Der Norden, der Norden.

Meine Gäste heute Abend sind eine typische Mischung für das Leben hier als Ausländer: Koreaner (Nord und Süd), Deutsche, Amerikaner und Franzosen, Spanier. Nur die zwei aus dem »Berlin« fehlen, einer ist weggezogen und einer lebt nicht mehr. Das bedeutet, dass die, die heute kommen, auch Gebliebene und Überlebende sind. Rund zwei Jahre nach unserem gemeinsamen langen Abend habe ich beide Teile des Landes gesehen und über beide viel geschrieben. Nordkorea ist immer interessant, und es ist die Zeit, in der Trendscouts aus der ganzen Welt plötzlich auch Südkorea als Thema entdecken. Sie sagen, es sei hier wie in Japan vor zehn Jahren. Mode, TV-Serien, Popkultur und die technische Entwicklung kommen plötzlich für ganz Asien aus Südkorea. Seoul, ein Labor für neue Apps und das Leben mit der digitalen Technik. Es ist die Zeit, in der Kaffee zu einem hippen Getränk wird in dem Grüntee-Land – und alle Koreaner verrückt nach Churros sind, ein Gebäck aus Spanien. Und es ist eine Zeit, in der die koreanischen Wirtschaftsunternehmen sich überall in der Welt bemerkbar machen. »Go global« ist das Schlagwort in Seoul, für LG, für Samsung und Kia sowieso.

Morgens auf der Dachterrasse mit Namsan-Turm

Samsung-Telefone haben das iPhone in der Zwischenzeit auf dem Markt überholt. Und BMW hat hier einen Milliardendeal für Elektro-Autos abgeschlossen. Die Welt will mitbekommen, was mit einer Gesellschaft wie der in Korea passiert, die technisch so weit vorn ist und den Alltag über Mobiltelefone erledigt. Alles hier ist extremer, als im Rest der Welt: die längsten Arbeitszeiten, die niedrigste Geburtenrate, hohe Altersarmut und höchste Bildungsaber auch: Selbstmordrate. Aber fern all der Daten: Wie ist das, wenn alle nur noch aufs Telefon starren oder eine seltene Krankheit ausbricht und über 100 Menschen sich sofort anstecken, wie bei MERS? Und dann natürlich: Der Norden! Hat Kim Jong-Un wirklich seinen Onkel umgebracht? Seine Ex-Freundin? Seine Tante?

Genau dieses neue Korea möchte ich erkunden. Ich möchte den Weg des Landes vom Status eines Entwicklungslandes in den 50er-Jahren zu dem modernen Powerhouse von heute erzählen. Ich will durch das Land reisen und Menschen treffen, die das erlebt haben, diesen unglaublichen Wandel. Diktatur zu Demokratie, Armut zu Reichtum, Plumpsklo zu elektrischer Toilette. Paare, die sich über eine App miteinander beschäftigen. Alte Männer, die auf ihre Stadt herabblicken und sie nicht mehr wiedererkennen. Ich will sie treffen, die Süd- und Nordkoreaner, die Deutschen und Amerikaner, die Briten und Franzosen und all die anderen, die aus irgendeinem Grund ihre »Seoul-Jahre« brauchen oder hier für immer sind. Denn bei aller Kritik an Korea: Es ist das perfekte Land, um für einige Jahre schnell eine neue Heimat zu finden. Es gibt viel Arbeit, freundliche Menschen, sehr gutes Essen und wohl eines der besten Transportsysteme weltweit. Hier gilt das umgedrehte New-York-Prinzip: »If you can’t make it anywhere – you can make it in Seoul.«

Ich beginne hier im Zentrum mit einer Reise auf den Turm, der diese Stadt ausmacht. Dann gehe ich in konzentrischen Kreisen um den Namsan-Turm herum immer mehr in das Umland von Seoul, dann in andere Regionen und Städte wie Busan, Daegu und Jeonju und werde die Reise auf Koreas höchster Spitze beenden: dem Berg Hallasan auf der Insel Jeju. Nirgendwo in Südkorea ist der Norden weiter entfernt als dort. Immer wieder wird er Thema sein: der Norden. Nicht nur wegen der Sirenen oder weil fast jeder etwas zu diesem Teil des Landes sagt, sondern weil ohne den Norden -- da bin ich mir ganz sicher -- der Süden nicht so wäre, wie er ist.

Und so ist es vielleicht wirklich ganz gut, mit einem Ort zu beginnen, der Trennungserfahrung hat. »Berlin.« Koreaner mögen das große Drama, und ein größeres als »Berlin« hat Deutschland eigentlich nicht zu bieten, die Mauer und die Stasi, zerrissene Familien, verlogene Ehepaare und all die Toten. Wasserleichen und erschossene Jugendliche. Ich hatte in Berlin einmal einen Mann interviewt, der kurz vor der Wende auf eine Fotoausstellung in Lyon eingeladen war. Er hatte sein ganzes Leben in Pankow verbracht, im Norden Berlins. Plötzlich schaute er von einem Podest in Wedding über die Mauer auf Pankow. Er wusste: Wenn er jetzt wirklich nach Lyon fliegt, kommt er nie wieder. Er ist in jener Nacht nicht geflogen und hat Pankow bis heute nicht verlassen, trotz Mauerfall. Er arbeitet als tätowierter Türsteher vor dem bekanntesten Club Berlins. Rein oder nicht rein. Das ist seine Lebensfrage und sie stellt sich nirgendwo so sehr wie in Südkorea.

Seoul kennt solche Geschichten und noch viel größere Dramen, der Satz »Ich habe einen Onkel im Norden«, Angst vor der eigenen Meinung, erschossene Menschen sowieso. Trotz all dieser Gemeinsamkeiten will der neue koreanische Inhaber vom »Berlin« die Bar umbenennen. Darrell wohnt inzwischen in einem kleinen Ort an der Ostküste. Auch ihn will ich noch einmal besuchen. Inzwischen finden in seiner alten Bar jeden Sonntagabend lockere Tanzabende mit DJ statt, vielleicht die einzige Referenz auf die Stadt Berlin: gute Musik. Von den Abenden auf der Dachterrasse spricht schon lange keiner mehr. Die Bar würde später den Namen »So Wat« tragen, das soll Thai klingen und auch etwas nach dem englischen »Was soll's«. Der Blick auf die Straße wird bleiben, auch: das Gefühl von Han, von einer großen hoffnungslosen Trauer.

Die Spezialität des Hauses ist nicht der Champagner oder der Weißwein, es ist sicher nicht das Bier. Sie ist das Getränk, das bestens zu einer Stadt wie Seoul passt: dunkel, elegant und mit langer anregender Nachwirkung, wie ein großer Gong. Der »Espresso-Martini« im »Berlin« ist der beste der Stadt. Ein cremiger, umgedrehter Kegel, oben auf dem Schaum schwimmen drei Kaffeebohnen. Es dauert etwa fünf Minuten, bis er gebracht wird, der Kellner läuft dann ganz langsam quer durch den Raum, hochkonzentriert. Das sollte der Beginn sein für alle guten Geschichten.

Kapitel

2

Der Aufstieg

SAN (DER BERG)

Song-yi sitzt auf dem höchsten Punkt Seouls, sie könnte auch schweben. Sie schaut auf die glitzernde Metropole, wartet auf Min-joon, einen jungen Mann, der ihr die ganze Zeit sagen wollte, dass er ein Außerirdischer ist. Er schafft es in 16 Folgen der TV-Serie nicht.

Wahrheit und Ehrlichkeit sind in Korea schon lange nicht mehr das gleiche. Während Song-yi oben im Turm sitzt, ist Min-Joon schon längst bei den Sternen. Die sonst so selbstsichere junge Frau, deren Job es ist, auf der Bühne Millionen Fans glücklich zu machen, sie wirkt verloren vor all den bunten Punkten. Ein trauriger Star. Und hinter ihr: die Sterne.

Die anderen Tische im Turmrestaurant des Namsan-Tower sind alle besetzt, fast nur mit Paaren. Ringe werden verschenkt, Glückwünsche ausgesprochen. Song-yi wollte nur einen guten Abend mit Min-joon, ihrem Liebsten. Sie schwebt allein am Tisch, dreht sich um die Stadt oder die Stadt sich um sie. Dann weint sie, wie nur Stars weinen können.

»My Love from the Star« ist ein koreanisches TV-Drama, eine Serie, die jeder zwischen 15 und 45 Jahren kennt, in ganz Asien eigentlich. Die kühle K-Pop-Sängerin Song-yi, die sich in ein auf der Erde gestrandetes Alien verliebt, Min-joon, der genau wie sie überirdisch gut aussieht. Bei ihm hat das einen einfachen Grund, der nichts mit Schminke aus dem Herrenregal oder Gesichts-OP zu tun hat: Er wird nie älter. Der weibliche Pop-Star und das Alien – das birgt sehr viel Gelegenheit für traurige Blicke. Die unmögliche Liebe, mehr Han geht nicht. Denn Min-Joon muss nach Hause. Irgendwann sagt Song-yi zu Min-joon: »Lass uns das machen, was alle Paare tun, lass uns ein Schloss mit unserem Namen beschreiben, es am Namsan-Berg festschließen und dann im N-Tower unsere ersten 100 Tage feiern.« Er zieht die Augenbrauen zusammen, nur ganz kurz, der Zuschauer weiß, er würde so gern, doch er kann nicht. Han für Außerirdische. Dann seufzt Min-joon und lügt: »Ja«.

100 Tage später sitzt Song-yi dann allein im N-Turm, und spätestens seitdem ist das der Ort Nummer eins für verliebte Koreaner. Sie wollen dort auf diesem Berg Schlösser anschließen. Sie wollen sentimental auf die Stadt bei Nacht blicken, Hand in Hand zwischen den Bäumen laufen, Kirschblüten im Frühling, sattes Grün im Sommer, Tiefes Rot und Gelb im Herbst. Weiß im Winter. Für Touristen ist es nur ein Aussichtsort, sie sitzen in der Schwebebahn, ohne zu wissen, dass sich in dieser Bahn Tausende Verliebte so geküsst haben wie Min-Joon und Song-yi. Touristen stehen auf einer Treppe am unteren Ende des Bergs, ohne zu wissen, dass man hier Schere, Stein, Papier spielen muss mit seinem Partner. Um jede Stufe. Wer gewinnt, bekommt einen Kuss. Koreaner können das wie keine andere Nation: sentimental sein. Der Namsan ist deshalb ein Sehnsuchtsberg.

Dieser Sehnsucht laufe ich gegen 9 Uhr morgens vom Süden her entgegen, der N-Turm wird von der Sonne bestrahlt. N steht für »Natur« und für »Neu«, so steht es auf der Seite des Tourismusbüros der Stadt. Aber sehr wahrscheinlich steht es doch einfach für »Namsan«. Nam, der Süden, San, der Berg. Er ist 262 Meter hoch, nur etwas höher als der Hügel, auf dem meine Dachterrasse liegt. Ich blicke ihn fast auf Augenhöhe an, als ich loslaufe. Verstellt wird der Blick nur von den vielen Drähten und Oberleitungen. Obwohl Südkorea eines der höchstentwickelten Länder der Welt ist, stehen alle paar Meter Pfosten mit einem großen Leitungskabelsalat.

Die Straße ist so steil, dass Autos gesichert werden müssen

Die Straßen hier sind so steil, dass sich die Planer in Deutschland sicher für Serpentinen entschieden hätten. Parkende Autos haben Ziegelsteine vor den Rädern stehen. Doch alternativ kann man wie fast überall in Seoul in kleinere Seitengassen abbiegen, zwischen den altmodischen Häusern mit koreanischen Dachziegeln und Kimchi-Töpfen an den Wegen entlang balancieren. Gerade genug Platz für eine Person. Kommt jemand entgegen, müssen sich beide ganz dünn machen. Und grüßen, Annyeonghasseo, wer das nicht tut, dem kann eine ältere Dame schon einmal zufällig vor die Füße spucken.

Auf dem Weg ins Tal sehe ich vor allem ältere Menschen, sie sprechen vor der Haustür miteinander, laufen mit Taschen den steilen Hügel hinauf, nicken freundlich. Sie sind Nicht-Koreaner gewöhnt hier im Bezirk. Es gibt Häuser, deren Namen schon darauf hinweisen, dass hier internationales Gelände ist: »Foreign Residence« oder »International Villa«. Korea ist eine der ältesten Gesellschaften der Welt und hat gleichzeitig eine der geringsten Geburtenraten. Sie liegt bei 1,3, noch niedriger als in Deutschland. Sollte sie unter die Grenze von 1,19 sinken, könnten Südkoreaner bis zum Jahr 2750 ausgestorben sein. So schrieb es der »Business Insider« – natürlich endet auch dieser Text damit, dass bei einer Wiedervereinigung alles anders wäre. Hach, eines Tages.

Gerade alte Leute haben oft die Hoffnung auf diese Wiedervereinigung nicht aufgegeben, heißt es. In einem koreanischen Restaurant in Berlin hatte ich eine lange Diskussion mit dem Inhaber, wie sie doch noch möglich wäre. Er will einmal auf den Paektusan, den größten Berg der Koreanischen Halbinsel. Von dort auf das vereinte Korea blicken. Er zeigte auf die Landkarte, die Karte, die immer beide Teile zeigt. Es gibt fast keine Landkarten, auf denen nur Südkorea abgebildet ist.

Als ich das Tal zwischen Itaewon-Hügel und Namsan erreiche, stehe ich plötzlich mitten im vielleicht angesagtesten Viertel ganz Koreas, Kyungridan heißt es. Seit rund zwei Jahren entstehen hier fast wöchentlich neue Kneipen, Restaurants und Clubs, öffnet sich ein ehemaliges Betonloch in der Wand zu einem neuen »Place-to-be«. Der beste Thai der Stadt, das beste Craftbeer, die beste Pizza. So ist zumindest »The Booth« entstanden, eine schon legendäre Pizza-Bier-Kneipe im Neuköllner Abrisslook, gegründet vom ehemaligen Economist-Korrespondenten. Er hatte schlicht keine Lust mehr, immer das gleiche über Nordkorea zu schreiben, sagte er vor zwei Jahren. Er verkauft nur selbstgebrautes Bier und ist damit so erfolgreich, dass er jetzt acht Filialen hat. Gleich daneben gibt es die deutsche Bäckerei »The Bakers Table«, deren Inhaber zwar immer schlecht gelaunt wirkt, aber das beste Brot im Schatten des Namsan backt.

Vorbei an meinem Fitnessstudio (»Body & Seoul«), einer Boutique (»Dentist Appointment«) und kleinen Geschäften, die eine ungewöhnliche Mischung aus Frozen Yoghurt, Handtaschen und Laptoptaschen anbieten (»Once upon a milkshake«). Dort beginnt auch schon wieder der Aufstieg, der ähnlich steil verläuft wie der Abstieg. Nur hat sich hier ein gut gelaunter Koreaner einfallen lassen, alle zehn Meter ein kleines Schild mit der Comicfigur einer Koreanerin aufzustellen, die zwei Taschen nach oben trägt. Auf den ersten Bildern am Wegesrand läuft sie noch lächelnd, aber mit zunehmendem Anstieg kommt sie ins Schwitzen. Oben angekommen, wartet ein Café mit Stühlen, auf denen sich die Comic-Frau – wieder auf einem Bild – ausruht. Clevere Werbung für ein privates Café, das noch keine Kette aufgekauft hat.

Nach einer Weile in Südkorea wundern einen solche Details nicht mehr. Restaurants werben mit Zeichentrick-Schweinchen, die selbst stolz ihre Körperteile anbieten, und in der U-Bahn erklären ein gelber und ein roter Wurm, wie sich Menschen auf der Rolltreppe verhalten sollen (»Bloß nicht überholen«). Diese Verniedlichungen kennt der Westen nur in Form von Olympia- und Fußballmaskottchen. In Asien bekommt jede Stadt ihr eigenes kleines Monster. Seoul hat einen kleinen gelben Löwen. Der Löwe heißt Haechi – und eine Statue von ihm steht oben vor dem Namsan-Turm.

Ich laufe den Berg hinauf, in den Wald hinein und im Zickzack nach oben in Richtung des Turms, der immer wieder zwischen den Bäumen auftaucht. Der Aufstieg ist wie viele Wanderwege in Südkorea sehr gut ausgebaut. Treppen aus Holz, Wege zum Teil mit rutschfestem Gummi und zum Verschnaufen nicht Bänke, sondern Fitnessgeräte. Doch in jeder der 30 Minuten, die dieser Aufstieg dauert, wird es schwieriger, mir vorzustellen, dass ich mich wirklich immer noch mitten in einer Großstadt befinde. Es gibt nur wenige Städte auf der Welt, die wie Montreal oder Rio de Janeiro einen Berg im Zentrum haben. Seoul hat nicht nur einen, sondern gleich mehrere. Der Namsan ist vielleicht der schönste.

Das koreanische Wort San (Berg) entstammt dem chinesischen »Shān«, und das entsprechende Schriftzeichen ist ein sehr einfaches mit nur drei Strichen: . Es ist eines der ältesten und tauchte schon im frühesten überlieferten chinesischen Wörterbuch vor fast 2000 Jahren auf. Es bezeichnet einen Ort, »an dem die Erde atmet«. Und für einen Augenblick gibt es hier keine surrenden U-Bahnen, keine großen Brücken, die über den Fluss führen, keine nummerierten endlosen Hochhäuser, es gibt nur: das Eichhörnchen, das gerade auf einen Baum springt und das Pärchen, das mir entgegenkommt. Warum müssen es in Seoul immer Pärchen sein? Er trägt ein T-Shirt, mit einem Pfeil nach links, sie eines mit einem Pfeil nach rechts.

Kurz vor der Spitze erhebt sich eine Mauer neben dem Weg, dicke, schwere, versetzte Steine. Sie ist eher ein historisches Zitat, erinnert daran, dass dieser Berg einst eine südliche Stadtgrenze war und nicht mitten in der Stadt lag. Der Grundstein für diese Mauer wurde im Jahr 1396 gelegt, die Joseon-Dynastie war gerade vier Jahre alt, Seoul war zwei Jahre zuvor zur Hauptstadt ernannt worden. Damals hieß sie noch Hanyang, so hieß sie über Jahrhunderte. Erst nach der japanischen Kolonialzeit und der Kapitulation 1945 hieß sie Seoul und ist damit bis heute die einzige koreanische Stadt, die einen Namen hat, der nicht in chinesischen Schriftzeichen geschrieben werden kann.

Oben angekommen wartet ein Platz, der aussieht, als ob ein Architekt die lange Geschichte in einen Ort packen wollte. Ich stehe vor einer Pagode, sechseckig, sechs Bänke. Auf einer der Bänke sitzt ein älterer Herr, auf den ich zulaufe. Würde ich jetzt ein Foto von ihm machen, würde alles darauf sein, was ein typisches Seoul-Foto enthalten muss: traditionelle Mauer mit Türmen für Rauchzeichen (das Alte), im Hintergrund Hochhäuser (das Moderne), Menschen in altertümlicher Kleidung (das Exotische) und junge Koreaner, die auf ihr Mobiltelefon schauen (das Alltägliche). Und mittendrin ein sentimental blickender Herr Kun, der sich einfach ausruht. Er sagt, er wolle gleich weiter, er habe ein Treffen mit einem alten Freund im Stadtzentrum, aber er wollte einen Umweg über den Berg machen. Er lächelt und sagt mit einer fast feierlichen Würde: »Ich komme hier einmal im Jahr her, mindestens.« Er ist 74 Jahre alt, hat fast sein ganzes Leben in dieser Stadt gelebt, sie nur während des Krieges verlassen.

Als er hier zum ersten Mal nach oben kam, vor rund 50 Jahren, sagt er, habe es keinen großen Platz mit Pagode gegeben, keinen Turm, keine Schwebebahn, keine Liebespaare, die Schlösser beschreiben und Selfies machen. Dann nennt er den Namen, den Koreaner immer sagen, wenn es um Koreas Geschichte geht: »Das war die Zeit von Präsident Park Chung-Hee, als die Stadt noch aus Slums bestand.« Die habe er von hier oben sehen können. An den Hochhaus-Dschungel von heute war noch nicht zu denken. »Wo immer die Leute einen freien Platz fanden, da bauten sie ihr Haus hin.« Der Winter, das war die Zeit, als Menschen nur Soju tranken, jenen koreanischen Reisschnaps, ohne den hier gar nichts geht. Sie blieben zu Hause und taten nichts. Es sei alles ein Chaos gewesen, noch dazu die demonstrierenden Studenten. Er war in ihrem Alter, im Alter der Studenten, aber er sagt nicht, dass er demonstriert hat. Park Chung-Hee, sagt er, habe das Land gerettet, das werde heute oft vergessen.

Park Chung-Hee war der Präsident, der von 1963 bis zu seiner Ermordung 1979 das Land führte und bis heute spaltet. Historiker zeichnen kein einheitliches Bild von ihm, dem Volkshelden, der das »Wunder vom Han-Fluss«, das Wirtschaftswachstum Südkoreas, eingeleitet hat – und gleichzeitig ein Diktator war, der bis heute verhindert, dass Menschen offen über Politik reden. Zu seiner Zeit konnte ein falsches Wort Menschen ins Gefängnis bringen. Ich selbst war auf Partys, bei denen Menschen nicht über ihre politische Meinung sprechen wollten. Sie sagten dann: »Ich weiß ja nicht, was die anderen so denken.«

Ich hatte gehofft, dass hier oben auf dem Berg vielleicht auch das leichter fällt, das Nachdenken über die dunklen Seiten der Vergangenheit, so buchstäblich abgehoben von den Dingen, die Stadt so weit unter uns, leise brummend. Aber Herr Kun denkt auch hier oben mit Blick auf die 25-Millionen-Metropole an die schwierigen 60er-Jahre. Ich beginne zu ahnen, wie Gespräche mit Großeltern in Südkorea ablaufen, welche Geschichten von Entbehrungen in den Familien wieder und wieder erzählt werden. Auch das ist wohl Teil des allgegenwärtigen Gefühls von Han. Er spricht weiter vom Studentenaufstand am 19. April 1960, der den ersten Präsidenten und Diktator Syngman Rhee stürzte, und der Hoffnung auf den Neuanfang danach. Er spricht wie viele in seiner Generation voller Bewunderung: »Park Chung-Hee hatte nur eine Mission, er wollte, dass es uns besser geht.« Neue Häuser, mehr Wohlstand und mehr Bildung für alle. »Man darf nicht vergessen: Nach dem Krieg ging es Nordkorea besser als uns.«

Dieses gute Image könnte auch ein Effekt der Verklärung in den Medien sein – und die Nachwirkung eines Personenkultes, den einige mit dem des nordkoreanischen Kim Il-Sung vergleichen. Vor allem ältere Koreaner verklären die Zeit unter seiner Herrschaft als eine, in der klare Regeln galten. In Park Chung-Hees Geburtsort Gumi steht heute ein Museum, und letztlich war er das Hauptargument für die Wahl von Park Geun-Hye, seiner Tochter, die im Jahr 2012 zur ersten Präsidentin Koreas gewählt wurde.

Sie sitzt jetzt im Blauen Haus, dem koreanischen Regierungssitz mit blauem Dach, das ich sehr gut sehen kann von diesem Hügel. Es liegt in den Bergen, fügt sich perfekt in die Landschaft ein. Von dort wiederum muss man einen guten Blick auf die »Korea GmbH« haben, wie Ökonomen das Land oft nennen. Denn bei einem der großen Unternehmen zu arbeiten gilt fast als patriotische Pflicht. Und der Präsident Südkoreas hat traditionell eine gute Beziehung zu den Chefs dieser großen Firmen. Park Chung-Hee unterstützte sie in den Anfangsjahren sehr – zum Beispiel ein kleines Unternehmen, das ursprünglich nur getrockneten Fisch verkaufte. Die Regierungszuschüsse verhalfen dem Familienunternehmen zu einer Expansion, die ihresgleichen in der Welt sucht. Die Firma hatte sich den Namen »Drei Sterne« gegeben. Auf Koreanisch heißt das: »Samsung«.

Herr Kun und ich müssen ein bisschen suchen, um im Häusermeer das Hauptquartier von Samsung erkennen zu können. Dabei ist im Grunde alles hier zu Füßen des Berges ein Hauptquartier von Samsung. Oder doch zumindest ein Hauptquartier der Großunternehmen. Die zehn größten koreanischen Firmen zusammen machen rund 75 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Neben Samsung sind das Firmen wie LG, Hanwha, Kia, Hyundai, Lotte. Das sind die Namen, die auf den Hochhäusern stehen, die abends erleuchtet werden.

Herr Kun war Bauingenieur, er hat Hochhäuser mitentworfen, lebt jetzt selbst in einem 15-stöckigen Gebäude, das man von hier aus nicht sehen kann. Es liegt hinter einem weiteren Berg, zwischen hier und Nordkorea, sagt er, dem Land, dass für ihn ganz nah ist. Wenn Kim Jong-Un die Truppen zusammenzieht, dann macht er sich Gedanken. »Natürlich denke ich immer an Nordkorea«, sagt er, er sei immerhin im vereinten Korea geboren worden. Doch Leute wie er werden weniger. »Ich habe keine Verwandten dort, aber ich weiß, dass es zu einer Wiedervereinigung kommen wird.«

Dann spricht er über den »Koreakrieg«, aber wie viele Südkoreaner nennt er ihn nicht bei diesem Namen, sondern sagt nur die Zahlen »6/25«, denn am 25. Juni 1950 begann der Krieg. »Ich war noch ein Schulkind, meine Mutter hat mir nur gesagt: ›Pack schnell alles zusammen, wir müssen hier weg.‹« Dann sei er für drei Jahre aufs Land gefahren. Keine Schule, keine Ferien. Gar nichts, nur nach Essen suchen, für sich, für die Familie. Nein, das mit dem Norden, das werde so schnell nicht gut enden. »Wenn es endet, dann nur blutig.«

Hinter uns läuft ein Pärchen vorbei, in Richtung Terrasse mit Aussicht auf den großen Fluss. »Die junge Generation«, sagt er, »die reisen heute viel, die sehen viel und sie fühlen viel.« Er sagt wirklich: Sie fühlen viel. Er meint vielleicht die großen Dramen im Fernsehen, Song-yi und Min-joon, die beiden Stars, die auch schon auf dieser Bank saßen und kuschelten. Er kennt sie nicht, kann nur wenig anfangen mit dem »niedlichen« Verhalten von Südkoreanern heute. Er hat die harte Seite kennengelernt. »Aber sie vergessen auch, wie dieses Land entstanden ist, und dass es nichts geschenkt gibt im Leben.« Er seufzt und wird ganz ernst. »Wenn Du kein Land hast, dann gibt es kein ›wir‹.« Sein Land leide bis heute an der Trennung. Er zeigt wieder auf das junge Paar, das gerade versucht, den Turm und sich auf ein Foto zu bekommen. »Die Wiedervereinigung müssen sie schaffen, nicht wir.«

Laut einer aktuellen Studie der Seoul National University fühlen sich rund 90 Prozent der Südkoreaner vom Norden bedroht, etwa 11 Prozentpunkte mehr als im Jahr davor. Trotzdem sehen nur 13 Prozent das Land als einen Feind an. Noch immer sind etwas mehr als die Hälfte der Südkoreaner für eine Wiedervereinigung als »beste Lösung« für einen Konflikt, der in diesem Jahr 70 Jahre alt wird. Das denken auch die jungen Menschen. Nur wie soll das je erreicht werden?

Ich gehe auf die beiden jungen Paarmenschen zu. Sie stehen jetzt auf ein Geländer gestützt und schreiben etwas auf ein Band. Sie sind umringt von Schlössern in allen Farben, meist grell. Auf ihnen stehen Namen und Liebesschwüre. Jong-Hun ist ein 24-jähriger Student, Ji-Won, ein Jahr jünger, ist seit 136 Tagen ist sie seine Freundin. Er musste nicht lange überlegen, diese Zahl zu sagen. Er hat sie gefragt, ganz offiziell. Sie hat Ja gesagt. Vor 136 Tagen. Er kennt das Datum so genau, weil es in Korea eine App dafür gibt. »Between« heißt sie und die meisten koreanischen Paare nutzen sie. Es ist wie Facebook, nur für zwei Menschen. Die App erinnert an Liebes-Feiertage, den ersten Kuss, zählt die Tage der Beziehung. Wenn man einander nicht sieht, verschickt man kleine Monster und Herzen an den Partner. Man ist virtuell immer erreichbar und die App zeigt sogar an, in welcher Stadt sich der Partner gerade aufhält und wie das Wetter dort ist. Fast alle jungen Südkoreaner, die ich traf, nutzten diese App. Und für eine kurze Zeit hatte ich sie auch installiert.

Jong-Hun umarmt Ji-Won von hinten, während sie etwas auf das Stück Band schreibt. Wieder ergibt sich ein fast zu schönes Bild hier oben vor dem Turm. Ich habe es so oft bei koreanischen Paaren gesehen: in der Öffentlichkeit kuscheln und die Liebe für alle sichtbar zu machen. Ji-Won schreibt: »Saranghae…« Das heißt: »Ich liebe dich.« Sie sagt: »Ich wollte kein Schloss mit einem Stift beschreiben, ich wollte etwas, das keiner macht.« Das Band stammt aus dem Restaurant, wo sie ihr Date anlässlich des 100-tägigen Beziehungs-Jubiläums verbrachten. Das Restaurant im Turm, das N Grill, das leisten sie sich später. Sie will das Band um die Pappstatue wickeln, die an einer der Pärchenbänke aufgebaut ist. Die Pappstatue stellt Min-Joon dar, natürlich, den Außerirdischen aus der Serie. »Aber vielleicht wickeln wir es auch einfach um das Geländer, das ist sicherer.«

Ich erzähle ihnen von Herrn Kun und sie sagen, dass sie sehr wohl oft daran denken, was die ältere Generation durchgemacht hat. »Aber«, sagt Jong-Hun, »unsere Generation hat auch ihre Probleme.« Er meint die schweren Prüfungen in den Universitäten und den Kampf um die Arbeitsplätze. Es gebe weniger Jobs, die Garantie, es mit einer guten Ausbildung geschafft zu haben, existierte schon lange nicht mehr – und dann immer wieder die Drohungen aus dem Norden. Sie schauen auf die Stadt hinab, zeigen, wo sie studieren, wo sie wohnen, wo sie einmal arbeiten möchten. Immer wieder ein anderes Hochhaus. »Ich habe keine Angst«, sagt er und meint Nordkorea. »Ich sehe unser Nachbarland wie einen ungezogenen Bruder, der immer wieder peinliche Dinge tut.« An guten Tagen, heißt es, könne man von hier bis Nordkorea sehen.

Dann betrete ich den Turm, das Sehnsuchtsziel der Verliebten, den Fahrstuhl, der mich gleich auf den höchsten Punkt der Stadt bringen wird. Ich denke an den Moment, als Song-yi und Minjoon eingestehen müssen, dass sie nie wirklich zueinanderfinden werden. Das große Drama zwischen den beiden endet nach 21 Folgen offen. Sie sind zusammen und doch wird er in ein Wurmloch gesaugt, löst sich plötzlich in Sternenstaub auf. Als Song-yi, der Popstar, auf dem roten Teppich gefragt wird, wie sie diese Ungewissheit aushalte, jetzt, da alle wissen, wer er ist, sagt sie: »Auf die Art liebe ich ihn noch mehr, wenn er eines Tages hier ist.«

Auch da steckt viel Han drin. Die Abwesenheit von jemandem, den man liebt. Ich glaube, Korea versteht man am besten, wenn genau das am Beginn steht. Und als hätten die Designer des Fahrstuhls daran gedacht, an die Sterne, und die Reise ins All, beginnt die Fahrt im Fahrstuhl mit einem Film, der an der Decke der Kabine gezeigt wird. Es ist eine Rakete, die in den Himmel steigt. Oben steht gerade der britische Star-Koch Duncan Robertson und bereitet einen Nachtisch vor, in dem ein Ring liegt. Auf Koreanisch schreibt einer seiner Assistenten auf ein Schokoladenplättchen vorsichtig einen Satz, der so beginnt: »Willst Du…?«

Kapitel

3

Herr Yang erklärt die Stadt

GI (DIE ENERGIE)

Der Blick von oben auf die Stadt ist ein sehr beruhigender, denn ich kann mein Haus sehen, meine Dachterrasse, dahinter den Hangang. »Gang« steht für Fluss und Gründe für ein »Han« im Wort gibt es immer. Dieser breite majestätische Fluss fließt in Richtung Nordwesten. In Seoul bildet er ein W, weiter im Norden bildet er die Grenze zu dem Land, über das früher bereits das Sprechen strafbar war. Doch hier in der Stadt hat der Fluss noch etwas Freundliches, wird sogar gesäumt von Grünflächen, die weiter ausgebaut werden.

Hinter ihnen die Hochhäuser aus dem Aufschwung in den 70er- und 80er-Jahren. Ein Freund von mir spielte tatsächlich noch Verstecken in einem Wäldchen, dessen Grundstück inzwischen von Hyundai zum unvorstellbaren Preis von 12 Millionen Dollar pro Quadratmeter gekauft wurde. Selbst Samsung, dem Mitbieter, war das zu teuer, Hyundai bekam schließlich den Zuschlag. Blicke ich auf die andere Seite, sehe ich die Innenstadt von Seoul, Jongno, von oben fällt dabei vor allem die Achse auf, die gerade zum Königspalast führt. Statuen säumen den Weg, Polizei-Busse sind sogar vage von hier oben zu erkennen, es könnte ja eine Demonstration geben. Eingeschlossen von Hügeln, mit einem Han-Fluss zu Füßen des Berges.

Es gibt einen Grund, warum dort der Sitz des Königs geplant wurde. Und einer, der diesen Grund kennt, heißt Yang Man-Yeol und malt zur Erklärung gleich zu Beginn unseres Treffens mit heiligem Ernst ein weibliches Geschlecht an die weiße Tafel. Es nimmt fast die Hälfte der Tafel ein. Er benutzt dazu einen schwarzen Permanentmarker und beginnt mit einem Punkt, dann malt er einen kleinen Hügel darüber und zwei Klammern links und rechts neben den Punkt. Dann immer mehr Klammern und weil er noch nicht zufrieden ist, deutet er noch die Schenkel an. Er macht das sehr gewissenhaft und schaut mir zwischendurch fest ins Gesicht. Und tippt immer wieder auf den Punkt in der Mitte. »Das ist der beste Ort!«

Ich hatte von Korea nach den ersten sechs Monaten eher den Eindruck, dass Sexualität im Geheimen passiert, dass das Land, nun ja, etwas prüde ist. Prostitution ist zwar verboten, aber solange sie im Dunkeln stattfindet und niemand darüber spricht, wird sie fast gesellschaftlich akzeptiert. Gegen Homosexualität wird gerade häufig von Christen mit absurden Plakaten protestiert (»Gay Out!«) und in den Zeitungen werden diese Dinge meist totgeschwiegen. Alles irgendwie peinlich. Und hatte mir nicht oben auf dem Namsan das Pärchen Jong-Hun und Ji-Won erzählt, dass sie zwar zusammen sind, aber auf gar keinen Fall zusammenziehen würden, ohne zu heiraten? Ihre Eltern würden sie enterben, sagten sie.

Und jetzt sitze ich gerade fünf Minuten im Büro dieses Professors für Geomantie, so wird diese Wissenschaft der »guten Orte« genannt, und er malt eine Vagina an die Tafel, tippt immer wieder auf den schwarzen Punkt in der Mitte, malt kleine Kreise darum, so dass der Punkt noch größer wird. »Genau hier sollte ein Palast geplant werden«, sagt Yang Man-Yeol. »Hier ist man geschützt vor Wind und Feinden, es gibt Wasser und Nahrungsmittel.« Jeder Mensch komme aus solch einem Ort zu Beginn seines Lebens und es sei gut, wieder in solch einen Ort zurückzukehren. Deshalb sollten die Gräber der Ahnen auch entsprechend umgeplant werden.

Yang Man-Yeol: Der Schamane zeigt mir seine Zauberwerkzeuge

Dann sagt er mehrmals das Wort Myeongdang, für »den besten Ort« und beschreibt die »Vagina« genau: Hinter dem »besten Ort« ist immer ein Hügel, an dessen Abhang der Palast entstehen müsse. »So staut sich die Luft nicht, sondern kann abfließen«, sagt er. Links und rechts sollten idealerweise ebenfalls Hügel stehen, im Osten einer, den die Schamanen »Blauen Drachen« nennen und im Westen einen Hügel, der »Weißer Tiger« heißt. Der Nordberg für Seoul heißt Baegaksan, im Osten und Westen stehen »Naksan« sowie »Inwangsan« zum Schutz der Innenstadt bereit. Im Süden steht der Namsan. »Doch das Wichtigste«, er machte eine Pause und malt einen Strich, der direkt aus der Mitte des »Myeongdang« entspringt. »Das Wichtigste ist der Fluss.«

Damit hat der Schamane seine Arbeit gut umschrieben. Sein Fach, die Geomantie, ist eine Wissenschaft, die auf dem »Feng-Shui« der Chinesen aufbaut, aber eigene koreanische Lehren entwickelt hat. Seit 40 Jahren arbeitet er in diesem Feld und hat in den Jahren die unterschiedlichsten Politiker beraten, sagt er. So kennen viele Koreaner die Geschichte, dass Präsident Kim Dae-Jung mehrfach die Wahl nicht gewann. Erst als er seine Eltern umbetten ließ, auf einen Ort, den ihm ein Geomantie-Experte empfahl, wurde er Präsident. Yang Man-Yeol hat den letzten Präsidenten Lee Myung-bak beraten, sagt er, und den aktuellen Bürgermeister Seouls, Park Won-soon, ein eigentlich progressiver Mann, aber das widerspricht sich in Korea nicht.

Herr Yang läuft hektisch durch den Raum, wenn er etwas erklärt. Er setzt sich, hört sich die Fragen an und geht dann immer schnell zur Tafel, um zu erklären, was er mit Worten nicht so gut kann – er wischt die Tafel und malt eine Erdkugel, um zu erklären, wieso die Erde sich dreht und warum seine Prinzipien universell sind. Was das mit den Polkappen und der Erddrehung zu tun hat, in Korea gelten soll und in Deutschland. Er rast durch die Entstehungsgeschichte der Erde auch zu schnell, als dass ich wirklich folgen kann.

Aber ich bin nicht wegen Naturphänomenen zu ihm gegangen. Ich besuche ihn, weil es als erwiesen gilt, dass die Stadt Seoul vor rund 620 Jahren von Schamanen bewusst als neue Hauptstadt ausgewählt wurde. Schon im 12. Jahrhundert hatten sogar Mönche die Verlegung der Hauptstadt von Kaesŏng nach Seoul verlangt und dafür einen Aufstand angezettelt, der aber niedergeschlagen wurde. Doch von da an war es vielen im Reich bekannt, dass die Geomanten, die Schamanen, die Zukunft des Reiches in Seoul sahen. Die Stadt liege an einem perfekten Ort, einem Myeongdang, wie die Schamanen sagen. So sicher wie in Mutters Schoß. Als dann die neue Dynastie begann, gab es keine bessere Möglichkeit, um den Bruch mit dem alten System sichtbar zu machen: Neue Hauptstadt, neuer Palast.

In China waren gerade die Fremdherrscher aus der Mongolei von der Ming-Dynastie abgelöst worden. Die Mongolen waren gut darin, ein Reich auf dem Pferd einzunehmen, heißt es, aber sie konnten es nicht vom Pferd aus regieren. Das betraf auch die koreanische Dynastie der Goryeo, die als die Namensgeber der Halbinsel im Ausland gelten: Korea. Diese Umbruchzeiten nutzte der General Yi Seong-Gye für sich und setzte den letzten König der Goryeo ab. 1392: Die Joseon-Dynastie war geboren, die bis heute einen großen Einfluss auf das Leben der koreanischen Gesellschaft hat – schon allein durch die eingeführte koreanische Schrift.