Titelbild

ISBN 978-3-492-99089-9

© Piper Verlag GmbH, München 2018

Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Inhalt

Cover & Impressum

Motto

Prolog

Buch 1: Lustrum

Kapitel 1: Das Wüten der Goroptera ...

Kapitel 2: »General!« Grorod, der Anführer ...

Kapitel 3: »Karnak sehen und sterben«, ...

Kapitel 4: Sie traten ins Freie ...

Kapitel 5: Nach Grorods Drohung drehte ...

Kapitel 6: »Er wacht auf.« Kalliopes ...

Kapitel 7: Aenigma genoss die Stille. ...

Kapitel 8: Der Name des Gasthauses ...

Kapitel 9: Aenigma suchte die kaiserliche ...

Kapitel 10 Kalliope hörte das Schreien ...

Zwischenspiel:

Vor fünfzehn Zyklen

Buch 2: Morus

Kapitel 1: Prisca las. Zumindest versuchte ...

Kapitel 2: Es klimperte. Jago hob ...

Kapitel 3: Aus den angekündigten fünf ...

Kapitel 4: Die Waldhörnchenfrau Tuli hüpfte ...

Kapitel 5: Prisca ging einfach an ...

Kapitel 6: Wie kann man etwas ...

Kapitel 7: »Ein Problem«, wiederholte Prisca. ...

Kapitel 8: Das Letzte, das Croy ...

Kapitel 9: Prisca kehrte in ihr ...

Kapitel 10 »Es war«, sagte Kieron, ...

Zwischenspiel:

Vor fünfzehn Zyklen

Buch 3: Tenebris

Kapitel 1: Kalliope fühlte, wie eine ...

Kapitel 2: »Habt Ihr Hunger, Herr?« ...

Kapitel 3: Kalliope erstarrte. Vor ihr, ...

Kapitel 4: »Was willst du, kleiner ...

Kapitel 5: »Wer hätte gedacht, dass ...

Kapitel 6: Die ledrige Haut nässte ...

Kapitel 7: »Es ist seltsam zurückzukehren.«

Kapitel 8: Aenigma zog sich vom ...

Kapitel 9: Die Wolfsfratze starrte Erik ...

Kapitel 10 Erik, Shen und Croy ...

Epilog

Personenverzeichnis

Verzeichnis der wichtigsten Weltensplitter

»Tauche nicht nur die Fingerspitzen in die Wahrheit.«

Aus dem Codex der Gilde

Prolog

WallSt.

Über den Zeichen lag Steinstaub, wie überall auf dem Weltensplitter Kaish. Das Wort stand auf einem Schild, gefertigt aus seltsamem Material. Es glänzte, wenn ein Sonnenstrahl darauffiel, und es knarrte leise, wenn es sich im Wind hin- und herbog: krrrk krrrk krrrk.

Aenigma kannte diesen Laut aus seiner Kindheit. Er hatte ihm tage- und nächtelang gelauscht, hier, auf der Affenwelt. Währenddessen hatte der Hass auf seinen Vater zugenommen, auf den Fürsten, angebetet von vielen, erhaben auf seinem Thron ... Und außerdem war er der Erzeuger eines verstoßenen Balgs, das er direkt nach der Geburt verleugnet und weit abseits der Affenburg ausgesetzt hatte. Dort hätte es sterben sollen, ausgedörrt in der Hitze und erstickt an all dem Staub.

Aber dieses Balg hatte nicht aufgegeben. Es hatte an Macht gewonnen, allen Widrigkeiten getrotzt und nun kehrte es zurück. Aenigma pfiff vergnügt vor sich hin, als er den Sitz des Messers überprüfte. Dicht an seine Seite geschnürt, trug er es verborgen unter dem Tragegurt der Tasche, die er mit sich schleppte, als bringe er darin Gaben für den Fürsten.

krrk krrk krrk.

So klang in seinen Ohren der Laut, mit dem der verblichene Affengott seine fahle Knochenklaue ausstreckte, um jemanden zu sich zu holen: die Melodie des Todes. Der Gedanke brachte ihn zum Lächeln. Das Fell in seinem Nacken sträubte sich, als ihn eine kalte Böe kitzelte, die von der Felsenebene zur Herrscherburg wehte.

Gut gelaunt aß er die letzte Handvoll Nüsse aus der Tasche. Bald würde es Nachschub geben, oder sogar noch Besseres. Er achtete sorgsam darauf, sein Inneres zu verschließen; jeder Affenmann konnte sich mit allen von seiner Art verbinden und Gedanken austauschen, wenn er wollte. Und im Augenblick stand Aenigma der Sinn nach nichts weniger als dem. Noch musste er allein und unentdeckt bleiben, um auf dem Weg zur Rache an seinem Vater heimlich Schritt für Schritt zurückzulegen.

Er ging an der uralten, riesigen Statue des Bullen mit dem abgebrochenen Schwanz vorbei und erreichte das Eingangstor in der wuchtigen Mauer. Über ihm reckte sich die Affenburg bis in schwindelerregende Höhen – der halb eingestürzte Turm mit den hohl glotzenden Fensterlöchern. Angeblich hatte es bis vor wenigen Generationen noch ähnliche Ruinen gegeben, die der damalige Fürst zerstören und die Trümmer vom Rand des Weltensplitters werfen ließ. Manch einer war auf der Suche nach Bruchstücken auf den Steilhängen über dem Nichts für immer verschwunden.

Das Schild mit dem eigenartigen Wort WallSt, dessen Bedeutung niemand jemals hatte entschlüsseln können, knarzte unmittelbar über ihm im Wind. Das Gerücht besagte, dass sich seit vielen Generationen jeder Affenherrscher aufs Neue entschloss, täglich darüber zu meditieren, weil daraus Weisheit erwuchs.

Lächerlich!

Aenigma würde seinem Vater die wahre Weisheit bringen.

Die Weisheit einer geschärften Klinge.

»Ehre die Affenburg!«, forderte der Torwächter, ein bulliger Affenmann, der den Besucher fast ums Doppelte überragte.

Aenigma war ein schmächtiges Kind gewesen und hatte es nie zu besonderer Größe gebracht. Jedenfalls nicht körperlich. »Ich komme als Reisender auf unseren Weltensplitter. Zu lange war ich fern von der Heimat. Ich habe vergessen, was es heißt, die ...«

»Verbeug dich und schenke dem Wächter etwas.« Das Affengesicht verzog sich zu einem gebleckten Grinsen und präsentierte faulig verfärbte Eckhauer. »Also mir, falls du das nicht begriffen hast.« Ein bellendes Lachen folgte.

Oh, Aenigma verstand sehr gut, und da er sich entgegen seiner Behauptung ganz genau an alle Traditionen erinnerte, trug er auch ein passendes Geschenk bei sich. Eines, das den Wächter verblüffen und ihn milde stimmen sollte. Er kramte in seiner Tasche, als müsste er suchen, was seine tastenden Finger sofort gefunden hatten. Er hob es ans Licht. »Ich hoffe, dies kann dich erfreuen?«, fragte er unschuldig.

Der andere gab ein Brummen von sich. »Ist das etwa ...«

»Ein Galom-Kuchen«, fiel ihm Aenigma ins Wort. »Ich habe ihn auf dem Weg erstanden, für mich selbst als Zehrung für die Rückreise, aber ich gebe ihn dir gern, wenn du ...«

Der Wächter entriss ihm die süße Köstlichkeit, die sich nur wenige auf Kaish leisten konnten. Wahrscheinlich hatte er nie zuvor in seinem Leben einen Galom gekostet. »Du kannst passieren«, erlaubte er großmütig.

Aenigma gönnte ihm keinen Blick, als er durch das Tor trat und die Kühle des inneren Turms genoss. Welch eine Erleichterung, nicht mehr der sengenden Hitze der Steinebene ausgesetzt zu sein und dem Staub, der jedes Fell früher oder später grau färbte und alle Augen, die lange genug offen blieben, bis zur Blindheit schliff. Dort draußen gab es nur den Schatten der riesigen versteinerten Säulen, in den sich viele drängten, um Linderung zu finden, bis endlich die Nacht anbrach.

Als Kind war es ihm nicht oft vergönnt gewesen, die Affenburg aufzusuchen. Der damals noch junge, aber längst schon fette Fürst hatte seine Geliebte und deren Balg weit aus der Kälte der Burg entfernen lassen. Nachdem Aenigmas Mutter eines Tages aufgebrochen war, um als Bittstellerin vorzusprechen, war sie nie zu ihrem Sohn zurückgekehrt.

Unter der Decke des Ganges, der zum Thronsaal führte, lagen die Kavernen, in denen die zottigen Affenmänner hausten, die als Verwalter Dienst taten. Aus einer fiel ein Strick, an dem sich ein schmächtiger Junge mit tiefschwarzem Fell hinabhangelte. Aus seinem Brustpelz war ein X herausgebrannt worden, das Zeichen der Leibeigenschaft: Wer dieses Brandmal trug, gehörte dem Fürsten von Geburt an. Die Haut wölbte sich dort zu einem fahlen Wulst.

Aenigma schoss ein Gedanke durch den Sinn: Lieber der verstoßene Balg sein als einer dieser jämmerlichen Sklaven. Trotzdem weckte der Anblick ein paar ärgerliche Erinnerungen an sich selbst in ihm – als hilfloses Kind. Er wischte sie beiseite.

»Du bist nicht angemeldet«, sagte der Junge.

»Was geht es dich an?«, herrschte Aenigma ihn an, ehe ihm klar wurde, dass er sich zurückhalten musste. An diesem Ort war er nicht der Mächtige im Geheimdienst der Kaiserin, sondern ein Niemand. Er setzte zu einer geheuchelten Entschuldigung an, doch sein schmächtiges Gegenüber sprach zuerst.

»Ich bin Eorwag. Ich zähle die ... Audienzen« – das Wort brachte er kaum heraus, es klang mehr wie Audihentzeien und vor allem wie etwas, das er auswendig gelernt hatte, ohne den Sinn zu verstehen – »unseres Herrschers. Heute gibt es zwei, aber erst am Abend.«

»Diese beiden kannst du streichen«, sagte Aenigma. »Und der Fürst wird sich freuen, mich zu sehen. Wenn du mir hingegen den Weg versperrst, wird er dir zürnen.«

Der Affenjunge Eorwag stutzte. »Sicher?«

Aenigma streckte die Hand aus und fuhr das Sklavenzeichen auf der Brust des Kleinen nach. »Gefällt es dir?«

Der Junge zuckte und verzog das Gesicht. Offenbar schmerzte die Berührung. »Nein.«

»Dann solltest du mich gehen lassen.«

Der Sklave erwies sich als schlauer, als er aussah: »Es warten viele Leibwächter.«

»Der Fürst wird sie wegschicken.«

Eorwag betrachtete sein Seil. »Du hast keine Audienz.« Audihentze. »Verlass die Burg.« Gleichzeitig gab er den Weg frei und kletterte nach oben, zurück in seine Kaverne.

Ein schlaues Kerlchen, das soeben den Grundstein für eine steile Laufbahn legte. Aenigma war gespannt, ob weiterhin so viel Verstand auf ihn wartete.

Natürlich tauchten die Wächter des Thronsaals rasch auf. Drei standen im Durchgang zur Halle, in der der Fürst seine Besucher empfing. Sie trugen Dolche und sahen nicht gerade freundlich aus. Die Affengesichter blieben durch rote Masken verborgen, die das stilisierte mundlos stumme Antlitz des Affengottes zeigten. »Was willst du?«, fragte einer dumpf. Die Worte mussten sich ihren Weg hinter dem Holz der Maske hervor bahnen.

»Den Fürsten sprechen.«

»Du brauchst eine ...«

»… Audienz? Wohl kaum.«

»Jeder braucht ...«

Wieder ließ ihn Aenigma nicht aussprechen. Er zog etwas aus der Tasche – einen flachen Stein mit dem Bild des Raubtiergesichts einer Leonidin, deren Mähne blau gefärbt war.

»Das Zeichen Karnaks!«, stieß einer der anderen Wächter hervor.

»Ich komme geradewegs von der Welt der Kaiserin und mir bleibt nicht viel Zeit.«

»Falls du lügst ...«

»Überlass dem Fürsten die Entscheidung«, schlug Aenigma vor. »Kaiserin Allegra wäre kaum erfreut, wenn ich ihr von der Dummheit der Affenmänner von Kaish berichte.«

Die Leibwächter standen wie erstarrt. Offenbar wussten sie nicht, was sie nun tun sollten. Falls ihr Besucher log und sie den Fürsten störten, würde dieser sie strafen. Sprach er jedoch die Wahrheit, mussten sie ihren Herrn schnellstmöglich davon in Kenntnis setzen.

»Los!«, herrschte Aenigma sie an. »Einer von euch soll euren Herrscher holen, oder ich schicke die kaiserliche Leibgarde los, um in der Affenburg nach dem Rechten zu sehen! Entrichtet ihr ... zum Beispiel ... auch regelmäßig die vorgeschriebenen Abgaben?«

Das genügte. Einer der Wächter eilte los. Ehe er den Saal betrat, nahm er die Maske ab. Niemand kam mit verborgenem Antlitz vor den Fürsten. Er verschwand aus Aenigmas Sicht. Die beiden anderen standen unschlüssig da; der größere ließ die Arme baumeln und tippelte mit den Handflächen auf dem Boden. Es wäre Aenigma ein Leichtes gewesen, ihnen die Kehlen durchzuschneiden und alles abzukürzen. Aber die Klinge blieb seit Jahren durstig, da konnte sie auch noch einige weitere Atemzüge lang warten.

»Du hast die Kaiserin gesehen?«, fragte der kleinere Wächter. »Stimmt es, dass goldene Fäden in ihrem Fell wachsen?«

Dummer Affe, dachte Aenigma. »Allegras Herrlichkeit lässt sich nicht in Worte fassen. Sie ist über alles erhaben.« Das war eine glatte Lüge. Sie war ein Animale, so wie Tausende andere auch; hin und wieder litt sie unter Verdauungsbeschwerden, sie kannte Hunger und Müdigkeit und sie suchte nach schönen Dingen. Wenn es weiterhin nach Plan lief, würde sie bald nur noch Aenigmas Marionette sein. Falls er sie überhaupt am Leben ließ.

Der Fürst tauchte im Durchgang auf, eine feiste, bei jedem Schritt hin- und herschwankende Gestalt. Sein Fell glänzte ölig. »Wo ist der Besucher?«, herrschte er seine Wächter an, obwohl jener kaum zu übersehen war.

»Ich bin hier«, meldete sich Aenigma und ergänzte nach kurzem Nachdenken: »Mein Fürst.«

Grünlicher Sabber rann über die Lederhaut im Gesicht des Affenherrschers. Er stieß ihn mit einem Luftstoß aus den breiten Nasenlöchern hervor; ein Tropfen löste sich und platschte auf das rotgoldene Tuch um seine Schultern. Dann erst hob er den Blick, und augenblicklich stand ein Erkennen darin. »Aenigma!«

»Ihr wisst also, wer ich bin.«

»Selbstverständlich. Keiner von uns hat je zuvor auf der Welt der Kaiserin eine so bedeutende Rolle gespielt wie du. Neben mir bist du der Mächtigste unserer Art, obwohl diese hier« – er winkte mit einer abschätzigen Handbewegung zu seinen Leibwächtern hinüber – »sich nicht in der Lage sehen, deine Macht zu erkennen. Sie sind Narren. Vielleicht sollte ich sie austauschen.«

»Gut«, sagte Aenigma. Wenn auch du blind dafür bist, wer ich wirklich bin. »Das vereinfacht die Dinge. Darf ich nun mit Euch sprechen? Allein?«

»Komm mit.« Der Affenherrscher wandte sich an seine Leibwächter. »Und ihr verschwindet! Sehe ich einen von euch, ehe ich rufe, findet er sich jenseits der großen Steinsäulen wieder, und das womöglich mit einer Hand weniger!«

»Danke«, sagte Aenigma und dachte, dass sein Vater tatsächlich ein Fürst war; der Fürst aller Narren nämlich, wenn es je einen gegeben hatte.

Der Affenherrscher watschelte ihm voraus zu seinem Thron. Sollte er nur darauf Platz nehmen, ein letztes Mal. Das war ein guter Ort zum Sterben.

Aenigma folgte ihm die drei, vier Stufen vor dem steinernen Stuhl nach oben. Die Rückenlehne bestand aus einer verwitterten Platte. Der Fürst setzte sich und nun konnte er zum ersten Mal seine Aufregung nicht mehr verbergen. »Was führt dich zu mir? Ein Auftrag der Kaiserin?«

»Sie weiß gar nicht, dass ich hier bin.«

»Ach?«

»Sie ist mit anderen Dingen beschäftigt.« Denn die Gesamtheit aller Weltensplitter änderte sich allmählich und das Gefüge kam ins Wanken, was ein Narrenfürst natürlich nicht bemerkte. »Ich komme wegen der Vergangenheit nach Hause. Erforscht Ihr sie nicht auch manchmal?«

»Wenn du darauf anspielst, dass ich wie jeder Affenherrscher die Zeichen des Schildes nutze, um zu meditieren, so hast du si…«

»Früher war vieles anders.«

Der Fürst hätte wohl über alle, die es wagten, ihm ins Wort zu fallen, eine Vielzahl von Strafen verhängt, doch Aenigma ließ er gewähren. »Die Bilder«, sagte er, während er sich auf dem Thron zurücklehnte, »an den versteinerten Wänden des Fürstensaals zeigen, dass es früher einmal nicht nur Felsen und Einöde auf Kaish gab. Die Dinge haben sich geändert, und zwar schon lange vor unserer Geburt.«

»Darauf will ich gar nicht hinaus.«

»Sondern?«

»Ihr glaubt zu wissen, wer ich bin.«

»Sollte ich etwa den zweitmächtigsten Affenmann nicht kennen?«

»Hör auf mit der Schmeichelei!« Die Zeit der ehrfurchtsvollen Anrede war vorüber.

Auch das nahm der Herrscher hin. »Was trägst du wirklich im Sinn?«

»Ich möchte dir sagen, wer ich bin.«

»Ich höre, Aenigma.«

»Du hast mich verbannt, kaum dass das erste Licht in meine hilflosen Augen fiel. Dein eigen Fleisch und Blut durfte nur ein zappelndes Ding in Hitze und Staub sein, Vater.«

Die Hände des Fürsten krampften sich um die versteinerten Armlehnen. »Du ...«

Aenigma, der bislang unmittelbar vor dem Thron gestanden hatte, sprang nun zur Seite, und das keinen Augenblick zu früh. Es klackte und mit pfeifendem Zischen rasten zwei, drei, sogar vier Pfeile aus den Lehnen. Glitzernde Tropfen fielen von ihren Spitzen – Gift war das, zweifellos. Sie kreuzten sich da, wo sie noch vor einem Lidschlag ein Leben genommen hätten.

»Du bist nicht so träge, wie ich dachte«, bemerkte Aenigma, während er auf die Armlehne sprang. Das Messer flog wie von selbst in seine Hand, und die Klinge nahm den Platz ein, der wie geschaffen für sie schien: direkt am Hals des Vaters. »Dein Balg ist heimgekehrt! Freust du dich darüber?« Ein wenig bewegte er die Waffe. Sie kappte einige Härchen des dunklen Fells und ritzte die Haut kaum merklich. Ein einzelner Blutstropfen glänzte auf dem Metall. »Ich wetze dieses Stück Eisen, das ich einem Dieb abgenommen habe, der mir damit die Kehle durchschneiden wollte. Ich tue dies schon seit meiner Kindheit. Und nur für dich.« Er beugte sich vor und hauchte die beiden Worte ins Ohr des Herrschers: »Mein Fürst.«

Er sah die Angst in den Augen seines Vaters. Dies tat gut.

»Mein Sohn, ich ...«

»Nenn mich nicht so!«

»Aenigma, du hast Großes erreicht! Ein so bedeutender Mann im Geheimdienst der herrlichen Kaiserin Allegra! Wer hätte das für möglich gehalten? Du bist klein, aber in Wirklichkeit überschreitet deine Macht die meine bei Weitem! Du ...« Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, nur mehr gurgelnde, blubbernde Laute entwischten ihm. Die Klinge steckte bereits bis zum Griff in seinem Hals.

Aenigma ließ los, sah zu, wie sein Vater nach der Waffe tastete und sie herauszog, mit dem einzigen Erfolg, dass er noch weitaus stärker blutete.

Erstaunlich, wie sich die Nasenlöcher des Fürsten weiteten und wieder schlossen ... weiteten und schlossen ... weiteten und dann stillstanden. Erst danach fiel die Klinge aus der schlaffen Hand und fiel klimpernd auf den Steinboden.

Der Vatermörder blickte das Messer an. So lange hatte er es bei sich getragen. Fast würde er es vermissen.

Der Affenfürst lag zusammengesunken auf seinem Thron. Blut lief über den bepelzten Arm, perlte von dem öligen Fell ab, erreichte die Lehne und färbte die uralten Steinporen rot.

»Und so endet es.« Aenigmas Worte klangen hohl. Er fühlte keine Befriedigung, obwohl er sich diesen Augenblick Hunderte und Aberhunderte Mal ausgemalt hatte. Er beugte sich vor und tauchte einen Finger in das dunkle Blut. Warm, aber nicht anders, als er es schon so oft ...

»He-Herr?«, sagte eine zitternde Stimme hinter ihm.

Aenigma drehte sich um. »Zu wem sprichst du?«, fragte er die bullige Gestalt des Affenmanns, der vor den Stufen des Throns stand. »Zu ihm ...«, er deutete auf die Leiche, »… oder zu mir?«

»Zu Euch, Herr.« Der Neuankömmling verneigte sich vor Aenigma, den er um mehr als das Doppelte überragte, und zwar so tief auf den Boden, bis die langen Arme auf dem Boden schleiften. »Natürlich zu Euch.«

»Du bist klug«, gab Aenigma zurück. »Wie ist dein Name?«

»Rangoan.« Und nach kurzem Zögern: »Ich war einer der Leibwächter des Fürsten.«

»Was sagst du ... dazu?« Wieder deutete Aenigma auf den Toten.

Rangoan antwortete augenblicklich: »Noch nie wurde ein Thron errungen oder verteidigt, ohne dass Blut geflossen wäre. Ihr seid der Stärkere. Ihr verdient es zu herrschen, Meister.«

»Eine gute Rede. Dein rasches Auftauchen erstaunt mich.«

»Gerade wollte ich meinen Dienst vor dem Tor antreten und wunderte mich, dass niemand dort zur Wache stand, da hörte ich, wie die Thronwaffen auslösten.«

»Bist du nur einer von vielen? Oder deren Anführer?«

»Einer von vielen.«

»Von wie vielen?«

»Acht.«

Aenigma starrte ihm in die Augen. »Du hast darin versagt, deinen Herrn zu schützen.«

Eine erneute Verbeugung. »Das weiß ich.«

Gut, dachte Aenigma. Keinerlei Ausflüchte oder Rechtfertigungen. »Wirst du erneut versagen, wenn du mir dienst?«

Ein überraschter Blick: »Nein, Herr.«

»Du bist ab sofort mein oberster Leibwächter. Bring mir all diejenigen, die dem Schutz des ehemaligen Fürsten dienten.«

»Ja, Meister.«

Rangoan stellte keine Fragen, und das bewies Aenigma, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. »Warte!«

Der Affenmann drehte sich um. »Herr?«

»Du musst sie doch nicht zu mir bringen. Ich erweise dir Gnade, damit du meinen Ruhm und meine Gerechtigkeit weitertragen kannst. Die anderen jedoch, die Versager – sie müssen sterben.«

Es gab keine Sekunde des Zögerns, ehe die Antwort kam. »Ich erledige das.«

Und mit einem Mal war Aenigma doch besserer Laune als zuvor. »Wenn du Hilfe benötigst, so hol dir den Jungen Eorwag an deine Seite. Er wird mein oberster Verwalter sein. Er hat meine Gunst erworben – ebenso wie du. Sollte es zu Unruhen im Palast kommen, sorg notfalls für sein Überleben.«

»Ja, Gebieter.« Rangoan eilte aus dem Thronsaal.

Nun, da die alten Dinge endgültig der Vergangenheit angehörten, konnte sich Aenigma um das kümmern, was vor ihm lag.

In Kürze, wenn die neue Ordnung in der Affenburg anbrach, würde er sich gedanklich mit allen Affenmännern im Hofstaat verbinden und den Befehl ausgeben, dass kein Außenstehender von der Ermordung des Fürsten erfahren durfte. Eine Weile noch musste Aenigma im Dunkeln herrschen und seine Armee im Untergrund zusammenstellen, ehe er Kaiserin Allegra und jeden, der sich ihm sonst in den Weg stellen mochte, hinwegfegte.

Dies waren aufregende Zeiten.

Buch 1:

Lustrum

»Ich glaube nicht an eine Wiederkunft der Inquisition.

Aber was hilft mir dieser Nichtglaube,

wenn das Dunkel sich erheben wird?

Wir müssen wachsam sein, immerzu,

und auf die Zeichen achten.

Wer sich zu lange ausruht und die Augen schließt,

geht den ersten Schritt in die Finsternis.«

– Lehre der Gildemeisterin und numerata Franka,

später aus den Annalen der Levitatinnen gelöscht –

Kapitel 1

Das Wüten der Goroptera drang in die riesige, hell erleuchtete Halle, in der Kalliope und ihre Freunde Zuflucht gesucht hatten.

Ein alter Mann mit wild wucherndem Bart hatte sie begrüßt und erst vor wenigen Augenblicken Ungeheuerliches offenbart. Kalliope kam es vor, als habe sie sich die Worte des Weisen von Stymphalos inzwischen hundert Mal durch den Kopf gehen lassen. Tausend Mal sogar.

Aber für dich, Kalliope, für dich bin ich vor allem dein Vater.

Es gab für sie keinen Vater. Sie hatte sich nie Gedanken über ihre Eltern gemacht. Sie war im Orden der Levitatinnen aufgewachsen, in ihrer kleinen, genau begrenzten Welt. Ihre Erzeuger blieben bedeutungslos. Dieses Gesicht vor ihr, diese Augen, die den Blick nicht von ihr wandten ... all das war doch nichtig, dieser Mann nur ein alter Narr, der seinen ehrenvollen Ruf nicht verdiente.

Allerdings half es nicht, dass sie sich dies stets aufs Neue vorsagte. Etwas anderes holte sie ins Hier und Jetzt zurück. Sie sah eine hastige Bewegung, der ein kurzer, vorbeihuschender Druck auf ihrem Fuß folgte.

»Fertig mit Staunen?« Jago, der Chamäleonide, richtete sich vor ihr auf und ließ die lange Zunge einmal in sein Gesicht klatschen, ehe sie zischelnd im Maul verschwand. »Ich bin dein Vater, Kalliope! Großartige Offenbarung, Bartmann! Bahnbrechend! Wisst ihr was? Das ist mir völlig egal! Da draußen stürmt eine Armee von Monstren heran, die das Tor überrennen wird. Bald wandern Vater und Tochter friedlich vereint ins Grab, Ende und aus, und uns wird es nicht besser gehen! Nehmt es mir nicht übel, mir ist wichtiger, was wir jetzt tun sollen! Ich meine, außer zu sterben?«

Der Weise von Stymphalos lächelte. »Es gibt keine Monstren. Dies sind gefährliche Krieger, ja, aber ebenso sterblich wie wir. Gerade du, kleiner Echsenmann, müsstest das wissen.«

»Toll!«, ätzte Jago. »Also können wir sieben diese Horde von muskelbepackten Elitekämpfern einfach niedermetzeln. Schließlich sind wir doch Helden. Und mindestens genauso stark wie drei Dutzend dieser geflügelten Riesenaffen! Immerhin sind wir ein, wie hast du eben gesagt?, ein kleiner Echsenmann« – er deutete auf sich – »ein schmächtiges Menschenbürschchen« – ein Wink zu Kieron – »ein Pantheride mit nur noch einer Hand« – damit war Croy gemeint – »und ein Greis, der aussieht, als könnte er sich kaum aufrecht halten« – das war der Weise. »Einverstanden, ihr anderen habt was drauf. Erik und Shen können ein paar Angreifer mit Schwert und Pfeil erledigen und unsere Wunderprinzessin hier darf ihre Zauberkraft anwenden. Aber das reicht doch noch nicht! Nicht mal annähernd! Versteht ihr? Die werden uns ...«

Kalliope unterbrach den Chamäleoniden, der sich immer mehr in Rage redete. »Ich nutze keine Zauberei!« Als ob es darauf ankäme. Grundlegend, das musste sie leider zugeben, stimmte, was Jago sagte. Eine kampfstarke Gruppe sah anders aus. Sie mochten Gefährten sein, geübt darin, trickreich üble Situationen zu meistern – aber gegen eine Rotte von kampflüsternen Goroptera konnten sie nicht einmal zehn Atemzüge lang bestehen.

Shen stand wie versteinert da, doch ihr flinker Blick suchte die Wände der gewaltigen Halle ab. »Jago hat recht. Wir müssen von hier verschwinden. Für alles andere bleibt später noch Zeit. Auch für die Fragen an ... unseren Gastgeber.«

Der Weise von Stymphalos machte eine umfassende Handbewegung. »Gehen wir.«

»Wie stellst du dir das vor?«, fragte Croy. Unter diesen Worten grollte ein raubtierhaftes Knurren, das Kalliope einen Schauer über den Rücken jagte; sie glaubte allerdings nicht, dass der Pantheride diesen Unterton bewusst nutzte. Er mochte ruhiger geworden sein, seit er die Hand verloren hatte, aber von seiner Gefährlichkeit hatte er keinen Deut eingebüßt.

»Folgt mir.« Der Weise lächelte schalkhaft. »Der Bartmann bringt euch in Sicherheit.«

»Du kannst dich den ganzen Tag lang über mich lustig machen«, sagte Jago, »wenn du uns nur hier rausbringst.«

»Du verstehst das falsch, ich ehre dich, indem ich deine Bezeichnung für mich übernehme und ...«

»Können wir jetzt gehen?« Die Zunge des Chamäleoniden flappte beim letzten Wort heraus. Was zunächst wie ein Versehen aussah, diente dazu, einen Käfer vom Boden aufzusammeln. Gleich darauf zerknackte der Chitinpanzer zwischen Jagos Zähnen. »Eklig, aber nahrhaft. Ich hab so das Gefühl, ich könnte jedes bisschen Kraft gebrauchen.«

Der Alte drehte sich um. »Es gibt einen Geheimgang, der aus dem hinteren Bereich des Tempels kommt. Er führt unterirdisch bis in einen Morastwald.«

»Ich dachte, du lässt uns durch Zauberei verschwinden«, maulte Jago. »Wie bei deinen Schilden. Sind doch deine, oder? Du hast das erfunden? Hier rein, dort raus – wusch, schöner Sonnenschein und Frieden.«

»Fragen stellen wir später!« Kalliope wunderte sich selbst, wie scharf es klang. Sie begriff, dass sie sich vor der Wahrheit fürchtete. Weil sie weitere Offenbarungen und Erschütterungen ihres Weltbilds nicht ertragen konnte.

Wie hatte die alte Audra gesagt, als sie ihr den Weg nach Stymphalos wies? Der Weise wird dir erklären, was dein Herz zu wissen begehrt. Aber was, wenn die Wahrheit gar keine Rolle mehr spielte, wenn sie sich nur noch nach Ruhe sehnte? Nach Schlaf?

Der Greis führte sie erstaunlich rasch durch die gewaltige Halle. Jenes seltsame, unwirklich helle Licht, das der Überlieferung des Ordens zufolge keines Feuers bedurfte, erfüllte alles restlos. Kalliope kannte diesen Mythos bereits, seit sie ein kleines Mädchen war. Zu einer anderen Zeit hätte sie diesem Wunder ihre volle Aufmerksamkeit geschenkt und es entweder hingenommen oder zu erforschen versucht.

Nun brachte sie kaum einen Gedanken dafür auf, während die Goroptera an das Eingangsportal hämmerten. Donner jagte durch die Halle, gefolgt von einem Knirschen und einem Blitz aus Dunkelheit.

Irritiert stockte Kalliope. »Was – was war das?«

»Der Schlag«, setzte der Weise schon an, doch seine nächsten Worte gingen in einem zweiten Krachen und Dunkelflackern unter. Kalliope begriff auch ohne Erklärung – kein dunkler Blitz, sondern ein kurzer ... Ausfall der schattenlosen Helligkeit. Ein Flackern des Lichtes, als müsste es Atem holen, um erneut leuchten zu können.

»Kommt näher!«, rief der Alte. »Berührt einander! Ich kann euch im Dunkeln führen, wenn ...«

Das Tor zerbrach unter dem Ansturm der Feinde. Feuer wehte in die Halle, doch weit hinter ihnen und nur einen Lidschlag lang. Die Flammen verpufften, schwarzer Rauch wölkte und Finsternis legte sich über alles.

Einige Zyklen früher studiert Kalliope heimlich eine der alten Lehrschriften, geborgen im Frieden ihrer Kammer in der Ordensburg auf Ethera. Das Mädchen ist sorglos und weiß nichts davon, dass es Risse in der heilen Ordnung der Weltensplitter gibt, dass Finsternis an manchen Orten lauert, sogar hier in der Burg, in den tiefen Gewölben.

Kalliope ist fröhlich und sie spürt die Wunder der Welt, die sie in sich aufnehmen will. Sie bestaunt nahezu jeden Satz. So auch diesen: Im Tempel von Stymphalos lodert seit jeher ein schattenloses Licht, das keines Feuers bedarf. Sie liest diese Worte ihrer Freundin vor, der Ordensschülerin, mit der sie ihre Kammer teilt.

»Schlaf jetzt«, sagt Prisca. »Wir hatten heute genug Unterricht.«

»Genug?« Kalliope schüttelt den Kopf. Wie könnte es jemals genug sein? Sie will alles wissen! »Du bist ...«

»Müde! Das bin ich. Und mir ist kalt.«

Kalliope, die im Licht der flackernden Öllampe keinen Augenblick daran dachte zu frieren, wendet sich mühsam von der alten Handschrift ab. Die leicht gewellten, vergilbten dicken Seiten, von denen ein Geruch nach Tier und Staub aufsteigt, haben sie in ihren Bann gezogen. Aber ihre Freundin ist wichtiger. Kalliope nimmt ihre Decke und breitet sie zusätzlich über Prisca, die bereits in ihrem Bett liegt.

»Du brauchst doch auch ein Tuch«, meint das Mädchen. Soweit sie wissen, ist sie vor neun Zyklen geboren und damit etwas jünger als ihre Kammergenossin. Aber so genau kennt keine der Schülerinnen ihre Herkunft. Das Alte ist vergangen und damit bedeutungslos, das Neue zählt.

Kalliope kehrt zum Tisch zurück, bläst die Lampe aus und schlüpft zu Prisca unter die Decken. »Schlaf jetzt«, sagt sie.

Ihr Atem geht ruhig in der Dunkelheit, und der von Prisca genauso. Kein Licht fällt durch das Fenster herein. Kalliope schaut trotzdem nach draußen. Ihr Auge sucht etwas, an dem es sich festhalten, an dem es ausruhen kann. In der Ferne glaubt sie, winzige Lichtpunkte zu sehen. Vielleicht Feuer auf dem nahen Weltensplitter Crescat, wo das Korn für Ethera angebaut wird. Oder das Steuerlicht eines der seltenen Nachtschiffe.

»Hast du Angst in der Finsternis?«, fragt Prisca plötzlich. Ihre Stimme erklingt wie der Hauch des Flügelschlags eines Falters auf den Rosenbeeten im Ordensgarten. »Es gibt dort nichts Böses, glaube ich.« Und, noch leiser: »Oder?«

»Ich fürchte mich nicht vor der Dunkelheit«, sagt Kalliope. »Nur vor den Gedanken, die darin wachsen.«

»Sie kommen aus deinem Kopf. Und sie wollen schlafen. Darum ist es finster, weißt du? Damit die Gedanken schlafen dürfen.«

Aber das ist so schwer. Nichts zu denken ist eine höhere Kunst, als Kalliope sie zu erfüllen vermag. Ständig wandern Dinge durch ihren Verstand: Neugier, Erinnerungen, Vorstellungen und Pläne. Oder sei es nur Hunger und die Frage, was sie morgen früh essen wird. Manchmal sogar, tief drunten und dumm, die Überlegung, wann sie in die Ordensburg gekommen und was vorher gewesen ist. Solche Gedanken zeigten, wie schlecht und verdorben sie eigentlich ist, unwürdig, an diesem wundervollen Ort zu leben.

Priscas Finger fahren ihr durchs Haar. Nun ist Kalliope froh, dass es kein Licht gibt. Sonst könnte sie ihre Tränen nicht verbergen. Gern würde sie ein anderes Mädchen aus sich herausschneiden, eines, das der Freundschaft mit Prisca würdiger wäre.

»Ich fürchte mich vor meinen Gedanken«, fährt Prisca fort. »Davor, dass alles einen Namen trägt und damit unabänderlich ist. Das ist Wahrheit. Dies ist Zorn. Das dort ist ein Tisch und jenes ein Schiff. Sind so auch unsere Entscheidungen? Was wir heute sagen, gilt das für den Rest des Lebens? Und was, wenn wir etwas Falsches tun?«

»Vielleicht können wir es ändern, obwohl es ein Wort dafür gibt«, sagt Kalliope und sie denkt, dass dies Dunkelheit ist. Die Schwärze. Das Düster. So viele Namen und keiner lässt sich erneuern oder klingt schön. Dennoch lügt sie weiter: »Wir vermögen es, wenn wir wollen.«

Priscas Finger sind noch immer in ihren Haaren, doch sie trösten nicht mehr, sondern verkrampfen sich. »Ich habe Angst, auf einen falschen Weg zu gehen.«

Kalliope fühlt ein Lachen in sich, aber sie unterdrückt es. Prisca könnte es missverstehen. »Du? Ausgerechnet du? Wenn einer einen Fehler macht, dann bin ich es!«

»Wirklich?«

»Wirklich.«

»Ich bin müde«, sagt Prisca.

Kalliope legt die Hand auf die ihrer Freundin. »Ich auch.« Sie schließt die Augen. Es gibt dort draußen nichts, um sich daran festzuhalten. Wehmütig denkt sie an das alte Buch auf dem Tisch, an die Weisheiten, die darin stehen. An die Öllampe davor. Sie könnte Licht verbreiten. Die Worte auf den eng beschriebenen Seiten könnten Halt geben.

Irgendwann schläft sie ein, und sie träumt davon, dass die Dinge Namen tragen, aber das ist schrecklich und herrlich zugleich. Alles steht fest, nichts wird sich jemals ändern. Mädchen wie Prisca und Kalliope müssen nur ihren Platz im ewigen Gefüge finden. Und sie haben es leicht, sind sie doch auserwählte Schüler der Gilde der Levitatinnen. Nur wenigen wird diese Ehre zuteil.

Ist das nicht wundervoll?

Als sie am Morgen aufwacht, ist ihr Kopfkissen nass, aber sie weiß nicht, ob sie ihre Tränen in dem Stoff spürt – oder ob es Priscas sind.

Finsternis.

Kalliope glaubte, erstarren zu müssen, und sie fühlte sich wie das Kind von einst, das Mädchen, das sich im Dunkeln fürchtete. Diese Angst kannte sie schon lange nicht mehr. Doch nun verbarg die Schwärze eine echte Gefahr, das Stampfen wuchtiger Schritte, das Brüllen der Riesenaffen, das Schwirren von Flügeln und das Klirren von Waffen.

Mit dem Grauen, das in ihr wuchs und in einem einzigen Atemzug ihr inneres Gleichgewicht zerbrach, kamen die Erinnerungen: Priscas Stimme, die kleine Prisca, die Freundin, nicht die Feindin, zu der sie sich später aufgeschwungen hatte: Darum ist es finster, weißt du? Damit die Gedanken schlafen können.

Gestank von Rauch peitschte heran. Kalliopes Arme kribbelten. Regnete in der Lichtlosigkeit Asche auf sie nieder? Die Berührung glich der, den die Beine von huschenden Spinnen machen.

»Findet sie!«, kreischte einer der Goroptera irgendwo beim Eingang. »Hackt ihnen die Köpfe ab und werft sie mir vor die Füße!«

Schritte in der Dunkelheit.

Krachen.

Und diese Frage in Kalliopes Gedanken: Wieso hatte es gebrannt, als die Feinde das Tor durchbrachen?

Etwas prallte gegen ihre Beine, huschte an ihr hoch. Sie wollte schreien, es von sich schütteln, aber jemand drückte auf ihren Mund und flüsterte nah an ihrem Ohr: »Es ist nicht ganz dunkel. Ich habe gute Augen. Geh leicht nach links und los.«

Doch Kalliope versteinerte. Die Finsternis umhüllte sie und zog sich eng zusammen, schnürte ihr das Blut ab. Sie konnte nicht atmen. Sie spürte, wie ihre Augen sich bewegten, ganz ohne ihr Zutun, wie sie nach Halt suchten. Ihr Herz raste.

»Los!«, wiederholte die Stimme. Sie klang vertraut und das fühlte sich gut an. »Ich kann für dich sehen, also geh los, dort vorn warten Erik und die anderen auf uns.«

Jago.

Das war Jago.

Ihr Freund.

Sie konnte ihm vertrauen.

»Die Halle ist groß, aber diese Monstren werden uns bald finden. Also los, Zauberin!«

»Keine Zauberei«, sagte Kalliope und diese Worte brachen schließlich den Bann. Sie setzte den ersten Schritt, dorthin, wo Jago es ihr wies.

Sie hörte ein dumpfes Brüllen: »Da ist einer!«, gefolgt vom Pfeifen einer Klinge in der Lichtlosigkeit, einem widerwärtig schmatzenden Geräusch und dem Poltern, mit dem etwas auf den Boden platschte und davonrollte. »Einer von uns, du Narr!«, schrie eine zweite Stimme. »Du hast einen von uns geköpft!« Blubbernd stieß jemand ein Wort hervor, das in einem Gurgeln jeden Sinn verlor.

Kalliope konnte sich nur zu genau vorstellen, wie General Grorod, der Anführer der Goroptera, dem übereifrigen Soldaten ein Schwert in den Leib rammte und ihn der Länge nach aufschlitzte. Sie vertrieb den Gedanken, prallte im Dunkeln gegen jemanden, fühlte Eriks Hand auf ihrer – seltsam, dass sie seine Berührung sofort erkannte – und hörte die Stimme des Weisen: »Ich bringe uns raus.«

Also gingen sie durch die Schwärze, nacheinander, aneinandergeklammert. Wenn die Kette reißt, dachte Kalliope, gehe ich verloren. Sie würde stürzen, immer tiefer, in einen Strudel aus Leere und Einsamkeit. An einen Ort, an dem sie ohne Jago bereits wäre, der sie gefunden und ihr den Weg gewiesen hatte.

»Ruhig«, sagte der Chamäleonide, der nach wie vor auf ihrer Schulter saß. »Alles ist in Ordnung. Du brauchst keine Angst zu haben.«

»Warum kannst du ...«

»Kunststück, zu spüren, dass du dich fürchtest. Du schwitzt doch. Außerdem solltest du das Atmen nicht vergessen.«

Sie folgte seinem Rat und merkte erst jetzt, dass ihre Lunge danach schrie. Es schmerzte, ihre Brust schien zu brennen.

Hinter ihnen dröhnten die Goroptera.

»Es ist nur ... die Ge-Gedanken ...«, stotterte Kalliope.

»Lass sie ruhen«, meinte Jago.

Darum ist es finster, weißt du? Damit die Gedanken schlafen können.

Vor sich in der Dunkelheit hörte sie ein Wispern. Freundliche Laute – die ihrer Gefährten. Sie trugen eine Botschaft die Kette entlang und Erik flüsterte ihr zu: »Der Weise führt uns jetzt in den unterirdischen Gang. Wir müssen springen. Es ist nicht tief. Er wird den Eingang verschließen.«

»Wa-was sollen wir?« In völliger Finsternis? Hinab in die Schwärze, die bodenlos sein mochte? Das Blut rauschte in ihren Ohren.

»Ich würde mit dir gemeinsam gehen, aber der Durchgang ist zu schmal«, sagte Erik. »Die anderen sind längst unten. Du zuerst, ich schütze dich von hinten.«

»Ne-nein, ich ... geh und fang mich auf«, bat Kalliope.

»Sicher?«

»Geh!«

Er löste den Griff und sprang.

Sie hörte nicht, wie er aufkam, denn hinter ihnen polterte und krachte es. Was immer dort geschah – im nächsten Augenblick flammte Feuer auf. »Na endlich!«, dröhnte ein Goroptera, während flackernde Helligkeit eine Insel in der Schwärze schuf. Eine Insel voller geflügelter, riesiger Affenmänner in Rüstungen, mit Schwertern und baumelnden Morgensternen.

»Kalliope! Jago!«, rief Croy von unten, aus dem nach wie vor nachtschwarzen Loch. Und die Insel der Monstren kam näher.

»Spring, Zauberin, sonst geh ich ohne dich«, drängte Jago auf ihrer Schulter.

»Ich ... ich ...«

»Ist nicht tief.«

»Ich kann ...«

»Ich sehe es für dich! Es ist nicht tief.«

Die Insel tanzte, flackerte, flammte und weitete sich. Teilte sich auf und schwärmte aus. Die Goroptera trugen Fackeln, dicke, an den Spitzen lodernde Äste von draußen, vom Weltensplitter Stymphalos jenseits des Tempels.

Kalliope schloss die Augen und sprang ins Nirgendwo.

Nach einer kurzen Zeit, weniger als einen Atemzug lang, kam sie auf. Ihre Füße versanken in dem weichen, matschigen Boden. Sie hörte ein Geräusch von oben, ein Surren wie von hundert schillernden Fluginsekten über dem Teich am Fuß der Ordensburg. Gleichzeitig zog sich das flackernde Fackellicht zurück.

Nein, der Eingang in den unterirdischen Gang verschloss sich. Aber wie?

Kurz darauf hörte sie ein Klatschen, zweimal, dreimal, und alles füllte sich von einem Augenblick zum anderen mit greller Helligkeit, wie sie sie aus der Halle kannte. Es war Licht, das – warum fiel es ihr jetzt erst auf? – kalt leuchtete. Kein Feuer, keine Wärme, es ähnelte einem dieser sagenhaft hell strahlenden Wassertiere, die angeblich in den meist gefrorenen Seen der ewigen Winterwelten lebten.

Sie standen in einem engen Gang, auf matschig-erdigem Boden und zwischen lehmigen Wänden, hin und wieder von Holzbalken gestützt, die aussahen wie versteinert. An diesen Balken strahlten, groß wie zu Fäusten geballte Kinderhände, Kugeln aus Licht.

Kalliope sah ihre Gefährten an und den Weisen, der geklatscht – und damit die feuerlose Helligkeit gerufen – hatte.

»Ich beantworte all eure Fragen später«, sagte der alte Mann. »Die Klappe zum Verschluss des unterirdischen Ganges wird nicht halten. Sobald die Goropetera den Weg finden, folgen sie uns. Und seid gewarnt, meine Freunde, denn dieser Weg ist nicht sicher. Stoßt nicht an die Balken. Dies ist Sumpfland, und wenn es vor uns einen Einsturz gibt, müssen wir zurück. Falls wir es noch können.«

Sie marschierten los, wieder hintereinander – aber diesmal wenigstens im Hellen. »Danke«, flüsterte Kalliope, und da erst bemerkte sie, dass Jago nicht mehr auf ihrer Schulter saß. Er huschte über den schlammigen Boden und sein hin- und herschleifender Schwanz hinterließ ein Schlangenmuster in der weichen Erde, das sich nach und nach mit trübem Wasser füllte.

Kieron blieb stehen, ließ Erik passieren und ging unmittelbar vor Kalliope. »Es gi-gi-gibt viele Fragen«, sagte er.

Er stottert wieder. Kalliope erinnerte sich, dass es ihr vorhin, vor dem Sprung, nicht anders ergangen war. Wir sind uns so ähnlich. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und dachte, wie unmöglich es noch vor Kurzem für sie gewesen wäre, einen Mann zu berühren. Nun war es eine ganz natürliche Geste voller Vertrauen.

Und ehe sie antworten konnte, tönte hinter ihnen Lärm auf. Feuer fraß die Klappe über dem Eingang und floss in den unterirdischen Gang. Ein Goroptera stampfte wie ein Todesbote durch die Flammen. Er legte die Flügel an, bückte sich und stürmte brüllend und mit vorgestrecktem Schwert auf Kalliope und Kieron zu.