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Über dieses Buch:

Im Berliner Grunewald treibt ein brutaler Mörder sein Unwesen. Scheinbar wahllos sucht er seine Opfer aus und ersticht sie kaltblütig – Kommissar Kai Sternenberg und sein Team stehen vor einem Rätsel und sie wissen genau, dass ihnen die Zeit davonläuft … Je tiefer sie in ihren neuen Fall verwickelt werden, desto mehr verräterische Gemeinsamkeiten zwischen den Toten tauchen auf. Doch in welcher Verbindung stehen die Leichen mit dem Verschwinden des Polizei-Vizepräsidenten, in dessen Haus man blutige Eingeweide gefunden hat? Wurde auch er ein Opfer des Serienmörders – oder ist er gar selbst der Täter?

Ein neuer herausfordernder Fall für einen ganz besonderen Ermittler: Kai Sternenberg, Kriminalkommissar und Telefonseelsorger, blickt in die Abgründe der menschlichen Seele.

Über den Autor:

Jörg Liemann, 1964 in Berlin geboren, entwickelte schon in jungen Jahren großes psychologisches Feingefühl und gehörte zu den jüngsten Telefonseelsorgern Deutschlands. Später war er in der Terrorabwehr mit dem Schwerpunkt Schiff- und Luftfahrt tätig. Seit 2011 widmet er sich dem Schreiben und hat bereits zahlreiche Romane und Erzählungen veröffentlicht.

Jörg Liemann veröffentlichte bei dotbooks bereits Sternenberg und die Spur der Flammen.

Der Autor im Internet: www.facebook.com/autorliemann/

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eBook-Neuausgabe September 2018

Dieses Buch erschien bereits 2011 unter dem Titel Blutige Spuren im Wilhelm Goldmann Verlag

Copyright © der Originalausgabe 2013 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/ebenart und shutterstock/nizas

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96148-227-6

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Jörg Liemann

Sternenberg und die Toten im Wald

Der zweite Fall

dotbooks.

Kapitel 1

Isabel verließ die Stadtautobahn und bog in den Hermsdorfer Damm. Der Forst bedrängte die Straße wie ein Tunnel. Die Scheinwerfer saugten die Regentropfen auf, und die Wischer quietschten in Intervallen. Es war der 20. Oktober, 4.05 Uhr. Seit Borsigwalde hatte Isabel kein anderes Auto gesehen.

Sie rieb sich den Schlaf aus den Augenwinkeln, dann griff sie sich eine CD, die auf dem Beifahrersitz lag, und versuchte, die Hülle allein mit der rechten Hand zu öffnen.

Ihre Eltern schickten mehrmals im Jahr Päckchen aus Lissabon nach Berlin, immer mit einem kurzen Brief in der geschniegelten Schrift der Mutter, den der Vater mit Druckbuchstaben unterzeichnete.

Meist lagen Halstücher bei, die Isabel verschenkte, und nur selten fehlte der bolo rei, der Königskuchen mit den kandierten Früchten und der traditionellen Bohne. Wer die Favabohne in seinem Stück findet, muss den nächsten Kuchen backen.

Diesmal war es der bolo rei für Allerheiligen. Das Päckchen davor war Anfang Oktober gekommen. Der Vater hatte sich mit seiner Forderung durchgesetzt, staatliche Feiertage und Familienfeste ebenso wichtig zu nehmen wie die kirchlichen. So gab es also Post von ihren Eltern regelmäßig auch zum jährlichen Dia da República. Isabel backte nie und schickte auch keine Päckchen nach Portugal. Sie hatte den Eindruck, dass ihre Mutter in einem Akt des tätigen Protestes die nichtkirchlichen Versorgungspakete weit weniger liebevoll und üppig zusammenstellte. So führen sie ihren kleinen Krieg weiter, dachte Isabel, und wie früher bin ich das Opfer.

Sie schaute in den Rückspiegel. Wenn man die Größe eines Festtagskuchens und die Menge an Tüchern als einen Opfer-Tatbestand gelten lassen will. Und die Anzahl von Fado-CDs.

Jetzt hatte sie die CD aus der Hülle genommen und tippte mit dem Mittelfinger auf die Tasten des Players. Sie hasste Fado. Seit beinahe zehn Jahren nervten ihre Eltern sie mit Fado-CDs jeder Schattierung, manche hatte sie sogar doppelt geschickt bekommen. Sie öffnete sie nicht mehr, sondern tauschte sie bei einem Händler, der sie mittlerweile als beste Fado-Lieferantin bezeichnete, gegen neue brasilianische Musik ein. Ich habe es aufgegeben, meine Eltern zu korrigieren, dachte Isabel. Ist das Liebe – oder ein Rest von Rebellion?

Fernanda Abreu sang sou urbano canibal. Isabel schlug mit den Händen im Takt gegen das Lenkrad und sang laut mit. Sie liebte die brasilianische Varietät der portugiesischen Sprache. Sie liebte Brasilien. Das Land, aus dem ihre Vorfahren stammten und in dem sie noch nie war.

Sou urbano canibal,

feito de carne e aço,

semente e bagaço,

plantado no asfalto,

no meio de tudo ...

Nach dem Tegeler Forst kamen die Hermsdorfer Seitenstraßen. Parkende Autos, matt leuchtende Laternen, teilweise verdeckt von Bäumen, die fast alle noch Laub trugen. Nirgendwo ein Mensch in der Nässe der Nacht.

Sie unterquerte eine Bahntrasse, bog nach links ab und ignorierte eine rote Ampel. Nach einer Weile des Singens und Wippens fuhr sie langsamer und achtete auf die Straßennamen. Burgfrauenstraße. Isabel grinste.

Sie geriet in eine Art Kreisverkehr, mit dem sie nicht gerechnet hatte, kurvte herum und bog irgendwo ein, um festzustellen, dass sie sich wohl verfahren hatte.

Unter den CD –Hüllen und der Handtasche suchte sie nach dem Stadtplan, konnte ihn aber nicht finden.

Sie hielt an und drehte die Heizung herunter. Fernanda Abreu sang von der Megalópole-Cidade, während Isabel das Gefühl hatte, sich in allem anderen als in einer Großstadt verirrt zu haben. Sie stellte die Musik leise – und erschrak, als der Scheibenwischer einsetzte. Sie hörte den Regen auf dem Autodach.

Gralsritterweg, las sie an der Ecke. Sie suchte im Handschuhfach, aus dem ihr eine Kleenex-Packung entgegenfiel. Endlich hatte sie den Plan. Zum Lesen knipste sie das Licht an.

Ich bin auf der falschen Seite, dachte sie, ich muss zur Markgrafenstraße rüber.

Es klopfte an einer der hinteren Seitenscheiben.

Sie fuhr herum und sah im Dunkeln niemanden.

Licht aus.

Niemand.

Gleichzeitig blickte sie in den Rückspiegel und fasste an ihre Brusttasche. Das Handy hatte sie dabei, ihre Waffe hingegen hatte sie vergessen.

Wieder klopfte es heftig gegen den Wagen.

Isabel reckte sich, um in alle Richtungen zu sehen. Toter Winkel.

Ihre Hand hatte sie nun am Zündschlüssel, aber als sie ihn drehte, würgte sie den Motor ab. Toter Winkel.

Während sie erneut startete, bemerkte sie einen Schatten auf der Bürgersteigseite und hörte wieder das Klopfen. Es war ein Ast. Sie war zu dicht an die Ausläufer des Baumes gefahren. Der Ast wurde im heftigen Wind gegen den Wagen geschlagen.

Kleines Mädchen fährt allein durch die Nacht, zischte sie und ärgerte sich über sich. Kommissarin von Akazie brutal im Auto überfallen und vergewaltigt.

Als sie wenig später schließlich in die Markgrafenstraße einbog, flirrten ihr an den Hausfassaden die Reflexionen der Blaulichter entgegen. Das Aufgebot an Einsatzfahrzeugen war noch größer, als sie vermutet hatte. Vor allem waren die Absperrungen so akribisch wie schon lange nicht mehr aufgebaut. Eine Gegend für reiche Leute, dachte sie. Villen mit alten Kiefern und alten Fassaden, aber viel dahinter. Da sorgt eben auch die Polizei bei einem Verbrechen für einen ordentlichen Rahmen.

Sie stieg aus und stellte den Kragen ihrer Jacke hoch. Kalt war es nicht, aber sie hoffte, sich ein wenig vor dem Sprühregen schützen zu können. Der weiche Kragen klappte sofort zurück.

Ein junger Polizist kam auf sie zu und breitete die Arme aus. »Hier können Sie nicht durch. Bitte stellen Sie Ihr Fahrzeug ein Stück weiter ab.«

Isabel zeigte ihren Ausweis. »Maria Isabel Dacosta. Kripo.«

»Tut mir leid. Sie können hier nicht durch.«

Sie schaute ihn an. Es war ein junges, trotz des schmalen Schnittes teigiges Gesicht. Vielleicht lag es am Blaulicht.

»Ich bin von der Kripo.«

»Das sagten Sie. Sie können hier nicht durch. Bitte bewegen Sie Ihr Fahrzeug von den Absperrungen weg.«

Isabel sah auf ihren Ausweis und wusste für einen Moment nicht weiter. »Ich komme von der Schweren Gewaltkriminalität. Ich bin hierher beordert worden, um einen Mord in diesem Haus da aufzunehmen. Und Sie wollen mich nicht durchlassen.«

In den Augen des jungen Polizisten erkannte sie Unsicherheit, diese gefährliche Unsicherheit, die sie bei Kollegen gesehen hatte, bevor sie mit Knüppeln auf die Demonstranten losgingen. Das hier war ein anderes Land, aber es waren die gleichen Augen. Sie beschloss, sich auf jeden Fall zu beherrschen, und fragte ruhig: »Können Sie mir bitte sagen, weshalb ich nicht durchgehen soll?«

»Tut mir leid. Ich darf Ihnen keine Auskunft geben. Ich habe den Auftrag, niemanden zum Tatobjekt vorzulassen. Auch nicht andere Kollegen von der Polizei.«

»Kolleginnen«, sagte Isabel.

Der Polizist wurde rot, das konnte sie sogar im Lichtgeflitter ausmachen. Schon bedauerte sie ihn ein wenig, aber gleichzeitig wurde sie wütend. »Wer hat Ihnen einen solchen Auftrag erteilt? Der gilt doch wohl nicht für die ermittelnde Beamtin der Kripo!«

Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf.

Isabel steckte den Ausweis weg und setzte sich in Bewegung, um einfach an ihm vorbeizugehen. Doch er trat einen Schritt zurück und stellte dann ein Bein so aus, dass er sich vor ihr aufbauen konnte. Im Schwung des Gehens konnte sie nicht so schnell stehen bleiben und rempelte gegen ihn. Er musste das als Angriff verstehen und nahm die Arme vor den Körper, um sie zurückzuschieben. Dabei setzte er den einen Arm auf der Höhe ihres Bauches an, während er mit der Hand des anderen Arms gegen ihre Brust drückte.

Sie zuckte zurück und blickte auf seine Hand. »Caralho!«, zischte sie.

Er nahm beide Arme herunter und schien am liebsten im Erdboden zu versinken. Ohne Zweifel hatte er gemerkt, dass er ihre Brust berührt hatte.

Isabel spürte, wie der Zorn durch ihren Körper schoss und wie etwas ihr so die Kehle zuschnürte, als müsse sie schluchzen wie ein Kleinkind. Sie stand wie angewurzelt, und alle möglichen Kräfte kämpften in ihr.

Der Polizist biss sich auf die Lippen. Der Uniformstoff auf seinen Schultern war dunkel durchweicht vom Regen, von dem Schirm der Mütze tropfte Wasser. »Entschuldigung«, gab er leise von sich, ließ seinen Blick auf ihre Brust streichen und erschrak sogleich darüber.

»Bringen Sie mir auf der Stelle Ihren Vorgesetzten, der Ihnen verboten hat, mich durchzulassen«, sagte sie so neutral, wie sie es vermochte. Es klang gepresst.

»Es gibt Probleme?«, fragte ein Mann im blauen Regenmantel und mit Prinz-Heinrich-Mütze. Er kam auf die beiden zu.

Der junge Polizist trat erneut einen Schritt zurück und wandte sich an den Mann, der nun bei ihnen stand. »Die Dame kommt von der Kriminalpolizei Berlin. Sie soll Ermittlungen durchführen.«

»Ich glaube, die Dame hat selbst einen Mund, um zu reden«, sagte er.

Isabel ließ Sekunden verstreichen, um sich der gönnerhaften Aufforderung zu entziehen. »Maria Isabel Dacosta, Kripo Berlin. Und mit wem habe ich es zu tun?«

»Maria Isabel? Ah! Danke, Körner, Sie können gehen.« Er richtete sich an sie: »Maria Isabel ... ¡Me alegro! ¡Bienvenido, Señora! ¿Cómo está usted? Yo soy señor Angermann, buenas noches!»

»Ich bin Portugiesin.«

»Ach so. Na, mein Portugiesisch ist leider nicht so gut.« Er lachte, ohne die Mundwinkel zu verziehen.

Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Das macht nichts.«

»Wie gesagt, Angermann. Wir sind sozusagen Kollegen. Ich weiß, Sie sind beordert, einen Fall zu übernehmen. Inzwischen haben wir die Sache im Griff. Sie können das getrost abhaken.« Er wartete.

Er wartet, dachte sie. Ich soll ihn fragen. Ich hasse das. »Ich habe meinen Auftrag«, beharrte sie.

»Jetzt nicht mehr«, erwiderte Angermann und lächelte. Im Zeitlupentempo zog er etwas aus der Tasche. Dann hielt er ihr seinen Ausweis hin, der im Blaulicht blinkte.

»BKA«, las Isabel vor. »Und? Was hat das mit meinem Auftrag zu tun?«

Angermann lächelte jetzt aufreizend maliziös und legte den Kopf schief.

Isabel wollte ihm am liebsten an die Gurgel springen und erdrosselte ihn im Geiste. Stattdessen blickte sie auf ihre Schuhe und bohrte eine Fußspitze in den Feuchtsand, der dick auf dem Asphalt lag. »Sie werden es mir erklären, Herr Polizeidirektor Angermann?!«

»Leider, leider ...«, beteuerte Angermann bloß.

»Dann werde ich meine Dienststelle anrufen und um Weisungen bitten.«

»Ja«, tönte Angermann, als hätte sie einen Teddy bei einer Rummel-Lotterie gewonnen, »das ist eine Super-Idee! Bitten Sie um eine Weisung Ihrer Dienststelle. Aber Sie wissen ja: Bundesrecht bricht Landesrecht.«

Isabel, die schon ihr Handy in der Hand hatte, hielt kurz inne und entgegnete: »Bundesrecht bricht Landesrecht – das gilt gemäß Artikel 31 des Grundgesetzes nur für den Vorrang von Gesetzen, nicht für die Frage, welche Polizeibehörde zuständig ist.»

Mit einem aufgesetzt wirkenden höflichen Lächeln hob Angermann die Hand zum Gruß und drehte sich zum Gehen um.

Isabel war sich nicht sicher, wen sie anrufen sollte. Es war kurz vor halb fünf. Ihr fiel nicht mehr ein, wer in der Wache Nachtdienst hatte. Sie wusste nur, dass ihr Vorgesetzter, Kai Sternenberg, in dieser Nacht seinem Hobby frönte und bei der Telefonseelsorge Dienst schob. Danach war er zwei Tage nicht zu gebrauchen. In seinem Alter, Mitte vierzig, schien die männliche Selbstüberschätzung neue Formen anzunehmen.

Wie dem auch sei, bei der Telefonseelsorge durfte sie ihn nicht stören. Das war ein Gesetz. Sternenberg-Recht bricht Landesrecht, dachte sie. Ich will rein ins Haus und sehen, was los ist. Wieso weist das Bundeskriminalamt Berliner Polizisten an, die Kripo nicht zu einem Tatort durchzulassen? Wachtmeister, die noch nicht mal Männer sind, geschweige denn Meister.

Sie merkte, dass sie sich in Gedanken verzettelte und auf der Stelle herumtappte. Wenn Angermann mich so sieht, hat er seinen Triumph. Sie schaute sich um. Auf der anderen Straßenseite stand ein Grüppchen Anwohner. Unter ihnen machte sie ein bekanntes Gesicht aus. Ohne dem Gesicht einen Namen zuordnen zu können, erinnerte sie sich, dass es einem Journalisten gehörte. Mit dem schaffe ich es, dachte Isabel.

Zehn Minuten später stand sie wieder neben ihrem Wagen. Sie wünschte sich, nicht im Haus gewesen zu sein. Sie hustete und versuchte, den Brechreiz zu unterdrücken. Auf dem Handy suchte sie nach der Nummer von Kai Sternenberg.

Kapitel 2

»Weißt du, wir haben hier gebastelt, nicht gebumst. Wir haben Blumen aus Papier gemacht und sie zwischen die Kerzen gelegt. Er hat mir Gedichte vorgelesen. Er schreibt schöne Gedichte. Speed war hier nicht angesagt. Wir haben nicht mal getrunken. Einen Wein, sonst nichts. Wir haben gebastelt und Gedichte gelesen. Es war poetisch, weißt du.

Alle denken gleich, dass wir Speed nehmen und dass ich es mit einem Achtzehnjährigen treibe. Meine Mutter, meine Eltern, alle. Sie machen mir Vorwürfe, ich sei eine alte Schachtel, die einen Jüngling verführt. Wir haben den ganzen Tag und die ganze Nacht und den nächsten Tag hier gesessen und geredet, sehr tiefe Gespräche, wirklich tiefe Gespräche. Das verstehen die nicht Das können die nicht begreifen, verstehst du?«

»Ja«, sagte Kai Sternenberg.

»Die glauben, ich bin eine Schlampe. Eine Schlampe, die kifft und säuft und hurt. Aber das mache ich nicht, weißt du. Das hätte keine Poesie. Ich bin weg von all dem. Es sind die Enttäuschungen, die mich davon weggebracht haben. Ich habe sie alle, wie sie da sind, sie alle habe ich geliebt. Und sie haben mich alle so sehr enttäuscht. So ist das. So ist das einfach.«

»Sie haben mir das erzählt: Ihr Mann, Ihr Freund, Ihr ehemaliger Kollege, Ihr Stiefvater, Ihre Mutter ... Und jetzt?«

»Du hast eine sehr schöne Stimme, weißt du das? Du hast wirklich eine sehr schöne Stimme. Sie ist einfühlsam und ruhig. Ich glaube, du bist ein sehr einfühlsamer Mann.«

Er saß weit zurückgelehnt im Schreibtischsessel, die Augen geschlossen, umgeben von Tabakaroma, und die warme, etwas raue Frauenstimme floss wie Honig seit beinahe zwei Stunden, lähmte über den Telefon-Kopfhörer sein Denken und seine Reaktionen.

Zuerst schob er es auf die Uhrzeit. Gegen zwei Uhr nachts hatte die Frau angerufen, die sich Linda nannte. Die Zeit, die Dunkelheit, das gleichmäßige Tippeln der Regentropfen auf den Fensterbrettern, das Rauschen in den Heizungsrohren, der in die Augen gehende Qualm aus der Pfeife, das Ausbleiben weiterer Telefonate – alles hatte ihn zu diesem Zeitpunkt schon tief in den Sessel gedrückt ...

Sie erzählte ihm von den Bildern, die sie malte, und von den Professoren, die sie ausgenutzt, aber nicht unterstützt hatten. Mit Ausnahme ihres Exmannes, mit dem sie vor Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, eine Art ekstatischen Farb-Rausch hatte.

Sie erzählte, wie die Weggefährten von einst ihr heute begegneten – abgeklärt, desillusioniert, zynisch. Ein Mann, den sie einmal bewunderte und der bei einem großen Blatt Chefredakteur geworden sei, hatte sie angegrinst und gesagt, alles Fechten mit der Politik sei nur Spiel. Ein Rollenspiel, das sie nicht ernst nehmen dürfe.

Für Sternenberg gab es zwei Kategorien von guten Gesprächen bei der Telefonseelsorge. Die meisten hielt er für gelungen, wenn sie innerhalb von zwanzig Minuten abgeschlossen waren. Für gewöhnlich war alles, was darüber hinausging, ohne Nutzen für die Anrufer. Sie neigten nach zwanzig Minuten dazu, die Bilanz des Gesprächs zu verdrängen oder sich in die Lage zurückzureden, in der sie waren, bevor sie die Notruf-Nummer gewählt hatten.

Die zweite Kategorie war seltener. Wenn sich im Dialog zeigte, dass Anrufer ihre Krise nicht nur erkannten, sondern auch bereit waren, sie zu akzeptieren, und wenn sie dafür offen waren, über den weiteren Weg zu sprechen – der nicht immer ein Weg der Lösungen war –, wenn sie also in der Lage schienen, am Telefon eine Art von Kurztherapie mit ihm durchzuführen, dann nahm er sich gern eine Stunde Zeit. Eine Stunde, nicht mehr. Denn selbst solche hoffnungsträchtigen Unterhaltungen bargen Fallgruben: Sternenberg wusste von sich, dass der Drang, den anderen regelrecht zu analysieren, mit der Gesprächsdauer zunahm. Bei ihm jedenfalls. Und indem er jemanden analysierte, machte er ihn zu einem Objekt der Untersuchung. In der Krisenintervention jedoch kam es ihm darauf an, die Anrufer als Menschen, als Subjekt wahrzunehmen. Denn nur als Subjekt sind die Anrufer nicht einfach das Opfer – also das Objekt der Krise –, sondern sie sind Individuen mit einem Ich, das entscheiden und handeln kann, wenn es will.

Natürlich bestand auch in kurzen Gesprächen die Gefahr, die Klienten und ihre Situation zu analysieren. Aber immer, wenn er sich Gedanken zu machen begann, was einen Menschen in eine Krise gebracht haben mochte, ob es dafür einen Begriff gab, ein Schema, einen Lösungsweg oder eine Heilungsmethode – immer dann hatte er dem Anrufer nicht voll konzentriert zugehört. Dann war die Chance vertan, in dessen Stimme, zwischen den Worten oder hinter einem Seufzer etwas zu hören, das er nur mit einem unsichtbaren dritten Ohr wahrnehmen und verstehen konnte.

Das Analysieren war nicht aufzuhalten. Manchmal brauchte er es auch. Doch es erforderte Kraft, den Hang zur Analyse, der ihm als Grundschüler, als Abiturient und als Polizist, vielleicht auch als Mann antrainiert worden war, eine Zeitlang zurückzudrängen.

Andererseits brachten Beratungsgespräche nichts, wenn die Anrufer länger als zwanzig Minuten nur monologisierten. Bei Linda hatte er nun schon eine 30 in die Kladde gemalt. Eine warnende 30 für dreißig Minuten – ohne dass das Gespräch die übliche Qualität erreichte. Dann eine warnende 60. Keine Rede von einer Kurztherapie. Oder gar von Analyse. Bei der 100 hatte er aufgegeben.

Die Frau sprach über die Enttäuschungen ihres Lebens. Ihre gegenwärtige Welt schien freundlich zu sein, ihre Sicht beinahe naiv. Die Liebe, von der sie erzählte, die Gespräche und vor allem das Basteln ... Basteln, dachte er – eine Frau um die fünfzig, die ihre Krisen überwindet, indem sie bastelt! Ausgerechnet! Kann es etwas Traurigeres und zugleich Liebenswürdigeres geben als eine ehemalige Trinkerin, die bastelt? Vielleicht, dachte Kai Sternenberg, ist das nur meine eigene Sicht, weil ich die ganze Bastelei für überflüssig halte.

Das Gespräch ist mir entglitten, sinnierte er müde, dennoch vermochte er es einfach nicht, sich von ihrer Stimme loszureißen. Sie führte das Gespräch. Sie führte. Sie hat früher getrunken, wahrscheinlich trinkt sie auch jetzt noch. Sogar während wir sprechen. Ich schiebe das einfach beiseite. Es ist völlig falsch, was ich mache. Er klappte die Kladde zu.

»Ich liebe dich. Auch wenn ich nicht weiß, wie du heißt«, sagte sie.

»Hm ...«

»Was denn? Ich liebe dich, so wie ich meinen kleinen achtzehnjährigen Freund liebe. Eine ehrliche Liebe, ganz harmlos. Hast du Angst?«

»Angst? Nein, ich habe keine Angst vor Liebe. Aber wir kennen uns nicht, Sie kennen mich nicht.«

Sie lachte rau. »Natürlich nicht. Ich liebe deine Stimme, mehr kenne ich ja nicht von dir. Die Art, wie du die Dinge sagst, wie du Pausen machst und irritiert bist. Deine Empfindsamkeit, weißt du? Die hat etwas Zärtliches. Das ist eine sehr seltene Gabe.«

»Sie haben oft das Gegenteil davon erlebt.«

»Ja, aber ... Es gibt ja wieder Licht in meinem Leben.«

»Hm. Sie sollten dieses Gespräch vielleicht nicht überbewerten.«

Sie lachte wieder. »Dich meine ich nicht. Ich meine meinen kleinen Sunshine. Das ist nicht der Junge, mit dem ich gebastelt habe. Der ist über alle sieben Berge, mit seinem Lover. Sunshine ist eine ... ein bezauberndes Wesen, das ich wirklich liebe.«

»Aha«, sagte Sternenberg und richtete sich im Sessel auf. Noch eine Personenbeschreibung, die jetzt kommt. Die Uhr zeigte 3.58 und rückte gerade eine Minute weiter.

»Ja, sie ist ein Lichtblick. Sie ist eine poetische, eine sanfte Frau. Sie würde dir gefallen. Oder stehst du nicht auf Frauen?«

Nie würde er bei der Telefonseelsorge auf eine solche Frage antworten. »Doch, doch«, meinte er.

Schon wieder einen Vorsatz gebrochen …

»Ich liebe ihr Lächeln, weißt du. Sie hat ausgeprägte Lachfalten und Grübchen. Wenn sie lächelt, dann ziehen sich ihre Mundwinkel ganz leicht nach unten, so als machte sie sich gleichzeitig über sich selbst lustig. Ich liebe das sehr. Sie hat so – glatte Haare, in der Mitte gescheitelt, und das eine Ohr schaut heraus, das sieht niedlich aus. In den Haaren hat sie einige Zöpfchen, dünn, mit kleinen Perlen. Außerdem trägt sie eine Felljacke mit Knöpfen und Riemen sowie eine Feder am Revers. Sie ist Menominee, weißt du?«

»Was ist sie?«

»Sie ist eine Halbindianerin, vom Stamm der Menominee. Ich habe mich gefragt, was ihrem schmalen, eigentlich nicht recht besonderen Gesicht die tiefe Note gibt. Wahrscheinlich ist es der Umstand, dass ihr Vater – oder ihre Mutter, ich weiß das nicht – Indianerblut hat. Ich liebe ihr Lächeln, ich könnte sie die ganze Zeit küssen.

Ohne jeden Zweifel ist sie eine verletzte Person, weißt du. Ich meine, sie hat ihre Narben. Das macht ihr Lächeln unwiderstehlich. Ich möchte ihr immerzu über die braunen Haare und über die Ohren streicheln. Sie hat so viel Schlimmes mitgemacht. Weißt du, sie war noch in der Schule, da ist sie schwanger geworden. Sie war dreizehn. Eine Schülerin mit den besten Noten, etwas flippig natürlich. Sicherlich auch rebellisch, weil sie gesehen hat, wie die Indianer behandelt werden. Das war Rassentrennung damals in Texas. Die meisten wissen das nicht mehr. Die Leute hatten Schilder, auf denen stand: Für Indianer verboten. Wie bei den Juden. Und wie in Südafrika.«

Kai Sternenberg räusperte sich.

»Jedenfalls hat man sie von der Schule vergrault, weil sie schwanger war. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler haben sie vergrault, verstehst du? Die brauchten keine autoritäre Schulleitung oder so ein Elternforum, um ihre moralischen Ressentiments gegen sie loszulassen. Die Schüler waren ihre Feinde. Sie haben eine ihrer Besten vertrieben. Sunshine musste ihr Kind zur Adoption freigeben. Ich meine, weißt du, was das bei einem dreizehn-, vierzehnjährigen Mädchen anrichtet?«

»Ich kann's mir vorstellen.«

»Sie ist auf Speed gekommen, zuerst. Dann hat sie die harten Sachen genommen. Sie ist in die üblichen Kreise geraten, aber sie ist eine tolle Frau geblieben. Ich bewundere sie. Klar, sie hat Freundinnen zum Heroin gebracht, das war scheiße. Doch sie hat sich um sie gekümmert. Sie ist eine süße Frau, sie ist einfach mein Leben, verstehst du?«

»Klingt hoffnungsvoll.«

»Ja. Ich glaube, ohne sie zu kennen, wäre mein Leben ärmer. – Ich treibe es nicht mit Frauen, falls du das jetzt annimmst. Darauf kommt es mir nicht an. Verstehst du, worauf ich hinauswill?«

»Jemand, der Ihnen nahesteht. Seelenverwandtschaft.«

»Genau. Genau! Seelenverwandtschaft.« Sie zögerte. »Manchmal gibt es doch im Leben Augenblicke ... da entdecken wir einen Menschen, in den wir uns verlieben, nicht weil wir mit ihm ins Bett gehen wollen, sondern weil seine Seele so schön ist.«

Kai Sternenberg schlug die Kladde wieder auf. Die Augen waren ihm schwer. Er notierte: »Seelenverwandtschaft mit Sunshine« und malte eine Reihe Ausrufezeichen dahinter. Es war das Ende der Seite, und er zeichnete das Kästchen für die statistischen Kennzahlen in eine der unteren Ecken.

»Sie hat alles von sich aus überwunden, sie hat in dem Krankenhaus angefangen zu arbeiten, in dem sie ihre Entziehung gemacht hat. Sie fing an, nebenher als Kellnerin zu arbeiten. Dann hat Pat studiert, Archäologie. Und sogar einen Abschluss hinbekommen.«

Sternenberg knipste mehrmals den Kugelschreiber. »Pat?«

»Ja, Pat. Pat Sunshine. Also, Sunshine ist nicht ihr richtiger, ihr offizieller Name. Pat heißt sie eigentlich. Ich liebe sie.«

Er war hellwach. Mit dicken Buchstaben quetschte er PAT neben das Statistik-Kästchen.

»Seitdem arbeitet sie in der Verwaltung als Assistentin, ich bewundere sie ...«

Pat und Sunshine, das erinnerte ihn an ... etwas. Oder an jemanden. Etwas, das nah war. Aber er kam nicht darauf. Er ging die Namen von Kripo-Fällen durch, wünschte sich ein Computersuchprogramm, fand jedoch keinen Ansatz.

Es ist nicht gut, wenn Anrufer über Personen sprechen, die ich kennen könnte. Das mit dem Chefredakteur, der gesagt hatte, alles sei doch nur ein Spiel, war schon ein Schritt zu viel, weil es Anonymität zu durchbrechen drohte – das mit dieser Pat Sunshine allerdings...

»Sie hat viel getan, für ihre Freundinnen, für die Kriegsheimkehrer, für Jannie ...«

Jetzt fiel der Groschen. Er schüttelte den Kopf. »Für Jannie?«

»Jannie – Janis.«

Ihm war, als hätte die Frau durch den Hörer hindurchschauen können und ihn erkannt. »Janis?«, fragte Kai Sternenberg.

»Ja doch. Janis«, antwortete Linda.

»Janis – Joplin?«

Auf der anderen Seite knarrte und krachte es im Hörer. Erst dachte er, Linda würde auflegen. Dann wurde ihm klar, dass sie den Hörer wahrscheinlich zu nah an einem Kissen hatte, auf dem sie lag.

Er erinnerte sich an ein Bild. Es war ein Foto in einem Buch. Das Bild in einer Biografie. Es zeigte Pat »Sunshine« Nichols. Sie war eine der engen und wohlmeinendsten Freundinnen von Janis Joplin.

Sternenberg hatte die Janis-Joplin-Biografie gelesen. Und auch er hatte die junge Frau, die Janis erst auf Speed brachte und die später engagiert gegen Drogen kämpfte, beim Lesen der Biografie bewundert. Wenn sie es war, von der Linda sprach, dann war diese Frau mittlerweile mindestens fünfunddreißig Jahre älter als auf dem Foto. Und lebte irgendwo in Kalifornien.

Diese Frau, die weit entfernte Pat Nichols, eingefroren in einem 35 Jahre alten Bild, war der neue – und vielleicht der einzige – Lichtblick im Leben von Linda, der Frau, die bei der Telefonseelsorge angerufen hatte.

»Ähm, Sie sprechen von einem Foto ...? Oder? Sie sprechen von einer Fotografie, auf der Pat Nichols abgebildet ist.«

»Wichser!«, sagte Linda und legte auf.

Kapitel 3

Zum sechsten Mal wählte Isabel Sternenbergs Handynummer. Sie war sicher, dass er Nachtdienst bei der Telefonseelsorge hatte und dass das Handy in seiner Nähe lag. Doch während sie eine SMS tippte, begann sie zu zweifeln.

Kai Sternenberg hatte das Fenster geöffnet und kühlte sein Gesicht im Sprühregen. Noch zwei Stunden, dachte er. Zwei Stunden. Er schloss das Fenster und ging in die Teeküche, um sich einen Kaffee zu machen, nichtsdestoweniger hatte er plötzlich keinen Appetit mehr auf Kaffee.

Mit verschränkten Armen stellte er sich vor das Bücherregal: Neurologie und Psychiatrie, 7. Auflage. Bräutigams Kleine Psychiatrie. Wolffs Bisexualität. Beauvoirs Das andere Geschlecht. Eine Frau mit rauchiger Stimme ruft mich nachts an, rekapitulierte Sternenberg, und sagt, dass sie mich liebt.

Sie bastelt und kifft und bumst und – liebt mich. Groddeck, Freud, Reik, Fromm, Adler, Durkheim, Améry, Kübler-Ross. Er legte sich auf die Liege, schob sich ein Kissen unter den Rücken und starrte die schwach beleuchtete Decke an. Im Geiste redete er laut mit sich selbst: Sag mal, Hauptkommissar Kai Sternenberg, wie geht's dir eigentlich?

Seine Gedanken liefen durcheinander. Typisch für die Nacht. Alles scheint sich so deutlich und klar abzuzeichnen. Und doch ist die Nacht nicht gut, um die Dinge zu ordnen. Er stand schnell auf, begab sich zum Schreibtisch und notierte in der Kladde das Kürzel »A&T«. Er hatte es in seinem Leben schon oft geschrieben. Es sah wie ein Graffiti aus, das nur er selbst entwirren konnte, und es sollte ihn daran erinnern, zwei wichtige Telefonate zu führen.

Anja hatte sich aufs Mailen verlegt und telefonierte nur noch selten. Zuletzt berichtete sie von einem netten Inder – und meinte damit kein Restaurant, sondern einen jungen Mann, den sie an der Uni in Hamburg getroffen hatte. Sternenberg hatte beschlossen, für derartige Abenteuer seiner Tochter kein Verständnis aufzubringen. Egal, ob es ein Inder war oder irgendein anderer Mann. Die Männer sollten gefälligst die Finger von seiner kleinen Tochter lassen. Sie hatte ihr Abitur schließlich nicht gemacht, um sich mit Kerlen abzugeben, sondern um etwas zu werden. Ohnehin schwer genug, im Bereich Industriedesign – ihrer neuesten Masche – beruflich etwas Passendes zu finden. In seiner Antwortmail hatte er ihr also das strikte Verbot erteilt, sich auf Männer einzulassen, und damit gedroht, jeden zusammenzuschlagen, der sie schlecht behandelte. Sie hatte mit ihren üblichen empörten Spottmails geantwortet und sich mit tausend Küssen verabschiedet.

Tatjana hatte Männergeschichten immer abgelehnt – ihm gegenüber jedenfalls. Sie war die Ernsthaftere der beiden. Wenn auch nicht die Erfolgreichere. Sie schickte keine E-Mails. In den Anrufen erklärte sie ihm, das Literaturstudium liefe im Großen und Ganzen tadellos. Aber er hörte auch etwas Trauriges in ihrer Stimme, das sie nicht zugab. Er glaubte, dass sie sich einsam fühlte in Coimbra. So gut war ihr Portugiesisch noch nicht, dass sie sich da völlig ohne Probleme einleben könnte. Man hatte ihr angeboten, in eine »Republik« einzuziehen, in eine der vielen linken Wohngemeinschaften, in denen extreme politische Ansichten vertreten wurden. Dennoch ging aus solchen Gemeinschaften eine Menge von Staatsanwälten und Politikern hervor – eine keinesfalls linke Elite des Staates. Tatjana hatte trotzdem doppelte Vorbehalte gehabt. Zum einen wollte sie sich die Karriere nicht durch eine kommunistische Vergangenheit verbauen. Das war vielleicht eine aus deutschen Gymnasien mitgenommene Angst, in Portugal konnte man als ehemaliger Maoist Ministerpräsident werden – und sogar EU-Kommissionspräsident.

Zum anderen wehrte sie sich überhaupt dagegen, in eine WG zu ziehen. Die Nähe zu ihrer Zwillingsschwester Anja habe ihr diesen Bedarf ausgetrieben, erklärte sie kategorisch. Lieber arbeitete sie nebenbei in der Fischhalle des Mercado Don Pedro V., um sich das Geld für ein eigenes Zimmer zu verdienen. Sternenberg fürchtete, Tatjana könnte sich jahrelang in die Lusitanistik vergraben, um dann schließlich ohne Abschluss – aber nach Fisch stinkend – zurückzukommen oder womöglich gleich nach Brasilien auszuwandern.

Die beiden Flöhe musste er unbedingt anrufen. Bloß nicht jetzt sofort. Mitten in der Nacht. Ich könnte ihnen eine SMS schicken, dachte er. Er nahm das Handy und suchte nach Anjas Eintrag im Telefonbuch. Dabei fiel ihm die Anzeige am Display ins Auge, dass eine neue SMS eingegangen war, und zwar mehrmals.

Sofort musste er daran denken, dass ihm Tarek, einer seiner Mitarbeiter, einmal nachts eine SMS geschickt hatte. Sie lautete: »RUF MICH AN!« Nachdem er die Nachricht fünfmal hintereinander bekommen hatte, hatte er ihn schließlich wirklich angerufen –Tarek hatte sich daraufhin beinahe bewusstlos gelacht, und mit ihm ein ganzer Chor im Hintergrund.

Er bemühte sich, nicht versehentlich auf die Anruftaste zu tippen, wie ihm das manchmal passierte. Er hasste Handys. Die Nachricht hieß:

»Brauche Hilfe. Jetzt! Gemetzel in Frohnau.«

Sternenberg lächelte grimmig. Schöne Schlagzeile.

Nach seinem Anruf bei Isabel brauchte er nur eine Dreiviertelstunde, um einen Ersatzmann für die Telefonseelsorge zu organisieren – recht froh, aus dem Laden herauszukommen – und um in der Markgrafenstraße zu sein.

Die Musik war laut, als Sternenberg Isabels Wagentür öffnete und sich neben sie setzte. Sie starrte durch die Frontscheibe und drehte sich nicht zu ihm. »So was habe ich noch nicht gesehen«, sagte sie.

Er reduzierte die Lautstärke an ihrem Autoradio. »Was ist passiert?«

»Ich habe so was noch nicht gesehen. Es sieht aus wie in einem ... talho

Er reduzierte die Lautstärke noch weiter. »Was ist das?»

»Fernanda Abreu. e

»Hm?«

»Funk-Soul.«

»Funk-Soul? Nein, ich meine dieses ... Talljo.«

»Eine ... Fleischerei. Auf dem Dachboden sieht es aus wie in einer Fleischerei.«

»Was meinst du?«

Sie stöhnte und sah ihn an. Sagte aber nichts.

Kai Sternenberg erwiderte ihren Blick, fragend. »Funk-Soul? Habe ich noch nie gehört.«

»Das BKA ermittelt. Sie wollten mich nicht 'reinlassen. Jetzt weiß ich, warum.«

»Warum?«

»Weißt du, wem das Haus gehört?«

»Sag's mir.«

»Unserem Vizepräsidenten. Ein Fotograf hat mich eingeschleust. Kann noch Ärger geben. Bevor sie mich 'rausgeworfen haben, habe ich genug gesehen. Der Polizeivizepräsident ist tot. Jemand hat seine – wie sagt man: Därme oder Gedärme?«

»... bitte? Därme? Was ist damit?«

»Jemand hat die Därme des Vizepräsidenten auf den Dachboden gehängt. Wie Wäscheleinen. Ich weiß noch nicht, wer die dort gefunden hat. Seine Frau ist verreist.«

»Wie Wäscheleinen ...«

Sie stierte wieder geradeaus aus dem Auto. »Sie sind blau. Das hat mich daran erinnert, dass ich bei einer Tante in Spanien war, als Kind. Wir gingen zu einem Stierkampf, und eines der Pferde wurde von dem Stier angegriffen und aufgeschlitzt. Stierkampf auf dem Land ist verboten, aber da machen sie das trotzdem noch. Das Zeug, das herauskam, die Därme, sie waren blau. Und ich hatte zuvor ein Bild von Franz Marc gesehen – die blauen Pferde. Ich hatte gehört, wie sehr Franz Marc Pferde liebte. Ich war völlig durcheinander. Ich konnte den Blick nicht abwenden. Ist es nicht sonderbar, welche Gedanken man hat?«

Er nickte. »Wie lange hingen die ... Dinger da, deiner Meinung nach?«

»Sie haben das Pferd nicht getötet, sie haben es stehen lassen. Im Angesicht des Stieres. Dann ist es zusammengebrochen.«

»Isabel, wie lange schon hängen die Därme des Vizepräsidenten da oben?«

»Dem Gestank nach – mehrere Tage.«

»Und wo ist der Rest von ihm?«

Sie drehte sich erneut zu ihm. »Er wird wohl nicht mit dem Hund Gassi gehen.«

»Gut. – Der da hinten, ist das einer vom BKA?«

»Angermann. Der Einsatzleiter von denen. Ekeltyp.«

»Ich spreche mit ihm. Halte dich jetzt besser ein bisschen im Hintergrund.«

»Ich hatte nichts anderes vor.«

Sie beobachtete, wie die beiden Männer aufeinander zugingen. Sie dachte an das Pferd, dem die Gedärme aus dem Leib gequollen waren. Sternenberg und Angermann gestikulierten nicht. Dann bewegten sie sich gemeinsam auf das Haus zu. Angermann deutete an, Sternenberg den Arm um die Schulter zu legen. Es blieb bei der Andeutung.

»Polizeivizepräsident«, stellte Sternenberg fest, als er mit Angermann die Treppe vom Dachboden hinunterschritt. »Irgendwie kein dankbares Amt.«

»Dieses Schicksal teilen alle Vizes. Der Vize macht die Arbeit und bleibt unwichtig.«

»Haberstein heißt er, oder?«

»Klaus von Haberstein. Es ist gut, dass Sie sich die Schweinerei selbst angesehen haben.«

»Es ist gut, dass Sie mich 'reingelassen haben.«

»Gerne.«

»Manchmal heißt es, das BKA hätte Vorbehalte gegenüber den Länderpolizeien.«

Angermann blieb auf der Treppe stehen. »Nicht pauschal. Es ist nur so, dass manche Polizeidienststelle subalterne Mitarbeiter zu den brisantesten Fällen schickt.«

»Hm. Das ist bestimmt ärgerlich«, kommentierte Sternenberg. »Ich selbst schicke immer meine besten Mitarbeiter. Und Mitarbeiterinnen.«

Angermann grinste sein Berufsgrinsen. Sternenberg versuchte erst gar nicht, es mit irgendeiner Bemerkung Wegbügeln zu können. »Sie vermuten eine große Sache hinter dem da?« Er wies zum Dachgeschoss der Villa. »Obwohl es nur der Vizepräsident ist?«

Angermann nickte. »Manchmal führen kleine Dinge zu großen Dingen.«

»Na gut. Um mal mit den kleinen anzufangen: Wo befindet sich der Rest von Herrn Haberstein?«

»Das wissen wir nicht. Ich hatte auf Unterstützung durch Ihren Staatsschutz gehofft. Aber als ich auf meine Federführung hinwies, wurde mir beschieden, die Berliner hätten derzeit akute Personalprobleme.«

»Jetzt haben Sie das Haus selbst durchsucht?«

»Damit begonnen. Es wird noch eine Weile dauern, bis ich die Angelegenheit an das Land Berlin abgeben kann.«

»Nehmen Sie das meinen Berliner Kollegen nicht übel, Herr Angermann. Wir haben wirklich wenig Personal. Der Senat muss sparen.«

»Ich habe gehört, dass Ihr Bürgermeister gesagt hat, es sei sein Ziel zu sparen, bis es quietscht. Ist das ein Ziel, das die Politik sich setzt: sparen? Ich dachte immer, sparen wäre nur ein Mittel, um zu irgendwelchen Zielen zu gelangen. Die Berliner wissen das allerdings bestimmt besser, Herr Sternenberg. Ich bin ja kein Politiker. Nur, in diesem Fall sehe ich die Prioritäten etwas anders. Es ist völlig unangebracht zu sparen, wenn es um Terrorismus geht. Da hört der Spaß auf.«

»Bei Terrorismus müssen wir alle Register ziehen, das ist klar«, pflichtete Sternenberg ihm bei. »Doch wir waren bei diesem Fall hier.«

Der Mann mit der Prinz-Heinrich-Mütze lehnte sich an das Treppengeländer und zerknautschte dabei seinen Regenmantel. »Wir brauchen strikte Geheimhaltung. Können Sie das für Ihre Leute garantieren, Sternenberg? Auch für Ihre kleine Assistentin?«

»Für wen?«

Angermann überhörte die Frage. »Bitte sorgen Sie dafür, dass der Fotograf seine Aufnahmen vom Dachboden nicht veröffentlicht.«

»Das kann ich nicht«, erwiderte Sternenberg.

»Doch, können Sie! Indem Sie mir den Namen und die Zeitung des Mannes nennen.«

»Das verspreche ich Ihnen nicht.«

»Wir brauchen nur 48 Stunden. Danach kann er seine News ja drucken lassen.«

»Ist die Geheimniskrämerei wirklich so wichtig für Sie?«

Angermann nahm die Mütze ab und wischte innen an ihr entlang. »In diesen Zeiten brauchen wir jeden Vorsprung. Unsere Gegner sind nicht mehr organisierte Banden. Sondern Netzwerke aus lernenden Systemen und Subsystemen. Unsere Gegner denken und handeln systemisch, das muss der Staat endlich begreifen.«

»Und wer ist das – unsere Gegner?«

Der Polizeidirektor beim Bundeskriminalamt blickte von seiner Mütze auf und forschte in Sternenbergs Augen. »Ich kann nur hoffen, dass Sie mich das nicht im Ernst fragen, Herr Hauptkommissar.« Seine Augen tasteten Sternenbergs Augen ab, ihn schien plötzlich wirklich etwas zu ängstigen. Vielleicht die Tatsache, dass sein Gegenüber keine Ahnung von der Bedrohung haben könnte, von der er überzeugt war. »Unsere Gegner sind nicht mehr die Kriminellen, unser Gegner ist das System der Netzwerke an sich! Die Mafia, die Triaden, das waren Organisationen mit Hierarchien und Menschen. Wenn Sie die richtigen Mitglieder ausgeschaltet hatten, konnte man damit eine Organisation zerschlagen. Wenn Sie dagegen heute ahnen, dass ein Attentäter in Bangladesh finanziert wird von einer Zelle der al-Qaida« – er sprach das Wort sehr arabisch aus, fand Sternenberg –, »dann hat sich der Finanzierungsweg auch schon wieder geändert, und es tut sich eventuell eine Verbindung zu einem übrig gebliebenen Arm der Polisario aus der ehemaligen Kolonie Spanisch-Sahara auf.«

Sternenberg bemühte sich um einen ernsten Gesichtsausdruck. Seine Augen zuckten dennoch unwillkürlich die Treppe hinauf.

Darauf reagierte Angermann sofort. »Sie fragen sich, was das mit dem da oben zu tun hat. Hier wurde ein hoher Amtsträger, ein Repräsentant der staatlichen Ordnung, bestialisch ermordet. Sein Gedärm wurde zur Schau gestellt, um den Rechtsstaat, die westliche Demokratie, unser Grundgefüge, zu demütigen. Es spielt keine Rolle, wer diese Terroristen sind, welche Ziele sie sich auf ihre Fahnen schreiben und wofür sie vielleicht auch zu sterben bereit wären. Wichtig ist allein, dass ihr Handeln Teil eines systemischen Ganzen ist, eines Geflechts, von dem der internationale Terrorismus profitiert.«

Sternenberg setzte sich auf die unterste Treppenstufe. Angermann blieb stehen und krönte sich wieder mit der Mütze.

»Internationaler Terrorismus ...«, sagte Sternenberg. »Ein Netzwerk ist nicht zu fassen, selbst wenn man Einzeltäter erwischt. Ich finde, das ist eine gute Analyse. Respekt! Manchmal ist es eben doch gut, wenn man mal das große Ganze sieht und nicht immer nur jeden Fall für sich genommen. Ich hoffe, ich kann Sie bei Ihrer Arbeit unterstützen.«

Angermann wandte sich langsam Sternenberg zu. Dann setzte er sich Schulter an Schulter neben ihn und legte ihm eine Hand aufs Knie. Er grinste. Und grinste. Und grinste. »Verausgaben Sie sich mal nicht, Sternenberg! Sie versuchen, mich mit einem einzigen Satz zu entwaffnen! Erst sagen Sie mir, Sie würden mich verstehen. Dann äußern Sie Respekt für meine Arbeit. Und dann geben Sie auch noch vor, wir säßen beide im selben Boot. Hübsch ausgedacht. Aber ein bisschen zu offensichtlich. Zwischen diesen drei Phasen müssen Sie längere Pausen machen, damit es ehrlich wirkt. Sie halten mich für einen Spinner.«

Sternenberg lachte. »Einen Versuch war's wert, oder? Doch Sie haben recht. Ich halte nicht Sie für einen Spinner, aber diese Theorie, die halte ich für Spinnerei. Ich sehe keinen Anhaltspunkt, der vom Mord am Polizeivizepräsidenten auf den internationalen Terrorismus schließen ließe.«

»Ja. Sie sehen da keine Verbindung.«

Kapitel 4

Kai Sternenberg lag wach im Bett. Er hatte beobachtet, wie die Streifen am Morgenhimmel kräftiger rot wurden, bis sich Gelb und Blau hineinmischten und bis eine Wolkendecke das Gemälde schließlich wegwischte.

Er tastete nach dem Hals der Sektflasche und nahm einen Schluck, der noch perlte. Er hatte nicht geschlafen. Erst war er bei der Telefonseelsorge gewesen, später draußen beim Einsatz. Und doch war er nicht müde. Obwohl es kalt war im Schlafzimmer, fühlte er sich durchströmt von Wärme. Sein Körper hatte sich angespannt und hatte geschwitzt, und trotzdem fühlte er sich stark und fit wie lange nicht. Er merkte, dass er viel Sekt getrunken hatte, und trotzdem hatte er den Sekt selbst jetzt noch nicht über. Er spürte eine Sattheit im Inneren, die ihm gleichzeitig noch immer Appetit machte.

Im Licht des Morgens besah er die bloßen Schultern der Frau neben sich und küsste sie mit Sektlippen. Sie schlief weiter und rührte sich nicht. Ihren Nacken und die langen, zu dünnen Zöpfen geflochtenen Haare ahnte er mehr, als dass er sie erkennen konnte. Er dachte an seine Behaglichkeit und an den jungen Nacken, und ihm wurde klar, wie gern er ein Mann war – er lachte, weil der Gedanke ihm plötzlich so albern vorkam –, und zugleich, dass er sich eigentlich fragen müsste, wie viele derartige Momente er wohl noch haben würde in seinem Leben.

Noch einmal betrachtete er ihre Schultern. Als ob ich diese Frau besiegt hätte. Dabei hat eher sie mich besiegt. Oder wie hatte Hemingway das genannt? Sich gegenseitig kaputt machen, auf diese Weise. Kann man mit jemandem schlafen, ohne auch nur ein bisschen den anderen kaputt machen zu wollen? Macht das nicht einen Teil der Leidenschaft aus, dieses nur spielerische Jagen und Töten?

Was für ein Blödsinn – es gab so viele Augenblicke, in denen es zärtlich war und nicht die Spur von Siegen und Besiegtwerden mitschwang!

Es war die Zeit aufzustehen. Ebenso hätte es die Zeit sein können, das Mädchen zu wecken und mit ihr noch einmal in den Kampf einzutreten. Der keiner ist. Es blieb die Zeit des geöffneten Fensters und der Kaffeemaschine und der Morgennachrichten, leise gestellt, um Julia nicht zu wecken.

Im Spiegel nahm er wahr, wie er zu grinsen anfing, als er an ihre kräftigen Arme dachte, die den Hobel über einen Holzbalken führten. Bühnenbau! Sie baut Bühnen, studiert das sogar. Vor einem Jahr wusste ich nicht einmal, dass man so ein Handwerk studieren kann. Sie wird Kulissen herstellen, Kulissen fürs Theater, obwohl sie einmal ganz andere Träume hatte. Feuerwehrfrau wollte sie werden. Und ich? Bin Polizist. Obwohl ich – tja, was? – werden wollte. Hatte ich genauso einen Traum, so ernsthaft, wie es ihrer war? Und wie schnell sie sich jetzt mit ihrem neuen Ziel arrangiert hat! Jetzt bin ich es, der an ihrem alten Berufsziel hängt. Doch das hatte möglicherweise nicht so sehr mit ihr selbst zu tun als vielmehr mit der Idee: Die erste aktive Feuerwehrfrau Berlins wäre sie zwar nicht gewesen, aber immerhin eine der wenigen.

Im Radio hörte er von einem Spendenskandal. Der Sprecher verwechselte Millionen und Milliarden. Oder hatte er sich womöglich gar nicht versprochen? Die zweite Meldung galt der Lokalpolitik. Polizeivizepräsident von Haberstein habe am Vortag einen Schlaganfall erlitten. Man rechne mit rascher Genesung, auf Empfehlung der Ärzte solle er sich jedoch einer längeren Behandlung und Erholung unterziehen.

Nicht schlecht, fand Sternenberg – ein Schlaganfall, bei dem einem die Därme herausfallen und sich auf dem Dachboden über die Balken wickeln ... Dumm ist die Idee wohl nicht. Wenn dieser offensichtliche Mord als »Schlaganfall« verkauft wird, kann erst mal in einer gewissen Ruhe ermittelt werden. Das Dementieren ist dann Sache irgendwelcher Büroschreiber und Pressesprecher. Die Macht des BKA scheint doch nicht so geschrumpft, wie man manchmal glaubt.

Mit großer Geste setzte sich Kai Sternenberg schließlich den schwarzen, breitkrempigen Hut auf und brachte ihn in eine verwegene Form. Den Hut hatte er im Dienst noch nie getragen, aber heute, bei diesem wolkig nassen Wetter, könnte er ihn brauchen. Er sah sich im Spiegel an, hängte den Hut zurück an die Garderobe und fuhr mit der U-Bahn ins Büro.

Die Tür stand offen, und vor dem Schreibtisch kämpfte Jano Dodorovic mit dem Staubsauger. Er trat das Gerät sofort aus, als er Sternenberg sah, und zog den Stecker.

»Ich weiß gar nicht, wofür diese Putzschlampen ihr Geld bekommen«, schimpfte er. »Jeden Tag muss man ihnen hinterherräumen. Dass man alles, was auf den Boden fällt, einschließlich Staub und Krümel und Weißichwas, auch wieder wegräumen muss, scheinen die noch nicht gehört zu haben. Hauptsache Quatschiquatschi und mit der Kollegin im Klo rauchen.« Er illustrierte alle seine Aussagen pantomimisch.

»Bist du fertig, Jano?«

»Schneller konnte ich nicht. Hab' schon die anderen Büros alle. Hast du dir mal die Fensterbretter angesehen? Ich hatte ja keine Ahnung.«

»Bist du fertig mit deinen Kommentaren? Ich müsste mal 'n bisschen arbeiten. Außerdem ist keine Putzfrau so gut gekleidet wie du. Schlips und Kragen beim Staubsaugen, Mann, Mann ...«

»Spar dir die Schleimerei für höhere Mächte auf. Königin Beatrix hat nach dir gefragt. Sie hat's eilig. Wollte dich um halb neun, jetzt ist's schon ... auweia, fast halb elf.«

»Sie weiß, dass ich später komme. Und hat natürlich wieder nicht gesagt, worum es geht, oder?«

Jano Dodorovic hatte den Staubsauger zu einem geordneten Bündel zusammengepackt und tätschelte zufrieden den Saugstutzen. »Hat sie nicht. Aber ich weiß, was sie beschäftigt.« Er sammelte sich. »Von dem Schicksal des Vizepräsidenten haben Sie gehört?«

»Ja. Abgesehen davon, dass wir uns seit Jahren duzen.«

»Ach ja, Entschuldigung. Sie ist auf der Suche. Nach einem neuen Büroleiter.«

»Wieso Büroleiter? So was hat sie doch gar nicht.« Gleichzeitig dämmerte ihm etwas.