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Schriftstellerinnen I

KLG Extrakt

Herausgegeben von

Hermann Korte

Schriftstellerinnen I

Herausgegeben von

Carola Hilmes

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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ISBN 978-3-86916-587-5

E-ISBN 978-3-86916-701-5

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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2018

Levelingstraße 6a, 81673 München

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Inhalt

Einführung

Elfriede Jelinek

Ulla Hahn

Barbara Honigmann

Yoko Tawada

Felicitas Hoppe

Ulrike Draesner

Sekundärliteraturauswahl

Biogramme

Carola Hilmes

Einführung

2004 wurde Elfriede Jelinek der Nobelpreis zuerkannt „für den musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit einzigartiger sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen“, wie es in der Begründung der Schwedischen Akademie heißt.1 Bei der Verleihungszeremonie hob Horace Engdahl hervor: „Elfriede Jelinek deliberately opens her work to the clichés that flood the news media, advertising and popular culture – the collective subconscious of our time. She manipulates the codes of pulp literature, comics, soap operas, pornography and folkloristic novels (Heimatroman), so that the inherent madness in these ostensibly harmless consumer phenomena shines through.“ 2 Gewürdigt wurde damit das Gesamtwerk der österreichischen Autorin, die seit den 1970er Jahren kontinuierlich schreibt. Die Verleihung des Nobelpreises an Jelinek blieb nicht unumstritten, das nationale Lob war mit böswilligen Diffamierungen verbunden, in der Presse kam es zu regelrechten Verleumdungen.3 Die Preisträgerin selbst reagierte gelassen. In dem Interview mit Marika Griehsel sagte sie: Der Nobelpreis „wird mein zukünftiges Schreiben insofern beeinflussen, als ich, ohne materielle Sorgen, eine größere Leichtigkeit, auch Leichtherzigkeit beim Schreiben entwickeln könnte“.4 Ihre enorme Produktivität seither gibt dieser Einschätzung Recht.

Seit 1901 wird der Nobelpreis für Literatur vergeben, als erste Frau erhielt ihn 1909 die schwedische Schriftstellerin Selma Lagerlöf (1858-1940). 1966 wurde der Preis geteilt zwischen dem aus Galizien stammenden hebräischen Schriftsteller Samuel Joseph Agnon (1888-1970) und der nach Schweden emigrierten deutsch-jüdischen Dichterin Nelly Sachs (1891-1970); sie war auch die erste Frau, die 1965 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekam. Der Vorsitzende des Nobelpreiskommitees, Bengt Samuelsson, räumt in seiner Eröffnungsrede 2004 ein, „women have been treated unfairly“;5 erst seit den 1990er Jahren ist die Asymmetrie etwas weniger ausgeprägt.6 Zum Thema literarischer Kanon und Geschlecht außerdem aufschlussreich ist, dass in den einschlägigen Literaturgeschichten für die Schule „ein traditionell dominant männlicher Kanon perpetuiert wird“.7 Während also das Werk einzelner Autorinnen große Aufmerksamkeit und auch Anerkennung in der Öffentlichkeit erfährt, sind im Unterrichtskanon nur geringe Veränderungen zu verzeichnen. Es besteht also Bedarf, die Schriftstellerinnen und ihre Romane, Theaterstücke und Gedichte zu popularisieren. Dazu will dieser Band einen Beitrag leisten, denn es ist wichtig, die ganz unterschiedlichen Schreibweisen und poetologischen Positionen der Autorinnen zu analysieren, sie zu kontextualisieren und in Traditionszusammenhänge einzuordnen. Eine differenzierte literarische Wertung setzt genaue Kenntnisse voraus. Die für diesen Band aktualisierten Beiträge aus dem „Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ (KLG) bieten einen fundierten Einstieg in die Werke der relevanten Autorinnen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden und in den 1970er Jahren ihre literarische Karriere begonnen haben. Die Auswahl der auf vorläufig drei Bände projektierten Reihe „Schriftstellerinnen“ orientiert sich an wichtigen Literaturpreisen und ist auf eine gewisse Durchmischung im Hinblick auf die literarischen Gattungen und Themenbereiche bedacht. Die Anordnung der Autorinnen erfolgt chronologisch; eine Vorentscheidung über die Qualität der Werke ist nicht impliziert. Von gewissen individuellen Vorlieben jedoch ist keine Auswahl ganz frei.

Elfriede Jelinek wurde 1946 in der Steiermark geboren, studierte in Wien und lebt seit ihrer Heirat 1974 in München und Wien; die dortige Universität betreibt seit 2004 eine international vernetzte Forschungs- und Dokumentationsstelle, die sich dem Werk Jelineks widmet und Genderfragen diskutiert. Seit 2010 erscheint ein Jelinek-Jahrbuch und 2013 hat Pia Janke, die Leiterin des Zentrums, ein Jelinek-Handbuch publiziert. In der Forschung hat die sprachmächtige Radikalfeministin, die von 1974 bis 1991 auch Mitglied er Kommunistischen Partei Österreichs war, gebührend Beachtung gefunden. Die Autorin selbst betreibt eine Homepage, auf der sehr viele ihrer Texte gelesen und heruntergeladen werden können (http://www.elfriedejelinek.com/); so etwa „Neid. Privatroman“ (2007), die Theaterstücke sowie poetologische und andere Stellungnahmen. Diese Form der Präsenz ist der Nobelpreisträgerin und Skandalautorin offensichtlich wichtig. In ihren literarischen Texten greift Jelinek gesellschaftspolitisch brisante Themen auf und stellt dabei das Vergessen- und Nichtwissen-Wollen aus. Es geht ihr um Machtverhältnisse, die unseren Alltag bestimmen, wobei sie die internalisierten männlichen und weiblichen Rollenklischees bloßstellt. Dabei lässt sie sich vom Material der Sprache leiten, das heißt sie betreibt eine ins Ästhetische gewendete Ideologiekritik, die sehr oft bei aktuellen Ereignissen ansetzt oder auch auf bekannte Topoi zurückgreift. Alles ist zugleich da und wird zu einem vielstimmigen Gewebe verflochten.

Vor allem durch ihre Theaterstücke erreicht Jelinek ein breites Publikum. Seit „Wolken.Heim“ (1988) schreibt sie keine konventionellen Dramen, die über Figurenrede funktionieren, sondern liefert sogenannte Textflächen, die von den Theatermachern erst zu einem spielbaren Text arrangiert werden müssen. Jelinek reagiert damit auf das von vielen geschmähte Regietheater mit einer Vorwärtsverteidigung: Sie räumt große Freiheiten ein und zwingt so zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den Texten, was bis ins Publikum fortwirkt. Jelinek gibt damit die Autorität über den eigenen Text ab und es kommt zu produktiven Kooperationen mit den Regisseuren. So hat zum Beispiel Einar Schleefs Inszenierung von „Ein Sportstück“ (1998) am Burgtheater in Wien zu einer „Wiederentdeckung und Neuformulierung der Figur des Chores im Sprechtheater“ (KLG) geführt, während Christoph Schlingensiefs Inszenierung von „Bambiland“ (2003) popkulturelle Elemente mit Medienberichten zum Irakkrieg amalgamiert und die Darstellungspraxis auf dem Theater problematisiert. In dem eigenwilligen, die Lesung betonenden Inszenierungsstil von Nicolas Stemann, der ein postmodernes Beliebigkeitstheater ablehnt und den Zuschauern so einiges abverlangt, waren seit 2003 viele Theaterstücke von Jelinek zu erleben. Durch die eindringliche, inquisitorische Art ihrer Texte gelingen immer wieder Überraschungen und Provokationen, die ein kritisches Bewusstsein gegenüber der Sprache und den Medien schulen.

Mit ihrem Gedichtband „Herz über Kopf“ (1981) landete Ulla Hahn, 1946 im Sauerland geboren, einen Bestseller. Die Lyrikerin hatte die Unterstützung des einflussreichen Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki, der viele ihrer Gedichte in der FAZ abdruckte und positiv besprach. Ihre Liebesgedichte sind in einem der Klassik und Romantik verpflichteten Stil abgefasst; avantgardistische Experimente, mit denen die Schriftsteller/innen und Künstler/innen auf die Krisenerfahrung der Moderne reagierten, lehnt Hahn ab. Viele haben ihre Lyrik gern gelesen, aber nicht alle haben sie kritiklos hingenommen; von „Edelkitsch aus dem Repertoire des Biedermeier“ (KLG) war die Rede. Wenn die Dichterin zu einer „verirrten Enkelin Hedwig Courths-Mahlers“ (vgl. KLG) erklärt wird, haben wir es mit einer aufschlussreichen Entwertungsstrategie zu tun, denn die mit ihren Liebesromanen aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts überaus erfolgreiche Autorin bietet sich nur aufgrund der Thematik und der Breitenwirkung zum Vergleich an. Durch diesen Vergleich wird dann die gängige Meinung bestätigt, Frauen schrieben in trivialer Weise über Gefühlsdinge – ein gendertypisches Klischee, das Schriftstellerinnen ernsthafte Sujets ebenso wenig zutraut wie deren angemessene literarische Bearbeitung. Das Ressentiment gegen den Erfolg tut ein Übriges, indem es sich implizit auf das Stereotyp vom (männlichen) Künstler als Außenseiter beruft. Es ist ein Verdienst feministisch-genderorientierter Literaturwissenschaft, solche Ausschlussmechanismen aufzuzeigen und so eine Revision des literarischen Kanons einzuleiten. Viele in ihrer Zeit populäre Autorinnen konnten so entdeckt und einem ‚historizistischen Literaturkanon‘ eingeschrieben werden,8 das gilt für die Schriftstellerinnen der Goethezeit sowie für die Unterhaltungsschriftstellerinnen im 19. Jahrhundert. Die Orientierung literarischer Wertung an einer im bürgerlichen Zeitalter herausgebildeten Autonomieästhetik dürfte für die Gegenwart ihren Geltungsanspruch verloren haben. Das Verhältnis von Inhalt und Form ist neu zu bedenken. Über das Thema allein jedenfalls kann die Literatur ihre Relevanz nicht behaupten. Darauf reagieren auch die Autorinnen.

Für die 1949 in Ost-Berlin geborene Barbara Honigmann steht die Frage nach der deutsch-jüdischen Identität im Zentrum ihrer literarischen Arbeiten. 1984 ist sie mit ihrer Familie nach Straßburg ausgewandert. Im „Selbstporträt als Jüdin“ (1999) erläutert sie: „Als Jude bin ich aus Deutschland weggegangen, aber in meiner Arbeit, in einer sehr starken Bindung an die deutsche Sprache kehre ich immer wieder zurück.“ In ihrer mit intertextuellen Bezügen angereicherten autobiografischen Prosa thematisiert sie Exil und Emanzipation, wobei „die Heimkehr der Autorin ins Judentum“ (KLG) eine wichtige Rolle spielt. Religiosität und Kreativität werden bei Honigmann also verbunden. In der literarischen Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte verschiebt sich für eine Angehörige der ‚Zweiten Generation‘ die Exilproblematik in signifikanter Weise. Im Zeitalter der Flüchtlinge, das Edward Said, der palästinensische Kulturwissenschaftler und Theoretiker des Postkolonialismus, in „Reflections on Exile“ (1984) in den Blick nimmt, verlagert beziehungsweise vergrößert sich der Untersuchungsfokus. So wurde in der Germanistik der Begriff Exilliteratur lange exklusiv für die Zeit zwischen 1933 bis 1945 reserviert, seit der kulturwissenschaftlichen Öffnung des Fachs aber werden neue Aspekt berücksichtigt.9 Gerade im Hinblick auf hybride Identitäten wird das Verhältnis von Exil, Migration und Diaspora neu ausgehandelt. In „Meine sefardischen Freundinnen“ (1999) schreibt Honigmann: „Wir praktizieren unser Judentum in einer Weise, die wir ‚koscher light‘ nennen“. Für eine solche Positionierung erhellend ist, dass Barbara Honigmann nicht nur schreibt, sondern auch malt. Die erzählten Geschichten werden erweitert zu einem Dialog der Künste, der für eine Reihe von Schriftstellerinnen wichtig ist; so etwa die wenig bekannte Kooperation Jelineks mit der Komponistin Olga Neuwirth.

Auch im Werk von Yoko Tawada spielen intermediale Aspekte eine Rolle, zum Beispiel in dem Roman „Das nackte Auge“ (2004), in dem die Protagonistin, eine namenlose Ich-Erzählerin aus Vietnam, in Paris im Kino alle Filme mit Catherine Deneuve sieht und sich so auf Sprache und Kultur des Landes einstellt. Yoko Tawada, 1960 in Tokyo geboren, lebt seit 1982 in Deutschland, wo sie in Hamburg Germanistik studierte und mit einer Promotion über „Spielzeug und Sprachmagie in der europäischen Literatur“ (2000 veröffentlicht) abschloss. Sie schreibt Japanisch und seit 1988 auch auf Deutsch. In ihren Gedichten, Prosatexten und Theaterstücken sind Übersetzungsfragen ein wichtiges Thema, wobei sie bewusst mit produktiven Missverständnissen spielt, wie etwa der Titel des Buches „Überseezungen“ (2002) zeigt. Literatur- und kulturtheoretisch versiert arbeitet Tawada als literarische Ethnografin, die sowohl auf die deutschen als auch auf die japanischen Eigenheiten der Sprache einen fremden Blick richtet und die beiden entfernten Kulturen zueinander in Beziehung setzt. Das führt zu überraschenden, oft witzigen Beobachtungen und Begegnungen. Auf diese Weise kommt die kreative Seite der Migration, wie sie von Salman Rushdie, Vilém Flusser oder auch von Ilija Trojanow herausgestellt wurde,10 besonders gut zur Geltung. Tawadas Essays verfahren autobiografisch und erzählend, das heißt ihnen gelingt ein literarischer Transfer von Wissen, der konventionelle Genregrenzen überschreitet. Die international viel beachtete Autorin publiziert seit den 1980er Jahren im Konkursbuch Verlag von Claudia Gehrke, weil dieser Tübinger Kleinverlag alle ihre Werke im Sortiment hält und weil die Bücher besonders liebevoll gestaltet sind. „Wer in mehreren Sprachen lebt, bringt täglich Wörter aus verschiedenen Sprachen zusammen“, heißt es in „akzentfrei“ (2016), Tawadas jüngstem Band mit literarischen Essays. Fast beiläufig wird so der Bezug zu einer dem Surrealismus verpflichteten Poetik genannt.

Felicitas Hoppe wurde 1960 in Hameln geboren und ist mit dem Geschichtenerzählen aufgewachsen. Ähnlich dem legendären Rattenfänger lockt sie ihre Leser/innen auf Reisen mit unbekanntem Ausgang. Für ihr virtuoses Spiel mit unterschiedlichen Stimmen in ihrem autofiktionalen Roma „Hoppe“ (2012) wurde sie mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt; es handelt sich um eine ins Fantastische gewendete Lebensreise – Hoppe selbst sprach von Wunschbiografie. „Literarisches Schreiben ist weniger Bekenntnis als die aktive Neugestaltung von vorgefundenen Stoffen.“11 Diese können aus Märchen stammen, aus dem eigenen Leben oder aus der Geschichte. Absurde Situationen, groteske Überzeichnungen und surreal anmutende Begegnungen – unter dem Titel „Verbrecher und Versager“ (2004) porträtiert Hoppe Personen, die nicht in der ersten Reihe unserer kulturellen Tradition stehen. Mit Pigafetta, dem Chronisten der ersten Erdumsegelung unter Ferdinand Magellan, war sie auf einem Containerschiff einmal um die Welt unterwegs; das Ticket für diese Fahrt hatte Hoppe mit dem Preisgeld für ihren ersten Erzählband „Picknick der Frisöre“ (1996) erworben. Mit „Johanna“ (2006) gelingt ihr eine Mischung aus historischem Roman und Campus-Novel. Wie stets ist alles ehrlich erfunden. Abenteuer und Schatzsuche, eine Verbindung von Erlebnissen in fernen Welten mit Erfahrungen des Alltags zeichnen Hoppes Prosatexte aus. „Die Literatur fordert uns auf, in alle Richtungen auf einmal zu schauen. Nach oben und unten, links und rechts neben uns, in uns, ins Jenseits.“12 Deshalb spricht Michaela Holdenried von einer Poetik der Offenheit, die das Gespräch mit dem Leser sucht.

Die 1962 in München geborene Ulrike Draesner schreibt Gedichte und Romane, die erkunden, „was wir durch Literatur erfahren oder wissen können“.13 Vielstimmigkeit, gesteigertes Sprachbewusstsein und genaue Recherchen sind dazu nötig. Neben gesellschaftspolitischen Themen (Terrorismus, Reproduktionsmedizin oder neurowissenschaftliche Forschung) problematisiert Draesner Geschlechterrollen. In ihrer Frankfurter Poetikvorlesung 2016 rückt sie die Frage „Wie schreiben wir Leben?“ in den Mittelpunkt und knüpft damit an ihren Essayband „Schöne Frauen lesen“ (2007) an, in dem sie u.a. Annette von Droste-Hülshoff, Ingeborg Bachmann und Friederike Mayröcker sowie Virginia Woolf und Gertrude Stein vorstellt. So lotet sie den Resonanzraum „weiblichen“ Schreibens aus. Bereits in den 1970er Jahren wurden Positionen einer écriture feminine von Hélène Cixous, Luce Irigaray und Julia Kristeva kontrovers diskutiert wegen einer befürchteten essentialistischen Festlegung des Weiblichen.14 In ihrem programmatischen Artikel „Gibt es eine weibliche Ästhetik?“ (1976) verschiebt Silvia Bovenschen die Grundsatzfrage und mahnt eine kontextualisierende kritische Analyse der Werke von Schriftstellerinnen und Künstlerinnen an.15 Ein kluger Schachzug. Aus rezeptionsästhetischer Sicht führt Ruth Klüger (1996) aus, dass Frauen anders lesen, weil sie aufgrund ihrer Sozialisation jeweils andere Erfahrungen für ihre Lektüre mitbringen.16 So haben Forderungen feministischer Literaturwissenschaft mittlerweile Eingang gefunden in die Unterrichtspraxis; in neueren Überblicksdarstellungen zur Gegenwartsliteratur werden Autorinnen berücksichtigt – ob in einem angemessenen, ausreichenden Maße, das müsste noch untersucht werden. Um eine größere Breitenwirkung für die Werke zeitgenössischer Schriftstellerinnen zu sichern, ist deren Popularisierung sicherlich ein guter Weg.

Frauenliteraturgeschichte ist eine schwierige Kategorie. Als Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann den Band „Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ 1985 erstmals herausgaben, haben sie ein neues Forschungsfeld abgesteckt. Viel ist seither passiert. Unbekannte Autorinnen wurden entdeckt, ihre Werke publiziert und interpretiert. Es werden mittlerweile nicht mehr nur die Weiblichkeitsimaginationen der Autoren einer kritischen Relektüre unterzogen, sondern es werden auch die Entwürfe des Männlichen untersucht und vor allem wird die Relationalität von Geschlechterkonstruktionen herausgearbeitet. Geschlecht als biologische Kategorie (sex) wurde ergänzt und erweitert um gender, die kulturelle, also historisch veränderliche Verfasstheit von Geschlecht. Neben unterschiedlichen Repräsentationsformen – den weiblichen und männlichen Figuren in literarischen Texten – werden neuerlich vor allem Differenzbeziehungen analysiert: Wie wird Geschlechterdifferenz als ästhetische Größe in den Texten inszeniert? Besonders aufschlussreich ist die Beziehung zwischen literarischer Gattung (Genre) und kulturellem Geschlecht (Gender), weil sie als Ordnungsmuster und zugleich als Wahrnehmungsmodelle funktionieren. Die viel diskutierte Krise der Autorschaft – Roland Barthes’ Diktum vom Tod des Autors (1968) – führte zu einem neuen, theoretisch informierten Umgang mit literarischen Texten – sei er nun diskursanalytisch, dekonstruktivistisch oder performativen Ansätzen verpflichtet. Dies hat auch die Lektüre der Werke von Schriftstellerinnen beeinflusst, denn auch sie müssen nun ohne die Autorität der Autorinnen auskommen. Die emanzipierten Leser/innen stehen nun dem literarischen Text direkt gegenüber – sozusagen Auge in Auge, wie Nathalie Sarraute in ihren Essays „Im Zeitalter des Argwohns“ (1963, frz. 1956) ausführt.

Frauenliteratur ist ein prekärer Begriff, weil er auf Ausgrenzung beruht. Aus der allgemein gültigen (männlich dominierten) Literaturgeschichte wird ein eigener Bereich besonders herausgenommen, was eine Abwertung impliziert. Beim Begriff Frauenliteratur ist sie sogar ausdrücklich, denn er wird häufig mit Trivialliteratur gleichgesetzt. Der Hinweis darauf, dass es viele gute Krimiautorinnen gibt, bestätigt diese Regel eher, als die grundsätzliche Deklassierung in Frage zu stellen. Selbst die rein deskriptive Verwendung des Begriffs – Literatur von Frauen, für Frauen, über Frauen – bleibt problematisch, nicht zuletzt, weil sie sich bloß an Inhalten orientiert und die literarischen Formen in den Hintergrund drängt. Die Anglistin Ina Schabert hat 1997 einen innovativen Ansatz einer Darstellung der Literaturgeschichte aus der Sicht der Geschlechterforschung vorgelegt, in dem sie „schöne“ Parteilichkeit walten lässt. „Statt Meisterwerken soll Vielfalt, statt Rangordnung sollen Vernetzung zwischen Diskursen verschiedener Art sichtbar gemacht werden.“17 In der deutschen Nationalphilologie fehlt eine solche Literaturgeschichte; in Zeiten des Postkolonialismus und der Queer Studies ließe sich der Fokus der Aufmerksamkeit noch einmal verschieben. In jedem Fall aber ist es unerlässlich, die literarischen Werke der Schriftstellerinnen kennen zu lernen, denn in der Literatur geht es weniger ums Große-Ganze als um Details, die Arbeit mit den Wörtern und was sie zu leisten vermögen. Und es kommt auf die Leserinnen und Leser an, jede/n Einzelne/n.

1 Vgl. http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2004/press.html (Aufruf 16.12.2016).

2 Horace Engdahl: Award Ceremony Speech, http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2004/presentation-speech.html (Aufruf 16.12.2016).

3 Vgl. Pia Janka: Literaturnobelpreis Elfriede Jelinek. Wien: Praesens Verlag 2005, insbes. S. 139–202.

4 Elfriede Jelinek: Interview, November 2004; http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2004/jelinek-interview.html (Aufruf 16.12.2016).

5 Bengt Samuelsson: 2004 Opening Address; http://www.nobelprize.org/ceremonies/archive/speeches/opening-2004.html (Aufruf 16.12.2016).

6 Bis 2016 haben 14 Autorinnen und 95 Autoren den Nobelpreis bekommen; seit 1991 sind acht Nobelpreisträgerinnen zu verzeichnen; vgl. http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/ (Aufruf 16.12.2016).

7 Erdmute Sylvester-Habenicht: Kanon und Geschlecht. Eine Re-Inspektion aktueller Literaturgeschichtsschreibung aus feministisch-genderorientierter Sicht. Sulzbach/Taunus: Ulrike Helmer Verlag 2009, S. 192.

8 Vgl. Renate von Heydebrand (Hg.): Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart: Metzler 1998.

9 Vgl. Doerte Bischoff, Susanne Komfort-Hein (Hg.): Literatur und Exil. Neue Perspektiven. Berlin/Boston: De Gruyter 2013. Bettina Bannasch, Gerhild Rochus (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller. Berlin/Boston: De Gruyter 2013.

10 Vgl. Salman Rushdie: Heimatländer der Phantasie. Essays und Kritiken 1981–1991. München: Kindler 1992; Vilém Flusser: Exil und Kreativität (1984/85). In: Ders.: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus. Berlin/Wien: Bollmann 2007, S. 103–109; Ilija Trojanow: Exil als Heimat. Die literarischen Früchte der Entwurzelung. In: Intellektuelle im Exil. Hg. v. Peter Burschel. Göttingen: Wallstein 2011, S. 9–18.

11 Felicitas Hoppe: Kronen tragen. Ein Gespräch mit Johannes Schröer. In: Michaela Holdenried (Hg.): Felicitas Hoppe. Das Werk. Berlin: Erich Schmidt 2015, S. 291–300, hier S. 292.

12 Ebd., S. 299.

13 Ulrike Draesner: Leben schreiben. Die Schriftstellerin Ulrike Draesner wird neue Frankfurter Poetikdozentin. Ein Gespräch mit Dirk Frank. In: UniReport, Goethe-Universität Frankfurt am Main 49 (2016), Nr. 6, S. 13.

14 Vgl. Sigrid Nieberle: Gender Studies und Literatur. Eine Einführung. Darmstadt: WBS 2013, S. 50–60. Vgl. Franziska Schößler: Einführung in die Gender Studies. Berlin: Akademie Verlag 2008.

15 Silvia Bovenschen: Über die Frage „Gibt es eine weibliche Ästhetik?“. In: Ästhetik und Kommunikation 25 (1976), Nr. 7, S. 60–75.

16 Ruth Klüger: Frauen lesen anders. München: dtv 1996.

17 Ina Schabert: Englische Literaturgeschichte. Eine neue Darstellung aus der Sicht der Geschlechterforschung. Stuttgart: Kröner 1997, S. 7.