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Table of Contents

Titel

Impressum

Erster Teil

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Zweiter Teil

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dritter Teil

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Epilog

BRIGGAS SIEDLUNG

Nachwort der Autorin

ÜBER DIE AUTORIN

 

 

 

 

 

Sylvia Maria Zöschg

 

 

 

 

Die Reise der

Urzeitjägerin

 

Abenteuer-Roman aus der

Kupferzeit

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© Verlag DeBehr

 

Copyright by Sylvia Maria Zöschg

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2018

ISBN: 9783957535610

Umschlaggrafik Copyright by HYGIN GRAPHIX - Ben Urban

Erster Teil

DAS ERWACHEN DER JÄGERIN

Eins

Die ersten Frühlingsblumen hielten zaghaft nach der Sonne Ausschau. Im dichten Wald herrschte emsiges Treiben. Der junge Rehbock hatte den milden Winter gut überstanden. Groß und kräftig war er geworden, voller Stolz trug er sein kleines Geweih zur Schau. Majestätisch ausschreitend durchstreifte das Tier sein Revier. Mitten im Dickicht, versteckt zwischen den wild wuchernden Hecken, blieb er stehen. Nur seine zuckenden Ohrenspitzen und seine bebenden Nüstern verrieten seine Nervosität. Aber das Wolfsrudel, das er witterte, war schon vor längerer Zeit vorbeigezogen. Ein Luchs schlief ganz in der Nähe in einem Baumwipfel. Auch er stellte keine Bedrohung dar. Der Rehbock senkte seinen Kopf und trabte beinahe lautlos weiter. Schon kurze Zeit später sprang er übermütig durch den Wald. Zu verheißungsvoll waren die Gerüche und die Geräusche dieses Frühlings, der gerade erst die letzten Überbleibsel des Winters verjagt hatte. Leichtfüßig erklomm das Tier den steilen Anstieg. Nahe der Waldgrenze erreichte er eine wunderbar duftende Lichtung. Wieder verharrte der Rehbock eine Weile reglos, bevor er sich zwischen den Bäumen hervorwagte und an den köstlichen, frischen Grashalmen knabberte.

Plötzlich brachte ein Geräusch Unruhe in den Wald. Ein fremdartiges Sirren scheuchte die Vögel von dn Ästen. In Scharen schwangen sie sich aufgeregt kreischend in die Lüfte. Ruckartig hob der Rehbock den Kopf. Doch es war zu spät.

Die Pfeilspitze bohrte sich tief in seinen Leib. Der junge Rehbock zuckte und gab einen Laut von sich, der einem Stöhnen glich. Ein letztes Mal noch bäumte er sich auf, brüllte dem Schmerz seinen Widerstand entgegen, bevor er bebend zusammenbrach.

 

Zwei

Die Frau beobachtete mit ausdrucksloser Miene, wie der Rehbock auf den Boden stürzte und mehrmals mit den Hufen ausschlug, bevor er leblos liegen blieb. Erst als er kein Lebenszeichen mehr von sich gab, senkte sie den Bogen. Das Leder ihrer Bekleidung – eine langärmlige Weste, Beinröhren und der Lendenschutz – spiegelte die Farben des Waldes. Ihre schlanke, dennoch kräftige Gestalt war zwischen den Bäumen kaum auszumachen. Mit dem Handrücken fegte sie ungeduldig ein paar Haarsträhnen ihrer zotteligen, hellbraunen Mähne aus dem immer noch kindlichen Gesicht.

Mächtig wollte sich der Triumph in ihr Platz schaffen. Nur mit Mühe gelang es der jungen Frau, nicht in lautes Jubeln auszubrechen. Einzig das Strahlen ihrer dunkelblauen Augen und ein leichtes Beben ihrer Schultern verrieten den Ansturm der Gefühle, der in ihr tobte. Zärtlich streichelte sie das glatte Holz ihres Bogens. Viele Tage war sie durch den Wald gestreift, bis sie das passende Stück Holz gefunden hatte. Es durfte weder zu hart noch zu weich sein, und musste sie an Länge überragen. Wann immer es ihr in den vergangenen Monden möglich gewesen war, hatte sie an ihren Waffen gearbeitet. Ihre Familienmitglieder hatten oft lächelnd darüber hinweggesehen, wenn sich die angehende Jägerin vor der Arbeit drückte, um aus dünnen Trieben Pfeilschäfte zu schnitzen, Vogelfedern und Sehnen zu bearbeiten, die Schneiden ihres Speers und der Pfeilspitzen zu schleifen. Wie es der Brauch verlangte, hatte sie erst am Vorabend erfahren, welches Tier sie mit welcher Waffe erlegen sollte.

Nun zupfte Brigga spielerisch an der Bogensehne. Sie hatte sie so oft benutzt, dass ihre Fingerkuppen durchfurcht und rau waren. Vorsichtig lehnte sie den Bogen an den Baumstamm zu ihrer Rechten. Kaum dem Krabbelalter entwachsen hatte sie gemeinsam mit den anderen Kindern die Kleintierjagd erlernt. Jetzt war es endlich so weit. Im letzten Herbst war aus ihr eine Frau und nun eine Jägerin geworden. Brigga legte die Hand auf ihre Brust. Ihr Herz pochte wild. Die Umrisse des Schmuckstückes, welches sie an einem Lederband um den Hals trug, bohrten sich tröstend in ihre Handfläche. Dieser Stein, der im Sonnenlicht blaugrün funkelte, war ein Geschenk ihrer Mutter Sura. Es sollte ihre Tochter ständig daran erinnern, dass Brigga ein Kind der Sterne war und somit in der besonderen Gunst der Hüter stand. In der Nacht, in der Brigga geboren wurde, war nämlich ein Schweifstern über den Himmel gezogen, der das Firmament in ein grünes Glühen getaucht hatte.

Die frischgebackene Jägerin schloss die Augen und dankte stumm den Hütern des Waldes. Langsam fiel die Anspannung von ihr ab. Sanfte Erschöpfung machte ihren Kopf leicht und ihre Glieder schwer. Noch vor dem Morgengrauen war sie aufgebrochen. Inzwischen stand die Sonne hoch im Himmel. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie der Fährte des Rehbocks gefolgt war. Von dem Augenblick an, in dem sie sich an ihn geheftet hatte, gab es nichts mehr, außer völliger Konzentration und instinktiven Handelns. Immer wieder war sie stehen geblieben, hatte in den Wald hineingehorcht, sich hingekauert und am Waldboden geschnuppert, hatte Spuren untersucht.

Die ganze Zeit über folgten ihr zwei Schatten, die sich in der Dunkelheit des Waldes verborgen hielten. Brigga wusste, dass jeder ihrer Schritte streng überwacht wurde. Noch war ihre Prüfung nicht vollendet. Brigga streckte die Arme seitlich aus und rollte den Kopf hin und her. Ihre Wirbelsäule knackte laut. Mehrmals ballte sie ihre Hände zu Fäusten und streckte sie wieder. Unerwartet traf sie etwas so schmerzhaft am Hinterkopf, dass die junge Frau beinahe gestürzt wäre. „Was ist los, hast du einen der Finsteren gesehen und bist zu Stein erstarrt?“ Brigga rieb sich den Kopf und sah mürrisch ins Gesicht der Frau, die ihr eine kräftige Kopfnuss verpasst hatte. Die geweihähnlichen Tätowierungen auf ihren nackten Unterarmen zeichneten die Ältere als Jägerin von höchstem Rang aus. Lautlos, wie die Kinder der Mutter Erde, hatte sie sich an ihre Schülerin herangeschlichen und sie wieder einmal überlistet. Wie immer kämpfte die Jüngere in Anwesenheit dieser großartigen Jägerin mit gemischten Gefühlen. Solariga war einen ganzen Kopf größer als Brigga und um einiges stärker. Unter einer wilden, dunkelblonden Haarpracht glitzerten ihre strahlend blauen Augen. Sie war wild, furchtlos und die Geschickteste unter den Jägern. Solariga wurde von allen Frauen in der Sippe gefürchtet und bewundert und von allen Männern begehrt. Aber die große Jägerin zeigte keinerlei Interesse am anderen Geschlecht. Brigga hatte schon früh in ihrer Kindheit eine große Begabung bei der Jagd und im Umgang mit den Waffen gezeigt. Niemand war darüber sonderlich überrascht, war doch auch ihre Mutter Sura in jungen Jahren eine hervorragende Jägerin gewesen. Seitdem war Solariga ihre Lehrmeisterin. Und die große Jägerin war nie zufrieden. So sehr Brigga sie auch bewunderte und liebte, wie sie jedes ihrer Familienmitglieder liebte und schätzte, so sehr hasste sie diese Frau auch. Solariga suchte sie oftmals sogar in ihren Träumen heim. „Willst du das Tier einfach dort liegen lassen? Los, mach dich an die Arbeit!“ Mit brennenden Wangen senkte die junge Frau den Kopf. „Sei nicht so streng, Sol“, lachte eine tiefe Stimme hinter den beiden. Nur Ragun, der dem Rat der Ältesten angehörte, wagte es, Solariga so zu nennen. „Fürs erste Mal hat die Kleine das ganz gut hinbekommen.“ Er zwinkerte Brigga zu.

Solariga brummte. Schnell, bevor der Jägerin noch weitere Gehässigkeiten einfallen konnten, legte Brigga ihren Köcher mit den übrigen Pfeilen neben den Bogen auf den Erdboden und eilte auf die Lichtung. Vor dem Kadaver des Rehbocks kauerte sich die junge Jägerin hin. Zufrieden stellte sie fest, dass ihr Pfeil seinen Weg direkt in das Herz des Tieres gefunden hatte. Sie zog den Dolch aus ihrer Gürteltasche und durchtrennte die Halsschlagader des Tieres mit einem einzigen kurzen Schnitt. Während sie das Tier ausbluten ließ, schloss Brigga die Augen. Sanft berührte sie seinen Kopf, seinen Hals und seinen Rumpf. Leise murmelte sie dabei die Worte, die Solariga ihr beigebracht hatte. Sie bat den Rehbock um Vergebung und bedankte sich bei ihm. Anschließend legte sie ihren Kopf in den Nacken und die Handflächen auf den Boden, als Zeichen der Ehrerbietung an Mutter Erde, der Schöpferin alles Lebens. Danach breitete sie die Arme aus, die Handflächen nach außen gedreht, und streckte sie in die Luft – als Dank an die Hüter des Waldes, der Berge, der Luft und des Wassers. Sie waren die Kinder der Mutter Erde und wachten über die Jahreszeiten, das Wetter und den Lauf der Gestirne. Schließlich legte sich Brigga die Finger über die Augen und senkte abermals den Kopf. Dieses Zeichen der Demut galt den Finsteren, die in den Schatten und den Erdspalten lauerten. Auch sie waren ein Teil der Mutter Erde. Gierig wachten sie über die Schritte der Menschen, lauerten ihnen auf, und wenn Mutter Erde den Menschen zürnte, dann schickten die Finsteren die Stürme und die Feuerbrände auf sie los.

Erst als dieses Ritual vollendet war, widmete sich die Jägerin wieder ihrer Beute. Vorsichtig versuchte sie, den Pfeil aus dem Leib des Tieres zu ziehen, aber er steckte fest. Nun, dafür würde später noch Zeit sein. Jetzt mussten sie sich beeilen, bevor das vergossene Blut und der Geruch des toten Fleisches Raubtiere anlockte. Tief atmete Brigga ein und aus. Sie machte ihr Innerstes frei von der Freude, der Aufregung und der Nervosität. Sie ging in die Knie, winkelte das rechte Bein an und stellte den Fuß fest auf den Boden. Dann beugte sie sich nach vorne und schob ihre Hände und Arme unter den noch immer warmen Leib des Tieres. Solariga und Ragun traten links und rechts neben sie und halfen ihr, das Tier auf ihre Schultern zu hieven. Wieder atmete Brigga tief ein und aus. Schließlich richtete sie sich schwungvoll auf. Das Gewicht des Tieres auf ihren Schultern war ungewohnt, brachte sie ins Schwanken. Ihre beiden Begleiter beobachteten jede ihrer Bewegungen. Sie waren bereit, einzuspringen, sollte die junge Jägerin das Tier fallen lassen. Aber Brigga biss die Zähne zusammen. Ragun grinste ihr anerkennend zu. Trotz der Anspannung spürte Brigga ein leichtes Flackern in ihrer Magengrube. Ragun war beinahe so alt wie ihr Vater. Graue Strähnen durchzogen sein dichtes braunes Haar, unzählige Narben zierten seinen Körper. Grüne Sprenkel glitzerten in seinen haselnussbraunen Augen. Er war immer noch vital und kräftig. Hin und wieder fragte Brigga sich, ob er in der Lage wäre, ihr noch mehr beizubringen, als den Umgang mit den Waffen. Schnell verscheuchte Brigga diese Gedanken. Ein langer und beschwerlicher Weg lag vor ihnen. Solariga griff nach dem Köcher und dem Bogen ihres Schützlings und ging voran. Ragun bildete die Nachhut. Die beiden waren Briggas Augen und Ohren. Diese war vollkommen damit beschäftigt, das erlegte Tier heil nach Hause zu bringen. Dabei musste sie auf jeden ihrer Schritte achten. Langsam machten sich die drei an den Abstieg.

Schon hatten sie das steilste Stück hinter sich gelassen und folgten nun einem kaum erkennbaren Trampelpfad durch den Wald in jene Richtung, deren karge Umgebung davon erzählte, dass sich die Sonne hier nur ungern blicken ließ. Endlich erreichten sie einen schmalen Bach. Sie benutzten den Holzsteg, den schon ihre Ahnen angelegt hatten, und folgten seinem Lauf, bis er ganz in der Nähe ihrer Siedlung einen Schwenker talabwärts machte, um sich dann am Fuße des Abhangs mit dem großen Fluss zu vereinen. Bald schon lief Brigga der Schweiß in Bächen über den Rücken. Das Fell des Rehbocks kratzte unangenehm über ihre Wangen. Aber sie biss die Zähne zusammen und kämpfte sich Schritt für Schritt weiter. Solariga blieb stehen und sah Brigga an. „Da, hörst du?“ Sie deutete nach vorne, wo der Wald sich lichtete. Tatsächlich konnte Brigga Stimmen hören. Und die sonst so strenge und manchmal gehässige Solariga ließ sich zu einem winzig kleinen Lächeln hinreißen. „Du hast es gleich geschafft.“ Brigga rückte die Last auf ihren Schultern zurecht. Sie durchquerten ein Feld, das kahl und matschig brachlag. Auf den ersten Blick wirkte es unwirtlich, aber schon bald würde darauf die Gerste gedeihen. Die Jägerin lugte hinter den schweißnassen Haarsträhnen hervor, die ihr im Gesicht klebten. Vor ihnen ragte der hohe Holzzaun auf. Sie konnte bereits die Umrisse des schmalen Tors erkennen. Frische Kräfte durchströmten ihren Körper. Sie beschleunigte ihre Schritte.

Die Sonne fand nicht immer ihren Weg auf diese Seite des Tals, welches von unwegsamem Gebirge und dichtem Wald geprägt wurde. Der Hügel, auf welchem Briggas Ahnen die Siedlung errichtet hatten, bildete eine der wenigen Ausnahmen. Die Hüter mussten diesen Platz für die Menschen auserkoren haben. Die Auen und Felder, die die Siedlung umgaben, ließen sich nur mit großer Mühe bearbeiten, waren aber äußerst fruchtbar. Die hölzerne Umzäunung diente ausschließlich dem Schutz vor den wilden Tieren, die den Wald durchstreiften. Das schmale Waldstück, das Brigga und ihre Begleiter hinter sich gelassen hatten, ging geradewegs über in eine steile Felsenwand, die bis in die hohen Gebirge emporragte. Die flussaufwärts gelegene Flanke der Siedlung wurde an ihrem äußersten Rand auf natürliche Weise durch ein schmales Waldstück, hinter welchem sich eine tiefe Schlucht auftat, begrenzt. Dort konnten sie das Vieh bedenkenlos weiden lassen, während die Felder bearbeitet wurden. Im Sommer wurde es auf die Hochweide getrieben; nach der Ernte des Einkorns und der Erbsen schließlich weideten die Tiere auf den Feldern. Weitere Getreidewiesen fanden ihre Begrenzung in den Auen am untersten Rand des Hügels. Ganz in der Nähe bahnte sich der große, breite Fluss grollend seinen Weg talabwärts, in die Richtung, in der die Sonne aufging. Nur von dieser Seite aus war ein feindlicher Überfall möglich. Dort wucherte der Wald. Er war von den Trampelpfaden durchzogen, die Wanderer im Laufe der Zeit hinterlassen hatten. Hier befand sich auch das große Eingangstor, das in den Zeiten, in welchen Übergriffe durch neidische Nachbarn nicht selten gewesen waren, streng bewacht worden war. Aber die letzten Überfälle lagen viele Sommer zurück. Inzwischen konnte man dort die Schweine, bewacht von den Hütekindern, unbesorgt laufen lassen.

Brigga konnte es kaum erwarten, den anderen ihre Beute zu präsentieren. Solariga öffnete das Tor und hielt es für die junge Jägerin auf, die sich seitlich hindurchzwängen musste. Kaum war sie ein paar Schritte gegangen, sprang ihr plötzlich eine lange, dürre Gestalt vor die Füße. Brigga stolperte und wäre gestürzt, hätte Ragun sie nicht grunzend aufgefangen. „Fleisch, frisches Fleisch hat sie gebracht“, krähte der einäugige Alstun und hüpfte mit den Armen schlenkernd vor ihr auf und ab. „Kann riechen das Fleisch, das Blut!“

„Halt die Schnauze, du nutzloser Haufen Rattenscheiße!“ Solariga stieß den Ankömmling unwirsch zur Seite. Alstun fiel hin und plärrte. Sofort kam Mena herbeigeeilt. Ihr schlohweißes Haar wehte im Wind. Ohne ein Wort zu verlieren, half sie ihrem Sohn auf die Beine. Der Blick, den sie Solariga zuwarf, war Vorwurf genug. Die große Jägerin errötete betreten. Ohne die alte Frau anzusehen, murmelte sie eine Entschuldigung. Trotz der Erschöpfung musste sich Brigga auf die Unterlippe beißen, um sich ein Grinsen zu verkneifen. Die Weise war der einzige Mensch, den die junge Jägerin kannte, dem selbst ihre Lehrmeisterin absolute Ehrfurcht entgegenbrachte. Auch Ragun grüßte respektvoll das Kinn senkend. „Weiter“, ächzte Brigga. Das Gewicht wurde langsam unerträglich. Mena lächelte sie an. „Gut gemacht, Jägerin.“ Die junge Frau spürte, wie erneut eine heftige Aufwallung von Stolz und Freude ihren Körper durchströmte und ihre Nervenstränge vor Energie vibrieren ließ. Die Weise scheuchte Alstun davon, der juchzend vor ihnen herlief. Der Lärm weckte die Neugierde der Anwohner. Immer mehr Leute kamen angelaufen. Die Hunde liefen wild kläffend zwischen ihnen herum. Brigga senkte den Blick und konzentrierte sich darauf, den Rehbock heil um das große Haus herum in den Unterstand neben der Feuerstelle zu bringen. Dabei kam sie an Menas Kräuterhütte vorbei und an der Schmiede ihres Vaters. Aus der Werkstatt und der Scheune, welche das große Haus flankierten, strömten die Familienmitglieder der jungen Jägerin heran.

Endlich! Brigga verharrte vor dem großen, flachen Stein. Kalt bohrten sich die Kieselsteine in ihre Fußsohlen. Der Schweiß trocknete auf ihrer Haut. Die Zuschauer brachen in Jubelgeschrei aus. Die junge Jägerin hatte ihre Prüfung gut hinter sich gebracht – was für ein besseres Omen konnte es für das neue Jahr geben? Falk und Sura eilten an die Seite ihrer Tochter und halfen ihr, das Tier auf den Stein zu hieven. Brigga wusste, wie stolz die beiden auf sie waren. Mers reichte seiner Schwester einen Keramikbecher. Gierig trank sie vom Wasser, das angenehm kühl durch ihre ausgetrocknete Kehle floss. Sie wünschte sich so sehr, ihre älteste Schwester Rasa wäre hier. Aber Rasa hatte die Siedlung vor vielen Monden verlassen.

Nun war nicht die Zeit, ihre Gedanken schweifen zu lassen und die Konzentration zu verlieren. Die Arbeit war immer noch nicht vollendet. Der Unterstand wurde für Schlachtungen genutzt und war entsprechend ausgerüstet. Erst vor wenigen Monaten hatten sie genau hier ihren einzigen Stier erlegt, nachdem er sich ein Hinterbein gebrochen hatte. Das war ein schwerer Schlag für die Familie gewesen. Sie besaßen zwar genug Ziegen und Schafe, um sämtliche Familienmitglieder auch in schweren Zeiten ernähren zu können. Doch mit der Rinderzucht wollte es nicht richtig vorangehen. Der Verlust des kräftigen Bullen wog schwer. Nun, wo die Vorräte des letzten Jahres so gut wie aufgebraucht waren und sie so sparsam mit den Nahrungsmitteln umgehen mussten, dass einem der Hunger manchmal nachts in den Gedärmen nagte, war frische Beute mehr als willkommen.

Äxte, Beile, Dolche, Messer, Schaber, ein Wetzstein – alle Werkzeuge wurden ordentlich sortiert, frisch gereinigt und geschärft in schlichten Behältnissen aus Holz aufbewahrt. Brigga legte ihren Dolch daneben ab. An seiner Schneide aus Kupfer klebte noch das Blut des Rehbocks. Sie liebte diese Waffe. Der Griff bestand aus Hirschgeweih und schmiegte sich perfekt in ihre Handfläche. Feine Verzierungen schmückten das Handstück. Falk hatte seiner Tochter diesen Dolch im letzten Herbst geschenkt, als sie zum ersten Mal blutete und somit zur Frau wurde.

Wie auf ein stummes Zeichen hin zog sich ein Großteil der Neugierigen zurück und ging wieder an die Arbeit: an den Unterständen, den Hütten und dem großen Haus waren Ausbesserungen vorzunehmen, das Vieh musste gefüttert, Tonwaren aussortiert, Wolle gesponnen und das Gewand geflickt werden. Sura, die einst selbst eine große Jägerin gewesen war, verschmolz mit den Schatten im hintersten Winkel des Unterstands. Wachsam verfolgte sie die Arbeit ihrer Tochter. Niila und Bursak machten sich daran, Tongefäße in unterschiedlichen Größen für die Innereien herbeizuholen. Es war ihre Aufgabe, die Organe zu waschen und zur sofortigen Weiterverarbeitung fortzubringen. Ein schneller Austausch von Blicken, ein kleines Augenzwinkern. Das musste reichen, um ihnen mitzuteilen, wie froh die Jägerin über die Anwesenheit und den stummen Beistand ihrer Freunde war. Wer weiß, wie sehr ihre Hände gezittert hätten, hätte Solariga an der Stelle ihrer einstigen Spielkameraden dort gestanden.

Mit ihrem Dolch entfernte Brigga zuerst den Penis und die Hoden des Tieres, bevor sie die Leibeshöhle vom Becken bis zum Ansatz des Brustbeins öffnete. Dabei achtete sie darauf, nur die Dolchspitze in den Bauch einzuführen, damit der Magen und der Darm nicht beschädigt wurden. Sorgfältig entfernte sie die Nieren, die Leber sowie den Magen. Darauf achtend, dass sie die Harnröhre gut geschlossen hielt, schnitt sie die Blase heraus und legte auch diese in ein eigenes Gefäß. Bursak nahm es naserümpfend entgegen. Jetzt erst entfernte Brigga den Darm, wieder vorsichtig, um ihn bloß nirgends zu verletzen. Zum Öffnen des Brustkorbes benutzte Brigga eine Steinaxt. Heftig atmend hackte sie auf die Knochen ein. Ungeduldig wischte sie sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn, der ihr ständig in die Augen rinnen wollte. Endlich war es so weit: Brigga öffnete die Brust und zog die Lungen, das Herz, die Luft- und die Speiseröhre heraus. Am Ende reinigte sie den Rumpf, indem sie Wasser hineingoss. Die Arme der Jägerin waren bis zu den Ellbogen mit Blut verschmiert. Zu ihren Füßen hatte sich eine rote Pfütze gebildet, die kalt zwischen ihren Zehen kitzelte. Das Ziehen in ihren Schultern und dem Nacken zeugten von der schweren Arbeit. Brigga ignorierte die Schmerzen. Noch war sie nicht fertig. Zum Häuten verwendete Brigga ein Messer mit einer scharfen Feuersteinklinge. Zuerst trennte sie die Hufe ab. Hinterher setzte sie den Schnitt am Schädelansatz des Tieres an. Stück für Stück schnitt und zog sie die Haut vom Körper des Tieres ab. Wieder achtete sie darauf, nur ja keine Muskeln oder Sehnen zu zerstören. Endlich, mit einem letzten Rucken, löste sich das Fell vom Leib des toten Rehbocks. Bursak nahm es wortlos entgegen und brachte es nach draußen, wo er es neben der offenen Feuerstelle abschaben, reinigen und für eine weitere Verarbeitung vorbereiten würde. Brigga seufzte und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Dabei hinterließ sie Blutspuren auf den Wangen. Der anstrengende Teil der Arbeit war geschafft. Niila half ihr, den Rumpf noch einmal auszuwaschen. Jetzt blieb nur noch, das Tier zu zerlegen. Jeder Knochen, jeder Muskel, jede Sehne würden ihre Verwendung finden. Die beiden Mädchen wechselten über den Kadaver hinweg ein verstohlenes Grinsen. Diese Arbeit hatten sie schon oft genug gemeinsam verrichtet, wenn auch noch nie an einem selbst erlegten Rehbock.

Die Berge taten harmlos und verheißungsvoll im Glanz der untergehenden Sonne. Sie lockten die Neugierigen, um sie dann den Finsteren zum Fraße vorzuwerfen. Ein Pfad folgte dem großen Fluss bis zu dessen Quelle und darüber hinaus. In gewaltiger Höhe schlängelte er sich zwischen den Felsblöcken hindurch und forderte beständig seine Opfer. Aber heute schien Mutter Erde das Tagwerk der Siedler zu gefallen. Der Abend war für die Jahreszeit erstaunlich mild. Als wollten sie dem erlegten Tier huldigen, wandelten sich die Wolken von zartem Rosa zu dunklem Rot.

Bei den letzten Arbeitsschritten ließen ihre Mutter und ihre Freunde Brigga alleine. Jedes Gerät musste gereinigt und wieder an seinen Platz gelegt werden. Zum Schrubben der Arbeitsfläche benutzte sie ein dickes Büschel Wildschweinborsten, um dessen Ende sie ein Lederstück wickelte, damit sie sich nicht die Handfläche verletzte. Über den Erdboden goss sie eine große Menge Wasser aus, bis sie sicher war, dass in der Pfütze keine Restbestände des Blutes mehr vorhanden waren. Mit dem übrigen Wasser wusch sich Brigga das Gesicht und die Hände. Es war eiskalt und jagte die Erschöpfung aus ihren Gliedern. Ihr Magen machte sich laut knurrend bemerkbar. Wie es das Ritual verlangte, hatte die Jägerin den ganzen Tag lang nichts gegessen.

Brigga ging an der kleinen Hütte vorbei, die direkt an die Schmiede ihres Vaters anschloss. Später in der Nacht würde sie sich mit ihrer Familie hierher zurückziehen. Auch Bursak und seine Schwester Lurda lebten mit ihren Eltern in einer eigenen Hütte. Ihre Eltern Kleia und Schmurtur, die die Aufsicht über den Getreideanbau hatten, gehörten dem Rat der Ältesten an. Aber jetzt waren alle im großen Haus versammelt. In der Zeit der kalten Monde fanden hier sämtliche Familienmitglieder Zuflucht.

Sie stieß die knarrenden Flügel der Eingangstür auf und betrat den Vorraum der großen Hütte. Da in diesem Bereich am meisten Tageslicht einfiel, wurde er als Arbeitsbereich benutzt: für die Herstellung der Tonwaren, die Zubereitung der Mahlzeiten und für Handwerksarbeiten. Der mittlere Teil wurde von einer großen offenen Feuerstelle eingenommen. In einer Ecke stand der schlichte Lehmofen. An den Wänden fanden einfache Holzregale ihren Platz, auf denen sich Gefäße in den unterschiedlichsten Größen aneinanderreihten. Im hintersten Bereich, abgeschirmt durch eine Trennwand, war das Vieh untergebracht. Hogor, der Viehmeister, breitete hier jede Nacht mit seiner Familie die Strohmatten aus, ebenso alle Familienmitglieder, die den einzelnen Seitenlinien der Sippe nicht eindeutig zuzuordnen waren – wie etwa Krol, dessen Eltern starben, als er ein Kleinkind war, oder Ragun, der als junger Mann Zuflucht in die Siedlung gefunden hatte. Jetzt spendete einzig das Feuer in der Mitte des Raumes Licht. Blinzelnd kniff Brigga die Augen zusammen. Der dichte Rauch brannte in den Augen und den Lungen. Über der Feuerstelle brutzelte das Fleisch an einem Spieß, in einem Topf blubberte ein Eintopf. Der Geruch war so verheißungsvoll, dass der Jägerin das Wasser im Mund zusammenlief. Ihre Familienmitglieder saßen und standen um die Feuerstelle versammelt. Sie begrüßten die junge Frau mit Gelächter und Schulterklopfen. Brigga grinste breit und gesellte sich zu Solariga, Ragun und den anderen Jägern. Von nun an würde sie die Mahlzeiten mit ihnen zusammen einnehmen. Nach dem Rat der Ältesten, zu denen auch Briggas Eltern gehörten, gebührten den Jägern die besten Stücke der Mahlzeiten. Auch die anderen setzten sich in Grüppchen zusammen, je nachdem, welchem Arbeitsbereichen sie zugeteilt waren. Wie immer gab es die üblichen Raufereien um die besten Plätze und Stücke. Für Brigga war es eigenartig und neu, nicht mehr bei den Gleichaltrigen zu sitzen und zu scherzen. Verstohlen suchte sie die Gesichter ihrer Freunde, die ihr fröhlich zuwinkten. Ragun riss sie aus den Gedanken. Er legte ihr seinen Arm um ihre Schultern und reichte ihr einen flachen Holznapf. „Das Herz für die frischgebackene Jägerin.“ Er zwinkerte ihr zu. Bebend vor stolz nahm Brigga den Napf entgegen. Aber nicht nur die Freude ließ sie erschauern. Von der Wärme, die Raguns kräftiger Körper ausstrahlte, und von seinem herben Geruch wurde ihr leicht schwindelig. Sie empfand einen Anflug von Bedauern, als er sie losließ.