Wyatt Earp – 180 – Pulverrauch am Stiefelhügel

Wyatt Earp
– 180–

Pulverrauch am Stiefelhügel

William Mark

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-437-8

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Blutend hatte er in der dunklen Korridornische gestanden, unweit von der Küchentür. Sein pergamentfarbenes Gesicht schien zur Maske erstarrt zu sein, und seine schiefergrauen Augen schwammen im Blauweiß, das von aufgeplatzten Äderchen wie ein Netz durchzogen war.

Er war verwundet.

Aber dennoch war es nicht der Schmerz, der aus seinen Augen schrie, sondern die Angst – und der Haß.

Der Revolvermannn Pat Racine hatte drüben in dem östlichen Stadtviertel Wichitas in einem Boardinghouse, das in einer winkligen Gasse lag, den sterbenskranken König der Gunfighter, Doc Holliday, überfallen.

Aber der Bravo war blutig abgewiesen worden. Schon vom Tode gezeichnet, scheinbar unfähig, überhaupt noch ein Glied zu bewegen, hatte der Georgier den heimtückischen Gegner mit der Waffe zurückgejagt.

Racines linker Oberarm war vom glühenden Bleigeschoß aus dem vernickelten fünfundvierziger Frontier-Revolver des Spielers aufgerissen worden. Es war ihm geglückt, durch den Hof aus dem Anwesen zu flüchten und dem Marshal Earp, der nur Minuten später im Boardinghouse auftauchte, zu entkommen. Bis zur völligen Dunkelheit hatte sich der verletzte Schießer hinter einem Wagenschuppen verborgen und sich in Angst, Haß und Verzweiflung den Kopf zerbrochen, wohin er sich wenden könnte.

Bis ihm dann plötzlich der Gedanke kam, der eine kleine Chance in sich barg: das Mädchen aus dem Omega Saloon, die kleine Lory McCanzie mit den bernsteinfarbenen Augen. Sie war seine letzte Chance.

Und jetzt stand er vor ihr. Mit bleichem, verzerrtem Gesicht. Nichts mehr erinnerte an den stolzen Mann, der noch vor Stunden für Lory gewesen war, ein Bündel aus Angst und Zorn stand da vor dem Mädchen.

Da sprangen Lorys Lippen auseinander. »Was… wollen Sie?«

Racine schluckte schwer. Er sah seine einzige Chance dahinschwinden. Wenn sie ihm nicht half, die Saloonertochter, auf die er doch Eindruck gemacht zu haben glaubte, dann war es aus. Mit dieser Verletzung kam er nicht weit.

Wyatt Earp würde ihn in Kürze gestellt haben.

»Doc Holliday…«, stieß er mit belegter Stimme hervor, »er war es! Und Wyatt Earp ist hinter mir her! Sie müssen mir helfen, Lory…«

Nur zwei Herzschläge lang überlegte das Mädchen, dann hatte es sich entschieden.

Für den Verbrecher.

Und damit gegen den Marshal, gegen das Gesetz.

Für den Mann, der sie mit sich ins Verderben reißen würde.

Rasch schob sie die Küchentür ins Schloß, ergriff den Mann an dem unverletzten Arm und zog ihn durch den dunklen Korridor bis zur Treppe.

Sie hatten sie noch nicht erreicht, als unten am vorderen Ende des Flures die Tür zum Schankraum aufgestoßen wurde, und zusammen mit klirrenden Perlschnüren kam der kahle Schädel des Salooners zum Vorschein.

Instinktiv hatte Lory den Revolvermann unter die Treppe gestoßen, wo er im tiefen Dunkel untergetaucht war.

»Lory?«

»Vater –?«

»Was gibt’s?«

»Was soll es geben?«

Der Wirt kam jetzt in den Korridor, die Glasschnüre klirrten hinter ihm zusammen und schwangen hin und her. Das Licht wurde von den geschliffenen Perlen aufgefangen und fiel in Facetten in den Flur.

»Hast du nicht gerade mit jemandem gesprochen?«

»Ich –?«

»Ja, wer sonst. Ich dachte, du wärest allein?«

»Bin ich auch.« Sie hatte es nicht sehr sicher gesagt; das Lügen war noch nie ihre Sache gewesen.

McCanzie trat jetzt ganz in den Korridor, ließ aber die Tür zum Schankraum offenstehen, da er einen Zecher an der Theke stehen hatte. Den stummen Jonnie Mills, einen ehemaligen Cowboy aus der Umgebung Wichitas, der bei einem Revolverkampf in angetrunkenem Zustand so schwer verletzt worden war, daß er nie wieder sprechen konnte. Er vermochte sich seiner Umwelt nur noch durch die Zeichensprache verständlich zu machen.

»Irgend etwas nicht in Ordnung, Girl?«

»Was sollte nicht in Ordnung sein?« Das Mädchen hatte sich gefangen. Trotzig waren die Worte über ihre Lippen gekommen.

Da machte McCanzie einen Schritt vorwärts.

Lory kam ihm sofort entgegen.

»Was ist denn los? Du bist so nervös, Dad?«

»Ich? Das ist ja wohl auch kein Wunder. In der Stadt ist seit der Schießerei zwischen Doc Holliday und diesem Timberlake offenbar der Teufel los. Vorhin, der war Lasice hier, du kennst ihn doch, den alten Ratsschreiber…«

»Ja«, versetzte das Mädchen ungeduldig. »Und, was wollte er? Etwa wieder anschreiben lassen? Er tut es ja immer, wenn er einen Streit mit seiner Frau hat und sich hier vollaufen lassen will.«

Fast böse und spöttisch hörten sich diese Worte an.

Aber der Wirt, der sonst jede feinste Regung in der Stimme seiner Tochter kannte, war viel zu erregt, als daß er ihr jetzt hätte nachspüren können.

»Es soll wieder eine Schießerei gegeben haben in der Calgary-Quart.«

»Ach?«

»Doc Holliday soll von zwei Banditen in seinem Quartier überfallen worden sein. Stell dir das bloß vor. Einen hat der Marshal schon gestellt.«

»Wenn Wyatt Earp ihn gestellt hat, ist es ja gut.«

Der Wirt hob lauschend den Kopf und blickte in das Dunkel, aus dem ihm das blasse Gesicht Lorys entgegenschimmerte.

»Wie kommst du auf Wyatt Earp?« Argwohn klang in seiner Stimme.

»Du hast es doch gesagt.«

»Ich habe nur gesagt: der Marshal. Und normalerweise ist der Marshal für Wichita ja wohl ein gewisser Mister Rooster, der zugegebenerweise ein Versager ist, aber…«

»Was aber?« fragte Lory.

Der Mann hinten unter dem Treppenwinkel hatte die Lippen und die Zähne hart aufeinandergepreßt. Der Schmerz brannte wild in seinem linken Arm; er hätte aufschreien mögen.

Ein tiefer Seufzer kam von den Lippen des Salooners.

»Ach, laß nur, Kind, es ist ein scheußlicher Tag. Er erinnert mich so an die schlimmen alten Zeiten. Und wenn sich ein Vater Sorgen macht, dann macht er sich Sorgen um sein Kind.«

»Unnötig«, entgegnete Lory kühl. Zu kühl – denn jetzt wurde der Wirt wirklich mißtrauisch.

»Sag mal«, meinte er, »wie kamst du eigentlich auf Wyatt Earp vorhin?«

Und jetzt zeigte es sich, daß ein Mensch, ist er erst einmal in das Unrecht verstrickt, sich weiter und weiter und nicht immer ohne Geschick hineinvergräbt. Lory warf den Kopf hoch, eine Bewegung, die sie vom Vater geerbt hatte, und sagte mit spröder Stimme:

»Das ist doch sonnenklar, wenn du sagst, daß der Marshal einen der Gegner schon gestellt hat, dann kann dieser Marshal doch nur Wyatt Earp gewesen sein. Rooster ist doch kein Gesetzesmann, er ist eine Null. Und daß Wyatt Earp noch in der Stadt ist, wußte ich ja…«

Es war einleuchtend.

Und für den Vater doch zu geschickt, so wenig typisch für seine kleine kindliche Lory.

Aber McCanzie nickte nur müde, denn er hatte drinnen an der Theke ein leises Geräusch vernommen, als klickte jemand mit einem Metallstück an ein Glas.

Es war der stumme Cowboy, der seinen nächsten Drink bestellt.

Als die Tür zum Schankraum zufiel, blieb das Mädchen noch einen Augenblick stehen.

Aus dem Hintergrund des Flurs zischelte Racine ungeduldig:

»Kommen Sie doch, Lory!«

»Zurück unter die Treppe!« gab sie scharf zurück.

Und keine Sekunde zu früh hatte der verwundete Revolvermann dieser Aufforderung Folge geleistet.

Denn die Schankraumtür wurde plötzlich wieder aufgerissen, und McCanzies Kopf erschien erneut zwischen den Perlschnüren.

»Lory!«

»Vater?«

Das Mädchen stand noch auf der gleichen Stelle und blickte den Wirt ruhig an.

»Weshalb bist du noch da?«

»Weil ich wußte, daß du mich das noch fragen würdest.« Damit wandte sie sich um und ging der Treppe zu.

McCanzie verschwand jetzt auch.

Als Lory die Tür zuschlagen hörte, war sie schon auf der Treppe und flüsterte im Weitergehen:

»Kommen Sie. Und seien Sie vorsichtig, die Stufen sind ziemlich hoch.«

Sie brachte ihn in eine kleine Schlafkammer, die zur Straße hinauslag.

Einen Tisch gab es da, zwei Stühle, einen schmalen hohen Schrank und ein Bett.

»Hier können Sie erst einmal bleiben«, sagte das Mädchen, während es zum Fenster ging und die Vorhänge zuzog. Aber es waren helle Vorhänge, und das Nachtlicht drang noch durch sie hindurch. Genug jedenfalls, um Lory das Gesicht des Mannes zu zeigen, der dicht vor ihr stand, als sie sich jetzt umwandte.

Mit dem unverletzten Arm griff er nach ihr.

Glühendheiß lief es dem kleinen schottischen Mädchen über den Rücken. Sie befreite sich von dem Klammergriff des Revolvermannes und wich zur Seite.

»Hier sind Sie zunächst sicher. Niemand stört Sie hier. Es ist das Zimmer meines Bruders.«

»Ihres – Bruders?«

»Er ist tot. Jedenfalls lebt er für uns nicht mehr. Genauer gesagt, für meinen Vater. Vor sieben Jahren ist er weggegangen. Eines Nachts war er verschwunden. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört. Bis eines Tages vor anderthalb Jahren ein alter Trader aus Garden City kam und erzählte, Frank wäre bei einer Schießerei ums Leben gekommen. Er hätte gesehen, wie er sich gegen Sheriff Ed Masterson gestellt hätte und von diesem getötet worden wäre.«

Es war drei Sekunden still in der Kammer.

Racine torkelte auf einen Stuhl zu und sank schwer darauf nieder.

»Wenn Ihr Vater nun doch auf den Gedanken käme, hier nachzusehen?«

»Kommt er nicht. Und außerdem werde ich abschließen.«

Sofort kam der Bandit wieder hoch. Seine Rechte umspannte das Handgelenk des Mädchens.

»Das werden Sie nicht tun!«

»Wie Sie wollen, Mister – ach ja, Madison hießen Sie ja wohl!«

»Nein«, keuchte der Schießer. »Mein Name ist Racine. Patrick Racine.«

Lory wich zurück. Entsetzen stand in ihren Augen.

»Racine – der Schie…«

»Yeah«, entgegnete der Brigant rostig, während er wieder auf den Stuhl niedersank und die Rechte um den linken Arm krampfte:

»Racine, der steckbrieflich in drei Staaten gesuchte Revolvermann.«

Totenstille herrschte in der kleinen Kammer.

Endlich spie der Coltman die Worte hervor:

»Ich habe niemanden ermordet. Ich bin ein Mann, der anderen im Wege war, und habe mich mit dem Revolver zur Wehr gesetzt. Daß dabei eines Tages auch ein Sternschlepper auf der Strecke blieb, war nicht meine Schuld. Ich habe ihn mir nicht ausgesucht, ihn nicht gebeten, mich mit dem Revolver zu bedrohen.«

Lory stand wie versteinert da. Die Worte des Mannes gingen an ihr vorbei und drangen ihr doch bis ins Mark.

Sternschlepper hatte er gesagt, welch ein Ausdruck! Sie wußte von den Männern an der Theke, daß nur Outlaws diese Bezeichnung für ihre verschworenen Gegner, die Männer mit dem Stern, zu benutzen pflegten

Er war also ein Revolvermann, der mysteriöse Fremde, der da in ihr Haus gekommen war. Roy Madison hatte er sich genannt – und er war blaß geworden, als am Nachmittag plötzlich der Name des Marshals gefallen war.

Wurde er von Wyatt Earp verfolgt?

Wie mochte er mit Doc Holliday zusammengeraten sein? Die ganze Stadt wußte doch, daß der berühmte Gunfighter unten im Calgary-Quart in einem Boardinghouse sterbenskrank daniederlag.

Aber Lorys Gedanken arbeiteten nicht klar und nüchtern wie sonst. In ihrer naiven Seele brannte immer noch das Bild des selbstbewußten stolzen Mannes, der sie so beeindruckt hatte, der zumindest einen eigenartigen Eindruck bei ihr hinterlassen hatte. Und nun entpuppte er sich als ein berüchtigter Schießer! Als ein Mensch, der steckbrieflich gesucht wurde!

Weshalb hatte er es ihr gesagt?

Lory war kindlich genug, diese seine Offenheit als ein besonderes Vertrauen zu werten, mit dem er sie beehrt hatte.

Dabei war es pure Gerissenheit, die den Schießer die Wahrheit hatte sagen lassen; er spekulierte ja gerade auf ihr Vertrauen. Und mit was konnte er es rascher und entschiedener erzwingen, als mit einer scheinbar vertrauenssuchenden Offenheit?

»Yeah, ich bin der Revolvermann Racine. Und hundert Sternschlepper suchen und jagen mich. Der schlimmste von allen ist Wyatt Earp.«

Es vergingen wieder einige Sekunden der Stille, dann hörte sich Lory zu ihrer eigenen Verwunderung plötzlich fragen:

»Hat er Sie gesehen?«

»Ja, am Nachmittag in Liggets Bar. Aber da wußte er noch nicht, wer ich war.«

»In Doc Hollidays Quartier hat er Sie nicht gesehen?«

»Glücklicherweise nicht. Chattuck, der gehirnlose Büffel, kam nicht schnell genug mit; er wollte den Georgier durchaus ausblasen. Und dabei muß der Marshal ihn gestellt und überwältigt haben.«

»Chattuck – wer ist das?«

»Einer der Büffeljäger, die gestern nacht hier an eurer Theke gestanden haben.«

»Larry –?« Lory hatte es mit bebender Stimme gefragt.

»Ja, Larry.«

Undeutlich ahnte das Mädchen den Zusammenhang. Racine hatte diesen Larry also gesucht! Weswegen, das wußte sie nicht. Sie vermutete, um sich mit ihm gegen Wyatt Earp und Doc Holliday zu verbünden. Wie hätte sie auch auf den Gedanken kommen sollen, daß der Schießer den Büffeljäger Lawrence Chattuck nur gesucht hatte, um ihn zu erpressen? Daß er erst anschließend auf den Gedanken gekommen war, ihn als Partner gegen die beiden Männer aus Dodge City anzuwerben, um ihnen die vierzigtausend Dollar abzujagen, die Wyatt Earp dem Raubmörder Timberlake hatte entreißen können. Auf den Gedanken wäre das siebzehnjährige Mädchen aus dem fernen Schottland nie gekommen.

»Ich kann also hierbleiben?« sagte Racine nach einer Weile.

»Ja.«

»Und der Alte – ich meine, Ihr Vater wird hier nicht auftauchen?«

»Er war schon Jahre nicht mehr hier oben.«

»Wenn es ihm doch einfallen sollte – ist es sein Pech!«

Lory wich zurück. Sie sah in der rechten Faust des Bravos ein Messer blinken.

»Er kommt nicht«, preßte sie hervor. »Und ich hoffe, daß Sie keinen Lärm machen, so daß er nicht auf Sie aufmerksam wird.«

Racine hatte das Messer in den Gurt geschoben. Wieder schnappte seine Rechte um das Handgelenk des Mädchens.

»Ich habe Hunger.«

Lory nickte.

»Und Durst – den vor allem.«

Lory nickte wieder und fragte mit heiserer Stimme:

»Wollen Sie – Whisky?«

»Natürlich, oder wollten Sie mir etwa Wasser bringen? – Übrigens, ich brauche auch Wasser und saubere Tücher. Warmes Wasser für die Wunde.«

»Steckt die Kugel noch?« Das Mädchen hatte es mit bebender Stimme gefragt.

»Nein, es war ein Aufreißer. Glücklicherweise. Aber das sage ich Ihnen: ich lösche ihn aus, diesen aalglatten Hund, der wie tot dalag und dennoch einen solchen Schuß losließ. Ihn und seinen Partner mit dem großen Stern, beide lösche ich aus! Das schwöre ich Ihnen bei meinem Leben!«

Immer dumpfer und heiserer, rostiger und gefährlicher war seine Stimme geworden bei den letzten Worten.

»Das sollten Sie nicht sagen, Mister Ra…« Sie brach jäh ab, weil sie den Namen nicht aussprechen konnte, ihn nicht über ihre Lippen brachte.

Racine!

Wie oft hatte sie diesen Namen schon gehört in letzter Zeit. Immer häufiger sprachen die Männer an der Theke von dem gefährlichen Revolvermann aus Dakota, der nach Kansas gekommen sein sollte, der eine ganze Reihe von Menschen getötet – und gar einen Sheriff erschossen haben sollte.

Im fairen Gunfight, wie er jetzt behauptete.

Konnte man einen Sheriff überhaupt im fairen Gunfight töten?

Gab es einen fairen Kampf gegen einen Gesetzesmann?